TÄTER, OPFER UND BRUNHILDE
Das Nibelungenlied aus frauenbewegter Sicht

[Brundhilde]

Anhang zu: Burgunder im Hunnensturm
(aus: Reisen, die Geschichte[n] machten)

"Was schreibst du denn da für einen Unsinn?" rügt Frau Dikigoros ihren Mann, "wieso soll ausgerechnet Siegfried ein Opfer und ein tragischer Held gewesen sein? Doch allenfalls Opfer seines eigenen Leichtsinns, weil er sich für unverwundbar hielt, wie du ja auch; und Hagen hat sich nicht für seinen König geopfert, sondern für den Mammon; wäre er wirklich so ein Idealist gewesen, hätte er Kriemhild ja verraten können, wo er den verdammten Schatz versteckt hatte, damit hätte er sich und die Burgunder frei kaufen können." - "Gewiß, genau genommen waren ja die fleißigen Zwerge und der arme Drache die tragischen Opfer," versetzt Dikigoros, "aber das ist nun mal nicht Gegenstand des Nibelungenliedes; damals standen Behinderten- und Tierschutz noch nicht im Grundgesetz." - "Und die Gleichberechtigung der Frau leider auch nicht. Dabei ist das Nibelungenlied das erste Drama um eine emanzipierte Frau und darum, wie übel man ihr mitgespielt hat." - "Na reizend, wenn du das unter Emanzipation verstehst: Kriemhild läßt Ihren ersten Mann die Frau seines Chefs flach legen und ihr das Strumpfband klauen, um es ihr vor der Kirche unter die Nase zu halten, und anschließend verheizt sie die Soldaten - übrigens alles Männer - ihres zweiten Mannes, um ihre Brüder umzubringen. Da sieht man mal wieder, wohin die so genannte Gleichberechtigung führt. Aber wir lernen auch gleich, wie Mann mit solchen Emanzen umzugehen hat: Rübe runter und fertig, damit sowas nicht nochmal passiert." - "Sag mal, verstehst du eigentlich gar nichts? Ich spreche doch nicht von Kriemhild. Die hat erstens einen Schlagetot geheiratet und darf sich nicht beklagen, wenn der irgendwann auch mal tot geschlagen wird - außerdem hat sie das mit dem Schulterblatt ja selber verbockt -, zweitens will sie sich die Rache für Siegfried mit Geld abkaufen lassen, und drittens hat sie einen Haufen Unbeteiligte über die Klinge springen lassen, die nun wirklich nichts dafür konnten; damit meine ich nicht Etzels Soldaten - deren Job es ja war, sich von ihrer Königin in den Tod schicken zu lassen, was übrigens kein Zeugnis von Emanzipation ist, sondern davon, daß die Frau sich über ihren Ehemann definiert, eben als Königin -, sondern all die anderen, von ihrem kleinen Bruder und ihren eigenen Kindern, Etzels Söhnen (wo bleibt da der von Fernau konstruierte Unterschied?) bis zu den Gästen am Königshof, Rüdigers und Dietrichs Leuten. Das war schäbig und verdient kein Mitleid. Ich meine natürlich Brunhild, aber die hast du in deinen Betrachtungen ja vollkommen ausgeblendet; gerade mal, daß du sagst, du wolltest sie "Prünhilt" schreiben, und dann erwähnst du sie kein einziges Mal mehr, dabei war sie doch eigentlich das tragische Opfer."

