DAS NIBELUNGENLIED -
DER NIBELUNGEN NOT

Die Burgunder im Hunnen-Sturm . . .
oder nur Eifelbauern in Westfalen?

Völkerwanderungsdrama, Provinzposse, oder
"Bestandsaufnahme der deutschen Seele"?

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"Held mit den blonden Haaren und mit dem schweren Schwert
Wir waren, auch wir waren Deiner Tat nicht wert.
Wir schlugen uns selbst zu Stücken - Ehrgier, Wurmgift, Neid
Gegen den Speer im Rücken ist keiner gefeit.
Immer entsteht dem lichten Siegfried ein Tronje im Nu
Weh, wie wir uns vernichten - und das Reich dazu."
(Josef Weinheber, 1892-1945)

[Siegfried]
"Held mit den blonden Haaren und mit dem schweren Schwert . . .
[Siegfried]
Gegen den Speer im Rücken ist keiner gefeit" (Josef Weinheber)
[Not]
"daz ist der nibelunge nôt" (Konrad von Würzburg)
[Siegfried]
"Der Held kommt immer über die Ebene" (Joachim Fernau)
[nordwärts]
"Die Nibelungen zogen nordwärts" (Heinz Ritter-Schaumburg)
[Liegnitz 1241]
"Das Nibelungenlied ist nicht vor 1241 entstanden" (Dikigoros)

EIN KAPITEL AUS DIKIGOROS' WEBSEITE
REISEN, DIE GESCHICHTE[N] MACHTEN

von sagenhaften Reisen und märchenhaften Reiseberichten

Das Nibelungenlied ist das deutsche National-Epos, hat seine Leser schon immer fasziniert, war so populär wie sonst keine Sage, und... Halt! Glaubt Ihr das wirklich, liebe Leser? Dann klappt mal schnell das Lexikon zu, in dem Ihr diesen Unsinn gefunden habt, und vergeßt das ganze, denn nun will Euch Dikigoros mit der nüchternen - und ernüchternden - Wahrheit vertraut machen. Das so genannte Nibelungen-"Lied" ist nie ein Lied in unserem heutigen Sinne gewesen (zum damaligen Sinn dieses Wortes schreibt Dikigoros an anderer Stelle mehr), und es ist nicht nur nie gesungen worden, sondern auch sonst wohl nicht übermäßig weit verbreitet gewesen. [Es gibt nur ein mittelalterliches Epos, das vom 12. Jahrhundert bis in die Neuzeit hinein wirklich populär war und immer wieder überarbeitet und neu gefaßt - nicht einfach nur mehr oder weniger genau abgeschrieben - wurde, nämlich die Geschichte vom Herzog Ernst; dennoch ist es bis heute ein Stiefkind der Germanistik geblieben - da verstehe noch einer die Welt.] Hochgelehrte Professoren, die es zu ihrem (mit Verlaub dürftigen) Lebensinhalt gemacht haben, behaupten, daß das Nibelungenlied in immerhin 34 mittelalterlichen Handschriften überliefert sei - das wäre schon herzlich wenig für ein angeblich so populäres Stück. Aber nicht einmal das stimmt: Es gibt keine 34 Überlieferungen, sondern nur 34 einander mehr oder weniger widersprechende Fragmente einer Überlieferung, weil die Kopisten ein wenig gekürzt oder hinzu gefügt haben, wie es ihnen oder ihren Auftraggebern gerade in den Kram paßte. (Selbst die Berufs-Germanisten haben ihre These, daß es zumindest drei "Versionen" - einfallslos "A", "B" und "C" genannt - gebe, nach Jahrzehnte langen Diskussionen aufgegeben und sprechen jetzt verschämt nur noch von "Redaktionen", wobei die meisten sich jetzt darauf geeinigt haben, daß "A" wohl eine etwas schlampige und "C" eine vom Kopisten etwas ausgeschmückte Abschrift von "B" ist - das hätte ihnen Dikigoros gleich sagen können :-) Wie dem auch sei, alle diese Handschriften staubten und schimmelten rund ein halbes Jahrtausend vor sich hin, bis sie im 18. Jahrhundert irgendjemand wieder ausgrub und dem König von Preußen vorlegte. Der meinte nur (sinngemäß, denn er konnte kein ordentliches Deutsch - es war jener Friedrich II, der nur Französisch sprach und den die Engländer "den Großen" nannten, weil er ein großer Narr war und ihnen als "Festlandsdegen" ein großes Weltreich in Amerika und Indien eroberte - aber das ist eine andere Geschichte): "Olle Kamellen, beschäftigt Euch lieber mit was Gescheiterem." Im 19. Jahrhundert entdeckte dann noch jemand, daß einige Motive des "Nibelungenliedes" auch in alten isländischen Sagas auftauchten, und so begannen die Berufs-Germanisten denn fleißig herum zu forschen, wer wohl wann was wo und von wem abgeschrieben haben könnte. Akademische Spielereien, die sonst niemanden ernsthaft interessierten.

Erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fanden sich die Deutschen plötzlich in den Gestalten der Sage wieder: Ihr Kanzler - der wohl mal eine Aufführung der Nibelungen-Trilogie, dem letzten Werk des Theater-Dichters Christian Friedrich Hebbel, gesehen hatte (es war schon Anfang der 1860er Jahre entstanden, aber noch nicht sonderlich erfolgreich, ebenso wenig die etwas obskure Story, die Richard Wagner anderthalb Jahrzehnte später unter dem Titel "Der Ring des Nibelungen" auf die Bühne bringen sollte, wobei er sich mehr auf die nordische Mythologie stützte als auf das "Nibelungenlied") - sprach von "Nibelungentreue", als er sich hinter den letzten Verbündeten Deutschlands, das marode Habsburger Doppelreich "Österreich-Ungarn" stellte, und es ermunterte, gegen Serbien in den Krieg zu ziehen, der sich zum Ersten Weltkrieg ausweiten sollte; und vier Jahre später sahen sich die Deutschen auch in dem wenn schon nicht im Walde, so doch im Felde unbesiegten Recken Siegfried von Xanten wieder. (Den wollen wir fortan - wie der Nibelungenlied-Dichter - "Sîfrit" schreiben, dto "Prünhilt" und "Kriemhilt"; die Unart, den als "t" gesprochenen Endungslaut als "d" zu schreiben, sollten die Deutschen erst viel später annehmen; im 13. Jahrhundert wurde "d" nur geschrieben, wenn es auch gesprochen wurde, z.B. im Dativ - Sîfrîden, Prünhilden, Kriemhilden - oder im Akkusativ - Sîfrîde, Prünhilde, Kriemhilde - usw. Eigentlich müßte man auch "Burgonden" statt "Burgunder" schreiben; aber da hier keine Verwechslungsgefahr mit dem gleichnamigen Wein besteht, beläßt es Dikigoros mal bei der zwar falschen, aber gewohnten Namensform.) Denn auch der konnte nur durch einen Dolchstoß in den Rücken, pardon durch einen Speerwurf in die Schulter von einem November-Verbrecher getötet werden.

[Hagen ermordet Siegfried. Nach einer Zeichnung von Franz Staffen 1922]

Daß diese Parallelen in sich widersprüchlich waren, scheint niemand gesehen oder empfunden zu haben, denn die "Nibelungentreue" bezog sich ja auf Hagen, also just auf denjenigen, der dem treu-doofen Sîfrîden treulos den Speer in den Rücken gestoßen hatte. (Wobei Frau Dikigoros noch anzumerken pflegt, daß auch Sîfrit alles andere als treu war - denn er hatte ja seinen Treueschwur an Prünhilden gebrochen - und daß Hagen gar nicht seinem König treu war, sondern seinem Gold; denn er ließ ihn ungerührt töten, als Kriemhilt ihm die Gelegenheit gab, ihn frei zu kaufen.) Wo war sie denn eigentlich, jene viel zitierte "Nibelungentreue"? (Ihr kennt doch den Inhalt des "Nibelungenliedes", nicht wahr, liebe Leser? Dann muß Dikigoros ihn Euch hier ja nicht groß wiederkäuen... Wenn Ihr ihn doch nicht kennt, dann schämt Euch gefälligst und klickt mal bei Gelegenheit heimlich diesen Link an.) Auch im "Dritten Reich" ging man leichthin über diese Frage hinweg, man pilgerte fleißig nach Bayreuth, um Wagners "Ring" zu sehen, unterlegte mit dessen Musik auch den alten Stummfilm-Langweiler "Siegfried[s Tod]" von Fritz Lang und brachte ihn noch einmal in die Kinos (in stark gekürzter Fassung; den zweiten Teil - "Kriemhilds Rache" - ließ man ganz weg :-), setzte Hebbels Version des Nibelungen-Dramas auf den Spielplan der 1937 eingerichteten Wormser "Nibelungen-Festspiele" und wurde nicht müde, die Treue zu Führer, Volk und Vaterland zu beschwören, die angeblich daraus sprach. War es nicht eine herrlich poëtische Umschreibung des Satzes "Wo gehobelt wird fallen Späne", die Hebbel da kurz vor Schluß dem alten Hildebrand in den Mund legt:

Noch niemals standen Männer
Zusammen wie die Nibelungen hier,
Und was sie auch verbrochen haben mögen,
Sie habens gutgemacht durch diesen Mut
Und diese Treue, die sie doppelt ehrt!
*

*(Diesen Vers aus der 11. Szene des 5. Aktes von Kriemhilds Rache hat Dikigoros zuletzt in einer Textausgabe von 1978 gelesen.
Von der Bühne ist er seit 1973 verschwunden. In der Internetausgabe von Gutenberg-Spiegel sind die Szenen 10-14 kommentar-
los weg gelassen; nach Szene 9 ist einfach Schluß. So, liebe Leser, wird selbst die Literatur-Geschichte heutzutage verfälscht!)

* * * * *

Nach 1945 ließ das Interesse der Deutschen am Nibelungenlied und solchen Ausreden merklich nach - nun wurde den meisten die Parallele vom heldenhaften Untergang der ihrem Führer pflichtgetreu in den Tod folgenden Wormser in Ungarn und dem Untergang des Deutschen Reiches im Zweiten Weltkrieg doch zu makaber. Nach 1956 schliefen die "Nibelungen-Festspiele" in Worms ein, und auch anderswo wurde Hebbels Stück nur noch selten aufgeführt - mit dem vollständigen Originaltext praktisch überhaupt nicht mehr. [Was seit 2002 in Worms unter dem Namen "Nibelungen-Festspiele" aufgeführt wird, ist eine Frechheit, insbesondere daß man so tut, als hätte das ganze, abgesehen von ein paar aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten, noch etwas mit Hebbels Stück zu tun.] Und als Winnetou-Regisseur Harald Reinl 1966 einen Film, genauer gesagt zwei Filme unter dem Titel "Die Nibelungen" in die Kinos brachte (mit dem olympischen Bronze-Medalisten im Hammerwerfen Uwe Beyer in der männlichen Hauptrolle - die Brunhild besetzte Reinl allerdings nicht mit der Gold-Tunte im Fünfkampf "Tamara" Press, sondern mit einer Frau - seiner eigenen -, Kätherose Derr alias "Karin Dor" :-) geriet Siegfried zu einer Mischung aus Herkules und Old Shatterhand und der Film - selbst in der stark gekürzten einteiligen Fassung "Das Schwert der Nibelungen" - zu einer Lach-Nummer. Nach 1968 strichen die Germanisten (bzw. die für Germanistik zuständigen Beamten in den Kultus-Ministerien) das "Nibelungenlied" erst aus den Lehrplänen der höheren Schulen, in den 1970er Jahren sogar aus denen der Universitäten (inzwischen ist an einigen "Hochschulen" nicht mal mehr die mittelhochdeutsche Sprache, in der es geschrieben ist, Pflichtfach für Studenten der Schmalspur-Germanistik). Und die Berufs-Historiker stellten fest, daß es doch keine verläßliche Quelle sei für den Untergang der Burgunder im Hunnensturm der Völkerwanderungszeit. (Was sie nicht hinderte, laut aufzuschreien, als Heinz Ritter-Schaumburg, ein findiger Amateur-Germanist und -Historiker, 1975 in seinem Buch "Die Nibelungen zogen nordwärts" die These aufstellte, daß der Sage wohl eher der Untergang einer kleinen Schar von Eifelrittern in Soest/Westfalen zugrunde lag, wo damals ein gewisser Attala saß, König der Hunen, den später ein Klosterschreiber aus Passau mit dem Hunnenkönig Attila verwechselte, und die Dhünn - einen kleinen Fluß, der bei Leverkusen in den Rhein floß - mit der Donau; dieser historische Kern sei in der "Svava", einer von ihm selber rekonstruierten schwedischen Urfassung der so genannten "Thidrekssaga" um "Dietrich von Bern" erhalten und von dort in Bruchstücken auch nach Island gelangt, wo der Stoff dann ebenso verfälscht wurde wie im Nibelungenlied - aber das braucht uns hier nicht weiter zu interessieren.)

[Die Nibelungen zogen nordwärts]

Nur einer nahm die Herausforderung dieser Parallele an und schrieb das Nibelungenlied 1966 unter dem Titel "Disteln für Hagen" neu: Joachim Fernau. Er gab ihm den Untertitel "Bestandsaufnahme der deutschen Seele" und traf offenbar voll in dieselbe, denn das Buch wurde ein Millionen-Bestseller; und nun erst wurde die alte Mär - die bis dahin meist in den Bücherregalen verstaubt war - auch gelesen und wirklich so populär, wie Dikigoros das einleitend geschrieben hat.

[Disteln für Hagen bei Goldmann] [Disteln für Hagen bei Herbig] [Disteln für Hagen bei Ullstein]

Dabei griff Fernau ausgerechnet die Parallele auf, die den Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg so peinlich gewesen war - und dazu noch mit einem Ausblick, der den politisch-korrekten Gutmenschen von heute die Haare hätte zu Berge stehen lassen (ein Glück, daß es von diesen 68er Analfabeten niemand gelesen hat - sie würden es noch heute prompt verbieten): Hagen hat Sîfrîde ermordet, pardon hingerichtet - denn es geschah ja im Auftrag des burgundischen Königs (oder der Königin? Egal...), und der war zugleich der oberste Richtherr, und Hagen nur sein Vollstrecker. "Um ein Mythos zu werden, muß eine Gestalt so enden," schreibt Fernau und fährt fort: "Und so endete auch tatsächlich der letzte hybride Recke der Deutschen: Hitler. Er wird ein Mythos werden, ob wir wollen oder nicht. In wenigen Generationen wird es soweit sein: Er wird aus "Xanten" stammen, er wird den Drachen erschlagen haben, er wird der Sieger der Sachsenkriege gewesen, er wird durch einen Hagen gefällt, und das Reich wird durch die Hunnen zerstört worden sein. Wir mögen ihn hassen und lächerlich machen - es wird korrigiert werden. Wüßte ich einen Rat dagegen, ich würde ihn geben. Aber es gibt keinen." Dikigoros weiß im Ergebnis auch keinen - obwohl er gute Lust hätte, Fernaus Strauß einmal ordentlich auseinander zu rupfen (der offenbar aus Weinhebers Garten gepflückt ist - um Euch das zu zeigen, hat er oben dessen Zitat aufgenommen): Ja, es stimmt, um zum Mythos, zum Nationalhelden oder -heiligen zu werden, muß man wie Sîfrit eines gewaltsamen Todes sterben (darüber schreibt Dikigoros an anderer Stelle mehr); aber der Umkehrschluß ist nicht zwingend: Nicht jeder, der so endet wie Sîfrit, wird auch zum Mythos. Aber pardon - endete Hitler denn überhaupt wie Sîfrit von Xanten? Ist er durch einen Speer (oder eine andere Waffe) eines Dritten in den Rücken getötet worden? Nein, denn die Feiglinge vom 20. Juli 1944 pfuschten und schafften es nicht, ihn zum Martyrer zu machen. Also beging er Selbstmord - und das reicht für gewöhnlich nicht aus. Und was besagt schon die Herkunft aus Xanten? Mit Verlaub, gar nichts. Der alte Hindenburg wußte nicht, wo Braunau liegt (er dachte in der Tschechei, deshalb nannte er seinen Kanzler in spe "den böhmischen Gefreiten" :-), er hätte auch nicht gewußt, wo Xanten liegt. Und Ihr, liebe jüngere Leser, wißt doch auch nicht, wo Mossenberg liegt, oder? Ist ja auch völlig unerheblich - der Strom kommt aus der Steckdose, und der Kanzler aus der Partei, basta.

[Der Kanzler aus Mossenberg]

Zurück zu Fernaus Parallelen: Den Drachen soll der "hybride Recke" erschlagen haben? Welchen? Den von Wagner in Bayreuth? Ach nein, den, der auf dem roten Gold saß, also wohl den Drachen der Plutokratie (wie er das nannte, was wir heute "Kapitalismus" nennen), die in seinen Augen vom "internationalen Judentum" verkörpert wurde. Aber pardon - florieren nicht sowohl der Kapitalismus als auch die Juden als auch das, was wir heute die "Globalisierung" nennen, ganz prächtig? Er hatte es ja nicht einmal geschafft, den "eklen Wurm der deutschen Zwietracht" (wie böse Zungen das nach dem Krieg nannten) zu beseitigen! Die Sachsenkriege hat er gewonnen? Welche sollen das gewesen sein? Die gegen die Angelsachsen hat er jedenfalls verloren. Claus v. Stauffenberg hatte wie gesagt mit Hagen v. Tronje nichts gemeinsam außer seinem Adelstitel und der Einäugigkeit - aber der letztere war wenigstens nicht blind und nicht so feige wie der erstere, der nicht bereit war, den traurigen Rest verkrüppelten Lebens, das noch in ihm war, einzusetzen, um seine Tat zu Ende zu führen, sondern sich vorzeitig verpißte und dadurch - wie Hagen - alle seine Mitverschwörer mit in den (vermeidbaren) Untergang riß. Geendet sind sie ja beide gleich, hingerichtet wegen [versuchten] Mordes; und vielleicht haben wir da tatsächlich eine verblüffende Parallele gefunden: Diese beiden Pfeifen, die alles falsch gemacht haben, was man nur falsch machen konnte - und durchaus nicht aus edlen Motiven, sondern aus Selbstsucht und Größenwahn - wurden im Nachhinein zu "Helden" hoch stilisiert, jedenfalls von Amts wegen. Stauffenberg ist - trotz massivster, Jahr für Jahr zunehmender staatlicher Propaganda in der BRD - nie richtig "populär" geworden und wird es auch nie werden, und der düstere Hagen von Tronje ebenso wenig, wiewohl die "Nibelungentreue" eigentlich auf ihn gemünzt ist. Beider "Heldentum" war nur die Ausgeburt kranker Politiker-Gehirne. Kranker deutscher Politiker-Gehirne, denn überall sonst auf der Welt galten und gelten sie ausnahmslos als Verräter, Versager oder Verbrecher - und das mit Recht.

[Hagen v. Tronje] [Claus Schenk v. Stauffenberg]
düstere Möchtegern-Helden: Hagen v. Tronje, Claus Schenk v. Stauffenberg

Ach so, das Reich... wurde es wirklich durch die Hunnen zerstört? Wohl kaum, aber das ist eine andere Geschichte. Bleibt noch der Satz, daß Fernau einen Rat geben würde, wenn er einen wüßte - und auch das kauft ihm Dikigoros nicht ab. Fernau war ein überzeugter Nazi (Polit-Kommissar, pardon SS-Sonderführer in einer Propaganda-Einheit), und das aus sicher ehrenwerteren Gründen als Stauffenberg ein Anti-Nazi war und Hagen ein Anti-Sîfrit. Obwohl man doch beiden ach-so-edle Motive unterstellt?!? Wollte nicht Hagen nur die Beleidigung rächen, die seiner Königin zugefügt worden war? Von wem? Doch wohl von Kriemhilden! Und wollte Stauffenberg nicht die Aristokratie wieder herstellen, jene Herrschaft der Besten, der Grafen und Barone, und jene schändliche Demokratie mit all ihren Auswüchsen, vor allem der Pöbelherrschaft des Sozialismus (nationaler oder internationaler Richtung, das blieb sich doch gleich) beseitigen? Ja, das wollte er wohl; aber Dikigoros erlaubt sich die Frage, ob die Aristokratie damals wirklich noch eine Auslese der Besten war. Wenn er die an Körper und Geist verkrüppelten Adeligen von damals mal so Revue passieren läßt (wohlgemerkt nicht die im Krieg versehrten, sondern die infolge Jahrhunderte langer Inzucht erbkranken), dann kommt in ihm so etwas wie Verständnis auf für Stalin, der sein Offizierskorps in den 30er Jahren radikal von jenen Elementen "säuberte" (der Erfolg sollte ihm Recht geben!), und Unverständnis für Hitler, der dies versäumte, bevor er sich auf einen Krieg gegen Stalin inließ.

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Echte National-Epen beinhalten den Zug eines Volkes aus seiner alten Heimat in die neue und verklären ihn zur Heldentat: Der Zug der Juden aus Ägypten durch die Wüste Sinaï ins Heilige Land Erez Israel, die Flucht des Aeneas aus dem brennenden Troia über das Mittelmehr nach Italien, die Fahrt der Puritaner auf der Mayflower über den Atlantik in die Neue Welt und der Zug der Mormonen zum Großen Salzsee sind typische Beispiele, die Dikigoros in anderen Kapiteln dieser Reise durch die Vergangenheit vorstellt. Das "Nibelungenlied" paßt nicht in diese Kategorie - oder doch? Nun, jedenfalls nicht, wenn man die herkömmliche Lesart zugrunde legt: Die Burgunder - die doch in Wirklichkeit selber aus dem Osten an den Rhein gezogen waren (wovon freilich keine Sage berichtet) wenden sich darin zurück gen Osten, um dort die Hunnen zu bekämpfen, und am Ende erobern sie dort keine neue Heimat, sondern gehen mit Mann und Maus unter. Wie pervers muß ein Volk sein, das sich eine solche Geschichte ausdenkt, und warum tut es das? Weil - so meint Ritter-Schaumburg - es sich ursprünglich gar nicht um ein Märchen, sondern um eine wahre Begebenheit handelte, wie sie die Thidrekssaga überliefert hat, und da zogen die Niflungen (die nicht nach einem Goldschatz so hießen, sondern nach einem Bach in der Eifel) sehr wohl nordöstlich ins "Hunenland" Westfalen. Daß sie dort untergingen war keine Erfindung des Nibelungenlied-Dichters, sondern einfach eine historische Tatsache. Pardon, Herr Ritter, aber das ändert doch nichts - im Gegenteil: Was veranlaßte denn den Dichter, sich ausgerechnet dieses traurige Kapitel aus der Thidrekssaga heraus zu picken und es zur Nibelungennôt auszuspinnen? [Einige Handschriften enden auch auf "Daz ist der Nibelunge liet", deshalb kann man trefflich streiten, welcher Ausdruck vorzuziehen ist - Dikigoros verwendet "Nibelungennot" und "Nibelungenlied" synonym, letzteres allerdings bevorzugt im Genitiv, weil er es im Nominativ eigentlich "Nibelungenliet" schreiben müßte - s.o.] Warum nicht irgendein anderes, besser geeignetes Vorbild? Weil - so die herrschende Lehre - zur Zeit der Niederschrift des "Nibelungenliedes", also zu Beginn des 13. Jahrhunderts, die Vernichtung des "ersten" Burgunderreichs zu Worms am Rhein anno 453 durch die Hunnen (oder - so eine Mindermeinung - des "zweiten Burgunderreichs" durch die Franken im Jahre 538) allen potentiellen Hörern noch durchaus geläufig, so zu sagen hoch aktuell war; diesen professoralen Unfug können wir ohne weiteren Kommentar als abwegig beiseite legen. Weil - so Ritter-Schaumburg - die Ungarn-Kämpfe des 10. Jahrhunderts zumindest den Ostmärkern noch in frischer Erinnerung waren (während Westfalen weit weg war) - also mußte die Geschichte in Ungarn spielen. Aber auch das wagt Dikigoros zu bezweifeln: Das historische Gedächtnis der Menschen ist heute schon verdammt kurzlebig, obwohl Fernsehen, Rundfunk, Zeitungen usw. ihm als Stütze dienen können. Was glaubt Ihr denn, wie lange die Kämpfe zwischen Ottonen und Magyaren dem mittelalterlichen Menschen im Gedächtnis haften blieben? Und diese Kämpfe endeten ja auch gar nicht mit der Vernichtung der braven Ritter vom Rhein in Ungarn, sondern ganz im Gegenteil mit der Vernichtung der Ungarn, die in Deutschland eingedrungen waren, am Lech.