"Brunhild gibt halt nicht gar so viel her. Was war denn an der emanzipiert, und wieso war die ein tragisches Opfer?" - "Na hör' mal, eine Frau, die selber Königin war, die Sport trieb und nur mit List und Tücke besiegt werden konnte..." - "Das ist doch Märchenstunde; ich habe dieses Jahr beim Hallensportfest in D. die amtierende Weltmeisterin im Siebenkampf erlebt; Binchen hätte noch immer keine Chance gegen mich, dabei ist sie Profi und könnte meine Tochter sein." - "Das ist doch nicht der Punkt. Im Nibelungenlied war sie halt besser als Gunther, ob das nun daran lag, daß sie so gut war oder er so schlecht... wobei ja für letzteres einiges spricht." - "Wieso?" - "Na, erstmal ist er offenbar unsportlich und muß auf Siegfrieds Hilfe zurück greifen; dann kriegt er auch im Bett keinen hoch und muß sich wieder von ihm vertreten lassen, und schließlich läßt er sich von Kriemhild in die Falle nach Etzelburg locken, gegen den Rat aller halbwegs vernünftigen Burgunder... schwach, impotent und dumm, was kann man einer Frau noch mehr zumuten als Ehemann?" - "Wer hat sie denn gezwungen zu heiraten? Wäre sie doch in ihrer isländischen Burg geblieben und hätte weiter feurige Helden vernascht, wie Siegfried." - "Der hat sie doch am miesesten von allen behandelt. Erst hat er ihr ewige Treue geschworen, dann hat er sie an Gunther verraten und sie dabei noch mit der Tarnkappe 'reingelegt, dann hat er es nicht mal fertig gebracht, sie zu schwängern - offenbar war der auch impotent oder jedenfalls unfruchtbar." - "Was?" - "Ja, natürlich, Kriemhild hatte doch auch keine Kinder von ihm, und an ihr kann es nicht gelegen haben, denn von Etzel bekam sie dann ja welche, und das sogar noch in fortgeschrittenem Alter. Die Hunnen waren halt besser drauf..."

"Moment mal," unterbricht Dikigoros den Redeschwall seiner Frau, "in der 11. Aventiure bekommt Krimhild doch einen Sohn von Siegfried, Gunther heißt er." - "Ja, und Brunhilde bekommt auch einen von Gunther, Siegfried heißt er; bloß daß von den beiden keiner je wieder auftaucht. Die Thidrekssaga weiß davon auch nichts; und überhaupt passen diese zehn zusätzlichen Jahre aus der 11. Aventiure nicht ins Gesamtkonzept, denn sie machen alle Beteiligten viel zu alt für die späteren Ereignisse. Das ist also, wie du sagen würdest, eine Anspielung des Verfassers auf eine zeitgenössische Parallele." - "Und auf welche?" - "Auf eine, die du nicht sehen willst, weil sie dir nicht in deine Theorie von der Entstehungszeit in den 40er Jahren des 13. Jahrhunderts paßt." - "Da bin ich ja mal gespannt, wie kommst du denn darauf?" - "Du hast es doch selber geschrieben: Die Geschichte von Heinrich VI und Constance; nach zehn Jahren bekommt sie einen Sohn, den sie Constans nennt, und der ganz bestimmt nicht von ihrem impotenten Ehemann ist, auch wenn der ihn später als seinen Sohn anerkennt und auf den Namen Friedrich Roger taufen läßt. Aber wenn der Verfasser darauf anspielt, dann spricht das eher für die herkömmliche These einer Entstehungszeit um 1204, denn da war das noch frisch in Erinnerung; 1243-47 hätten so olle Kamellen niemanden mehr interessiert." - "Hm... das sehe ich ganz anders. 1204 und in den Jahren danach hätte wohl niemand gewagt, Friedrich durch eine so offene Anspielung als unehelichen Bastard hinzustellen. Die Frage ist doch: Ab wann begann der große Abfall von Friedrich II auch im Reich, so daß man das zumindest in Würzburg wagen konnte?" - "Na, da wären wir wieder bei deinem Gegenkönig Heinrich Raspe; der wurde ja dort gekrönt und war militärisch auch stärker als die Staufer." - "Wenn das stimmt, könnten wir die Entstehungszeit des Nibelungenliedes ja fast auf den Monat genau berechnen, zwischen der Schlacht von Nidda im August 1246 und dem Tode Heinrich Raspes im Februar 1247; aber das paßt mir gar nicht." - "Wieso?" - "Weil ich immer noch glaube, daß das Nibelungenlied Herzog Friedrich dem Streitbaren zur Mahnung dienen sollte; und der ist ja schon im Juni 1246 gefallen. "Das konnte der Verfasser ja nicht wissen; außerdem wurde Friedrich II schon 1245 erneut gebannt, von da an war die These einer unehelichen Vaterschaft wohl nicht mehr strafbar, und Raspe wurde schon im Mai 1246 zum König gewählt; da hatte er Würzburg und Umgebung schon fest in der Hand."

"Ja, aber das überzeugt mich alles nicht so recht, sonst hätte ich schon darüber geschrieben; ich will mich doch nicht auf das Niveau von Breuer und Breuer begeben." - "Wieso überzeugt dich das nicht?" - "Das ist zu knapp; so etwas wie das Nibelungenlied schreibt man denn doch nicht in ein paar Monaten herunter. Und was die Strafbarkeit anbelangt bzw. das Risiko, zur Rechenschaft gezogen zu werden: Matthäus von Paris berichtete doch von den bösen Gerüchten und Verleumdungen, die schon seit 1241 über Friedrich II in Umlauf waren, auch in Deutschland; das äußerste, was ich als frühesten Zeitpunkt gelten lasse, ist 1243, wenn Konrad wirklich persönlich auf der ersten Wormser Messe war, bevor er die 13. Aventiure geschrieben hat." - "Matthäus von Paris ist ein ziemlich unsicherer Kantonist. Der kolportiert z.B. erst die Gerüchte, daß Friedrich heimlich mit den Tartaren verbündet gewesen sei und den König von Ungarn im Stich gelassen habe, und ein paar Seiten weiter schreibt er, daß Friedrich den Tartaren seine Söhne mit einem großen Heer entgegen geschickt habe, das ihnen am Dnjepr eine Schlacht geliefert habe, woraufhin die abgezogen seien. Und auf Matthäus geht wahrscheinlich auch die Verwechslung von Richard Cornwall mit Richard Löwenherz zurück, von der du geschrieben hast; er behauptet nämlich, daß der erstere einen erfolgreichen Kreuzzug ins Heilige Land unternommen habe. Aus solchen Quellen kannst du doch keine Theorie über das Nibelungenlied aufbauen!" - "Du tust Matthäus von Paris Unrecht. Er schreibt nicht, daß Richard von Cornwall einen erfolgreichen Kreuzzug ins Heilige Land unternommen habe, sondern eine erfolgreiche Pilgerfahrt; das ging ab 1241, weil Friedrich II mit El-Kamil den Waffenstillstand ausgehandelt hatte. Und die Sache mit den Tartaren hat Friedrich anfangs einfach nicht geglaubt, er hielt das für Judenlügen, weil die ersten Berichte über die Massaker von ungarischen Juden kamen; und er selber war zwar Muslim, wußte aber auch, daß das gerade das Jahr 5.000 der jüdischen Zeitrechnung war, für das mal wieder der Weltuntergang angesagt war, wie damals im Jahre des ersten Kreuzzugs, als die Juden auch alles maßlos übertrieben, was man ihnen angeblich angetan hatte. Als dann aber zuverlässige Nachrichten über den Mongoleneinfall kamen, hat er sehr wohl ein Heer ausgerüstet; doch bevor das los marschierte, hatte sich der Spuk schon aufgelöst. Übrigens schreibt Matthäus nicht, daß die Söhne des Kaisers die Schlacht am Dnjepr geschlagen hätten, sondern nur, daß es dort zu einer Schlacht gekommen sei. Wer sagt dir, daß das nicht eine Schlacht von Mongolen gegen andere Mongolen war? Am Dnjepr saßen die jedenfalls, denn sie hatten ja gerade Kiew zerstört. Also: Es bleibt bei 1241 oder 1243 als terminus post quem."