Nein, liebe Leser, wenn wir denn schon eine historische Parallele bemühen wollen, dann werden wir uns wohl direkt ins 13. Jahrhundert begeben müssen. Seht Ihr, die Besserwisserei und Großkotzigkeit unserer heutiger "Wissenschaftler" geht immer davon aus, daß die Schreiber des Mittelalters lauter Idioten waren, die ein Hunenköniglein aus Westfalen nicht von einem Hunnenkönig der Völkerwanderungszeit unterscheiden konnten. Aber wenn der Verfasser der Nibelungennôt nun gar nicht so dumm war wie die Herren Professoren noch immer glauben, sondern wenn er - wie Dikigoros - Gemeinsamkeiten suchte zwischen den Ereignissen seiner unmittelbaren Gegenwart und der Vergangenheit, um seinen Zeitgenossen einen Spiegel vorzuhalten? (Auch Fernau tat ja in "Disteln für Hagen" nichts anderes - wenngleich Dikigoros wie gesagt meint, daß der von dem alten Bromberger gewählte Vergleich hinkt.) Suchen wir also nach einem vergleichbaren Ereignis aus dem 13. Jahrhundert und vergessen erst einmal die Datierungsversuche der herrschenden Lehre: Es gibt nichts, aber aber auch gar nichts, das eine Entstehung Ende des 12. oder Anfang des 13. Jahrhunderts zwingend macht, vor allem nicht das angebliche Zitat der Szene mit dem Küchenmeister Rûmolt (Vers 1465 der Nibelungennôt) im VIII. Buch (Vers 420 f.) des Parzival, das immer als "Beweis" dafür angeführt wird, daß Wolfram von Eschenbach die Nibelungennôt gekannt habe, weshalb sie vor 1220 entstanden sein müsse (seinem mutmaßlichen Todesjahr).

[Exkurs, auf den es im Ergebnis nicht ankommt; aber Dikigoros will seinen Lesern einmal mehr exemplarisch aufzeigen, wie leichtfertig, ja leichtsinnig die heutigen Germanisten argumentieren und kalkulieren, wenn es um die Datierung mittelalterlicher Literatur geht. Einige der Vorgenannten meinen nämlich, den Parzival noch genauer datieren zu können und kommen dann auf einen noch früheren Zeitpunkt. Wolfram schreibt ja im 7. Buch, Vers 379, daß die Erffurter wîngarte noch niedergetreten lägen in der selben Not; und der Feldzug, bei dem die Erfurter Weingärten niedergetrampelt wurden, fand im Sommer 1203 statt. Also müsse das 7. Buch des Parzival kurz danach, vielleicht 1204 oder 1205, geschrieben worden sein. Aber das ist nicht zwingend: Wie lange dauert es denn, bis ein zerstörter Weingarten wieder nachwächst? Und warum ist es Wolfram eine besondere Erwähnung wert? Das macht doch nur Sinn, wenn die Zerstörung schon einige Zeit zurück liegt und immer noch zu sehen ist, oder? Wieder andere meinen denn auch, daß bestimme Sternenkonstellationen, die Wolfram erwähnt, eher auf das Jahr 1208 hindeuten; und das scheint wiederum zu einem anderen Detail zu passen, nämlich zu einer der ersten Zeilen in der 31. Aventiure inn Nibelungennôt. Da sagt Hagen, als sich die Burgunder zum Kirchgang vorbereiten, sie sollten statt der Rosenkränze lieber Waffen mitnehmen. ("nv trage fver die rosen div waffen an der hat"). Aha - und wann wurde der Rosenkranz erfunden (nicht der Sermon - denn den nimmt man ja nicht mit -, sondern die Gebetskette mit den Perlen und dem Kreuz)? Nach herrschender Meinung vom heiligen Dominicus - Gründer des gleichnamigen Ordens, über den Dikigoros an anderere Stelle mehr schreibt - anno 1208. Also... also was? Das bewiese doch nur, daß die Nibelungennôt nicht vor 1208 entstanden sein kann, wohl aber noch viele Jahre später. Doch gehen wir der Sache mal auf den Grund, dann werden wir feststellen, daß da jemand Gustaf und Gasthof verwechselt hat, nämlich der Chronist Alanus de Rupe im 15. Jahrhundert. Der hatte wohl mal gehört, daß ein Dominicus das Rosenkranzgebet maßgeblich geprägt hatte - das stimmt auch, und in dieser Form besteht es bis heute. Dieser Dominicus war aber nicht der italienische Heilige, sondern ein Karthäuser-Mönch aus Trier, dem man inzwischen den Beinamen "von Preußen" verpaßt hat. Aber als er 1460 starb, trug er den noch nicht, weshalb er verwechslungsfähig war; und kaum war er acht Jahre unter der Erde, da unterlief Alanus auch schon jene Verwechslung. Wir können die Legende von der Erfindung des Rosenkranzes anno 1208 also ad acta legen - selbst die meisten Theologen glauben heute nicht mehr daran. Aber wer erfand denn nun tatsächlich den Rosenkranz als solchen, d.h. das Gerät, das die Burgunder mit in die Kirche hätten nehmen können? Wahrscheinlich der Zisterzienserabt Stefan von Sallay. Wann genau das war, wissen wir nicht; wir kennen nicht mal seine genauen Lebensdaten. Gestorben sein soll er 1252; und irgendwelche Kopisten haben das mal wieder unkritisch übernommen für das Datum seiner Erfindung, so daß man dann lesen kann: "Erfindung des Rosenkranzes (1252)" o.ä. Aber ob er den tatsächlich erst auf dem Sterbebett erfand? Dikigoros wagt das zu bezweifeln; aber er weiß, daß der Zisterzienserorden besonders stark vertreten war in und um - na wo wohl? Richtig, Würzburg! Wenn also jemand von jener famosen Erfindung gehört haben mußte, dann war es - na wer wohl? Richtig: Konrad von Würzburg. Wer also auf die Rosenkranz-Zeile abstellen will, möge das ungefähre Datum - um oder einige Jahre vor Mitte des 13. Jahrhunderts - im Hinterkopf behalten und es mit den Resultaten, die Dikigoros weiter unten vorlegt, vergleichen. Exkurs Ende]

Aber wenn Ihr Euch die beiden Stellen mal anschaut, dann ist jenes drastisch-plastische Bild, das Wolfram im Parzival Rûmolden in den Mund legt ("Wenn Ihr zu den Hunnen fahren wollt, könnt Ihr ja gleich Brot in Scheiben schneiden, Euch als Sandwich dazwischen legen und beidseitig im Kessel braten lassen!") gar kein Zitat aus der Nibelungennôt. Und überhaupt ist zwar der Name der gleiche, nicht aber die Person: Im Parzival ist Rûmolt nur ein einfacher "koch" - wie ja auch jener merkwürdige Satz mit dem Sandwich im Kessel zeigt, der nur einem Küchenhirn entsprungen sein kann -, und Wolfram macht mehr als deutlich, daß er auf den Rat einer derart untergeordneten Gestalt nichts geben würde. Dagegen ist der Rûmolt der Nibelungennôt "kuchenmeister" - das war ein angesehenes Hofamt (das es übrigens vor 1198 noch gar nicht gab - so viel zu denen, die die Nibelungennôt "um 1190" datieren wollen!), ungefähr unserem heutigen Wirtschaftsminister entsprechend; er und sein Stab werden bei der Vorstellung der handelnden Personen in der ersten Aventiure noch vor dem Marschall, dem Truchseß, dem Mundschenk und dem Kämmerer (den "klassischen" Hofämtern) genannt, und überdies wird Rûmolt als "ein ûzerwelter degen [ausgezeichneter Krieger]" bezeichnet - also alles andere als ein Koch. Die Stimme eines solchen Mannes hatte im Kronrat durchaus Gewicht; und nicht umsonst macht ihn Gunther ja bei seiner Abreise zu den Hunnen zu seinem Regenten und Stellvertreter. (Ja, nicht nur zum Regenten auf dem Thron, sondern auch zum Stellvertreter im Bett: Lest mal die Verse 1518 und 1519, da sagt Gunther ausdrücklich, daß Rûmolt auch den Frauen "wohl dienen" und ihren "Leib trösten" solle, wenn er eine aus Kummer weinen sehe :-) Wolfram von Eschenbach - der ja selber Hofministeriale war - kann aber nicht so dumm oder unwissend gewesen sein, daß er die Stellung Rûmoldens derart falsch interpretiert hätte, wenn er ihn aus der Nibelungennôt übernommen hätte. Fazit: Diese Parallele ist kein Beweis dafür, daß Wolfram das Nibelungenlied kannte, sondern vielmehr für das Gegenteil: Er kannte es nicht! Freilich folgt daraus nicht schon im Umkehrschluß, daß der Nibelungenlied-Dichter den Rûmolde aus dem Parzival hatte, denn es gab ja frühere Bearbeitungen einzelner Nibelungen-Motive, die sowohl Wolfram von Eschenbach als auch dem Nibelungenlied-Dichter bekannt sein und aus denen sie beide schöpfen konnten. Aber es gibt zwei andere Stellen, aus denen sich ergibt, daß der Nibelungenlied-Dichter Wolframs Parzival kannte, nämlich die, an denen er "Azagouc" und "Zazamanc" - als Provenienzen feiner arabischer Seide - erwähnt (Vers 362 und Vers 439). Diese beiden Namen findet man sonst nirgends; der Nibelungenlied-Dichter muß sie also aus dem Parzival haben. Das räumen mittlerweile auch die Berufs-Germanisten ein, allerdings nicht, ohne weiterhin Rückzugsgefechte zu führen. Ihre "Lösung": Das müssen wohl "spätere Einschübe" in die Nibelungennôt sein, für die der Nibelungenlied-Dichter nichts konnte. So so - merkwürdig nur, daß das Versmaß trotzdem genau paßt, was nun nicht gerade für jene faule Ausrede, pardon für jene fleißige These spricht. (Aber die Herren Professoren sollen ja etwas tun für ihr Geld; also müssen sie von Zeit zu Zeit neue Thesen aufstellen - und seien sie auch noch so abwegig -, damit ihre Studenten wieder etwas zum Auswendiglernen und Nachplappern fürs Examen haben :-)

Exkurs. War Euch das zu knapp, liebe Fach-Germanisten? Schön, dann wollen wir uns mal mit jenen beiden famosen Ländern arabischen Namens befassen. (Alle anderen Leser dürfen diesen und die drei folgenden Absätze überspringen; sie sind wirklich nur etwas für Fach-Idioten :-) Nach Auffassung eines spanischen Historikers sind "Azagouc" und "Zazamanc" keine Fantasie-Namen, sondern Verballhornungen von "Zaragoza" und "Salamanca". Wer sich etwas intensiver mit Wolframs Willehalm und Parzival und mit deren Analyse durch den Schweizer Historiker Werner Greub beschäftigt hat, weiß, daß Wolfram für solch eigenwillige Schreibweisen - entsprechend seiner eigenen Aussprache - berüchtigt war, und daß sich noch hinter jedem dieser Namen ein realer Ort hat entdecken lassen. Ausgerechnet Azagouc und Zazamanc haben Greub und seine geistigen Erben, Konrad und Katharina DeGand, allerdings nicht bzw. nicht richtig lokalisiert (die letzteren wollen sie allen Ernstes an der Küste von Kenya finden - da können sie lange suchen :-). Darf Dikigoros das an dieser Stelle nachholen? Im ersten Buch des Parzival wird Gahmuret von einem Sturm in einen Hafen getrieben, der zu einer Stadt gehört, die von allen Seiten - von zwei Heeren verschiedener Herren - eingeschlossen und belagert war, außer zum Meer hin. Auf seine Frage nach ihrem Namen sagt man ihm: "Patelamunt". Die Besatzung ist gemischt, "etliche waren Sarazenen", und Belacâne, die Königin, ist sogar eine Mohrin. Das stört Gahmuret aber nicht weiter, denn nachdem er die Belagerer einen nach dem anderen besiegt hat (das eine Heer besteht aus Sarazenen, das andere aus Christen), heiratet er sie. Als sie dann freilich von ihm schwanger wird überlegt er es sich anders, macht sich heimlich bei Nacht und Nebel auf und davon, erst nach Sibilje, von dort nach Dôlet (sein Zelt hatte er schon vorher nach Azagouc voraus geschickt) und hinterläßt seinem "swarze wîbe" nur einen Abschiedsbrief "en franzois, daz sie kunde", in dem er seinen Stammbaum zum Besten gibt. Nun sortieren wir mal: Wir suchen also einen Hafen an einer Flußmündung (denn nichts weiter heißt "Patela-munt": Kleiner Hafen [Verballhornung von "portillo"] an einer Fluß-Mündung), zu dem eine befestigte Stadt gehört, die offenbar an der Grenze zwischen christlichem und sarazenischem Gebiet liegt und von beiden Seiten umkämpft wird; sie liegt außerdem an einem Fluß, von dem aus man direkt nach Azagouc gelangen kann - was nur logisch ist, denn Belacâne (die zwar eine Schwarze ist, aber lesen und schreiben kann, und dazu noch Französisch, was ebenfalls auf die Grenzlage hindeutet) ist ja Königin von Azagouc und Zazamanc - und weiter nach Dôlet. Dafür kommt aber nur eine Lokalität in Frage, nämlich Tortosa, die befestigte Stadt zu beiden Seiten des Ebro (Grenzfluß zwischen dem Frankenreich und dem sarazenischen Spanien) unweit seiner Mündung ins Mittelmeer. Tortosas natürlicher Hafen wird von seinen Einwohnern bis heute nicht "puerto", sondern "portillo" genannt (was daran liegen mag, daß er das Tor - das bedeutet "portillo" wörtlich - ins Innere Spaniens war zu einer Zeit, als es noch keine Auto- und Eisenbahnen gab, sondern die Wasserstraßen das wichtigste Verkehrsnetz bildeten. Von Tortosa aus kann man flußaufwärts an einem Tag nach Zaragoza schippern und von dort weiter nach Tudela (denn das - nicht Toledo, wie früher fälschlich angenommen wurde - verbirgt sich hinter "Dôlet"). Aber von "Zaragoza" nach "Azagouc", ist das nicht filologisch ein ziemlich großer Sprung? Nein, liebe Germanisten, auch wenn Ihr mit der Romanistik traditionell auf dem Kriegsfuß steht: Die - von den Römern gegründete - Stadt hieß ursprünglich "Caesaraugusta"; die Herkunft des "a" vor dem ersten "Z" ist also ganz leicht zu erklären; die unbetonte Mittelsilbe "ra" hat erst den Konsonanten "a" verloren (er wurde beim schnellen Sprechen verschluckt), dann ist das "r" zur Schwundstufe geworden (ähnlich wie heute im Deutschen das Endungs-r nach unbetontem Vokal); und das Endungs-c wurde nicht wie "k" gesprochen, sondern - ausweislich der französischen Schreibweise ("-ce") wie "s"; das letzte "a" ist wiederum entfallen. (Ausgebildeten Sprachwissenschaftlern muß das genügen, und die filologischen Laien haben diesen Absatz ja ohnehin übersprungen :-)

Wie kann es aber sein, daß eine schwarze "Königin" in Tortosa sitzt? Gab es denn dort Neger? Und Herrscherinnen auf islamischem Gebiet? Ja, liebe Leser, die gab es, und Belacâne sagt doch sogar ganz eindeutig, woher sie kommt: Der brave Îsenhart, den sie auf dem Gewissen hat, war ihr "vriunt", also ihr Schwager. Sein Vater Tankanîs war ebenfalls ein "môr" von "swarzer varwe", ebenso sein Vetter Vridebrant, der nun zur Belagerung angereist ist. Und die Leute, die er mitgebracht hat - zu denen offenbar auch Belacâne gehört - nennt Wolfram "Schotten". Damit meint er natürlich hier und im folgenden nicht Leute von den fernen britischen Inseln - die hießen "Scoten", und wie und warum hätten die nach Tortosa kommen sollen? -, sondern die Bewohner der Gegenden hinter den Šoţţen, den algerischen Salzwüsten. (Nie gehört, liebe Germanisten? Nun ja, Geografie... schaut einfach mal in den Atlas :-) Dort, genauer gesagt am Fuße des Hoggar-Gebirges lebte - und lebt - ein Stamm (die "Kel Ahaggar"), den farbenblinde, pardon, politisch korrekte Gutmenschen heute gerne zu den "Berbern" zählen, weil sie einen Berber-Dialekt sprechen. Aber rassisch - pfui, welch ein Wort, aber leider kommen wir hier ohne ein wenig Rassenkunde nicht aus - gehören sie zu den Tuareg (bitte klein Plural-s anfügen, liebe Leser, wie die doofen Limeys das tun - "Tuareg" ist schon die Pluralform!), und zwar zu einem der wenigen Stämme, die sich mit Sudan-Negern vermischt haben und deshalb auch selber pechschwarz sind. Übrigens lebten sie im Matriarchat - wovon sich, dem Islam zum Trotz, sogar bis heute noch Reste erhalten haben, wie Euch jeder Ethnologe bestätigen kann. Und da war es selbstverständlich, daß der Schwager die Witwe des verstorbenen Bruders heiratete - wenn sie ihn nicht vorher einer Mutprobe aussetzte, bei der er zu Tode kam, wie hier geschehen. Noch Fragen? Ach so: Wie kamen die "Kel Ahaggar" nach Tortosa? Ganz einfach: Von ihrem Hauptsitz El-Ecker führte - und führt bis heute - eine Karawanen-Piste über In-Saläh, El-Golea, Ghardaïa und Dschelfa bis nach Algier. (Ein Studienfreund von Dikigoros, den Ihr vielleicht schon aus einer anderen "Reise durch die Vergangenheit" kennt - es ist der Schmetterlings-Sammler - ist sie Anfang der 1970er Jahre mal abgefahren.) Wie sagt Belacâne zu Gahmuret, nachdem sie ihm vom Ableben Îzenharts berichtet hat: "Dô suochte mich von über mer der Schotten künec mit sînem her..." - "Über[s] [Mittel]me[e]r von Algier aus gelangt man aber, wenn man Kurs nord-nordwest auf das gegenüber liegende Festland nimmt (direkter geht es nicht, weil weiter westlich Ibiza im Weg liegt und weiter östlich Mallorca) - na wohin wohl: nach Tortosa.

"Ja aber," insistieren die Skeptiker, "ist denn in der Geschichte irgendwo überliefert, daß Tortosa im 10. Jahrhundert mal unter schwarzer Herrschaft stand?" Es ist, liebe Leser, und obwohl Dikigoros ungerne spekuliert, muß er es an dieser Stelle einfach mal tun, weil es so schön paßt. Wenn Ihr des Spanischen mächtig seid, besorgt Euch doch mal eine "História de los Marruecos" (gibt es auch im Internet - aber leider nicht auf Deutsch), dann werdet Ihr erfahren, daß der große Abd ar-Rahmān III (er war wirklich groß - und [rot-]blond und blauäugig, Sohn einer fränkischen [oder baskischen, aber das bleibt sich gleich] Nebenfrau, vielleicht das Produkt eines Seitensprungs :-) das bis dahin unabhängige Tortosa erst im Jahre 945 eroberte, und zwar mit schwarz-afrikanischen Söldner-Truppen. Da die Araber aber damals grundsätzlich nur "Berber" als Fremden-Legionäre beschäftigten (erst zu Beginn des 11. Jahrhunderts begannen sie, auch Türken für den Militärdienst anzuwerben bzw. einzufangen), keine "echten" Neger, bleiben wohl wieder nur die "Kel Ahaggar", jener schwarze Stamm der Tuareg. "Schwer integrierbar" nennen die Chronisten jene schwarzen Söldner. Dürfen wir daraus nicht schließen, daß die von ihnen eroberten Gebiete, zumal an den Randzonen, sich wieder des-integrierten, d.h. vom Kalifat unabhängig machten? Einem Herrscher - oder einer Herrscherin, wir erinnern uns, die Kel Ahaggar waren matriarchalisch organisiert -, der den wichtigsten Hafen der Iberischen Halbinsel besaß, konnte das am ehesten gelingen, zumal nach dem Tode Abd ar-Rahmāns anno 961. Und noch etwas paßt einfach zu gut, um ein bloßer Zufall zu sein: Wohin wollte Gahmuret (hinter dem sich, wie Dikigoros an anderer Stelle darlegt, der historische "Dschawar von Sizilien" verbirgt) denn gehen, nachdem er beim "Bâruc" (hinter dem sich der fāţimidische Kalif al Mu'izz verbirgt) in Ungnade gefallen war, wenn er als mittlerweile zum Islam konvertierter Renegat sich (noch) nicht wieder zu den Christen zurück traute? Notwendigerweise an einen neutralen Ort, und da war schwerlich einer besser geeigner als Tortosa, wo er erstens gebraucht wurde, weil Krieg herrschte, und der ihm zweitens alle Optionen zur Weiterreise offen ließ: entweder zurück übers Mittelmeer, oder aber den Ebro hinauf nach Azagouc (Zaragoza) und Dôlet (Tudela) - von wo auch die einzige gute Überlandstraße nach Zazamanc (Salamanca) verlief.

[Tortosa] [Tortosa]

Aber wieso sollen sich hinter zwei Städte-Namen gleich ganze Reiche verbergen? Nun, das kommt auf den Zeitpunkt an. Dikigoros hat in einer früheren Fassung dieser Seite die These vertreten, daß sich die im ersten und zweiten Buch des Parzival geschilderten Erlebnisse Gahmurets im 11. Jahrhundert abspielten. Aber auch er geht manchmal den Leerbuch-Historikern auf den Leim - es wäre ja so schön einfach gewesen: Als das Omajjaden-Kalifat von Córdoba zu Beginn des 11. Jahrhunderts im inner-arabischen Bürgerkrieg versank und anno 1031 schließlich auseinander brach, entstanden auf seinem Boden Mini-Königreiche ("reinos de taifa" oder einfach "taifas" wurden sie von den Spaniern genannt, wobei "reino" wörtlich nur "Herrschaft" bedeutete; Tā'if war ein Stadtstaat auf der arabischen Halbinsel - mit dem heutigen Gebrauch seid bitte vorsichtig, liebe Leser, besonders wenn Ihr in Ausländer-Viertel spanischer Städte geraten solltet; "taifas" ist inzwischen ein Schimpfwort für Araber im allgemeinen und für Banden krimineller muslimischer Immigranten im besonderen geworden). Zwei davon, Salamanca und Zaragoza, hatten noch lange Zeit einen guten Ruf als Seide-Provenienzen mit entsprechendem, für mitteleuropäische Verhältnisse märchenhaften Reichtum, wie ihn Wolfram von Eschenbach beschreibt. Im Zuge der einsetzenden "Reconquista [Rückeroberung]" gewann Alfonso VI (ja, das ist der aus dem Cid, der 1063 König von León und 1072 auch König von Kastilien wurde und die beiden Länder somit vereinigte) 1085 Salamanca (der Südteil des Mini-Reichs bestand noch eine Zeit lang unter dem Namen "Taifa de Badajoz" fort), und Alfonso I von Aragón 1118 Zaragoza. Seitdem machten exotische Namen wie "Zazamanc" und "Azagouc" für den unbedarften mitteleuropäischen Leser (oder Hörer) keinen Sinn mehr. Für den Nibelungenlied-Dichter, der im 13. Jahrhundert lebte, waren sie wohl nur Fantasienamen, hinter denen er selber keine ehemaligen arabischen Teil-Reiche in Spanien vermutet hätte, denn er kannte ja - wenn überhaupt - nur "Salamanca" und "Zaragoza" als Namen von Städten in den christlichen Königreichen Kastilien und Aragón. Mit anderen Worten: Der Nibelungenlied-Dichter hatte überhaupt keinen Anlaß, sich jene Namen auszudenken, da sie zu seiner Zeit keine reale Bedeutung mehr hatten - und das bleibt sich natürlich gleich, auch wenn Dikigoros jetzt der Auffassung ist, daß die von Wolfram überlieferte Geschichte Gahmurets nicht im 11., sondern im 10. Jahrhundert spielte. Was war falsch am 11. Jahrhundert? Nun, da hingen die beiden genannten Taifas von Zaragoza und Salamanca nicht mehr zusammen, es konnte also keine "Königin von Azagouc und Zazamanc" geben. Nein, die Jahreszahl 1031 führt uns in die Irre: Der Umstand, daß der Āmir Ibn Abī, genannt "al-Mansūr [der Sieger]" 978 die Macht im Kalifat Córdoba an sich riß und dessen Karren noch einmal kurz aus dem Dreck zog, verstellt uns leicht den Blick auf die Tatsache, daß jenes Gebilde schon nach dem Tode von Abd ar-Rahmān III im Jahre 961 zu bröckeln begann - sein Sohn al-Hakam II war ebenso unfähig wie sein Enkel al-Hākim. (Auf einer Webseite der Encyclopaedia Britannica wird sogar die Auffassung vertreten, daß Tortosa im Geburtsjahr des dort geborenen Filologen Menachim b'n Saruq, also 910, schon einmal ein von Córdoba unabhängiger muslimischer Staat war. Das ist gut möglich, denn wir haben ja gesehen, daß Abd ar-Rahmān III Tortosa erst 945 eroberte, und davon, daß es zuvor etwa den Christen gehört hätte, ist nichts bekannt.) In jene Zeitspanne zwischen 961 und 978 fallen aber die Ereignisse um "Gahmuret", wie Dikigoros an anderer Stelle im einzelnen darlegt. Damals mögen die Gebiete um Salamanca und Zaragoza, aus denen später separate Taifas werden sollten, noch zusammen gehangen haben - vielleicht wie auf der Karte unten links das gelb-grün schraffierte Gebiet. So oder so - der Nibelungenlied-Dichter muß die Namen "Azagouc" und "Zazamanc" mangels anderer Vorlagen aus dem Parzival Wolframs von Eschenbach übernommen haben. Exkurs Ende.

[Die Iberische Halbinsel im Mittelalter]
- - Die Iberische Halbinsel zur Zeit, in der Parzival spielen soll - - Die Iberische Halbinsel zur Entstehungszeit des Nibelungenliedes

Auch die These, daß die isländischen Sagas des 12. Jahrhunderts aus der Nibelungennôt abgeleitet seien, letztere folglich älter sein müsse, können wir getrost vergessen, denn der Inhalt der Sagas ist dem des Niebelungenliedes geradezu entgegen gesetzt; das kann jeder unschwer feststellen, der sich mal die Mühe macht, beide nachzulesen. (Aber welcher "Germanist" tut das schon noch - faule Fachidioten in spe beschränken, pardon "spezialisieren" sich entweder auf das eine oder auf das andere; an einigen Universitäten hat sich "Nordistik" längst zum eigenen Orchideen-, pardon Nebenfach gemausert, in dem man z.B. eine Magister-Prüfung ablegen kann :-) Ein paar Beispiele gefällig? Bitte sehr: Im Sigurđarqviđa bringt nicht Högni [Hagen] Sigurd um - er spricht sich vielmehr gegen den Mord aus -, sondern der dritte Königsbruder Guttorm, weil Gunnar [Gunther] glaubt, daß sie so den Bruch des Freundschaftseides, den er und Hagen - nicht aber Guttorm - Sigurd geschworen haben, umgehen können. (Allerdings durchschaut Gudrun [Kriemhilt] die Anstiftung und verflucht sie beide.) Im Atlaqviđa lädt nicht die böse Kriemhilt ihre Brüder an den Hof ihres ahnungslosen Gatten Etzel ein, um sie dort heimtückisch umzubringen, sondern der böse Atli lädt die Nibelungen heimtückisch ein, während die ahnungsvolle Gudrun ihre Brüder warnt. Nicht Hagen ermordet Etzels Sohn, sondern Gudrun ermordet Atlis (und ihre) Söhne und setzt sie ihm zum Fraß vor. Nicht Hagen bewahrt das Geheimnis um den versteckten Schatz und nimmt dafür in Kauf, daß Gunther getötet wird, sondern es ist genau umgekehrt: Gunnar läßt Högni über die Klinge springen, genauer gesagt, er besteht darauf, daß man ihm bei lebendigem Leibe das Herz heraus schneidet. Nein, die Sagas und die Nibelungennôt gehen - da hat Ritter-Schaumburg wohl Recht - jeweils auf unabhängige Bearbeitungen der Thidrekssaga zurück, wobei sie bemerkenswerter Weise beide einen ganz wesentlichen Punkt weg lassen, nämlich das Motiv der Burgunden. Das Motiv der anderen Seite war klar - und rechtens, egal ob nun Kriemhilt den ihr vorenthaltenen Nachlaß Sîfrîdens begehrte oder Etzel die ihm zustehende Mitgift seiner Frau. (Sie hatte versprochen, den Hort mit ihm zu teilen.) Aber wer zwang denn die Burgunder, jene Einladung anzunehmen? Eben, niemand! Und wer unternimmt eine relativ weite und gefährliche Reise, bloß um irgend ein Fest zu feiern oder irgend eine Verwandte - deren Sympathie er zudem keineswegs sicher sein kann - wieder zu sehen? Und wer nähme dafür eine für frühmittelalterliche Verhältnisse doch recht zahlreiche Streitmacht mit? (In der Nibelungennôt wird noch eine Null dran gehängt, so daß sie auch für hochmittelalterliche Verhältnisse ziemlich groß ist :-) Nein, da muß schon etwas mehr hinter stecken. So auch in der Thidrekssaga: Da lädt Gudrun ihre Brüder nämlich nicht bloß zu irgend einem Fest ein, sondern ködert sie brieflich mit der Machtübernahme im Hunenland: Attala ist schon alt und schwach, sein Sohn noch jung und schwach, was läge also näher, als einen Burgunder zum Regenten zu machen? Hagen wittert die Falle und rät ab; aber Gunter hat Blut geleckt: "Ich fahre, und bevor ich zurück kehre, bringe ich das Hunenland ganz in meine Gewalt!" Ja, ist denn dieser Provinzfürst aus der Eifel größenwahnsinnig geworden? Nein, liebe Leser, durchaus nicht; wenn man berücksichtigt, was die Thidrekssaga zuvor berichtet hat, war der Zeitpunkt noch nie so günstig, das Hunenland zu erobern - unabhängig vom Alter des Königs oder der Jugend des Thronfolgers: Attala hatte den Feldzug Thidreks gegen Ermanrik unterstützt, der in der Katastrofe von Gränsport endete, der Schlacht, in der das Heer der Åmlungen mitsamt den hunischen Hilfstruppen mehr oder weniger aufgerieben wurde. Die derzeit einzige voll intakte Streitmacht in Attalas Machtbereich war wahrscheinlich das Aufgebot von Vogt Rodingeir (im Nibelungenlied - wo er zu "Marcgrâv Rüedegêr von Bechlâren" wird - scheint das noch in einer Zeile kurz durch: "der doch gewalt den meisten hie bî Étzélen hat"). Die entscheidende Frage war also: Auf wessen Seite stand der? Die Nibelungennôt macht es sich einfach: Er hatte Kriemhilt bei der Brautwerbung immerwährende Loyalität geschworen, und das spielt sie am Ende aus, um ihn in den Kampf gegen ihre Brüder zu schicken. Aber in der Thidrekssaga ist das erheblich komplizierter: Rodingeir ist in erster Linie Vasall/Verbündeter Attalas - der ja eigentlich gar keinen Krieg gegen die Burgunder will -; und er ist eng befreundet/verschwägert [das mittelhochdeutsche "vriund" kann beides bedeuten] mit Thidrek, der nicht auf Seiten Kriemhildens steht, denn er warnt die Burgunder eindringlich vor ihr und rät ihnen - in offenbarer Unkenntnis ihrer eigenen Eroberungspläne - zur Umkehr. Aber Rodingeirs Neutralität genügt den Burgundern nicht - sie wollen ihn zum Verbündeten gewinnen, dann kann ihr Plan gelingen. Und nach ihrem Besuch in Bakalar dürfen/können/müssen sie glauben, daß ihnen das auch gelungen ist, denn Rodingeir verlobt nicht nur seine Tochter mit Giselher, sondern er stattet die Burgunder außerdem mit zusätzlichem Kriegsgerät - u.a. Sîfrîdens Waffen (wie kommt er bloß an die?) - aus und zieht mit ihnen nach Susat. (Im Nibelungenlied heiratet seine Tochter den Burgundensproß sogar; es ist also klar, daß sie, falls der Plan der Burgunder aufgeht - zu dem vermutlich gehört, daß Gîselher [Unter-]König im Hunenreich wird - dort Königin wird. Wie gesagt, der Nibelungennôt-Dichter verschweigt uns diesen Plan; aber er vergißt, die - ebenso verräterischen wie trügerischen - Worte aus der Vorlage zu streichen, die Gîselher später in Etzelburg spricht: "Wohl mir solcher Freunde/Schwäger [s.o.], die wir auf diesem Wege gewonnen haben! Wir sollen hier von meinem Weibe großen Nutzen haben.") Daß Rodingeir am Ende wider Erwarten (auch in der Nibelungennôt - obwohl es dort eigentlich niemanden hätte wundern dürfen, denn da wissen die Burgunder doch von seinem Loyalitätsschwur gegenüber Kriemhilt!) die Seiten wechselt, führt die militärische Entscheidung gegen die Burgunder herbei. Leider bleiben uns auch Rodingeirs Motive verborgen - der spontane Wutanfall ob eines von den Burgundern erschlagenen Hunen, mit dem er befreundet war, wie ihn der Haupttext der Thidrekssaga liefert, überzeugt nicht; und Ritter-Schaumburgs "Svava" hat an dieser Stelle eine Lücke. (Dikigoros ist aber überzeugt, daß dem Nibelungennôt-Dichter eine vollständige Fassung vorlag, aus der er einiges - mehr oder weniger gedankenlos - übernommen hat :-) Erst schaute Rodingeir nur zu, wie sich die anderen gegenseitig die Köpfe einschlugen. Aber als sich die Waage zugunsten der Burgunder neigte, fürchtete er vielleicht, von einer Vasallität - der Hunen - in eine andere - der Burgunder - abzugleiten, wenn letztere obsiegten, während er im umgekehrten Fall hoffen durfte, von Attala auch noch mit deren Gebiet belehnt zu werden? An einer Stelle im Nibelungenlied bietet ihm Étzél doch sogar an, neben ihm als [Mit-]Künec zu herrschen, wenn er gegen die Burgunder kämpft! Wie gesagt, im Nibelungenlied gibt das nicht den Ausschlag, sondern vielmehr sein Kriemhilden geleisteter Treueschwur - aber ob er sich an den noch gebunden gefühlt hätte, wenn er gewußt hätte, daß Kriemhilt kurz zuvor hinter seinem Rücken seine "Marc" dem Bloedelîn versprochen hatte, mitsamt Nuodunges Witwe zur Frau? [Es war offenbar ursprünglich dessen Marc; Rüedegêr hatte sie wohl bekommen, nachdem Nuodunc bei Gränsport gefallen war, mitsamt dessen Schwester zur Frau.] Fragen über Fragen... Schade - wir werden die Antwort nicht heraus bekommen.

[Nibelungenklage]

Wie dem auch sei, Dikigoros meint, daß man den frühest möglichen Entstehungs-Zeitpunkt der Nibelungennôt auf die Mitte des 13. Jahrhunderts datieren kann - noch genauer auf das Jahr 1241 - und daß, wer die Parallele nicht sieht, mit Blindheit geschlagen sein muß. Fragen wir zunächst, wie die Germanisten - abgesehen von dem Scheinzitat Rûmoldens im Parzival - auf eine Datierung "Ende 12./Anfang 13. Jahrhundert" kommen und versuchen wir dann, sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Wie die meisten von Euch nicht wissen werden (es sei denn, sie hätten mal einen der Original-Texte gesehen; aber die werden für gewöhnlich gut unter Verschluß gehalten), folgt auf allen Pergamenten nach der Nibelungenot eine [Nibelungen]klage - die in den modernen Ausgaben ausnahmslos weg gelassen wird. Da heißt es unter anderem, daß der Bischof Pilgrim (oder Pilgerin - Bild oben Zeile 2, Mitte) von Passau diese Mär nieder schreiben ließ von einem Meister Konrad [oder Kuonrât oder Chvnrat - Bild oben viertletzte Zeile, Anfang -, je nach gusto; die überlieferten Schreibweisen sind unterschiedlich; es gab noch keinen Meister Konrad (Duden), der eine einheitliche Rechtschreibung vorgab]. Damit war der Fall wohl klar: Verfasser war ein ansonsten unbekannter Meister Konrad von Passau; und die Datierung konnte man nun noch genauer vornehmen, denn "Pilgrim" war natürlich nicht der Name des Bischofs, sondern der Beiname, der zeigte, daß er an einer Pilgerfahrt ins Heilige Land teilgenommen hatte (also etwa entsprechend dem Beinamen "Haji" für einen Muslim, der an einer Pilgerfahrt [Haj] nach Mekka teilgenommen hat). Dann kann es sich aber - evreká (dieser griechische Ausdruck hat mit Heu nichts zu tun, liebe Leser, auch wenn er in Deutschland ständig so ausgesprochen wird als ob :-) - nur um Bischof Wolger [oder Wolfger] von Erla [oder Ellenbrechtskirchen] handeln, der 1191 bis 1204 Bischof von Passau war und anno 1197 mit Heinrich VI auf Kreuzug war. Sehr scharfsinnig, liebe Leser, sehr scharfsinnig. (Fast so scharfsinnig wie die jüngste These zweier Brüder - ihres Zeichens Professoren für Germanistik bzw. Geschichte -, daß wohl Bligger von Steinach die Nibelungennôt geschrieben haben müsse, da der zwar im Tristan des Gottfried von Straßburg und im Alexanderroman des Rudolf von Ems sehr gelobt wird, als Dichter eines 5.000 Ellen langen Werkes mit dem Titel "Umbehanc", aber kein derartiges Werk von ihm überliefert ist, sondern lediglich drei kleinere Gedichte in der "Manessischen Liederhandschrift", und wir auch sonst so gut wie nichts über ihn wissen - gegen so viel verblüffende Logik kommt man nicht an, denn wo nichts ist, kann auch nichts widerlegt werden :-) Und doch hat Dikigoros oben in der ersten Bildunterschrift ja schon verraten, wen er für den Verfasser der Nibelungennôt hält: Konrad von Würzburg (oder, wie er sich selber schrieb, Cuonrât von Wirzeburc). Nanu - was stimmt denn nicht an der Argumentation der herrschenden Lehre? Fangen wir beim letzten Punkt an: Der Kreuzzug von 1197 kam gar nicht in Jerusalem an (Heinrich VI starb nämlich vorher in Italien, das zu unterwerfen er genau so begierig war wie sein Vater Friedrich Barbarossa); und für einen bloßen Segeltörn nach Antiochia gab es keinen Ehrennamen. Die erste (und letzte) Gelegenheit für einen Bischof von Passau, im 13. Jahrhundert nach Jerusalem zu pilgern und den Beinamen "Pilgrim" zu erwerben bestand in den Jahren 1230 bis 1244, nachdem Heinrichs (angeblicher - s.u.) Sohn Friedrich II mit seinem Glaubensbruder (er war heimlicher Muslim) Al Kāmil, dem Sultan von Ägypten, auf dem "5. Kreuzzug" Frieden geschlossen und der Papst (der ihn zuvor gebannt hatte) im Frieden von Ceprano dazu seinen Segen gegeben hatte. Die Nibelungennôt kann also nicht vor 1230 in Auftrag gegeben worden sein und nicht viel später als 1244. Was passierte in jenen Jahren sonst noch? Gab es irgendwo in Europa "Hunnen"? Womöglich in Ungarn? Und ob - verlaßt Euch drauf. Aber gab es auch ein christliches Ritterheer, das ihnen nach heldenhaftem Kampf erlag? - Eines? Mehrere sogar!

Aber erst müssen wir noch einmal auf die zitierte Passage aus der Nibelungenklage zurück kommen. Wo steht denn da, daß es einen "Konrad von Passau" gebe? Nirgends! Da steht nur, daß der Bischof von Passau einen "Meister Konrad" mit seiner Niederschrift des Werkes beauftragt habe. Wäre irgend ein daher gelaufener Schreiberling oder selbst ernannter Minnesänger als "Meister" bezeichnet worden, wie heutzutage Gildo Horn? Nein, liebe Leser, seit dem Tode Wolframs von Eschenbach - des größten Schriftstellers des Mittelalters überhaupt (was er z.B. im zweiten Buch des Parzival über Mann und Frau - und Mutter - schreibt, ist noch heute, nach rund 800 Jahren, so aktuell wie damals; aber lest nicht nur den, sondern auch seinen Willehalm, bevor Ihr Dikigoros' Einschätzung anzweifeln solltet) - gab es in deutschen Landen nur noch einen, der ihm an Genialität, Sprachgewalt und Vielseitigkeit annähernd gleich kam und daher mit Fug und Recht allgemein als "Meister" betitelt wurde: Konrad von Würzburg. (Auch die oft überschätzten Walther von der Vogelweide und Gottfried von Straßburg waren damals schon tot; den letzteren nannte Konrad wohl nur aus Höflichkeit als sein großes Vorbild, weil er damals für einen Straßburger Auftraggeber - den Domprobst Berthold von Thiersberg - schrieb. Von den beiden wäre keiner auf das Wortspiel mit dem "Spilmann" Volker gekommen, über das Dikigoros an anderer Stelle mehr schreibt.) Ihr glaubt das nicht? Nun, es gibt noch einen anderen Nachtrag zu einem anderen mittelalterlichen Werk, "der turnei von Nantheyz [Das Turnier von Nantes]", wo es heißt, daß es "hie geschriben stat von des meisters handen. Man fünde in allen landen keinen schriber so guot". Mit der Bezeichnung "der meister" verband das Publikum offenbar damals so eindeutig einen bestimmten Dichter, daß es der Kommentator nicht einmal für notwendig erachtete, dessen Namen eigens zu erwähnen - wozu auch, wenn ohnehin jeder wußte, wer gemeint war?! Und obwohl der Name des Verfassers im Stück tatsächlich nirgends auftaucht, bezweifelt doch niemand ernsthaft, wer der Verfasser war, nämlich - Konrad von Würzburg. Natürlich kommt man nicht darauf, daß er auch die Nibelungennôt geschrieben hat, wenn man deren Entstehung um das Jahr 1200 ansetzt, denn da war er vermutlich noch nicht geboren. Er starb 1287, und über sein Geburtsjahr weiß man schlicht und ergreifend gar nichts. Früher meinte man, er sei um 1220 geboren, später verlagerte man das immer weiter nach vorne, so daß man heute "um 1225 bis 1230" mutmaßt. Bleiben wir mal bei 1220; auch dann war die Nibelungennôt wohl ein Jugendwerk (obwohl man das Erwachsenwerden damals früher ansetzte als heute, spätestens mit 14), vielleicht sein erstes.