"A propos 13. und 14. Aventiure," sagt Frau Dikiogors, "und um auf Brunhilde zurück zu kommen: Solange du für die Schlüsselszene des ganzen Niebelungenliedes keine historische Parallele findest, ist deine Argumentation nicht komplett." - "Welche Schlüsselszene?" - "Den Streit der Königinnen." - "Der ist aus der Thidrekssaga übernommen; dazu gibt es keine historische Parallele im 13. Jahrhundert. Außerdem ist das nicht die Schlüsselszene der Nibelungennot, sondern allenfalls des ersten Teils, zur Erklärung, warum Siegfried von Hagen ermordet wird." - "Fernau schreibt doch, daß man an einigen Stellen noch die Urversion durchschimmern sieht: Brunhilde weint in Wirklichkeit gar nicht, weil ihre Schwägerin nur einen Lehensmann ihres Bruders zur Frau bekommt, sondern weil sie ihn selber gerne gehabt hätte, da er ja viel schöner, stärker und attraktiver ist." - "Ja und?" - "Du hast doch über die Hochzeit von 1235 geschrieben. Da heiratet Kaiser Friedrich II mit Isabella von England auch eine Frau, die eigentlich einem ganz anderen versprochen war, nämlich seinem Sohn Heinrich [VII], der natürlich als Ehemann viel attraktiver gewesen wäre als sein Vater. Und hinterher wird Heinrich von seinem Vater ermordet." - "Das ist deine Theorie. Offiziell war es Selbstmord oder ein Unfall." - "Na klar, so wie der Tod von Rudolf Hess und von den Terroristen der Baader-Meinhof-Gruppe in Stammheim offiziell Selbstmord oder Unfall war." - "Aber mit wem sollte sich Isabel gestritten haben?" - "Doch nicht gleich, sondern beim nächsten Treffen - deshalb macht der Verfasser doch die lange Pause, die aus dem Gesamtkontext des Nibelungenliedes heraus eigentlich völlig unmotiviert ist." - "Du meinst bei der Marktrechtsverleihung an Worms acht Jahre später?" - "Wo sonst spielt denn die Geschichte?" - "Aber wer sollte da mit der Kaiserin gestritten haben? Und überhaupt, war Isabel nicht schon 1241 gestorben? Und Heinrich [VII] 1242?" - "Wann gab es denn offiziell zwei Königinnen, d.h. nicht die Frauen von Gegenkönigen, sondern von ganz regulären?" - "Eigentlich im ganzen Hochmittelalter, nämlich immer dann, wenn ein Kaiser seinen Sohn schon zu seinen Lebzeiten zum König wählen ließ, um die Nachfolge zu sichern. Und Fridrich II hatte als Muslim natürlich einen Harem mit vier Hauptfrauen, von denen allerdings immer nur eine gekrönte Königin war, nacheinander Beatrix, Isabelle de Brienne, Constance und Isabel Plantagenet." - "Und wer waren 1243 die Hauptfrauen?" - "Das weiß man nicht; man kennt nur diejenigen, von denen er Söhne hatte, und auch die nur dem Namen nach." - "Nämlich?" - "Adelheid, Bianca... nichts, was auf das Nibelungenlied passen würde, keine Brunhilde."

"Das Nibelungenlied hat Brunhildes Rolle ja sowieso völlig verzerrt. In der Edda reitet sie in das Feuer des Scheiterhaufens, auf dem Siegfrieds Leiche verbrannt wird." - "Ja, so ists recht, die hätte Inderin werden sollen; aber mir geht es halt ums Nibelungenlied, und da sind sie ja alle schon brave Christen, und Siegfried bekommt ein kirchliches Begräbnis. Selbstmord der trauernden Witwe - und sei er auch noch so heroïsch - wäre völlig undenkbar gewesen." - "Wenn du mit Ritter-Schaumburg glaubst, daß die Thidrekssaga die historische Quelle für die Ereignisse der Nibelungenliedes ist, dann müßtest du aber wenigstens Brunhilds trauriges Ende dort akzeptieren: Nach Gunthers Tod bleibt sie alternde, kinderlose Witwe; und als Hagens Sohn alt genug ist, reist er nach Worms und erobert das Nibelungenland - das sie offenbar in der Zwischenzeit verloren hat - weitgehend wieder zurück." - "Na, bei aller Liebe zur Thidrekssaga und ihrem Wert als historischer Quelle; ausgerechnet beim Aldrian-Anhang hätte ich da so meine Zweifel..." - "Wieso?" - "Ich kann mir nicht vorstellen, daß Etzel oder meinetwegen Attala so dumm gewesen sein sollte, den Sohn Hagens an seinem Hofe aufzuziehen und ihm dann auch noch so dumm in die Falle zu gehen - obwohl doch von klein auf alles darauf hindeutet, daß er sein Todfeind sein und ihm nach dem Leben trachten wird. Aber wie gesagt - auch das ist nicht Gegenstand des Nibelungenliedes." - "Was ist dann Gegenstand des Nibelungenliedes, mal abgesehen von deinen Parallelen zum Kampf gegen die Mongolen?" - "Die Geschichte Kriemhilds und ihrer Liebe zu Siegfried, von der ersten bis zur letzten Strofe. Und da du ja selber sagst, daß die keine Emanze war, taugt das Nibelungenlied wohl doch nicht als Charta der Frauenbewegung."