[Konrad von Würzburg]
Meister Konrad von Würzburg beim Diktat
(aus der Manessischen Liederhandschrift)

Im April 1241, ziemlich genau 700 Jahre vor... aber lassen wir das, es wäre eine hinkende Parallele. Der 9. April war vor 1945 der polnische Nationalfeiertag; so wie der serbische Nationalfeiertag vor 1945 der 28. Juni war, der Tag der Schlacht auf dem Amselfeld - aber bis zu der ist es noch knapp anderthalb Jahrhunderte hin. Was soll die Parallele, die Dikigoros hier andeutet? Nun, auf dem Amselfeld sollten 1389 die christlichen Serben den muslimischen Türken unterliegen - und diese Niederlage als großen moralischen Sieg feiern. (So wie die Germanen seit einiger Zeit ihre Niederlage vom 8. Mai 1945 als großen moralischen Sieg feiern, nämlich als den Tag der Befreiung von ihren Armbanduhren - und ihren Fotoapparaten, ihren Radios, ihrer Selbständigkeit, ihrer Selbstachtung und und und -, nach dem die Zeitrechnung für sie mit der "Stunde null" wieder neu zu laufen begann.) Im April 1241... tja, wenn man in die heutigen Geschichtsbücher anschaut, dann unterlag da auf der Walstatt vor Liegnitz (die meist fälschlich "Wahlstatt" geschrieben wird - als ob es da etwas zu wählen gegeben hätte! Allenfalls wählten auf der Walstatt die Walküren die Recken aus, die nach Walhall eingehen sollten, also in die ewigen Jagdgründe; aber dieses Wählen steckt nicht in "Wal", sondern in "küren") ein aus allen möglichen christlichen Nationen Europas zusammen gewürfeltes Ritterheer sang- und klanglos den Hunnen, Mongolen oder Tartaren (eigentlich hießen sie - genauer gesagt einer ihrer Stämme - "Tataren"; aber die Ähnlichkeit mit "Tártaros", dem griechischen Wort für Hölle, legte es einfach nahe, sie so zu nennen). In Wirklichkeit war es keineswegs der einseitige, aussichtslose Kampf, als den Lieschen Müller und Otto Normalverbraucher - so sie denn überhaupt noch etwas darüber erfahren - ihn sich gemeinhin vorstellen. Es war nämlich nur ein Ablenkungsmanöver der "Tartaren", das ihre rechte Flanke schützen sollte. Diese "tartarische" Abteilung - ca. 20.000 Mann - war den ihnen gegenüber stehenden Heeren der Christen zahlenmäßig, waffentechnisch und im Kampf Mann gegen Mann unterlegen und hätte die Schlacht wohl verloren, wenn nicht Herzog Heini II von Schlesien - die Nachwelt verlieh ihm den Beinamen "der Fromme", woraus wir auf seine militärischen Fähigkeiten schließen dürfen - sie mit seinem kleinen Heer voreilig angegriffen hätte, d.h. bevor das zweite christliche Heer seines Schwagers Boleslav von Mähren eingreifen konnte. Seine Strategie beschränkte sich am Ende darauf, seinen Truppen zu befehlen, ihn gut zu schützen - was ihm nichts half; er wurde mit ihnen nieder gemacht. Dem zweiten und größeren christlichen Heer, das wie gesagt zu spät kam, stellten sich die "Tartaren" nicht mehr - brauchten sie auch nicht, denn die entscheidende Schlacht, für die sie den Flankenschutz gebildet hatten, war nur wenige Tage nach der von Liegnitz geschlagen worden, rund 500 km weiter südlich, in der Ebene von Mohi, am Sajo, einem Nebenflüßchen der Theiss, in der Nähe des heutigen Miskolc. Auch dort waren die "Tartaren" im ungarischen König Béla IV (und letzten - wenn man mal von Béla Kun absieht, der nach dem Ersten Weltkrieg kurz in Ungarn herrschte, aber nicht als König, sondern als Führer einer kommunistischen Räte-Republik :-) auf einen besonders unfähigen Gegner gestoßen (der freilich cleverer war als Heini der Fromme: er verpißte sich rechtzeitig aus der Schlacht und überlebte - den Heldentod zu sterben überließ er anderen), und so wurde das ungarische Heer mit Mann und Maus vernichtet - knapp 100 km östlich der Stadt, die vom Nibelungenlied-Dichter "Etzelburg" genannt wurde und von den Ungarn "Esztergom" genannt wird (als Dikigoros zur Schule ging, stand im Atlas noch "Gran"), also "Stefansstadt".


Die Hunnen/Mongolen/Tartaren vor Liegnitz. Links: zeitgenössische Zeichnung. Rechts: Stich nach Merian.
In beiden Darstellungen hoch zu Roß und Lanze: Der abgeschlagene Kopf Herzog Heinrichs des Frommen

Was - das soll der historische Kern des Burgunder-Untergangs im Nibelungenlied sein? Nein, liebe Leser, das hat Ritter-Schaumburg schon richtig heraus gearbeitet: Die historische Quelle des Stoffes, wie ihn uns die Thidrekssaga vermittelt, berichtet vom Untergang einiger hundert Eifelritter vom Neffelbach bei Attala, dem Provinzfürsten von Friesland und Westfalen, in Soest. Aber das ist nun wirklich kein großes Epos wert, sondern halt nur eines von vielen Kapiteln der Thidrekssaga. Dikigoros meint das zeitgenössische Ereignis, aus dessen Quelle Konrad von Würzburg seine Parallelen geschöpft hat, als er die Nibelungennôt schrieb. Pardon, werden jetzt seine Kritiker zurück fragen, ist das nicht ziemlich dünn? Was ist mit dem Rachemotiv, was mit dem Nibelungenhort, den zentralen Themen des Nibelungenlied-Dichters? Sollte da nicht doch Fernau Recht haben, wenn er schreibt, daß die Umwandlung der armen Gudrun (so hieß sie sowohl in der Thidrekssaga als auch in den isländischen Sagas), die mitsamt ihren Magen [Blutsverwandten] ein Opfer des bösen Attala wird, zur bösen rachsüchtigen Kriemhilt, die ihren zweiten Mann dazu mißbraucht (ja überhaupt nur geheiratet hat), um den Mord ihres ersten Mannes an den eigenen Verwandten zu rächen - und damit die Bande der Liebe über die Bande des Blutes zu stellen, was "spezifisch deutsch" sei - das Hauptanliegen des Dichters war? [Hätte Fernau die Thidrekssaga gekannt, hätte er wahrscheinlich noch darauf hingewiesen, daß auch Attalas erste Frau, eine gebürtige Prinzessin von Rytzeland, gar nicht daran dachte, ihrem Mann für seine Feldzüge gegen ihren Onkel Waldemar ihre eigenen Krieger (sie hatten offenbar militärische Gütertrennung :-) zur Verfügung zu stellen; ganz im Gegenteil verhalf sie sogar ihrem Vetter, der in Attalas Gefangenschaft geraten war, leichtsinniger Weise zur Flucht; ihre Krieger stellte sie vielmehr Thidrek zur Verfügung, als der auszog, sein Reich wieder zu gewinnen - mitsamt Attalas halbwüchsigen Söhnen, über die sie als Mutter offenbar die Verfügungsgewalt hatte, und denen sie mit auf den Weg gab, lieber tapfer kämpfend zu sterben als feige zu fliehen - was sie denn ja auch brav taten.] Das wagt Dikigoros zu bezweifeln: Man darf nicht immer nur in den Kategorien von Liebe und Sex denken, wie sie heute verstanden werden, nämlich als Selbstzweck. (Ein Fehler, der auch Fernau unterläuft - in allen seinen Büchern; auch er war eben ein Kind des 20. Jahrhunderts :-) Weder Prünhilt (die Sîfride auch sehr geliebt hatte, deren Liebe der Nibelungenleid-Dichter jedoch in Haß umschlagen läßt - in der isländischen Überlieferung opferte sie sich noch wie ein gute indische Sātī auf seinem Scheiterhaufen, aber das ist eine andere Geschichte) noch Kriemhilt haben Kinder von ihm (irgendwo wird zwar eines kurz erwähnt, aber das ist sicher nur ein Flüchtigkeitsfehler des Nibelungenlied-Dichters, der diesen Satz gedankenlos aus seiner Vorlage mit abgeschrieben haben dürfte, wie noch einige andere "verräterische" Passagen, die Ritter-Schaumburg trefflich heraus gearbeitet hat) - zumindest Kriemhilt aber von einem anderen Mann; daraus dürfen wir getrost unsere Schlüsse ziehen; und im Mittelalter pflegte frau Kerlen, die entweder impotent oder zeugungsunfähig waren, nicht lange nachzutrauern.

Exkurs. Fleißige Leser von Dikigoros' "Reisen durch die Vergangenheit" kennen ja bereits die Geschichte der Eleonore von Aquitanien, die den impotenten König Ludwig den Heiligen von Frankreich verließ, um das zehn Jahre jüngere Gräflein von Anjou, Heinrich Plantagenet, zu heiraten, das sie zum König von England machte - der war zwar ein Fiesling und sollte sie in späteren Jahren ziemlich mies behandeln; aber solange sie noch jung und knackig war, machte er ihr jede Menge Kinder. Und Constance von Sizilien, die sogar mit dem künftigen Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, ebenfalls Heinrich genannt und ebenfalls gut zehn Jahre jünger als sie, verheiratet war, ging sogar noch einen Schritt weiter: Sie war schon über 30 Jahre alt, als sie heiratete - also nach den Begriffen der damaligen Zeit eine alte Jungfer -, und ihre biologische Uhr tickte im Laufe der Jahre immer lauter. Wir wissen nicht, ob Heinrich VI impotent oder nur zeugungsunfähig war. (Auf jeden Fall war er schwul - schaut Euch nur mal sein Gedicht "Reitest Du nun von hinnen, allerliebster Mann... an, das der Verfasser der Manesse'schen Liederhandschrift sicher nicht von ungefähr als Beispiel für Heinrichs Lyrik ausgewählt hat. Es stellt den im hochmittelalterlichen Minnesang wohl einmaligen Fall eines Liebesständchens an einen Mann dar. Zwar wird da noch ein verschämter Halbsatz angefügt "... sprach das minnigliche Weib"; aber das gab es schlicht und ergreifend nicht, daß eine Frau einem Mann eine solche Liebeserklärung machte. Nein, da schreibt ein femininer - und sehr empfindsamer - Schwuler an seinen maskulinen Geliebten! Bisher scheint das noch niemandem aufgefallen zu sein - welcher Historiker liest schon mittelhochdeutsche Gedichte, und welcher Germanist studiert schon die Stammbäume mittelalterlicher Könige? Aber auch Schwule haben ja schon Kinder gezeugt, das alleine muß also nichts besagen.) Wir wissen nur, daß Constance nach zehn Jahren kinderloser Ehe die Nase voll hatte von ihrem Männchen (Heinrich VI war zu allem Überfluß auch noch schmächtig und kränklich, während sie eine große, blonde, kraftstrotzende Normannin war) und mit einem gewissen Giordano fremd ging. Sie war schon über 40, als sie Constans gebar - für damalige Zeiten fast ein biologisches Wunder. Und damit erst gar keine Gerüchte von einem "untergeschobenen" Kind aufkamen, tat sie das öffenlich, in einem Zelt mitten auf dem Marktplatz - jede Frau am Ort hatte Zutritt zu ihrem Kindbett. Historiker rätseln bis heute, warum Heinrich VI so grausam gegen die Verwandtschaft seiner Frau wütete, nachdem er Sizilien unterworfen hatte. Und wenn sie die Antwort nicht fanden, gingen sie beschönigend darüber hinweg. Wie stand es in Gebhardts Handbuch der deutschen Geschichte (zu Dikigoros' Studienzeiten Pflichtlektüre für angehende Historiker): "Als wenige Tage nach der Krönung in Palermo eine Verschwörung aufgedeckt wurde, verbannte Heinrich die Familie Tankreds [Constances Neffe, der sich zum Gegenkönig hatte krönen lassen, aber inzwischen gestorben war, Anm. Dikigoros] und ihre wichtigsten Anhänger nach Deutschland." Das ist, vorsichtig ausgedrückt, etwas ungenau. Selbst wenn es eine "Verschwörung" gegen Heinrich VI gegeben haben sollte, dann waren die Umstände ihrer "Aufdeckung" doch mehr als merkwürdig: Die Briefe der Verschwörer, die der Mönch Ubaldo seinem König mitten während eines Festgottesdienstes (der sofort abgebrochen wurde, um ein - offenbar bestens vorbereitetes - Standgericht abzuhalten) publikumswirksam überreichte, waren wohl weniger "abgefangen" als vielmehr gefälscht. Und "Verbannung" ist nicht ganz der richtige Ausdruck: Die erwachsenen männlichen Familienangehörigen Tankreds und alle, die ihn zum Gegenkönig gewählt hatten, wurden - sofern sie so unvorsichtig gewesen waren, zur Krönung Heinrichs VI nach Palermo zu kommen - an Ort und Stelle getötet, d.h. bei lebendigem Leibe verbrannt. (Es sollen mehrere hundert gewesen sein; und einige Historiker behaupten gar, Heinrich VI habe dabei "die ganze normannische Oberschicht Siziliens ausgerottet"; aber das ist Blödsinn; das sollten die Normannen vielmehr selber besorgen, in dem Bürgerkrieg, der nach Heinrichs Tod ausbrach - er hatte also mehr als genug am Leben gelassen :-) Die weiblichen Verwandten Tankreds ließ Heinrich VI nach Deutschland deportieren und in staufischen Verliesen einkerkern bis sie verreckten, ebenso den kleinen Sohn Tankreds - je nach Quellenlage 7, 8 oder 9 Jahre alt -, den er zuvor blenden und kastrieren ließ. Dies alles geschah ausgerechnet am 2. Weihnachtstag 1194, dem Tag der Geburt von Constans - "Zufall"? Anschließend grübelte Heinrich VI sage und schreibe ein Jahr lang herum, was er weiter tun sollte. (Und mit ihm grübeln die unwissenden Historiker auch in diesem Punkt, warum :-) Dann beschloß er, seine persönliche Eitelkeit der Idee zu opfern, das Heilige Römische Reich Deutscher Nationen in ein Erbreich umzuwandeln, erkannte Constances Sohn als seinen eigenen an, ließ ihn zum deutschen König "wählen" (für die Bestechung der Fürsten zu diesem Behuf verplemperte er den in Jahrzehnten fleißig zusammen geraubten legendären Normannenschatz, den er auf Sizilien erbeutet hatte und gegen den der "Nibelungenhort" Peanuts gewesen sein dürfte) und danach (!) auf den Namen "Friedrich Roger" umtaufen. Dessen Vater Giordano aber ließ er auf einem glühenden Eisenschemel die Eier braten, ihm eine glühende Eisenkrone aufs Haupt nageln bis zum Exitus und sein Andenken aus allen Schriften tilgen. Nur die Annalen des Abtes Albert von Stade vergaß er. (Für Fach-Idioten, pardon Fach-Historiker: Ihr findet die "Annales Stadenses" - eine nüchterne, sachliche und in jeder Hinsicht glaubwürdige Chronik - in den Mon. Germ. Scriptores XVI, 352 ff.; für alle, die diese nicht im Original beschaffen oder lesen können, gibt es im www inzwischen eine Übersetzung ins Deutsche - leider mit zahlreichen peinlichen Schreibfehlern.) Vielleicht weil der sich etwas blumig ausdrückte: Constance habe Giordano "Kleinodien geschickt und herrlichere dagegen empfangen" - aber nach damaligen Sprachgebrauch war völlig klar, was mit diesem Wortspiel gemeint war: Sie hatte sich einen Deckhengst gekauft. Zu allem Überfluß soll Giordano auch noch angekündet haben, Constance heiraten und König von Sizilien werden zu wollen. Friedrich II von Hohenstaufen war folglich gar kein Staufer, sondern ein Kind zweier sizilianischer Eltern, also wahrscheinlich ein reiner Normanne; es wäre aber auch möglich, daß "Giordano" ein Araber war - viel Ab-, pardon Eigenartiges an Friedrich ließe sich dann leichter erklären; so oder so ist dies einer der größten Treppenwitze der genealogischen Weltgeschichte, wenn nicht der größte. [Obwohl ja in den letzten Jahren heraus gekommen ist, daß viele berühmte Herrscher derartige Kuckuckseier waren, von König Louis XIV von Frankreich bis zum Deutschen Kaiser Wilhelm II (aber darüber schreibt Dikigoros an anderer Stelle), vielleicht sogar Kaiser Franz-Joseph von Österreich.] Exkurs Ende.

Ja, wenn Ihr so wollt, bleibt Kriemhilt in ihrer Rache Sîfriden über den Tod hinaus treu - aber obwohl auch sie eine Nibelungin ist, kann das doch wohl nicht gemeint sein mit der berühmten Nibelungentreue, oder? Außerdem zeichnet der Nibelungenlied-Dichter das Rachemotiv durchaus nicht einseitig: Kriemhilt ist bereit, sich ihre Râche für Sîfrides Gold abkaufen zu lassen. (Das entspricht übrigens gutem alten germanischen und deutschen Brauch, liebe Leser, lest mal im "Sachsenspiegel" die ausführlichen Bestimmungen zum "Wergeld" - wobei Kriemhilt äußerst bescheiden ist: Sie verlangt ja gar nicht das ihr eigentlich zustehende Wergeld für die Ermordung ihres Mannes, sondern bloß die Herausgabe dessen, was ohnehin ihr rechtmäßiges Eigentum ist!) "Wollt Ihr mir geben wieder das Ihr mir habt genommen," sagt sie zu Hagen, "so möget Ihr wohl noch lebend heim nach Burgund kommen." Ihr meint, das sei doch nur eine rhetorische Floskel, Kriemhilt meine damit, daß sie ohnehin allesamt des Todes seien, da niemand Sîfride wieder lebendig machen könne, der doch das wichtigste war, das man ihr genommen hatte? Mitnichten, und Hagen versteht das auch gleich ganz richtig: "Ich habe geschworen, daß ich den Hort niemandem zeige, derweil daß noch lebe einer meiner Herren," antwortet er. Und Kriemhilt läßt prompt ihren Bruder töten - nicht aus Rache für Sîfride, sondern um an das Gold zu kommen. Das könnte ein Fingerzeig sein, was sie an ihm vor allem liebte: er war ein reicher Mann - sollte auch das "spezifisch deutsch" sein? (Habt Ihr mal erlebt, liebe deutsche Leser, mit welch leidenschaftlicher, bedingungsloser Hingabe süd- und osteuropäische Frauen lieben - ihre Väter, ihre Vaterländer, ihre Liebhaber und ihre Söhne? Das hat nichts mit der kühlen Berechnung der Nordeuropäerinnen gemeinsam! In jenen Ländern gab es auch nie Wergeld, sondern nur Blutrache!) Rückblickend bekäme dann auch die Episode der Brautwerbung einen ganz eindeutigen Sinn - und der lautet entgegen Fernau keineswegs "Mannes- statt Verwandtentreue". Nachdem Hagen Sîfride getötet hat, bleibt Kriemhilt noch einige Jahre am Wormser Hof, offenbar ohne an Rache zu denken, obwohl sie ausweislich des Verses 1271 noch genügend Gold gehabt hätte, um einen Rächer zu bezahlen. Obwohl? Oder eher weil? Am Hungertuch wird sie bestimmt nicht genagt haben, wenngleich man ihr die Verfügungsgewalt über den größten Teil des Nibelungenhorts entzogen hat; und so betet sie denn in Vers 1247 auch nicht etwa: "Lieber Gott, gib mir einen neuen Mann, der mich wieder lieben kann wie Sîfrit", sondern: "Lieber Gott, gib mir wieder soviel Gold, Silber und Gewand wie ich hatte, als mein Mann (nichtmal seinen Namen nennt sie) noch gesund [am Leben] war." Und den Ausschlag bei Etzels Brautwerbung geben keinerlei Überlegungen hinsichtlich Alter, Schönheit oder gar Liebe ihres Zukünftigen, sondern schlicht und ergreifend der Gedanke in Vers 1260: "Er ist auch wohl so reich, daß ich zu geben hab', nachdem der böse Hagen mich meines Gutes beraubt hat." Denn endgültig zieht sich Hagen Kriemhildens tödlichen Haß nicht schon durch den Mord an Sîfriden zu, sondern dadurch, daß er sie den Nibelungenhort nicht nur nicht zu Etzel mitnehmen, sondern ihn noch nicht einmal an die Gäste verschenken läßt! Als sie es dennoch zu tun versucht, rasselt Hagen so vernehmlich mit dem Säbel (ja, er offenbart schon da ein merkwürdiges Verständnis von Gastfreundschaft :-), daß Rüdiger - der schon zwölf Truhen Gold aufgeladen hatte - es vorsichtshalber ablehnt, das Geschenk anzunehmen und sie nötigt, auch die letzten tausend Mark (à 200 gr, also insgesamt 200 kg oder vier Zentner) Gold der Kirche zu vermachen, um Messen für Sîfridens Seelenheil lesen zu lassen - was Kriemhilt nur als puren Hohn auffassen konnte, der nach Rache schrie - Kriemhildens Rache.

[Kriemhilt]

Ja, der Bruch des Gastrechts, der in Etzelburg wieder kehrt. Auch dort brechen es nicht etwa die Hunnen, sondern wieder die Burgunder, und wieder in Gestalt Hagens, der beim Bankett Ortliebe, den unschuldigen Sohn Etzels und Kriemhildens, vor deren Augen brutal ermordet - findet Ihr nicht, daß das genug Grund zur Rache ist für eine Mutter, umso mehr als sie über das Alter hinaus sein dürfte, in dem sie noch Kinder "nach" bekommen kann? Ach, Ihr meint, dafür habe es doch einen guten Grund gegeben, nämlich die vorauf gegangene Tötung der burgundischen Knappen durch Blödel? Pardon, liebe Leser, aber das ist - wie Ritter-Schaumburg treffend festgestellt hat - ein Märchen-Motiv, das sich der Nibelungenlied-Dichter höchstpersönlich ausgedacht und zu allem Überfluß auch noch schlecht eingearbeitet hat, denn Hagen sagt ja schon am Ende der 31. Aventiure mehr oder weniger offen, daß er gedenkt, Ortliebe zu ermorden - also längst, bevor die Hunnen in der 32. Aventiure Dancwardens Knechte erschlagen und bevor Hagen davon in der 33. Aventiure erfährt! (Ebenso wie Volker einige Verse zuvor ganz offen seine Absicht bekundet, einen "wohl gekleideten" Hunen aus purer Mordlust zu töten; zu diesem Zweck nimmt er am Bûhurt statt mit einer stumpfen Turnierlanze mit einer scharfen Waffe teil und tötet ihn vorsätzlich, was Etzel - der keinen Streit will - anschließend als "Unfall" akzeptiert.) Die Thidrekssaga weiß von alledem nichts, da bringt Hagen Ortliebe ohne triftigen Grund um und schlägt Kriemhilden, pardon Gudrun, noch mit dessen abgetrenntem Kopf vor die Brust. Es entsprach weder früh- noch hochmittelalterlicher Gesinnung, harmlose Knappen und Troßknechte umzubringen, solange ihre Herren noch lebten - das wurde erst im 20. Jahrhundert eingeführt. A propos: Auf zwei Parallelen zum letzteren - die nicht einmal Fernau aufgefallen sind - kann sich Dikigoros nicht verkneifen hinzuweisen: Als der böse Blödel den Knechten und Dancwarden eröffnet, daß er gekommen sei, um sie zu töten, ihnen also ganz formell den Krieg erklärt, zieht Dancwart ohne viel Federlesens das Schwert und schlägt ihm den Kopf ab - er war offenbar vorgewarnt. Wie kommentiert das der Nibelungenlied-Dichter: "Ein viel getreuer Hunne hatte ihm das gesagt (Helmut Brackert übersetzt das - ungenau, aber treffend - mit "verraten"), daß ihm die Königin [Kriemhilt, Anm. Dikigoros] so großes Leid zugedacht hatte." Da fragt man sich doch, wem dieser Hunne wohl "treu" gewesen sein soll - seinem Volk bestimmt nicht. Wie war das 1941 mit Pearl Harbor? Aber das ist eine andere Geschichte. Nun haben die Burgunder also einen Vorwand, pardon Grund, um die im Festsaal tafelnden Hunnen abzumurksen, Recht so. Aber was unterläuft ihnen denn dann für ein verhängnisvoller Schnitzer? Als sie die Hunnen und ihre Verbündeten gerade glücklich eingekesselt haben und den Sack nur noch zu machen müssen, quäkt plötzlich Dietrich von Bern los, ob sie ihn und seine Amelungen nicht abziehen lassen könnten, um des lieben Friedens Willen? Kaum haben sie ihm das gewährt, pocht Rüdiger von Bechlarn auf Gleichbehandlung - und erhält sie prompt. (Nebenbei lassen die Nibelungen auch Etzel und Kriemhilde mit abziehen - sind die noch bei Trost?) Wer weiß, wie die Geschichte bei Dünkirchen endete, wo anno 1940 auch jemand die Engländer um des lieben Friedens Willen, den er mit ihnen schließen wollte, abziehen ließ, kann sich da schon denken, wie die Sache ausgeht, auch wenn ihn der Nibelungenlied-Dichter - der natürlich nicht 700 Jahre in die Zukunft schauen kann - nicht mit der Nase darauf stoßen würde: "Von denen sollte der König Gunther großen Schaden gewinnen..."