Nachtrag: Manchmal fallen einem nach langer Zeit Dinge wieder ein, die im Rückblick vieles erklären. Frau Dikigoros hält den Streit der Königinnen auf der Treppe vor dem Wormser Dom für eine Schlüsselszene, weil sie eine ähnliche Szene fast schon einmal selber erlebt, besser gesagt zu provozieren versucht hat. Sie waren gerade frisch verheiratet und eines Sonnabends gemeinsam einkaufen gegangen. Dikigoros weiß nicht mehr genau wo und was, aber es war ein größeres Kaufhaus, mit mehreren Stockwerken, einer jener modernen Konsumtempel, die heute die Rolle der mittelalterlichen Kirchen übernommen haben. Als sie sich im Erdgeschoß auf die Kasse zu bewegten, kam ihnen von oben auf der breiten Treppe - es war ein Gebäude aus der guten alten Zeit, ohne Fahrstühle oder Rolltreppen - ein anderes Paar entgegen, dessen weiblicher Bestandteil eine alte Studienfreundin war. (Was heißt "alt"? Rainhild war sogar anderthalb Jahre jünger als Erika, auch wenn letztere wesentlich jünger und besser aussah. Für Freunde der leichten Muse: Erika sah und sieht aus wie France Gall - wohlgemerkt wie die junge, hübsche France Gall, nicht wie die häßliche alte Schachtel, die sie in späteren Jahren wurde; Rainhild sah aus wie Alma Cogan - der das Altern erspart blieb -, also ganz passabel, aber halt keine Schönheit; dafür hatte sie eine schönere Stimme als die Sängerin von "So fängt es immer an" :-) Nun war sie allerdings nicht nur eine alte Studienfreundin ihrer selbst, sondern unabhängig davon auch eine alte Studienfreundin ihres Mannes, und Erika wußte, daß Rainhild die älteren Rechte hatte - Niko hatte nie einen Hehl daraus gemacht, daß sie für ihn die erste Wahl gewesen wäre, wenn sie nicht einer anderen Gesellschaftsschicht angehört hätte (alter jüdischer Kaufmannsadel aus dem Veneto, aber seit mehreren Generationen getauft, also lupenreine "Arier" im Sinne der Nürnberger Gesetze, die eben keine "Rassen"-Gesetze waren, auch wenn ignorante Deppen sie heuer gerne so nennen :-) und schwerlich einen popeligen Gerichtsreferendar, Sohn eines kleinen Beamten, geehelicht hätte - in solchen Kreisen begeht man nicht den Fehler einer "Liebesheirat". Sie hatten sich ein wenig aus den Augen verloren, und Erika tat erst so, als erkennte sie Rainhild gar nicht; aber ihr Mann blieb fast automatisch stehen. "So eine Frau vergißt man nicht," antwortete er auf ihren fragenden Blick; und inzwischen waren auch die beiden anderen stehen geblieben. Während Dikigoros noch überlegte, wer wen wem vorstellen müßte, hatte seine Frau kurz den kleinen, dicken, ältlichen Begleiter Rainhilds gemustert, und ihr Blick wandelte sich von vorwurfsvoll-eifersüchtig zu mitleidig-herablassend. Noch bevor Rainhild den Mund aufmachen konnte, zischte Erika triumfierend ihre Begrüßung heraus. Nicht etwa "hallo" oder "guten Tag" oder "wie geht's?", sondern nur: "Wir sind verheiratet!" Und gab ihr nicht die Hand, sondern hielt sie hoch, um ihr den Ehering zu zeigen, wie einst Kriemhild das Strumpfband.

[Der Streit der Königinnen vor dem Wormser Dom von Kirchbach]