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Exkurs. Nun zitiert Euch Dikigoros diese Stelle ja nicht von ungefähr, liebe Leser. Wenn Ihr zufällig Germanisten der alten Schule oder sonst in mittelalterlicher Literatur belesen seid - ist Euch schon mal aufgefallen, wo sonst derart häufig wie in der Nibelungennôt Vorgriffe dieser Art auf die Zukunft vorkommen? Eigentlich ist ein solches Ausbrechen aus der Chronologie in der mittelalterlichen Dichtung ganz ungewöhnlich. Aber geht doch mal auf die Homepage der FH Augsburg, Abteilung Germanistik, und klickt Euch zu Konrad von Würzburgs Werken durch. Ihr werdet verblüfft sein, diese seltene Stilform dort fast am laufenden Meter wieder zu finden - Dikigoros selber war es jedenfalls; und wiewohl ihm klar ist, daß das alleine noch kein hinreichender Beweis für die Annahme wäre, daß Konrad auch die Nibelungennôt geschrieben hat - es bestärkt ihn doch in seiner auf historische Überlegungen gestützten Annahme, daß es so ist. Oder glaubt Ihr da an einen bloßen Zufall? Nun, da wir gerade bei literarischen Überlegungen sind: Kennt Ihr irgendeinen anderen Fall in der mittelalterlichen Dichtung, daß ein Verfasser zwei alte Sagen derart dreist zu einer einzigen verschmolzen hat, und daß es dazu einen aktuellen historischen Anlaß in Form einer Parallele gab? Wahrscheinlich nicht - er liegt auch nicht ganz nahe, vielmehr mehr als doppelt so weit weg (jedenfalls von Passau) wie Etzelburg. Womit fängt Dikigoros am besten an? Mit der Iliada und der Argonavtika, weil er über die letztere schon in einem anderen Kapitel dieser "Reise durch die Vergangenheit" geschrieben hat? Oder besser mit der historischen Parallele? Anno 1204 war Byzantion, das "neue Troia", beim 4. Kreuzzug erobert und zerstört worden. Auf seinen Trümmern hatten die Kreuzfahrer ein "lateinisches Kaiserreich" errichtet, das indes bald wieder von den Byzantinern der Palaiologen-Dynastie zurück erobert wurde. Das stank den italienischen Handelsstädten ganz gewaltig, allen voran Venedig, das ja schon beim 4. Kreuzzug federführend gewesen war (und seitdem die griechischen Inseln besetzt hielt, von Kreta bis Ithaka, der Heimat des Odysseus). Im Jahre 1281 schloß Venedig also ein Bündnis mit Frankreich mit dem Ziel, einen weiteren Kreuzzug zur zweiten Eroberung Byzantions zu führen. Dieser "Vertrag von Orvieto" machte damals ziemliches Aufsehen in Europa.

Ließ sich daraus für einen Fantasie-begabten Dichter irgendwie literarischer Honig saugen? Nun ja, wenn er die alten Sagen ein wenig - oder auch ein wenig mehr - veränderte, dann konnte er die erste Zerstörung Troias den Argonavten unter Führung des Herakles zuschreiben, denn die waren - wie die Ritter des 4. Kreuzzugs, die Byzanz zum ersten Mal zerstörten - eine ziemlich multinationale Truppe. Dann würde die 1281 geplante zweite Zerstörung Byzantions ihre Parallele in der Zerstörung Troias in der Iliada haben. Ihr meint, liebe Leser, diese Parallele sei doch etwas gewagt und gar nicht originell? Ihr irrt: Wir wissen seit Heinrich Schliemanns Ausgrabungen im 19. Jahrhundert, daß Troia mehrmals erobert und zerstört wurde; aber die Menschen des 13. Jahrhunderts ahnten davon nicht das mindeste - diese zweite Zerstörung konnte sich nur aus der aktuellen Parallele der geplanten zweiten Eroberung Byzantions ergeben! Ja, aber die Dreistigkeit, die Iliada und die Argonavtika willkürlich zu einer Sage zu verschmelzen, um eine solche Parallele (gewissermaßen an den Haaren herbei) ziehen zu können - wer sollte die aufbringen? Noch ein wenig Geduld, liebe Leser. Geht Ihr mit Dikigoros konform, daß der Verfasser eines solchen Werkes in hohem Grade verdächtig wäre, auch die Nibelungennôt - die ja ebenso dreist aus zwei großen Sagenkreisen zusammen geschrieben wurde - verfaßt zu haben? Schön, dann müssen wir ihn ja nur noch finden. Es gibt ihn nämlich, und niemand, selbst unter den Berufs-Germanisten, bezweifelt seine Urheberschaft und den Entstehungszeitpunkt: Das im Jahre 1281 begonnene Werk heißt Der Troianerkrieg, und der Verfasser war kein anderer als - Konrad von Würzburg. Auch ein Zufall? Nein, liebe Kritiker, an eine solche Anhäufung von "Zufällen" vermag Dikigoros beim besten Willen nicht zu glauben. Aber wenn Ihr es noch tut, überzeugt Euch vielleicht ein letzter Punkt: Das Werk blieb unvollendet. "Natürlich," sagen die Berufs-Germanisten, "Konrad starb ja sechs Jahre später." Pardon, und in den sechs Jahren sollte er nicht in der Lage gewesen sein, eine schon weitgehend fertige Sage zuende zu diktieren? (Konrad schrieb nie selber, sondern hatte seine Schreiber, wie er behauptete, weil er des Schreibens nicht gar so mächtig sei - aber das war wohl nur eine augenzwinkernde Ausrede, so wie bis heute kein höherer Beamter selber schreibt, sondern seinen Schreibpool hat. Das hinderte nicht, Konrad als "schreiber" zu bezeichnen, wie wir oben in der Nachbemerkung zum "Turnier von Nantes" gesehen haben - er ließ halt schreiben :-) Der Ärger war nur: Es gab kein Ende für seine Parallele, denn aus der erneuten Invasion Byzantions wurde nichts - das französisch-venezianische Unternehmen wurde sang- und klanglos abgeblasen; und so mußte Konrad das Manuskript halt unvollendet liegen lassen, und das blieb es bis zu seinem Tode.

[Nachtrag zum Exkurs: Ein Romanist, der mal über den Tellerrand seines Faches hinaus geschaut hat und dabei zufällig auf diese Seite gestoßen ist, hat Dikigoros darauf hingewiesen, daß er in diesem Punkt schief liege: Der Troianerkrieg sei nicht auf Konrads Mist gewachsen, den habe er vielmehr bei dem großen französischen Epiker Benoît de Sainte-More (oder Sainte-Maure) abgeschrieben, dem Erfinder des "antikisierenden Versromans" im 12. Jahrhundert, dem Verfasser des Roman d'Enéas und des Roman de Troie. Letzterer sei die Vorlage für den Troianerkrieg gewesen und schon um 1165 entstanden! So so... aber selbst wenn das so wäre, würde das noch nicht die Frage beantworten, welchen Anlaß Konrad von Würzburg denn gehabt haben sollte, so eine alte Kamelle nach über einem Jahrhundert wieder aufzuwärmen und nachzuahmen? Aber ganz so einfach ist es ja nicht: Der gute Benoît ist eine Kunstfigur, dem man eine Menge angedichtet hat; an seiner Autorschaft des "Äneas-Romans" hält die herrschende Meinung der Fachromanisten nicht länger fest, und auch an der des "Troia-Romans" sind erhebliche Zweifel angebracht. (Wir können das aus den unterschiedlichen Prosa-Abschriften des Epos schließen, die von Zeit zu Zeit erstellt wurden. In Frankreich ist darüber anno 2005 eine umfangreiche Dissertation erschienen.) In der Fassung, die Benoît 1165 geschrieben haben mag, beginnt er nämlich - wie Hómeros, über den er einleitend kräftig her zieht, da er als guter Christ nicht akzeptieren kann, daß der die heidnischen Götter mit kämpfen läßt - mit dem Zorn des Achill; alles, was davor kam, also der Zug der Argonauten, die erste Zerstörung Troias usw., sind spätere Einfügungen fleißiger Nach-Bearbeiter; denn der Roman de Troie war für Frankreich das, was der Herzog Ernst für Deutschland war: das einzige mittelalterliche Epos, an dem bis in die Neuzeit hinein immer weiter geschrieben wurde. Wann die Ergänzungen, welche die Argonavtensage mit der Troiasage verknüpfen, vorgenommen wurden, ist nicht mehr genau zu ermitteln - die Schätzungen reichen vom 13. bis zum 15. Jahrhundert -; aber Dikigoros hält es für wahrscheinlich, daß sie von Guido de Columnis stammen, der auch die bekannteste Prosafassung des Stoffes verfaßt hat (Historia destructionis Troiae - ganz seriös, auf Lateinisch :-). Wann die erschien? Nun, liebe Leser, da stoßen wir wieder auf einen jener berühmten Zufälle: Es war just 1287, das Jahr, in dem sich Konrad von Würzburg nicht mehr über ein Plagiat hätte beschweren können (denn er war gerade gestorben), und wenn Guido das Manuskript von Konrads Troianerkrieg nicht kannte, dann frißt Dikigoros einen Besen und das Manuskript dazu. Aber selbst wenn Dikigoros in diesem Punkte irren sollte - wir wollen das doch nicht wichtiger nehmen als er ist, nämlich ein bloßes Hilfsargument, dessen Wegfall die These, daß Konrad von Würzburg die Nibelungennôt geschrieben hat, nicht allzu stark erschüttern würde. Exkurs Ende.]

* * * * *

Aber wo gab es anno 1241 ein Rachemotiv und einen Goldhort? Und so einen eklatanten Bruch des Gastrechts? Und wieso sollten diese Geschichte und ihre Parallelen ausgerechnet einen Passauer, also ostmärkischen Auftraggeber interessieren, auf den sie ausweislich der Mundart ganz speziell zugeschnitten waren? Zog etwa einer von denen mit in die Schlacht nach Ungarn? Wer wurde wann von wem dorthin gelockt? Und wozu all der Schmu mit der Religion? Fragen über Fragen; aber seid versichert, liebe Leser, es gibt auf alle eine Antwort, auch wenn die Einzelheiten in Wahrheit nicht so gut zusammen paßten (aber daß Geschichte "logisch" sein müßte, ist ohnehin ein Vorurteil der Schreibtisch-Historiker, das aus ihrem Wunschtraum resultiert, es möge immer alles schön einfach und geordnet sein) und nicht ganz so kunstvoll verknüpft waren wie bei Konrad von Würzburg im Nibelungenlied - aber so viel dichterische Freiheit muß sein.

Womit fangen wir an? Am besten mit der Vorgeschichte: Die "Tartaren" (oder "Hunnen" oder "Mongolen" - den Europäern dürfte das damals einerlei gewesen sein) kamen also aus der Tiefe des Raums, pardon aus der Tiefe der asiatischen Steppe angeritten gen Westen (und gen Osten und gen Süden, aber das soll uns hier nicht weiter interessieren). Ihr Anführer war der Ķhān (den Ihr doch bitte mit einem schönen, kratzigen deutschen "ch" im Anlaut aussprechen wollt; "Khān" ist die Scheune!) Batu, angeblich ein Enkel - oder Urenkel - des berühmt-berüchtigten "Cingis Ķhān" Temucin. (Ersteres ist kein Name, sondern ein Titel. Entgegen der herrschenden Meinung hält Dikigoros daran fest, daß das weder "Groß-Khan" - welche Sprache sollte das sein? - bedeutet noch "Herrscher vom Meer" - womit der Baikal-See gemeint sein soll - noch "Herr der [Welt-]Meere" - selbst wenn man es vom Alt-Türkischen "tengis [Meer]" ableiten wollte: das steht im Singular! - noch "edler Reiter" - vom chinesischen "cheng-sze" - sondern "Reitsattel-König" - ein Wort, das die Mongolen von den Pathanen übernahmen, mit einem weichen "dsch" im Anlaut und einem langem "i" danach - Dikigoros gebraucht hier lediglich der Einfachheit halber die Umschrift, die Atatürk 1928 in der Türkei eingeführt hat, und die viel besser für die Wiedergabe der Turk-Sprachen geeignet ist als alle anderen, vom Arabischen bis zum Chinesischen. "Temucin" ist übrigens auch kein echter Name, sondern bedeutet "der Eiserne"; manche meinen, das sei eine Art Familienname, etwa wie "Schmied"; Dikigoros meint, daß es eher ein Beiname war, etwa wie "Stalin [der Stählerne]", den jener Mongolen-Herrscher führte, bevor er sich "Cingis Ķhān" nannte.) Zuerst machten sie die Russen platt. (Das waren noch echte Russen, keine Moskoviter, sondern die Nachkommen der wikingischen Rūs, die den Staat einst gegründet hatten.) Und das ist wörtlich zu nehmen, denn sie machten ihre Hauptstadt Kiew (damals die zweitgrößte Stadt Europas nach Wizádion [so spricht sich die Stadt, die Ihr, liebe deutsche Leser, meist "Bühtsants" nennt und "Byzanz" schreibt, richtig aus - das "z" als weiches "s"] und einzige echte Stadt Rūslands - Moskau war noch eine kleine Ansiedlung von Holzhäusern, erst seit knapp hundert Jahren wenigstens mit einem Bretterzaun drum herum) 1240 dem Erdboden gleich: Ganze 200 (in Worten: zweihundert) Überlebende soll es gegeben haben. Das sahen andere Völker mit Schrecken, z.B. die Kumanen, die seit dem 11. Jahrhundert das Steppenfeld im Süden der heutigen Ukraïne besiedelten, nach dem es die Russen "Polowzi" nannten (von Pol, Feld; sie selber nannten sich "Kipçaken"; warum, weiß Dikigoros nicht, ebenso wenig, warum sie auf Mittelhochdeutsch "Falben" genannt wurden). Die fragten durch ihren Ķhān Kotjan ganz höflich beim ungarischen König an, ob er ihnen nicht Asyl gewähren könnte - das ganze Volk, ca. 40.000 Familien, wollte auswandern. Béla überlegte: Wenn die bereit wären, im Gegenzug das Christentum anzunehmen, könnte er beim Papst Punkte gut machen, und außerdem hätte er auch gleich reichlich Kanonenfutter, wenn die Hunnen wider Erwarten doch bis nach Ungarn vordringen sollten; denn sein Vater Andreas, dieser Unglücksrabe, hatte anno 1222 in der "Goldenen Bulle" den ungarischen Adel praktisch von der Heerfolgepflicht befreit und neun Jahre später auch noch die Ritter vom Deutschen Orden des Landes verwiesen (sie gingen ins Baltikum, aber das ist eine andere Geschichte), d.h. Ungarn war praktisch verteidigungsunfähig. Auch die Kumanen überlegten: Das Taufwasser war zwar kalt und naß (damals wurde man noch richtig unter getaucht, bekam nicht nur ein paar Tropfen auf die Stirn gespritzt), aber wenn das denn der Preis war... Also: herein spaziert, liebe Brüder in Christo! Die Kumanen kamen, und ihre Führer lud Béla gleich großzügig zum Willkommensbankett in seine Hauptstadt Etzelburg ein, pardon, noch hieß es ja nach seinem Urahn, dem Heiligen Stefan. (Es ist also nur folgerichtig, wenn Kriemhilt schon bei ihrer ersten Reise zu Etzel auf Ritter "aus dem Lande zu Kiew" und "wilde Pecenegen" trifft, die sich auffallend gut aufs Bogenschießen verstehen.)

Leider hatte Béla die Rechnung ohne seine Magnaten gemacht. Denen (und nicht nur denen :-) gefiel es gar nicht, daß ihr König da so einfach ungarisches Land an daher gelaufene Asylanten verschenkte und zu allem Überfluß auch noch in zweiter Ehe eine ihrer Prinzessinnen geheiratet hatte. [Die meisten Geschichtsbücher schweigen das tot. Die Parallele ist nur allzu deutlich, auch wenn die neue Frau nicht Kriemhilt hieß. Aber Bélas erste Frau - eine griechische Prinzessin - hatte Helene geheißen, und wenn man dazu die Diminutivform "Helenchen" bildet, ist das nicht allzu weit entfernt von Helche, der ersten Frau Attalas.] Waren das nicht die Enkel jener zwielichtigen "Kúnoken", die vor rund 70 Jahren in die Theiss-Ebene eingefallen waren und sie verwüstet hatten? Die vor rund 50 Jahren die mit den Ungarn stammverwandten Pecenegen fast ausgerottet hatten? Die seitdem den Russen nichts als Ärger machten? Nein danke - von denen wollte man im eigenen Lande nichts wissen! Was taten die ungarischen Adeligen also? Sie erschlugen Kotjan und die anderen Kumanen-Führer beim Bankett wie die Burgunder im Nibelungenlied die Hunnen. Ob es auch da einen Dietrich von Bern gab, der einige von ihnen rettete? Offenbar, auch wenn uns sein Name nicht überliefert ist. Jedenfalls gab es überlebende Kumanen, und die verließen die Theiss-Ebene fluchtartig und siedelten in die Dobruca über, jenes angenehm sonnige Eckchen zwischen Donau und Schwarzem Meer, das damals noch zu Bulgarien gehörte. (Das war seit 1230, als es den "lateinischen Kaiser" von Konstantinopel an der Maritza aufs Haupt schlug, für balkanesische Verhältnisse eine Großmacht; Rumänien gab es noch nicht; das sollte sich die Dobruca erst 1878 unter den Nagel reißen. Die Kumanen sollten im 14. und 15. bis an die Spitze des bulgarischen Staates aufsteigen; ihre Nachfahren lebten dort bis ins 20. Jahrhundert, als sie im Rahmen eines groß angelegten "Bevölkerungsaustausches" vertrieben, pardon umgesiedelt wurden; aber das ist eine andere Geschichte.)

[Bela IV] [Friedrich der Streitbare, der letzte Babenberger]

Schön dumm war das gewesen von den Ungarn, denn als die Hunnen wenig später tatsächlich bei ihnen auf der Matte standen, mußten sie wieder selber Soldaten spielen. Oder gab es vielleicht noch einen anderen Dummen, der seinen Kopf für sie hinhalten würde? Der Kaiser, Friedrich II von Hohenstaufen, saß in Sizilien und stritt sich mit dem Papst herum. Er schickte weder Geld noch Soldaten, nur schöne Grüße und die besten Wünsche für die anstehende Schlacht. Sein Namensvetter, Herzog Friedrich II von Österreich? Der trug immerhin den Beinamen "der Streitbare [bellicosus]"; aber das bezog sich wohl eher darauf, daß er im persönlichen Umgang ein streitsüchtiger Mensch war. (Tatsächlich saß er lieber in seinem Schloß vor dem Fernseher und sah Hitparade, pardon, ließ Minnesänger auftreten - er war der größte Förderer ihrer Zunft weit und breit.) Immerhin, anfragen konnte man ja mal. Friedrich II überlegte nicht lange: Er kratzte ein paar hundert Ritter zusammen (und vielleicht zweitausend Knechte - Ihr seht, liebe Leser, wir befinden uns in auffallender Nähe zu den Zahlen der Niflungen, die Ritter-Schaumburg aus der Thidrekssaga ermittelt hat) und zog gen Osten nach Etzelburg, pardon Gran, auf just dem Weg, dem auch die Burgunder folgten. Ob auch der junge Konrad von Würzburg mit dabei war? Dikigoros hält das für sehr wahrscheinlich; aber beweisen kann er es nicht, denn der war noch zu unbedeutend, um in irgendwelchen Urkunden oder Chroniken erwähnt zu werden. Wie dem auch sei, Friedrich ließ sich für seine wertvolle Hilfe von Béla reichlich Gold bezahlen und drei kleinere Grafschaften im Westen abtreten (die Ecke zwischen Oedenburg und Raab, um die sich Österreicher und Ungarn die nächsten 700 Jahre nicht aufhören sollten zu streiten); dann nahm er seine tapferen Ritter und zog - nach einigen kleineren Scharmützeln mit "hunnischen" Vorhuten - schleunigst wieder nach Hause. Kriemhilden, pardon die Königin von Ungarn, nahm er gleich mit, und den Nibelungenhort, pardon den ungarischen Staatsschatz, auch - um ihn vor den "Hunnen" in Sicherheit zu bringen, versteht sich, er wollte sich natürlich ebenso wenig bereichern wie Hagen. (Und er handelte ebenso selbstlos wie der Graf von Stauffenberg, der für sich selber gar kein politisches Amt anstrebte - höchstens den Oberbefehl über die Wehrmacht; der Posten eines Staatssekretärs im Kriegsministerium und stellvertretenden Kriegsministers war damals noch kein politisches Amt; es blieb den guten Demokraten der BRDDR vorbehalten, Posten vom Brigadegeneral und Ministerialrat an aufwärts nur noch an Parteibuchhalter zu vergeben.) Béla und seine Ungarn ließ er im Regen von Mohi stehen, und wie wir bereits gesehen haben, gingen alle außer dem König selber drauf. Der floh nach Österreich, wo er huldvoll aufgenommen wurde und erst wieder gehen durfte, nachdem er Friedrich den gesamten Staatsschatz abgetreten hatte - nein, er war nicht so standhaft wie Hagen, daß er für das schnöde Gold in den Tod ging! Ein Jahr später zogen die "Hunnen" wieder ab, denn irgendwo tief in Asien war ihr Groß-Ķhān gestorben, und alle Heerführer mußten zurück kehren, um persönlich einen Nachfolger zu wählen (oder sie wollten zurück kehren, um persönlich zum Nachfolger gewählt zu werden, so genau ist das nicht mehr zu eruieren :-).

Was hatte die "Hunnen" überhaupt dazu bewogen, nach Ungarn vorzustoßen? Der Kiewer Roman-Historiker Jantschewetzki meinte, Batus Wunsch, "zum letzten Meer" zu gelangen - also mal einen Badeurlaub an der Adria zu verbringen. Er schloß das wohl daraus, daß die "Hunnen" tatsächlich bis ins dalmatinische Spalato (Split) gelangten. Aber für ein solches Motiv geben die Quellen nichts her. Vielmehr war Batu schwer beleidigt, daß sich die Kumanen seinem Zugriff - und damit dem des einzig wahren und allein selig machenden Glaubens, des Islām - entzogen hatten, und zu allem Überfluß auch noch Christenhunde geworden waren. Das schrie nach Rache; denn nach islamischer Rechtsauffassung war - und ist - das ein todeswürdiges Verbrechen. So schrieb Batu denn einen Brief an Béla, daß er sich unterwerfen und die abtrünnigen Kumanen ausliefern solle, widrigenfalls er den ungarischen Städten ein Schicksal bereiten würde wie sein Vetter Mengu Ķhān es Kiew bereitet hatte. Die ungarischen Adeligen hätten nichts lieber getan als zu gehorchen; aber damit die nicht etwa auf die Idee kamen, ihn abzusetzen und mitsamt den Kumanen einen Kopf kürzer zu machen, ließ Béla den Briefträger erschlagen, heftete Batus Brief in Ablage P (nein, er verbrannte ihn nicht - sonst wäre er uns ja nicht überliefert!) und schickte seine adeligen Ritter in den Kampf. Wie der ausging, hatten wir ja schon gesehen: Für die Donau-Städtchen Buda und Pescht ähnlich wie für Kiew (mit dem Unterschied, daß ein größerer Teil der Bevölkerung noch rechtzeitig fliehen konnte, bevor sie nieder gebrannt wurden); für die "Hunnen" unerheblich, da sie eh nicht blieben; für die meisten Magnaten tödlich; und für Béla? Gar nicht so übel: Er spielt Stehaufmännchen; und ein paar Jahre später marschiert er in Österreich ein. Im Juni 1246 trifft er an der Leitha auf das Heer Friedrichs des Streitbaren - und diesmal läßt er ihn nicht entkommen. Friedrich geht in die Geschichte ein als "der letzte Babenberger" ein; Kaiser Friedrich von Hohenstaufen zieht die Ostmark als Reichslehen ein und gibt sie demnächst einem Nachbarn der schwäbischen Staufer, einem aus dem Geschlecht der alemannischen Hab[icht]sburger - aber das ist eine andere Geschichte.

* * * * *

Welches Interesse Herzog Friedrich II von Österreich an der Nibelungenmär und ihren gegenwartsbezogenen Parallelen hatte, dürfte nun jedem klar sein. Wer stellte Jahrzehnte lang die Bischöfe von Passau? Richtig, die Babenberger. Wer war anno 1241 Bischof von Passau? Nein, ausnahmsweise mal kein Babenberger, sondern Rüdiger von Radeck (oder Radech), dem Konrad im Nibelungenlied ein Denkmal als "Rüdiger von Bechlarn" gesetzt hat. Er war zusammen mit Kaiser Friedrich II (dessen Gefolgsmann er war) auf jenem "5. Kreuzzug", in dem der Sultan von Ägypten Jerusalem und noch ein paar andere Stätten an die Christen verpachtete, und führte infolgedessen den Beinamen "Pilgrim" zurecht. Die Geschichte weiß sonst kaum noch etwas über ihn; denn der Papst bannte ihn (wegen seiner Verbindung mit Kaiser Friedrich II), setzte ihn ab und ersetzte ihn 1250 durch... Ihr werdet es kaum glauben, liebe Leser, durch Konrad, den jüngeren Sohn Heinis II von Schlesien, des Versagers von Liegnitz! Die Welt ist klein... und ohne die Nibelungenklage hätte Dikigoros auch den als Auftraggeber seines Namensvetters Konrad von Würzburg nicht ausschließen wollen. Aber so können wir die Entstehungszeit der Nibelungennôt - für mittelalterliche Verhältnisse ziemlich genau - auf 1241-1250 eingrenzen. (Es ist übrigens auch unter Germanistik-Professoren unstreitig, daß alle auf uns gekommenen Handschriften nicht etwa vom Beginn, sondern frühestens aus der Mitte des 13. Jahrhunderts stammen - sollten das alles nur "spätere Abschriften älterer Originale" sein?)

Womöglich geht es sogar noch genauer? Vielleicht - aber dafür will Dikigoros seine Hand nicht unbedingt ins Feuer legen, denn die Entdeckung, die er Euch jetzt vorstellen will, stammt ausgerechnet von einem Germanistik-Professor (der Dikigoros' Schlußfolgerungen im übrigen nicht teilt). Der gute Professor las eines Tages ein Gedicht von einem gewissen Otto von Botenlauben. Einige nennen ihn auch Otto von Bodenlauben, und wieder andere meinen, daß er identisch sei mit dem "Henneberger". Wie dem auch sei, er war ein weniger berühmter Minnesänger, halt einer aus der zweiten Reihe, der in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts lebte. Von ihm stammt jenes Gedicht, das mit den Worten beginnt: "Karbvnkel ist ain stain genant, von dem saget man, wie lieht er schine [Karfunkel ist ein Stein genannt, von dem sagt man, wie leuchtend er scheine]..." Otto meinte damit seine Angebetete, die vermutlich rothaarig war, denn "Karfunkel" war in einer Zeit, da es noch keine Lupen, geschweige denn Spektral-Analysen gab, der Oberbegriff für Rubine, Granaten und andere Korunde, halt rote [Halb-]Edelsteine. Der Ärger war nur, daß die Dame wohl von ihrem Vater oder Ehemann so gut unter Verschluß gehalten wurde, daß Otto nicht richtig an sie heran kam. Und so schreibt er denn, daß der Karfunkel zwar sein sei, aber er liege "zu loche in dem rine", und das, so meint der gute Professor, sei eine deutliche Anspielung auf die Strofe im Nibelungenliede, in der Hagen den Nibelungenhort im Rhein versenkt, so daß er Kriemhilden zwar noch gehöre, sie aber nichts davon habe.

[Hagen versenkt den Nibelungenhort im Rhein - Zeichnung von Franz Staffen, 1922]

So weit, so gut, Otto von Botenlauben hat das Nibelungenlied also gekannt - aber was hilft uns das bei der Datierung des letzteren, da wir nicht genau wissen, wann ersterer gestorben ist? (Man vermutet, irgendwann in den 1240er Jahren, aber so weit waren wir mit der Datierung ja auch schon ohne ihn.) Doch das Gedicht ist noch nicht zuende, und die beiden folgenden Zeilen lauten: "Genauso hat der König den Waisen, das ihm den niemand scheinen läßt." Das sei, so der gute Professor, eine Anspielung auf die Zeit der Gegenkönige, als jeweils nur einer der "Könige" im Besitz der echten Krone war (deren schönster und wertvollster Edelstein "der Waise" genannt wurde), während sie dem jeweils anderen nie schiene. Damit, so der gute Professor weiter, kann nur der Streit zwischen Welfen und Staufern in den Jahren 1198-1218 gemeint sein, zwischen Otto IV einerseits und erst Philipp von Schwaben und dann Friedrich II andererseits; denn Otto IV war zwar der rechtmäßige König, aber Philipp hatte sich die echte Krone unter den Nagel gerissen und mit dieser zum Gegenkönig krönen lassen. Oder spielt das Gedicht doch eher auf Friedrich II an, der sich 1212 in Mainz - und noch einmal 1215 in Aachen - zum Gegenkönig krönen ließ (wiederum ohne die echte Krone mit dem "Waisen")? Egal, wie auch immer, jedenfalls müsse die Entstehung des Nibelungenliedes somit in den Zeitraum zwischen 1198 und 1218 gefallen sein. (Und wenn das so wäre, dann würde Konrad von Würzburg als Verfasser der Nibelungennôt natürlich ausscheiden, und Dikigoros wäre auf dem Holzwege.)

[Die mittelalterliche Reichskrone - Vorderansicht]

Nun ist das ganze zwar hübsch ausgedacht; aber es hat ein paar Haken, die der gute Germanistik-Professor vielleicht nicht sehen konnte - er war halt kein Historiker, und seine Kenntnisse in mittelalterlicher Geschichte waren wohl nur rudimentär. Der erste Haken ist, daß Otto von Botenlauben dann auf ein schon etwas länger zurück liegendes Ereignis angespielt hätte statt auf ein aktuelles. Dikigoros will das nicht ganz ausschließen - von dem Streit zwischen Welfen und Staufen wußten historisch gebildete Menschen wohl auch noch ein paar Jahrzehnte später -, wiewohl er persönlich meint, daß ein Dichter im Zweifel doch eher auf aktuelle Ereignisse Bezug nimmt, die auch seinen historisch weniger gebildeten Hörern noch präsent sind. Der zweite Haken ist, daß der gute Professor hier pars pro toto nimmt, d.h. den "Waisen" für die ganze Krone. Nun schrieb zwar auch Walther von der Vogelweide in einem seiner Gedichte, daß sich König Philipp "den weisen ûf setzte", was durchaus für diese These spricht; aber dagegen spricht, was eine moderne Historikerin, die sich auf die Geschichte just dieser Krone spezialisiert hat - ohne von dem Streit der Germanisten zu wissen, also ganz unvoreingenommen - dazu schreibt: Sie meint, daß "der Waise" irgendwann im Mittelalter verloren ging, und das ist inzwischen herrschende Meinung unter den Historikern. Sie schließen das daraus, daß an dem Stein, der oben im Zentrum der mittelalterlichen Reichskrone, wie wir sie heute kennen, prangt, eigentlich nichts besonderes ist, daß er vielmehr zu klein für die ursprüngliche Fassung und offenbar nachträglich mit Draht befestigt worden ist, ferner daß "der Waise" ab dem späten Mittelalter nicht mehr erwähnt wird.

[Ansicht von oben]

Wenn das richtig wäre, dann hätte Otto von Botenlauben womöglich gar nicht einen bestimmten König gemeint, der die echte Krone mitsamt dem "Waisen" nicht scheinen gesehen hat, sondern generell alle Könige, auf deren Krone "der Waise" nicht [mehr] zu sehen war. (Eine weitere Möglichkeit, nämlich daß "der Waise" entgegen der herrschenden Meinung der Germanisten nicht "der Einzigartige" bedeutete, sondern ganz wörtlich eine Stelle in der Krone bezeichnete, die "verwaist" war, also ursprünglich gar keinen Stein enthielt, den die Fantasie sich hinzu dachte, und die erst später mit einem weiteren, eher simplen Stein, ausgefüllt und verdrahtet wurde, will Dikigoros mal außer Acht lassen.) Dann wäre das Gedicht vom Karfunkelstein für die Datierung der Nibelungennôt unbrauchbar. Aber Dikigoros ist sich nicht sicher, daß "der Waise" wirklich im zentralen vorderen Mittelfeld der Krone stand; er hält das sogar eher für unwahrscheinlich. Die Angewohnheit, die schönsten und/oder wertvollsten Steine mitten auf die Vorderfront der Kronen zu pappen, ist eine Erfindung der Neuzeit. Der mittelalterliche Mensch dachte primitiver, etwa so wie die "Wilden" heute; und wenn Ihr, liebe Leser, mal das Glück haben solltet, das längst vergriffene Buch "Urmotiv Auge" des Biologen und Ethnologen Otto König in die Finger zu bekommen, dann haltet es fest und lest es; es ist ein faszinierendes Werk, aus dem sich u.a. ergibt, daß man früher das "dritte Auge" zur Abwehr der bösen Blicke und Geister nicht auf der Vorderseite trug - wozu auch, da hatte man ja schon seine eigenen Augen -, sondern... auf der Rückseite! (Dikigoros wird in dieser Auffassung bestätigt wiederum durch Walther von der Vogelweide, der in einem seiner Gedichte schreibt, daß "der weise ob sîme nacke stê [der Waise über seinem (des Königs) Nacken stehe" - wenn er die Krone nicht gerade verkehrt herum aufgesetzt hatte, dürfen wir daraus getrost schließen, daß sich besagter Stein nicht auf der Stirnseite befand, sondern im Nacken, also hinten.) Nun befindet sich auf der Rückseite der Krone bis heute ein Stein, auf den die Definition des "Waisen", wie sie Albertus Magnus im 13. Jahrhundert gegeben hat (ein roter [Halb-]Edelstein von ungewöhnlicher Leuchtkraft) exakt zutrifft - selbst in der abgedunkelten Schatzkammer der Wiener Hofburg, wo die Krone heute liegt, leuchtet er, und sein Glanz überstrahlt den aller anderen Steine. (Nein, er ist nicht besonders groß, aber davon steht auch nichts in den Quellen - im Gegenteil: Er soll aus einem anderen Stein "heraus gebrochen" sein, was nicht gerade für seine Größe spricht!) Und deshalb ist Dikigoros geneigt, dem guten Professor in diesem Punkt zu folgen: Otto von Botenlauben spielte nicht auf das Verschwinden des "Waisen" aus der Krone an, sondern darauf, daß ein bestimmter König die letztere nicht im Original zu sehen bekam.

[Der Korund auf der Rückseite der mittelalterlichen Reichskrone - war das 'der Waise'?]

Aber welchen König meinte er? Damit kommen wir zum dritten Haken, und der ist, daß es mit dem Besitz der "echten" Krone (also der mit dem "Waisen") ja gar nicht so war, wie Lieschen Müller, Otto Normalverbraucher (und gewisse Germanistik-Professoren :-) sich das vorstellen: Auch wenn sie im Zeitpunkt der Krönung erstmal nicht zur Hand war (sondern in den Händen irgendwelcher Gegner), heißt das ja nicht, daß der König sie bzw. den "Waisen" nie (scheinen) sah. Otto IV war von 1198 bis 1212 praktisch unangefochten König und hatte während dieser Zeit auch Zugriff auf die echte Krone. (Als die Anhänger Philipps 1208 mit ihrer Wühlarbeit und ihren Bestechungen - Geld war genug da, aus dem Lösegeld für Richard Löwenherz, und sowohl die kirchlichen als auch die weltlichen Fürsten hielten gerne mal die Hand auf - gerade so weit waren, daß sie wahrscheinlich in der Lage gewesen, Otto IV zu stürzen, wurde ihr Kandidat aus "privaten" Gründen - wenn man denn den Bruch eines dynastisch nicht ganz unbedeutsamen Heiratsversprechens so nennen darf - "ermordet". Das geschah ihm, nebenbei bemerkt, nur Recht; denn auch wenn ihn seine Speichel leckende Hofschranze Walther von der Vogelweide im ersten Philippston einen "jungen süezen man" nannte - bevor er die Seiten wechselte und sich bei Otto IV einschleimte -, war er doch in Wahrheit ein korrupter Kuppler, der seine Tochter Beatrix erst dem bayrischen Wittelsbacher verlobt hatte, damit der seine Königswahl unterstützte, dann, als sie gerade heiratsfähig wurde, dem Papst bzw. dessen Neffen versprach, damit der ihn anerkannte - daraufhin erschlug ihn der Wittelsbacher eigenhändig mit dem Schwert, "Totschlag im Affekt" würde man das heute nennen -, und schließlich verschacherten sie ihre Verwandten ausgerechnet an seinen Gegenspieler und Todfeind Otto IV, damit der ihnen ihre Hausgüter ließ.) Und genauso war es später bei Friedrich II: Er war zwar 1212 und 1215 ohne die echte Krone gekrönt worden, aber aus den Annalen Alberts von Stade wissen wir, daß nach dem Tode Ottos IV dessen Bruder die Reichsinsignien an Friedrich II übergab - der erstere hatte sie also gehabt und der letztere nun bekommen, folglich können beide nicht gemeint gewesen sein, zumal sowohl Otto IV als auch später Friedrich II gekrönte Kaiser waren - Otto von Botenlauben hätte wohl keinen von ihnen als bloßen "König" bezeichnet. (Und König Philipp von Schwaben war zwar nie Kaiser, aber mit der echten Krone gekrönt worden, er hatte den "Waisen" also bestimmt scheinen gesehen.)

Was nun? Gab es denn im 13. Jahrhundert überhaupt einen deutschen König, der die Krone nie zu Gesicht bekam? Ja, den gab es, einen einzigen, und das ist eine der schillerndsten Persönlichkeiten des 13. Jahrhunderts: Heinrich Raspe, (usurpierter) Landgraf von Thüringen, vormaliger Reichsverweser ("Procurator" oder "Gubernator"), von seinen Feinden "Pfaffenkönig" geschimpft, weil er nur von geistlichen Fürsten - den Erzbischöfen von Mainz und Köln und noch ein paar Bischöfen (es gab damals noch keine festgelegte Liste der wahlberechtigten "Kurfürsten") - zum [Gegen-]König gewählt worden war. Kaiser Friedrich II war weit - und überdies mal wieder vom Papst gebannt -, und den Sohn des Kaisers, Konrad IV, schlug Heinrich vernichtend. (Der größte Teil von Konrads Heer war zu ihm übergelaufen - die deutschen Ritter hatten die Nase voll von dem sizilianischen Muslim und seiner Brut!) Daraufhin erkannten ihn auch die weltlichen Fürsten - selbst die aus dem Stauferland Schwaben - als König an. Der Weg war frei für eine dritte dynastische Macht zwischen Staufern und Welfen, für die thüringischen Ludowinger. Heinrich bereitete gerade seine Krönung vor, da... starb er sang- und klanglos auf der Wartburg. Sang- und klanglos? Nicht ganz, denn sein Andenken lebte weiter (nur halt nicht mehr in den Köpfen der Germanistik-Professoren der Neuzeit :-), und dafür gab es gute Gründe; einer davon war, daß er - im Gegensatz zu Friedrich II - 1241 mit gegen die "Hunnen" gekämpft hatte. Auf ihn spielt Otto von Botenlauben an - er war der König, dem der "Waise" nie schien. Und nun müssen wir nur noch fragen, wann sich das alles abspielte, und oh Wunder - schon wieder ein Zufall?!? -, es paßt genau in unseren Zeitrahmen für die Entstehung des Nibelungenliedes zwischen 1241 und 1250: Heinrich Raspe wurde im Mai 1246 zum König gewählt, und im Februar 1247 starb er. Wo wurde er übrigens gewählt? In Veitshöchheim bei Würzburg. Wo lebte der damals noch junge Konrad von Würzburg? Na wo wohl. Und wo lebte damals just auch Otto von Botenlauben? Auch in Würzburg - Zufälle gibts... Wenn wir also die These vom aktuellen Zeitbezug ernst nehmen wollen, dann muß die Nibelungennôt 1247 fertig gewesen sein, spätetens im Oktober, als Willem von Holland zum neuen [Gegen-]König gewählt wurde. [Bis dahin war "Interregnum" - und nur bis dahin, auch wenn manche Historiker das noch viele Jahre länger ausdehnen wollen - da ist nichts dran. Äußerstenfalls könnte man argumentieren, daß es andauerte, bis Willem 1248 auch gekrönt wurde - bis dahin fehlte mal wieder die Krone -; aber da müßte man schon im wahrsten Sinne des Wortes päpstlicher sein als der Papst, denn der erkannte ihn unmittelbar nach der Wahl an.] Danach wäre der König, der den "Waisen" nie leuchten sah, für Otto von Botenlauben nicht mehr "aktuell" gewesen; außerdem starb der gute Otto nach herrschender Meinung ja 1247. Wir können die Entstehungszeit des Nibelungenlieds also auf die Jahre 1241-47 ansetzen.

Exkurs. Ja, liebe Leser, Dikigoros weiß wohl, daß manche Leute den Tod Ottos von Botenlauben neuerdings früher, nämlich auf das Jahr 1244 ansetzen. Wollt Ihr wissen, wie das kam und was dahinter steckt? Dikigoros kann es Euch genau sagen, denn er war dabei. Er war auch dabei, als die Stadt Berlin ihren 750. Geburtstag feierte, die Stadt Bonn ihren 2000. und die Stadt Leipzig ihren 850., pardon, der wurde ja offiziell großzügig aufgerundet zum 1000. (Und das, obwohl man noch 100 Jahre zuvor ebenso offiziell den 750. gefeiert hatte :-) Ahnt Ihr, worauf er hinaus will? Weder ist Berlin 750 Jahre alt noch Bonn 2000 (geschweige denn "Kaliningrad" 750 Jahre, auch wenn die Russen das anno 2005 ausgiebig gefeiert haben - allerdings ohne Dikigoros, der auch auf die Teilnahme an der 2000-Jahr-Feier von Derbent - der "ältesten Stadt Rußlands", die ungefähr so russisch ist wie letzteres - dankend verzichtet hat, so daß er den schlimmsten muslimischen Terror-Anschlag des Jahres 2015 auf Touristen in Europa - der von den westlichen Massenmedien mit eisigem Schweigen übergangen wurde - nicht mit erlebt hat :-). Aber wenn Politiker etwas zu feiern haben wollen, biegen sie sich die Geschichte halt entsprechend zurecht. So auch hier: Die Stadt Bad Kissingen, knapp 40 km von Würzburg entfernt, wollte zum "Minnesänger-Jahr" 1994 (Ihr erinnert Euch vielleicht noch: Fernsehsendungen, Briefmarken, Münzen - meist mit Walther von der Vogelweide - wer kennt schon die anderen?) auch einen Beitrag leisten, mit Burgfest, Ritterturnier, Konzert, Ausstellung über Minnesänger und Kreuzfahrer... Man suchte und suchte und suchte, und schließlich fand man: Otto von Botenlauben. Der hatte nämlich das nahe gelegene Kloster Frauenroth gestiftet, d.h. eigentlich war es ja seine Frau Beatrix; aber was solls. Leider war das nachweislich im Jahre 1231, und das paßte nun gar nicht, wenn man zum "Botenlauben-Festival" eine runde Zahl haben wollte. Aber Moment mal: Wenn man Ottos Todesjahr einfach auf 1244 vorverlegte - so genau wußte das ja sowieso niemand -, dann kam man auf 750 Jahre! Das war ebenso gut wie Berlin, und fast so gut wie Bonn. (Und allemal besser als Oslo, das anno 2000 den 1000. Jahrestag seiner Gründung feierte - obwohl man doch 1950 erst den 900. Gründungstag gefeiert hatte und einige Norweger sich daran noch erinnerten; aber dem guten alten Snorri Sturluson - der als Gründungsjahr 1048 genannt hatte - will man heuer ebenso wenig mehr glauben wie den Verfassern der Thidrekssaga und der Nibelungennot :-) Und seitdem ist Otto von Botenlauben halt nach Meinung der Bad Kissinger 1244 gestorben; und da sie so viel Brimborium um ihre Veranstaltung machten, glaubten es am Ende sogar einige der so genannten "Wissenschaftler" und übernahmen die Jahreszahl brav und ungeprüft in ihre Leerbücher. Exkurs Ende.