[So ist es jedenfalls in die Hinterköpfe der Sagenleser eingegangen, die nur die modernen Nacherzählungen ad usum Delphini kennen - zu denen ja auch Dikigoros in jungen Jahren zählte, als er noch kein Mittelhochdeutsch konnte. Auch die berühmte Illustration dieser Szene durch den Maler Kirchbach aus dem 19. Jahrhundert, die Ihr oben seht, legt das ja nahe. Im 20. Jahrhundert kamen Verfilmungen hinzu, die das leicht abwandelten: Bei Fritz Lang hält Kriemhild ihrer Schwägerin einen goldenen Armreif vor die Nase (was dem Ehering ja schon recht nahe kommt :-), bei Harald Reinl zeigt sie Brunhild den magischen Keuschheitsgürtel aus Metallringen, den Siegfried dieser zuvor entrissen hatte, und den sie über dem Kleid trägt. Doch von alledem steht im Originaltext gar nichts. Der "gürtel", den Kriemhild da trägt, ist vielmehr ein Strapsgürtel aus feinster Seide orientalischer Provenienz, und den hält sie Brunhild nicht etwa unter die Nase, sondern sie trägt ihn am Körper und öffnet ihr Kleid, um das aller Welt zu erziugen (das könnt Ihr, je nach gusto, mit "zeigen", "bezeugen" oder "beweisen" übersetzen, liebe Leser, es schließt im Grunde genommen alles ein.)] Für Sekundenbruchteile blitzte bei Rainhild ein Gesichtsausdruck auf, der dem von Brunhild entsprochen haben mag, als ihr Kriemhild auf der Treppe in Worms jene "Schlüsselszene" machte. Aber sie hatte sich gleich wieder im Griff - obwohl dieser Auftritt in Bonn ja viel peinlicher war als der in Worms. Dikigoros kann sich lebhaft vorstellen, was Rainhild, wenn sie an Brunhilds Stelle gewesen wäre, zu Kriemhild mit spöttischem Unterton gesagt hätte: "Ach, schau mal an, hast du auch schon heraus bekommen, daß dich dein Mann mit mir betrügt? Und darauf bist du auch noch stolz? Na, ich habe jedenfalls den König zum Ehemann und deinen Mann zum Liebhaber, da kann ich auf den Vortritt zur Kirche leicht verzichten. Bitte, nach dir! Übrigens kann ich dir bei Gelegenheit noch ein paar andere gebrauchte Strapsgürtel von mir überlassen, wenn du die so gerne aufträgst." Dikigoros bezweifelt, daß seine Frau (die Strumpfbänder nur einmal im Jahr trägt, als Bestandteil ihres Karnevalskostüms :-) darauf an Kriemhilds Stelle eine passende Antwort gefunden hätte. [Da wir gerade bei populären Irrtümern über das Nibelungenlied waren: Ritter-Schaumburg läßt sich lang und breit darüber aus, daß Brunhild doch wohl gemerkt haben müsse, daß es nicht Gunter, sondern Siegfried war, mit dem sie schlief. Na klar - der Originaltext steht dem auch gar nicht entgegen: Brunhild heult nicht etwa, weil Kriemhild ihr dieses "Geheimnis" verraten hat, sondern vielmehr, weil sie es offenlîche gemacht hat, durch einen Striptease (jawohl - Strapsgürtel gab es schon seit dem 12. Jahrhundert; dagegen wurde es erst im späten 19. Jahrhundert üblich, daß Frauen unter ihren Kleidern und Röcken ein Höschen trugen) vor allen Kirchgängern!] Aber in Bonn war die Situation ja doch eine andere, denn der Ring besagte: "Schau her, du warst ihm vielleicht mal für ein Techtelmechtel gut; aber mich hat er geheiratet!" Also setzte Rainhild nur jenes undurchdringliche Lächeln auf, das Dikigoros so an ihr mochte, und antwortete ebenso kurz: "Wir sind verlobt." Und wer sie nicht kannte, hätte den Tonfall nicht mal für kläglich gehalten, allenfalls für etwas verdattert - was bei einer solchen Begrüßung ja verständlich war. Aber Dikigoros war hinterher nicht nur verdattert, sondern enttäuscht, fast beleidigt, daß die Frau, die er so bewundert, beinahe vergöttert hatte, eine derartige Mésalliace eingehen wollte - so viel Geld konnte der häßliche Kerl doch gar nicht haben, daß es das wert wäre! "Mach Dir nichts draus," meinte Erika am Abend im Bett in einer Mischung aus Groß- und Übermut, "wenn wir eine Tochter bekommen, werden wir sie 'Rainhild' nennen und versuchen, sie als reiche Patentante zu gewinnen. Wenn sie auch noch den alten Pfeffersack heiratet, wird sie doch gar nicht mehr wissen, wohin mit dem vielen Geld."

Aber Erika sollte nie Kinder bekommen - nur zwei Fehlgeburten erleiden -, und Rainhild sollte nie heiraten. "Das war ein Geschäftsfreund meines Vaters, der zufällig in Bonn zu Besuch war und für den ich einen Tag die Fremdenführerin gemacht habe," erzählte sie Dikigoros viele Jahre später; "daß wir verlobt seien, habe ich nur gesagt, um Deiner Frau irgendetwas zu entgegnen. Du glaubst doch nicht im Ernst, daß ich mich nach Dir an so jemanden gebunden hätte? Der war überhaupt nicht mein Typ; und aus finanziellen Gründen zu heiraten hatte und habe ich nicht nötig." - "Hast Du die Firma übernommen?" - "Nein, als mein Vater gestorben ist, habe ich mich von meiner Schwester auszahlen lassen; die hat dann einen Mann geheiratet, der die Geschäfte weiterführen konnte. Es war besser so; ich tauge nicht zur Frühstücks-Direktorin." - "Aber eine Frau wie Du hätte doch auch einen Mann finden können, der..." - "Ich war nie sonderlich attraktiv; ich habe auch nie begriffen, was Du an mir gefunden hast, außer daß ich Geld hatte; aber damit hätte ich einen so viel attraktiveren Mann doch nicht auf Dauer halten können, dachte ich damals jedenfalls." - "So ein Unsinn. Schönheit ist vergänglich." - "Trotzdem hast Du Erika geheiratet, an der sonst nichts dran ist. Ihr habt doch überhaupt keine gemeinsamen Interessen: Sie musiziert nicht, spielt nicht Schach, treibt keinen Sport..." - "Oh, sie hört mir gerne zu, wenn ich mal Klavier spiele; um ernsthaft Schach zu spielen habe ich als Selbständiger ohnehin keine Zeit mehr; und um schlank und fit zu bleiben, braucht sie nur eine Sportart. Außerdem hast Du doch selber mal gesagt: Ancor piú che amare, è importante essere amato." - "Daß Du Dich an den Satz noch erinnerst." - "Ich vergesse keinen Satz von Dir." - "Das hatte ich Dir doch nur gesagt, um Dich zu trösten, als wir Schluß gemacht haben." - "Als Du Schluß gemacht hast. Und da mußtest Du ausgerechnet Moravia zitieren, den ich so gar nicht mag, und ausgerechnet aus 'Troppa ricca'? Ich habe das durchaus als 'Tu sei troppo pòvero, e perciò non ti amo' verstanden." - "So meinte ich es aber gar nicht. Stai dicendo delle cose assurde." - "Davvero?" - "Davvero.* Und überhaupt, was hat das mit Erika zu tun?" - "Nun, sie hat mir eben das Gefühl gegeben, geliebt zu werden; es war also schon etwas mehr dran an ihr als bloß Schönheit." - "Sie sieht immer noch sehr gut aus." - "Ja, das nutzt sie auch weidlich aus; sie betrügt mich, wo sie kann." - "Geschieht Dir recht." - "Wieso?" - "Heute kann ich es Dir ja verraten: Jahre lang habe ich darauf gehofft, daß Eure Ehe scheitert; aber Du hast Dich ja nie scheiden lassen und tust es immer noch nicht. Warum laßt Ihr Männer Euch das bloß von Euren untreuen Weibern gefallen? Bei meinem Schwager verstehe ich es ja noch; wenn der sich scheiden ließe, würde er seinen Job als Geschäftsführer verlieren und nicht mal einen Zugewinnausgleich bekommen, denn die Firma ist heute nicht mehr wert als damals, als sie heirateten, eher weniger. Es ist so schwierig geworden, Gewinn zu machen, wenn man ehrlich bleiben will." Wie oft hat Dikigoros den letzten Satz so oder ähnlich schon von seinen Mandanten gehört - zumeist von denen, für deren Ehrlichkeit er seine Hand nicht unbedingt ins Feuer legen würde, und ihm lag eine boshafte Antwort auf der Zunge; aber er brachte es noch immer nicht über sich, seiner alten Liebe mal richtig die Meinung zu sagen. (Sonst hätte er ihr auch gesagt, daß sie, trotz ihrer höheren Intelligenz, ebenso schlecht Schach spielte wie Erika, daß er sie nur manchmal mit Absicht hatte gewinnen lassen, daß ihr Erika in der Sportart, auf die es nun mal in einer Partnerschaft am meisten ankommt, turmhoch überlegen war und sie daran erinnert, daß er sie trotz ihres vielen Geldes immer eingeladen hatte - während er mit der armen Erika immer getrennte Kasse machte.) Also sagte er nur - und wer ihn nicht kannte, hätte den Tonfall nicht mal für kläglich gehalten: "Wem sagst Du das. Aber weißt Du, irgendwann ist es für eine Scheidung zu spät. Je älter man wird, desto teurer wird es. Es gibt ja nicht nur den Zugewinn-, sondern auch den Versorgungsausgleich; und wie käme ich dazu, die Rentenkasse zu sanieren, aus der wir am Ende beide nichts Nennenswertes mehr heraus bekommen werden?"**