Um auf die Nibelungenklage zurück zu kommen: Generationen von Germanisten haben herum gerätselt, was es wohl mit der Zeile auf sich haben könnte, die da lautet: "... [Der Bischof von Passau] hieß schreiben diese Mär', wie es ergangen wär', in lateinischen Buchstaben." Daraus haben neunmalkluge Professoren geschlossen, daß es ein lateinisches "Original" gegeben haben müsse. Pardon, liebe Germanisten, könnt Ihr noch lesen? Da steht nicht "in lateinischer Zunge", sondern "in lateinischen Buchstaben"! [Konrad von Würzburg hätte auch nicht von "Zunge" gesprochen, wie Dikigoros als Norddeutscher es hier tut. In seinem "Pantaleon" umschreibt er das so: "... bracht er sie von Lateine zu deutscher Worte Scheine."] Wir dürfen also allenfalls vermuten, daß diese Begebenheiten zunächst auf Griechisch - oder Kyrillisch - aufgezeichnet wurden, und daß Konrad - neben der Thidrekssaga - aus dieser Vorlage schöpfte, als er die Nibelungennôt schrieb, in "lateinischen" Buchstaben, wie wir unsere Schrift noch heute nennen. Vielleicht von jenem "Spielmann", den Jantschewetzki in einer alten muslimischen Quelle - der "Chronik des Haci Raķhim" - gefunden haben will, und der vor Batu gesungen haben soll? Vielleicht hatte der Bischof von Passau die griechische Vorlage sogar von Herzog Friedrich selber? Vergessen wir nicht: sowohl dessen Mutter Theodora als auch dessen erste Frau Sofia waren griechische Prinzessinnen; sie saßen also im wahrsten Sinne des Wortes an der Quelle.

Noch etwas hat die Germanistik-Professoren lange beschäftigt: zur Untermauerung ihrer Verfasser-These ("Konrad von Passau") aus dem Text heraus zu lesen, daß sich der gute Mann in Passau bestens, in Worms jedoch so gut wie gar nicht ausgekannt habe. Wie denn auch? Von Passau nach Worms sind es ca. 350 km Luftlinie; und die über Land zu ziehen, war damals eine Weltreise. So weit, so gut. Aber dann kam wieder so ein Amateur daher - Hans Müller hieß er - und schaute sich den Text noch einmal ganz vorurteilslos an. Und er kam - oh Schreck - zu dem durchaus fundierten Ergebnis, daß sich der Nibelungenlied-Dichter in Worms mindestens ebenso gut auskannte wie in Passau! Was nun? Müller selber hat die Konsequenz seiner Entdeckung nicht begriffen - er verliert sich statt dessen in Polemiken gegen Ritter-Schaumburg. (Wie so viele andere hat auch er nicht kapiert, daß gar kein Widerspruch bestehen muß zwischen der Annahme, daß die der Thidrekssaga zugrunde liegenden historischen Ereignisse sich zwischen Eifel und Westfalen abspielten, und der Feststellung, daß der Nibelungenlied-Dichter sich den Schauplatz seines Liedes zwischen Worms und Etzelburg vorstellte - das sind zwei Paar Schuh'!) Aber diese Beobachtung ist sehr wichtig - viel wichtiger, als selbst Dikigoros ursprünglich erkannt hat. In der Anfangsfassung dieses Kapitels folgte hier der Satz: "Von Straßburg (wo Konrad von Würzburg inzwischen saß) nach Worms sind es nur gut 100 km Luftlinie, und die braucht man nicht einmal über Land zu reisen; man setzt sich einfach in einen Kahn und läßt sich den Rhein hinunter treiben - das ist ein Tagesausflug, den die Stadt der Reichstage einem gebildeten Menschen von damals durchaus wert gewesen sein sollte; und wenn Konrad inzwischen schon in Basel gesessen haben sollte, wäre es halt eine - ebenso bequeme - Zweitagereise gewesen." Alles wahr, und doch steckt darin ein Denkfehler: Als Konrad die Nibelungennot schrieb, saß er nämlich noch in Würzburg - sonst hätte Otto von Botenlauben sie wohl nicht gekannt -, und von dort machte man nicht mal eben einen "Tagesausflug", und überhaupt wird im Nibelungenlied ja nicht bloß mal kurz die Stadt beschrieben, wie man das nach einem solchen Kurztrip allenfalls erwarten könnte.

Aber die Lösung ist viel einfacher, und sie erklärt zugleich noch etwas anderes, worüber sich vor allem Ritter-Schaumburg so echauffierte: Die 10. Aventiure berichtet lang und breit von den Hochzeits-Feierlichkeiten in Worms, die - jedenfalls in dieser Breite - gar nichts zur Handlung beitragen; und rund zehn Jahre später, in der 13. Aventiure, wird wieder von einem großen Fest in Worms berichtet. Was soll dieser Unsinn? fragt Ritter-Schaumburg, wer denkt sich so etwas aus? - Nun, sagen die Professoren, das entsprach eben dem damaligen Zeitgeschmack; das Publikum wollte so etwas lesen bzw. hören, ähnlich wie ja auch die heutigen Frauen in den Klatschspalten der Regenbogen-Presse bevorzugt über Fürstenhochzeiten lesen und welche Kleider und Klunker die Damenwelt dabei trug... So so, das Nibelungenlied als Regenbogen-Presse? Nein, liebe Leser, nehmen wir die Frage doch ruhig einmal ernst: Wer denkt sich so etwas aus? Antwort: Niemand. So etwas denkt man sich nicht aus; so etwas schildert man, weil man es selber miterlebt hat, und weil es einen besonders starken Eindruck hinterlassen hat. Gibt es ein vergleichbares Ereignis - oder besser gleich zwei, die Konrad miterlebt haben könnte? Ja, die gibt es, und vor allem das erstere wird seinen Eindruck nicht verfehlt haben, zumal Konrad da noch relativ jung gewesen sein muß. 1235 kam Friedrich II (der Staufer, nicht der Babenberger) nach Worms und feierte dort Hochzeit mit Isabel von England, die in prächtigem Zug von ihrer Insel abgeholt und den Rhein hinauf gefahren wurde, ganz ähnlich wie Brunhilt im Nibelungenlied - Ihr könnt das z.B. in der Chronik des Roger von Wendover nachlesen. (Isabel war eigentlich als Braut seines Sohnes aus erster Ehe, Heinrich [VII], vorgesehen gewesen; aber nachdem Friedrich den abgesetzt und ins Gefängnis geworfen hatte, heiratete er sie selber :-) Es war - jedenfalls in Deutschland - eines der größten Feste des Jahrhunderts. Wie es der Zufall will, wurde acht Jahre später in Worms wieder ein großes Fest gefeiert, nicht ganz so groß wie die Hochzeit anno 1235, aber immerhin: Friedrich II verlieh 1243 der Stadt Worms die Zollfreiheit und das Marktrecht; und die alljährliche Handelsmesse, die da erstmals abgehalten und prächtig gefeiert wurde, hat bis heute Bestand - als "Wormser Pfingstmarkt". Daß Friedrich II Worms derart auszeichnete, kam nicht von ungefähr: Er wollte die Stadt als Konkurrentin des unbotmäßigen Lyon aufbauen (das zwar bis 1307 noch zum Reich gehörte, aber damals mit Friedrichs Feind, dem Papst, paktierte), und da war ein Aufwand wie der im Nibelungenlied beschriebene mit entsprechender Prachtentfaltung für die Premiere schon angemessen. Und wenn die Vermutung, daß Konrad dabei war und also eigene Eindrücke wiedergibt, zutrifft, dann können wir dessen mögliche Entstehungszeit um weitere zwei Jahre einengen, nämlich: nicht vor 1243. Genauer geht es nun aber wirklich nicht mehr - meint jedenfalls Dikigoros. Und er meint weiter, daß man so auch eine Frage beantworten kann, an der Ritter-Schaumburg gescheitert ist, weshalb die "Fachwelt" seine Thesen letztlich nicht ernst genommen hat: Warum sollte der Verfasser der Nibelungennôt, wenn er nicht das historische Reich der Burgunder in Worms meinte, die Niflungen der Thidrekssaga aus der Eifel ausgerechnet dorthin versetzen und sie so umbenennen? Ganz einfach: weil es in Worms eben jene beiden schönen Feste gab - die also nicht etwa überflüssiger Ballast, sondern vielmehr Schlüsselszenen des Epos' sind -, und weil in Worms nun mal die historischen Burgunder gesessen hatten!

Exkurs. Ihr bezweifelt, daß ein Dichter solche persönlichen Erlebnisse außer der Reihe in seine historischen Berichte einstreut? Dann kennt Ihr die Dichter und Geschichtsschreiber aber schlecht! Es gibt zahlreiche Beispiele dieser Art; und auf das bekannteste will Dikigoros an dieser Stelle noch kurz eingehen. "Das bekannteste" ist vielleicht etwas ungenau; genauer müßte es heißen: Der Bericht ist weltbekannt, ebenso die Fragestellung - die Antwort ist dagegen so gut wie unbekannt. Dikigoros meint die Geschichte des "Sterns von Bethlehem", von dem im Matthäus-Evangelium - und nur in dem - berichtet wird, daß er bei der Geburt Jesu aufgegangen sei und dadurch die drei Könige aus dem Morgenland animierte, nach Bethlehem zu ziehen und dort Jesus ihre Aufwartung zu machen, mit Gold, Myrrhe und Weihrauch. Generationen von Bibelforschern haben Jahrhunderte lang Hände ringend nach einer Sternenkonstellation gesucht, die dafür in Frage käme - es gibt keine. Auf den Halley'schen Kometen hätte man sich einigen können; aber der wurde nach recht zuverlässigen Berechnungen nicht kurz nach der mutmaßlichen Geburt Jesu, sondern erst 66 n.C. wieder mal auf der Erde sichtbar. Tja, was nun? Ganz einfach: Der gute Matthäus - von dem wir sonst nicht viel wissen, außer daß er im Römischen Reich lebte und sein Evangelium um 70 n.C. verfaßte - war Augenzeuge jenes Kometen im Jahre 66 n.C. Na und? Was hat das mit der Geburt Jesu zu tun? Natürlich nichts. Aber eine ganze Menge mit dem, weshalb die Morgenländer gen Westen zogen, und auch damit, daß dort ein neuer König "geboren" wurde. (Nein, nicht dreie, auch keine drei Weisen und keine drei Magier - das Wort in der Bibel lautet "Mager", und das waren schlicht und ergreifend Angehörige der zoroastrischen Priesterkaste.) Im Jahre 65 n.C. war nämlich ein blutiger Bürgerkrieg in Armenien zuende gegangen; und da die Römer sich als Schutzherren des Protektorats Armenien fühlten, mußte der Sieger (der mal "Teridates", mal "Tiridatis", mal "Trdat" genannt wird), um als König anerkannt zu werden, persönlich nach Rom ziehen und dort um das Placet des Kaisers bitten - darauf bestand Nero. Also tat er das, und zwar mit großem Pomp, mit reichlich TributGeschenken, als da wären Gold, Weihrauch und Myrrhe, dazu allerlei Mager, Gaukler und exotische Tiere. Der Auftritt war Monate lang Tagesgespräch in Stadt und Land Rom, zumal die Ankunft der Männer aus dem Morgenland im Januar 66 von einer eindrucksvollen Himmelserscheinung begleitet wurde: dem Halley'schen Kometen, der damals noch viel stärker leuchtete als heute. (Wer ihn 1986 beobachtet hat, wie Dikigoros, mag enttäuscht gewesen sein; er hat im Laufe der Zeit an Substanz verloren; das Warum spielt hier keine Rolle.) Nero empfing die Gesandtschaft huldvoll und erkannte Tiridatis an - ein neuer König war geboren! Und da wollte Matthäus doch nicht zurück stehen, als er die Geburt des christlichen Königs Jesus schilderte - er schmückte sie einfach mit Einzelheiten seiner persönlichen Eindrücke aus Rom aus! Damit erklärt sich auch, warum diese Geschichte bei den anderen Evangelisten nicht vorkommt: Sie waren einfach nicht in Rom dabei! Bedeutet das nun, daß die historische Existenz, oder jedenfalls die historische Geburt Jesu dadurch unglaubhafter wird? Aber nein, ganz im Gegenteil: Wenn wir nicht mehr nach einer - offenbar unauffindbaren - Himmelserscheinung suchen müssen, die sie begleitete, entfällt ja ein Argument gegen jene Geburt! Exkurs Ende? Halt, noch nicht ganz: Ein britischer Leser hat Dikigoros gemailt, daß er, wenn er denn schon die [un]bekannteste Geschichte aus dem Neuen Testament erwähnt, auch die bekannteste Geschichte aus dem Alten Testament erwähnen sollte, die eine ganz ähnliche Parallele aufweise, nämlich die von David und Goliath: Offenbar habe der Verfasser des 1. Buches Samuel die Ilias gekannt und sich den dort erwähnten Zweikampf zwischen dem jungen Nestor und dem "Riesen" Erevthalion aus dem 7. Gesang zum Vorbild genommen. Hmm... Die Stelle hatte Dikigoros wohl überlesen; aber auch nach sorgfältiger Lektüre sieht er nicht, was Samuel - oder wer auch immer der Verfasser der nach ihm benannten Bücher gewesen sein mag - dort abgeschrieben haben sollte von jener kurzen, beinahe nichtssagenden Selbstbeweihräucherung Nestors, die seinen angeblichen Heldenkampf doch gar nicht richtig schildert, sondern vielmehr nur den heimtückischen Kampf, durch den sich Erevthalions Freund Lykurgos zuvor in den Besitz der Rüstung des Areithos gebracht hatte, die ersterer nun trug. Wo bleibt die Vorgeschichte von Goliaths Rüstung im Buch Samuel? Und wo bleibt die Steinschleuder, mit der Nestor ja wohl den Erevthalion besiegt haben müßte, wenn er dem David als literarisches "Vorbild" gedient hätte? Und last but not least: Inwieweit hängt die Glaubhaftigkeit der Geschichte von David und Goliath davon ab, ob ihr Verfasser die Ilias kannte oder nicht? Nein, man soll die Parallelen auch nicht überstrapazieren! Und nun kann Dikigoros diesen Exkurs endlich abschließen.

Nachtrag. Dikigoros ist in Bezug auf eine noch genauere Datierung bewußt zurückhaltend, weil man dabei allzu leicht übers Ziel hinaus schießen kann. Er hat ja bereits an anderer Stelle berichtet, daß seine Frau den Zeitraum auf August 1246 bis Februar 1247 eingrenzen will, und warum er dem nicht folgt. Und nun hat er eine Mail erhalten, deren Verfasser den Zeitrahmen noch enger stecken will, nämlich auf Mai-Oktober 1247. Eine von beiden Ansichten muß falsch sein - oder beide! Der Leser findet Dikigoros' Parallele zwischen dem Bankett in Etzelburg und dem an Bélas Hof "alles andere als deutlich" (u.a. fehlt ihm der große Saalbrand) und schlägt eine andere vor. Er ist über zwei Stellen im Nibelungenlied gestolpert: 1. sei doch gar nicht von einem x-beliebigen Fest oder Bankett in Etzelburg die Rede, sondern von einer "Hochzeit", und davon könne bei Béla doch nicht die Rede sein. 2. müsse es auch ein Vorbild dafür geben, daß die Burgunder nach außen hin feinen Zwirn ["guot Gewant"] tragen, aber darunter Rüstungen und Waffen, denn das tun sie in der Thidrekssaga nicht - dort treten sie von Anfang an ganz offen in Kriegsmontur an. Es gebe da eine Parallele im Jahre 1247, und zwar ein Ereignis, das politisch so bedeutsam war, daß es sich auch schnell bis nach Würzburg herum gesprochen müsse, das manche Historiker als den Anfang vom Ende des Stauferreichs bezeichnet haben, andere immerhin als die schwerste Niederlage, die Kaiser Friedrich II je erlitt und die "für sein Ansehen in Italien und Deutschland eine Katastrofe bedeutete". Es ging um Parma, die seinerzeit reichste und mächtigste Stadt auf dem italienischen Festland (d.h. außerhalb der sizilianischen Hauptstadt Palermo und der Lagunenstadt Venedig mit ihren Kolonien im östlichen Mittelmeer), wichtiger als Rom (das abseits des Vatikans weitgehend ein Trümmerhaufen war, um den ein paar "aristokratische" Räuberbanden kämpften) oder Mailand u.a. Städte im Norden (die sich noch immer nicht ganz von den Zerstörungen zur Zeit Barbarossas erholt hatten). Sie war Kaiser Friedrich II untertan, nachdem er einige der wichtigsten Patrizier getötet und den Rest in die Verbannung geschickt hatte. Allerdings wollten sich einige der letzteren damit nicht abfinden: Eines Tages machte sich ein Trüppchen von nicht mal hundert Mann, als Mönche verkleidet, nach Parma auf, wo der kaiserliche Statthalter gerade mit der gesamten Besatzung eine Hochzeit feierte. Als sie drin waren, warfen sie ihre Mönchskutten ab, unter denen sie Rüstungen und Waffen trugen, und machten die völlig besoffenen Feiernden nieder. Parma war im Handstreich gefallen. Friedrich sandte sofort sein Heer unter der Führung seines Sohnes Heinz ("Enz[i]o") aus, um die Stadt zurück zu erobern, aber dem erging es wie den Hunen im Nibelungenlied, die nach dem ersten Massaker auf dem Fest als Verstärkung anrücken: Es gelang ihnen nicht, die Eindringlinge wieder hinaus zu werfen. (Bechlarer oder Amlungen, die das für sie hätten erledigen können, gab es nicht :-) Das war im Mai 1147 - fünf Monate, bevor Willem von Holland zum deutschen [Gegen-]König gewählt wurde. Und bei einem Ausfall gelang es den Handstreichern auch noch, die umfangreichen Belagerungsanlagen, die Enzo angelegt hatte, durch einen Großbrand zu vernichten, außerdem Friedrichs Harem und seinen Kronschatz - einen wahren Nibelungenhort - zu erobern. Hm... schaun mer mal - und seien wir großzügig, denn es geht ja nicht um genaue Entsprechungen, sondern nur um Motive, die der Nibelungendichter in seiner Dichtung verarbeitet haben könnte, aus denen wir die Entstehungszeit besser einordnen können. (Noch einmal: Anders als die Thidrekssaga - die ein historischer Bericht mit dichterischen Einsprengseln ist - ist die Nibelungenot eine Dichtung mit historischen Einsprengseln, überwiegend - aber eben nicht nur - aus der Thidrekssage bzw. einer gemeinsamen Quelle.) Parma mag damals eine wichtige Stadt gewesen sein - aber schwerlich eine Hauptstadt (außer vielleicht die des Schinkens :-) Zu der Hochzeit, die dort statt fand, waren die Handstreicher auch nicht eingeladen, sondern sie kamen heimlich, als Mönche verkleidet - die Burgunder im Nibelungenlied waren dagegen nicht verkleidet. Was immer ihre Mehrheit getragen haben mag, zumindest Hagen und Volker trugen von Anfang an Rüstung und Schwert. (Von dem "Fiedelbogen" wird an einer Stelle ganz deutlich gesagt, daß er eigentlich ein großes, breites Schwert ist :-) Und überhaupt bedeutet das mittelhochdeutsche "hôchzît" nicht notwendigerweise "Hochzeit", sondern jedes größere Fest; Etzel hat die Burgunder zur Sonnenwendfeier eingeladen - und das ist nun im wahrsten Sinne des Wortes das höchste Fest überhaupt. Im Nibelungenlied gehen die Burgunder schließlich in Etzelburg unter; in Parma dagegen behaupten sie sich. Und last but not least: Die Belagerung Parmas zog sich nicht nur ein paar Tage, sondern viele Monate hin; und das Niederbrennen der Belagerungsanlagen fand erst 1248 statt; das ist eindeutig zu spät, um noch vom Nibelungendichter berücksichtigt zu werden; 1247 ist der allerspäteste Zeitpunkt, daran hält Dikigoros fest; er ist ja ohnehin der einzige, der einen so späten Zeitpunkt überhaupt für möglich hält; die unter Germanisten herrschende Meinung setzt ihn durchweg erheblich früher an. Kurzum, es gibt eben auch Parallelen, die tatsächlich auf Zufall beruhen können. Aber wer immer sich ernsthaft mit Dikigoros' Thesen auseinandersetzt und konstruktive Kritik übt, hat Anspruch auf eine Antwort, die auf seine Argumente im einzelnen eingeht; und das sei hiermit geschehen. Nachtrag Ende.

* * * * *

Nachdem wir so weit gelangt sind, müssen wir noch einmal auf die Lebensdaten Konrads von Würzburg zurück kommen, denn alles was Dikigoros hier geschrieben hat, wird hinfällig, wenn diejenigen Recht haben, die seine Geburt auf das Jahr 1230 ansezten. Dikigoros ist darüber oben mit der Bemerkung hinweg gegangen, daß dies lediglich eine Mutmaßung sei, aber wir wollen doch einmal fragen, worauf diese Mutmaßung beruht - vielleicht können wir ihre Argumente ja wie so viele andere noch in einen Beweis für das Gegenteil verkehren?! In einem weit verbreiteten Personen-Lexikon, das es inzwischen dankenswerterweise auch online gibt, liest man im Artikel über Konrad von Würzburg, daß sich das Geburtsjahr 1230 aus seinem "Turnier von Nantes" erschließen lasse. Wie das? Wenn man weiter bohrt, erfährt man folgende Argumentationskette: Held jenes Werkes ist ein "künec von Engellant" namens Rîchart. Damit kann nur Richard von Cornwall gemeint sein, der 1257 zum deutschen König gewählt und gekrönt wurde. (Man kennt ihn hierzulande weniger gut, weil er während des fälschlich so genannten "Interregnums" - s.o. - König war.) Also kann das Turnier frühestens 1257 statt gefunden haben, denn bis dahin wurde jener Rîchart ja - unstreitig, auch Dikigoros muß das einräumen - als "Graf [Earl] von Cornwall" bezeichnet. Außerdem ist die Schilderung insbesondere der Wappen (die erste ihrer Art in der mittelalterlichen Literatur, wie die Germanisten meinen) so genau, daß sie nur von einem Augenzeugen herrühren kann. Da man aber damals noch keine fahrenden Sänger als Berichterstatter zu solchen Turnieren schickte wie heute Reporter zu Fußballspielen, kann Konrad nur als aktiver Teilnehmer dabei gewesen sein. Bei solchen Turnieren ging es nun ziemlich rauh zu, das war nichts für alte Männer, sondern für junge Leute im waffenfähigen Alter, so etwa von 14 bis Anfang, höchstens Mitte 30. Darüber hinaus konnte man zwar noch mit in die Schlacht ziehen, auf einem Kommando-Posten; aber man schlug sich nicht mehr in der ersten Reihe mit eingelegter Lanze - auch nicht im Turnier. Wenn Konrad also 1220 geboren wäre, wäre er zu Beginn der 1260er Jahre (das soll die Zeit gewesen sein, als er sich am Niederrhein aufhielt, es also nach Nantes nicht gar so weit hatte wie etwa von Würzburg oder Basel aus) schon zu alt gewesen, um so ein Turnier mitzumachen; also muß er wohl um 1230, frühestens um 1225 geboren sein, voilà. Stimmt, liebe Leser, stimmt genau. Darf Dikigoros eine kurze Gegenfrage stellen: Wie alt war denn König Rîchart Anfang der 1260er Jahre? In ihrer Begeisterung für all die jungen Spunde, die seit 1198 König gewesen waren, scheinen die Herren Germanistik-Professoren bei ihrer Argumentation ganz übersehen zu haben, daß der gute Graf von Cornwall schon 1209 geboren wurde. Bei seiner Krönung stand er im 48. Lebensjahr; 1260 zählte er stolze 51 Lenze - oder, wie man damals noch sagte, Winter! Fürwahr kein Alter mehr, um sich noch auf irgendwelchen Turnieren herum zu schlagen! Konrad bezeichnet seinen Helden denn auch (in Zeile 82) ausdrücklich als "jungelinc [Jüngling]". Nebenbei bemerkt ist nirgends überliefert, daß Richard von Cornwall oder Konrad von Würzburg jemals in Nantes gewesen wären, geschweige denn um dort an einem Turnier teilzunehmen. Was nun?

Ach, liebe Leser, die Germanisten sind mal wieder auf dem Holzweg. Konrad meint in seinem "Turnier von Nantes" offenbar einen anderen König Richard von England (nebenbei bemerkt: was heißt eigentlich "einen anderen"? Richard von Cornwall war ja nie "König von England"!), und da kommt nur einer in Frage: Richard Löwenherz, der Onkel Richards von Cornwall. Der war nicht nur berühmt-berüchtigt dafür, daß er sich ständig und mit großer Begeisterung (und großem Erfolg) auf irgendwelchen Turnieren herum schlug, sondern er lebte hauptsächlich in und um Nantes (nein, nicht in England - um mit diesem Irrtum aufzuräumen, hat Euch Dikigoros den letzten Link gesetzt :-) und er hatte auch das richtige Alter. Darf Dikigoros etwas weiter ausholen, da er ein großer Freund der Bretagne ist (einige meinen auch Kenner; aber da seine Webseite über die Bretagne und das Baskenland noch immer nicht ganz fertig ist, wird ihm das vielleicht nicht jeder so ohne weiteres abnehmen)? Nantes, der Atlantik-Hafen an der Loire-Mündung, etwa auf halbem Wege zwischen Brest und Bordeaux gelegen, war eine Perle von Stadt, die es in jeder Hinsicht mit Paris oder Orléans aufnehmen konnte, bis sie von den Terror-Bombardements der Alliierten im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Bis 1148 war sie Hauptstadt der Bretagne. Dann starb Conan III (nein, nicht "der Barbar", sondern "der Dicke" wurde er genannt :-), und der Graf von Anjou riß sie sich unter den Nagel. 1154 fiel die Grafschaft Anjou an die Engländer, drei Jahre später wurde Richard Löwenherz geboren. 1177 fiel auch die Bretagne an England, und Nantes wurde mit ihr wiedervereinigt (und zur Hauptstadt gemacht). Zur Feier dieses Ereignisses wurde ein großes Ritter-Turnier veranstaltet. Damals war Richard 20, also im besten Turnieralter - und verlaßt Euch drauf, er hat da ordentlich abgeräumt. "Ja aber," sagen die Skeptiker, "in Zeile 961 steht doch, daß der König von England die höchste aller Kronen trage, damit kann doch nur die Kaiserkrone gemeint sein! Und was ist mit den Wappen? Damals war Konrad von Würzburg doch mit Sicherheit noch nicht dabei!" Ach du liebe Unschuld - die höchste Krone... Ja, was glaubt Ihr denn, welche als solche galt? Natürlich die des Königreichs Jerusalem! (Den Titel "Kaiser von Deutschland" gaben die Habsburger - die Nachfolger der Babenberger - 1806 mehr oder weniger leichten Herzens auf bzw. benannten sich um in "Kaiser von Österreich"; aber den Titel "König von Jerusalem" führten sie fort, bis sie 1918 gestürzt wurden :-) Und obwohl Richard Löwenherz nie in, geschweige denn König von Jerusalem war, spukte schon im 13. Jahrhundert der Irrglaube durch die Köpfe der Menschen, daß er die heilige Stadt "befreit" habe und folglich "König von Jerusalem" geworden sein müsse. (Das glauben 90% der Engländer heute noch - sie haben halt Dikigoros' oben verlinkte Webseite zu diesem Thema nicht gelesen, sondern nur ihren "Robin Hood" :-) Und daß Richard Löwenherz anno 1177 auch noch kein König von England war - wer wußte das im 13. Jahrhundert schon noch so genau? Woher wußte Konrad denn überhaupt von Heinrich dem Löwen und seiner großen Vorliebe für Turniere? Nun, wer sich in Worms auskannte... aber welche Verbindung Richard Löwenherz mit dieser Stadt hatte - die ihn halt nur als König von England kannte -, das könnt Ihr nun wirklich überall selber nachschlagen.

[Wappen von Thüringen] [Wappen von 'Haldar'] [Wappen von Hamburg] [Wappen von Bonn]

Und die Wappen? Die kann Konrad von Würzburg dann in der Tat nicht live gesehen haben, sondern muß sie irgendwo anders her haben - und wie soll das gehen, wenn er doch der erste war, der eine solche Beschreibung abgeliefert hat? Gewiß, den rot-weiß gestreiften Löwen auf blauem Grund, das Wappen des Landgrafen von Thüringen - das schon damals fast genauso aussah wie das des heutigen Bundeslandes - kannte er als Würzburger auch so, ebenso einige andere. Aber die ausgefalleneren, wie z.B. den goldenen Eber auf dunkelblauem Grund? (Den gab und gibt es sonst nur in der Fantasie des "Darkover Laranzucht-Programms" - als Wappen von "Haldar" :-) Oder die weiße Stadt auf rotem Feld? (Nein, das Hafen-Städtchen Hamburg hatte bis Ende des 13. Jahrhunderts nicht mal ein Rathaus, geschweige denn eine Stadtmauer, wie sie auf dem heutigen Wappen abgebildet ist - und wenn, dann hätte Konrad von Würzburg es schwerlich gekannt, da es ja keinen Grafen oder Herzog oder König von Hamburg gab, der es bei einem Turnier hätte führen können.) Aufgepaßt, liebe Leser, jetzt kommt das Sahnehäubchen, das eigentlich die Anhänger von Ritter-Schaumburg längst hätten entdecken müssen - aber die haben ja immer nur nach einer Bestätigung für ihre Bern=Verona=Bonn-These gesucht (und glauben, sie im goldenen Löwen auf rotem Grund gefunden zu haben - obwohl der erst 1971 eingeführt wurde; bis dahin war er nämlich rot auf blauem Grund :-) Um die Wappen-Frage beantworten zu können, muß man zweierlei wissen: Erstens, daß der Verfasser der Nibelungennôt aus der Thidrekssaga geschöpft hat und nicht umgekehrt, und zweitens, daß dieser Verfasser Konrad von Würzburg war. Er hat nämlich auch diese Wappen... aus der Thidrekssaga! Schaut Euch doch mal die Abschnitte an, die ein moderner Herausgeber unter der Überschrift "Die Heldenschau" zusammen gefaßt hat: Thidreks goldener Löwe auf rotem Grund taucht in den Zeilen 374-377 als der des Königs von Schottland wieder auf, Hildebrands weiße Stadtmauer auf rotem Grund in den Zeilen 594-597 bei einem Herrn aus der Bretagne und Wildewers goldener Eber auf dunkelblauem Grund in den Zeilen 142-143 bei einem nicht näher bezeichneten Grafen. Und so schließt sich der Kreis: "Das Turnier von Nantes" liefert nicht nur keine Widerlegung der These, daß Konrad von Würzburg der Verfasser des Nibelungenliedes war, sondern vielmehr den letzten Anhaltspunkt dafür, daß er es war, denn von keinem anderen Dichter des 13. Jahrhunderts ist bekannt, daß er die Thidrekssaga bzw. die "Svava" gekannt hätte!

Oder nur den vorletzten? Es gibt noch eine letzte Kleinigkeit, auf die alleine Dikigoros seine These von der Autorschaft Konrads von Würzburg zwar nicht stützen würde; aber als zusätzliches Argument will er sie wenigstens kurz erwähnen: Als Konrad 1287 starb, verfaßte sein junger Kollege - und Bewunderer - Heinrich von Meißen (der den Beinamen "Frauenlob" trug) eine Art Totenklage, die da lautete: "Geviolierte blüte kunst, dins brunnens dunst unt dî geroeset flammenriche brunst, diu hate wurzelhafter obez... ich mein' Kuonrat den helt von Wirzeburc." Was fällt Euch zunächst auf? Richtig, Heinrich dekliniert den Helden nicht - sonst müßte es "den helde von Wirzeburc" heißen -, meint also offenbar einen feststehenden Beinamen. Das ist umso bemerkenswerter, als Konrad selber kein Ritter, sondern ein "Zivilunke" war, also seine Heldentaten nicht mit dem Schwert, sondern allenfalls mit dem Gänsekiel vollbracht haben kann (ein weiteres Argument gegen die Theorie, er habe im Turnier von Nantes persönlich mit gefochten). Nun ja, das gibt nicht viel her. Aber die ersten drei Zeilen - sind das nicht Anspielungen auf Werke Konrads? "Veilchengeschmückte Blüte Kunst", ja, da sind sich alle einig, sogar die Herren Fach-Germanisten, das meint Konrads "geblümten Stil", wie er z.B. in seinem Gedicht Die goldene Schmiede zum Ausdruck kommt. Und die zweite Zeile? "Deines Brunnens [womit natürlich auch der Born, also die Quelle, gemeint sein kann] Dunst..." - vielleicht ist das nur eine allgemeine Redensart? Oder etwa eine Anspielung auf den "schoenen brunnen" in Vers 1533 der Nibelungennôt, wo Hagen auf die "Meerweiber" trifft, die ihm weissagen, daß die Burgunder nicht lebend aus Etzels Land zurück kommen werden? (Wer hat übrigens die Begriffe "merwîp" und "wazzernixe" erfunden - oder jedenfalls literarisch als erster gebraucht? Die Germanisten sagen: Konrad von Würzburg. Wenn das stimmt - Dikigoros hat es nicht nachgeprüft - ist es doch merkwürdig, daß sie daraus so gar keine weiter gehenden Schlüsse ziehen, nicht wahr?) Und die dritte Zeile? In welcher Dichtung Konrads wird eine rosenrote, flammenreiche Feuersbrunst beschrieben? Vielleicht im "Trojanerkrieg"? Nein, denn das Fragment endet mit der "vierten Schlacht", da brennt Troia noch nicht, und das liegt nicht etwa daran, daß ein Teil jenes Epos nicht auf uns gekommen wäre, sondern, wie wir oben gesehen haben, daran, daß Konrad es tatsächlich nicht vollendet hat. (Erst im 14. oder 15. Jahrhundert hat jemand einen Schluß dazu geschrieben, in dem auch der Brand Troias vorkommt.) Oder sonst in irgendeinem Konrad "offiziell" zugeschriebenen Werk? Nein! Auf welches Werk kann Heinrich also nur anspielen? Eben - auf die Nibelungennôt; diese Passage ab Vers 2111 muß von den mittelalterlichen Menschen als eine der beeindruckendsten empfunden worden sein, mit dem charakteristischen Reim "nôt - tôt", der in den beiden letzten Versen noch zweimal auftaucht und dem Werk seinen Namen gegeben hat.

Nein, liebe Leser, diese Argumentation ähnelt nicht der jener Gebrüder Breuer, die das Nibelungenlied Bligger von Steinach zuschreiben, weil von dem kein einziges größeres Werk überliefert ist. Niemand hat gesagt, daß Bligger eine Feuersbrunst beschrieb, sondern vielmehr einen "Umbehange". Es gibt zwar fantasiebegabte Leute, die behaupten, damit sei ein "Wandteppich" gemeint, auf dem sein Epos beschrieben war, ähnlich wie die Invasion der Normannen 1066 in England auf dem von Bayeux; aber das ist schon sprachlich unmöglich: "Um[be]hanc" war immer die Bezeichnung für einen Umhang oder Vorhang; der Wandteppich hieß "Tapezerei", im Unterschied zum (Boden-)Teppich, der "Tapet" genannt wurde. Viel wahrscheinlicher ist, daß sich es dabei um ein Loblied auf das prachtvolle Krönungsornat handelte, das Bliggers Arbeitgeber, der staufische Kaiser, aus Sizilien mitgehen ließ, und das auf Lateinisch "pluviale" hieß - also Regencape -, wohl weil es nicht wie ein Mantel getragen, sondern wie ein solches umgehängt wurde. Außerdem bedient sich Gottfried von Straßburg beim Lob auf Bligger in den Versen 4689-4720 des Tristan eines Vokabulars, das perfekt zu diesem Krönungsmantel paßt (Gold, Seide, griechische Borten). Ihr meint, das sei dennoch ziemlich weit her geholt, so ein Fummel könne doch schwerlich ein umfangreiches Epos rechtfertigen? Ihr irrt: Dieser Krönungsumhang war - und ist, es gibt ihn noch, im Wiener Hofburg-Museum - nicht nur ein hervorragendes Kleidungsstück, sondern er hatte auch eine Geschichte zu erzählen, die allemal ein Epos wert war, eher jedenfalls als so manche andere Sage, wie etwa das Buch von Gudrun; gäbe es heute noch einen normannischen - oder arabischen oder normannisch-arabischen - Staat auf Sizilien, dann wäre das Epos vom "Umbehange" - so es denn erhalten wäre - nach Dikigoros' Überzeugung dessen Nationalsage geworden. Das Fehlen einer Feuersbrunst in all den übrigen, bekannten Werken Konrads von Würzburg hat dagegen eine ganz andere Qualität.

Exkurs. Nun will Dikigoros durchaus nicht den Eindruck erwecken, als garantiere sein Ansatz - die gegenwartsbezogene Parallele als Motiv des Dichters - allein schon die richtige Lösung aller Nibelungenlied-Rätsel. Bereits in den 1970er Jahren war eine gewisse Mary Lavater-Sloman - von den "Fach"-Historikern und -Germanisten völlig unbeachtet, da lediglich am Rande eines ihrer vielen historische Romane - ebenfalls von diesem Ansatz ausgegangen und damit auf dem völlig falschen Dampfer, pardon Segler gelandet (wahrscheinlich weil auch sie sich von der frühen Datierung des Nibelungenliedes durch die herrschende Meinung täuschen ließ): 1189 war Kaiser Friedrich Barbarossa zum (3.) Kreuzzug aufgebrochen, und natürlich nicht alleine. Vielmehr hätten sich in seiner Begleitung, als er von Regensburg die Donau hinunter bis Wien schipperte, u.a. die Hofnarrendichter von Kürenberg, Dietmar von A[i]st und Friedrich von Hausen befunden. Denen sei nun, so Lavater-Sloman, unterwegs der Gedanke gekommen, das Nibelungenlied zu verfassen, denn die Burgunder hätten ja bekanntlich schon den gleichen Weg genommen. Dietmar habe es dann nieder geschrieben... Hm - aber woher "wußten" die denn das mit den Burgundern? Sie konnten doch höchstens die Thidrekssaga kennen, und da zogen die Nibelungen ja noch nordwärts nach Soest. Und Dietmar war nach herrschender Meinung bereits um 1171 gestorben - und anders als Dikigoros, der eingehend dargelegt hat, weshalb er die Lebensdaten seines Kandidaten Konrad anders ansetzt als es die herrschende Meinung tut, unternimmt die gute Mary nicht den geringsten Versuch zu erläutern, weshalb ihr Kandidat Dietmar 18 Jahre später von den Toten auferstanden sein sollte. Und die beiden anderen? Nun ja, die waren nicht gerade für längere Epen bekannt, sondern vielmehr für auffallend kurze Gedichtchen; Lavater-Sloman zieht sie denn (im Gegensatz zu früheren Germanisten, die den "Kürenberger" favorisierten, weil er in einigen seiner Gedichte das gleiche Versmaß verwendete wie wir es auch im Nibelungenlied wieder finden - als ob das irgend etwas bewiese :-) auch gar nicht erst als Autoren in Betracht, und wir sollten das auch nicht tun. Exkurs Ende.

* * * * *

Nun haben sich aber auch die Fach-Germanisten noch ein allerletztes Rückzugsgefecht aufgehoben, um die Autorschaft Konrads von Würzburg zu widerlegen, und das soll ausgerechnet der berühmte Saxo Grammaticus für sie schlagen, jawohl, jener Däne, von dem Shakespeare seinen Hamlet und Schiller seinen Wilhelm Tell hatte. Wie das? Nun, Saxo erwähnt in seiner "Dänischen Geschichte" eine Sage, in der die böse Kriemhild ihre Brüder schmählich verrät. Also muß er die Nibelungennôt gekannt haben. Wann aber lebte jener Saxo Grammaticus? Darüber wissen wir gar nichts - außer dem, was wir aus seinem Werk schließen können. Das ist nicht viel, wenn man den Germanisten glauben darf: Zum einen schreibt Saxo im 11. Buch, daß er die Beerdigung von Bischof Asker (oder Esger) miterlebt habe - die war 1158. Zum anderen schreibt Saxo im Vorwort, daß er im Auftrag von Erzbischof Absalon schreibe, und er widmet einen ganzen Absatz einem König Waldemar, der die Fluten der Elbe erobert habe. Das könne nur Waldemar II sein, meinen die Germanisten, denn der sei ja 1208 oder 1215 bis zur Elbe vorgestoßen. Das paßt also prima auf die These, daß die Nibelungennôt anno 1204 entstanden ist... Aber ach, so wie die Germanisten beim "Turnier von Nantes" Richard Löwenherz mit seinem Namensvetter und Neffen Richard von Cornwell verwechselt haben, so haben sie bei Saxo Waldemar I von Dänemark mit seinem Namensvetter und Sohn Waldemar II (1202-1241) verwechselt: Der letztere trägt zwar aus unerfindlichen Gründen bis heute den Beinamen "der Sieger", war aber in Wirklichkeit ein Loser. Was er vorübergehend eroberte, ging bald wieder verloren, in erfolglosen Kriegen insbesondere gegen die Hanse (aber das ist eine andere Geschichte), und er verbrachte Jahre lang in Gefangenschaft. Außerdem war Erzbischof Absalon bei seinem Regierungsantritt schon ein Jahr tot; er diente nämlich nicht Waldemar II, sondern dessen Vater, Waldemar I, der - mit Recht - den Beinamen "der Große" führte. Und Saxo schreibt im Vorwort ja noch mehr: Erstens, daß schon sein (Saxos) Vater und Großvater Waldemars Vater gedient hätten, und zweitens, daß Waldemar einen berühmten Großvater hatte, der durch seinen unverdienten Tod zum Heiligen wurde. Nun ist es aber äußerst unwahrscheinlich, daß Saxo im Zusammenhang mit seinem eigenen Vater und Großvater lediglich die Dienste an Waldemars II Vater erwähnt hätte, denn vor Waldemar II herrschte erst einmal zwanzig Jahre lang dessen Bruder Knut IV - der wohl auch erwähnt worden wäre. Und der Großvater Waldemars II war Knut Laward, ein gänzlich unbedeutender Herzog von Schleswig, der zwar auch ermordet wurde, aber weit davon entfernt war, von der Nachwelt als Martyrer oder gar Heiliger verehrt zu werden. Dagegen gab man Knut II, dem Großvater Waldemars I, den Beinamen "der Heilige", nachdem er 1086 den Martyrertod gestorben war - erst seinem Enkel gelang es, die Heiden zu besiegen und das Christentum in Dänemark gewaltsam durchzusetzen. Und jenen Waldemar I (er herrschte 1157-1182) meinte Saxo denn auch, dazu passen die Beerdigung Askers und der Auftrag Absalons gleichermaßen. Das ist nun aber für die Vertreter der These, Saxo müsse die Nibelungennôt gekannt haben, peinlich. Für Dikigoros auch? Mitnichten: Saxo war Skandinavier. Welche Fassung der Geschichte von Kriemhilt, die ihre Brüder verriet, wird er wohl gekannt haben? Die eines bayrischen Dichters? Kaum. Welche dann? Eben - die nordische Thidrekssaga, denn da stand sie auch schon drin. Wann hatte Ritter-Schaumburg gleich die Berichte angesetzt, die der Niederschrift der Svava zugrunde lagen? Vor 1170, denn die "norddeutschen Männer", die sie dem skandinavischen Schreiber erzählten, wußten noch nichts von der baulichen Umgestaltung von Soest, die in jenem Jahre begann. Wann wurde Absalon Erzbischof? 1178. Das paßt - und nur das. Wo immer wir die Lebensdaten des Saxo Grammaticus also im übrigen einordnen müssen (Dikigoros meint, eine Generation früher als bisher angenommen), seine "Dänische Geschichte" kann jedenfalls für die Datierung des Nibelungenliedes nicht heran gezogen werden, sondern allenfalls für die der Urform der Thidrekssaga.

Wie dem auch sei: Die Nibelungennôt hat - anders als die Thidrekssaga - nichts mit dem Zug der niflungischen Eifel-Ritter ins Hunenland Westfalen zu tun, ebenso wenig mit dem Untergang der Burgunder in der hunnischen Völkerwanderung; und eine "Bestandsaufnahme der deutschen Seele" ist es auch nicht. Es ist ganz einfach eine geniale Allegorie Konrads von Würzburg auf die Ereignisse in der Mitte des 13. Jahrhunderts anhand alter Quellen (auch, aber eben nicht nur, der "Svava"), die vielleicht dem zweiten Herzog Friedrich von Österreich vor Augen führen sollte, wohin gewisse Fehler in der Politik führen können. Wir wissen nicht, ob er das Stück je zu hören bekam; wenn ja, dann hat es jedenfalls nichts bei ihm bewirkt. (Welcher Politiker hätte je aus der Geschichte gelernt?) Er endete wie Hagen, als raffgieriger Held, der zwar viele seiner vielen Feinde erschlagen hatte, aber am Ende selber das gleiche Schicksal erlitt. Das war - auch - der Babenberger Not.

Anhang: Zusammenfassung der Thesen für Fachgermanisten

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