Tja, das Leben schreibt seine kleinen Tragödien, auch abseits der großen Sagenstoffe...***


*Dikigoros hat nochmal nachgeschlagen und dabei festgestellt, daß er doch etwas vergessen hatte: Die Kurzgeschichte, aus der die italienischen Zitate stammen, heißt gar nicht "Troppa ricca" - das ist nur der Titel des Sammelbandes, in dem sie erschienen ist. Wenn Ihr sie also auf Google Books nachlesen wollt, müßt Ihr unter "Moravia" und "Piccola e gelosa" suchen. Es lohnt sich aber nicht wirklich.

**Man kann doch nichts schreiben, ohne daß man gleich eine Mail von einem besserwisserischen Kollegen erhält, der alles und jedes in Zweifel zieht. Also, liebe Rechtsanwälte, die Ihr brav in Euer "Versorgungswerk" einzahlt, laßt Euch erklären, warum Dikigoros das nicht tut: Er war ja nicht immer Anwalt und nicht immer selbständig, hatte vielmehr die 5 Jahre Mindestversicherungszeit für eine BfA-Rentenanwartschaft schon zusammen, also ist er dabei geblieben und hat sich von der Mitgliedschaft im Versorgungswerk befreien lassen. Warum? Nein, nicht weil er glaubt, daß bei der BfA besser gewirtschaftet würde als in den diversen Versorgungswerken der Selbständigen - im Gegenteil: Die Politiker haben schon viel zu lange und viel zu tief in die einstmals gut gefüllten Kassen der gesetzlichen Rentenversicherung gegriffen, als daß noch viel drin wäre - da lebt man von der Hand in den Mund. Aber im Gegenzug wird die Regierung - egal welcher Couleur -, wenn die Rentenkassen einmal leer sind, Steuergelder hinein stecken, um die Löcher notdürftig zu stopfen; für eine Mindestrente, und sei es auch nur knapp über dem Sozialhilfesatz, wird es also immer reichen; und was man darüber hinaus braucht, muß man halt aus eigenen Mitteln auffüllen - oder sich in Sparsamkeit üben. Was aber, wenn ein Versorgungswerk pleite geht? (Und Dikigoros weiß darüber einiges, was eigentlich nicht nach außen dringen soll, nämlich wie hemmungslos und unkontrolliert da gezockt und spekuliert wird, pardon, wie die Beitragsgelder in zweifelhaftenhoffnungsvollen "Wert"-Papieren und Immobilien-Fonds "angelegt" werden - da könnte man sie gleich verbrennen oder in den Rhein kippen, wie Hagen den Nibelungenhort :-) Verlaßt Euch drauf: Keine Partei wird auch nur einen Finger rühren, um ihm aus der Patsche zu helfen - das sind schließlich die "Besserverdienenden", und es würde ein Aufschrei durch die Massenmedien gehen, wenn eine Regierung es wagen sollte... Bei der nächsten Wahl würde die Mehrheit der Neidhämmel sie mit Sicherheit abstrafen. Wenn Ihr, liebe jüngere Kollegen, also so weit seid, daß Ihr Euch zur Ruhe setzen wollt, werdet Ihr von Euren Beiträgen keinen Cent wieder sehen, denn die Pyramide der Selbständigen verschlankt sich immer mehr, und am Ende wird es nicht mal mehr reichen, um von der Hand in den Mund zu leben...

***Um auch das noch nachzutragen: Ein mitfühlender Leser hat Dikigoros gemailt, er solle das doch mal ganz pragmatisch sehen: Man[n] hätte ja nichts von einer Frau, die vielleicht nur deshalb treu ist, weil sie im Alter so häßlich und unattraktiv geworden ist, daß sich niemand mehr für sie interessiert, einschließlich des eigenen Mannes; da sei es immer noch besser, sich eine nach wie vor attraktive Frau mit anderen Männern zu teilen... Da kann Dikigoros nur sagen: Vielen Dank, sehr tröstlich!

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