DAS NIBELUNGENLIED

Verfasser und Entstehungszeit

(von Nikolas Dikigoros)

[Konrad von Würzburg, Manessische Liederhandschrift]

Für die Frage nach dem Verfasser des Nibelungenliedes gibt es in dessen Text keine direkten Hinweise. Allerdings steht in seiner weniger bekannten Fortsetzung, der "[Nibelungen-]Klage", daß ein Bischof Pilgrim von Passau einem Meister Konrad den Auftrag erteilt habe, es niederzuschreiben.

Die Germanisten und Historiker sahen in diesem "Bischof Pilgrim" lange Zeit einen Bischof von Passau am Ende des 10. Jahrhunderts, da ein anderer dieses Namens nicht überliefert schien; allerdings war aus jener Zeit kein "Meister Konrad" bekannt, und auch eine Entstehung des fertigen Nibelungenliedes gegen Ende des 10. Jahrhunderts war schwerlich anzunehmen. Man behalf sich mit der Annahme diverser verschollener Frühformen (u.a. einer lateinischen "Nibelungias" - denn Mittelhochdeutsch sprach oder schrieb man damals ja noch nicht :-), bis man erkannte, daß es sich bei "Pilgrim" lediglich um einen Beinamen handelte, der Pilgern verliehen werden konnte, die ins "Heilige Land" gefahren waren (z.B. - aber nicht notwendigerweise - auf einem Kreuzzug). Da man eine Entstehungezeit am Ende des 12. oder am Beginn des 13. Jahrhunderts annahm, suchte und fand man jenen "Pilgrim" schließlich in Wol[f]ger von Erla, der 1191-1204 Bischof von Passau war und 1197 mit Heinrich VI auf Kreuzzug gehen wollte. Die Suche nach einem "Meister Konrad von Passau" blieb dagegen erfolglos; man begnügte sich schließlich damit, den angenommenen Entstehungszeitraum durch Vergleiche mit den Werken anderer, bekannter Dichter des Hochmittelalters zu bestätigen. Dafür kamen vor allem in Betracht: 1. Wolfram von Eschenbach und 2. Otto von Botenlauben.

1. In Wolframs Parzival gibt es drei Fundstellen, aus denen man schließen kann, daß entweder er das Nibelungenlied oder aber der Nibelungendichter den Parzival gekannt haben müssen, genauer gesagt handelt es sich um drei Namen: Den des Küchenmeisters Rumolt und die der beiden arabischen "Länder" Azagouc und Zazamanc. Alle drei Namen tauchen nur im Parzival und im Nibelungenlied auf, d.h. sie sind sonst nicht überliefert, und die voneinander unabhängige Entlehnung aus einer von dritten, bislang unbekannten Quelle ist zumindest unwahrscheinlich und wird auch, soweit ersichtlich, von niemandem angenommen. Die ungefähre Datierung des Parzival bereitet keine Schwierigkeiten: Im 7. Buch (Vers 379) des Parzival berichtet Wolfram, daß die Erfurter Weingärten noch "niedergetrampelt" waren; dem liegt ein Krieg im Sommer 1203 zugrunde. Wolfram muß also ein paar Jahre später geschrieben haben, denn kurz nach der Zerstörung wäre es der Erwähnung nicht wert gewesen, daß die Weingärten noch nicht wieder hergestellt waren. Wolfram starb wahrscheinlich 1220; der Parzival muß also zwischen 1204 und 1220 entstanden sein. Wenn aber Wolfram die Namen Rumolt, Azagouc und Zazamanc aus dem Nibelungenlied übernommen hat, dann muß dieses vor 1220 entstanden sein.

2. Otto von Botenlauben zitiert in dem Gedicht vom Karfunkelstein ebenfalls eine Stelle aus dem Nibelungenlied. Er schreibt, daß er seine Geliebte so habe, wie "zu loche in dem rine", also wie Kriemhilt den Nibelungenhort, nachdem Hagen ihn im Rhein versenkt hat, nämlich gar nicht. Und als weiteren Vergleich schreibt Otto, daß er seine Geliebte so habe wie der König den Waisen. "Der Waise" war der berühmteste Stein der Reichskrone, und er stand - z.B. in den Liedern Walthers von der Vogelweide - als pars pro toto, d.h. man sagte nicht "sich die Krone aufsetzen", sondern "sich den Waisen aufsetzen". Zwar gibt es eine Theorie, daß "der Waise" irgendwann im Mittelalter verschwand, so daß man auch annehmen könnte, da trauere jemand generell dem verlorenen Stein in der Reichskrone nach; aber das ist nicht schlüssig: Zum einen wurde "der Waise" noch Mitte des 14. Jahrhunderts erwähnt - als Otto von Botenlauben sein Gedicht schrieb, muß er also noch in der Krone zu sehen gewesen sein -, zum anderen ist sehr fraglich, ob er wirklich je verloren gegangen ist. Zwar gibt es auf der Vorderseite die bekannte "Lücke", die später mit einem zu kleinen und relativ unscheinbaren Saphir ausgefüllt wurde; aber "der Waise" saß - und sitzt noch immer - auf der Rückseite. Auch das wissen wir aus einem Gedicht Walthers von der Vogelweide, der schreibt, daß "der Waise" (und diesmal meint er nur den Stein) im Nacken (des Königs) sitze; und das macht Sinn, denn er soll - so schreibt Walther ausdrücklich - als "Leitstern" dienen, dem die hinter dem König gehenden Fürsten zu folgen haben. Dieser außergewöhnlich schöne, leuchtende "Karfunkelstein" (so nannte man nur rote [Halb-]Edelsteine - auch das hätte dagegen gesprochen, ihn, wenn er denn abhanden gekommen wäre, durch einen blauen Saphir zu ersetzen) befindet sich bis heute auf der Rückseite der Krone.


              Vorderseite der Reichskrone                       Ersatz-Saphir (Ansicht von schräg oben)           Rückseite der Krone mit dem "Waisen"

Die Nicht-mehr-Erwähnung des "Waisen" seit Mitte des 14. Jahrhunderts dürfte also eher auf Zufall oder Desinteresse beruht haben. Daraus folgt nun Wesentliches für die Datierung des Nibelungenliedes: Wenn Otto von Botenlauben mit seinem Gleichnis nicht nur einen fehlenden Stein in der Krone meinte, dann muß er gemeint haben, daß einem König die Krone ganz gefehlt hat. Das kam im Hochmittelalter durchaus vor, denn es gab so genannte Doppelwahlen mit Königen und Gegenkönigen. Ein besonders bekannter Fall ist die Doppelwahl von 1198: Der Gegenkönig Philipp von Schwaben wurde mit der echten Krone - also inclusive des "Waisen" - gekrönt, obwohl sich Otto IV. Welf als König durchsetzte. (Weitere Gegenkrönungen gab es 1212 und 1215, jeweils durch den Staufer Friedrich II, wiederum ohne die echte Krone mit dem "Waisen".) Damit schien alles zusammen zu passen: Wolfger von Erla (gestorben 1204), der Parzival (geschrieben kurz nach 1203) und die Doppelkrönung von 1198, die Otto von Botenlauben damals noch frisch in Erinnerung war; das Nibelungenlied mußte also zwischen 1198 und 1204 nieder geschrieben worden sein. Diese These wurde noch dadurch erhärtet, daß auch Saxo Grammaticus in seiner "Dänischen Geschichte" von der Sage berichtet, in der Kriemhilt ihre Brüder verrät. (Aus der nordischen Mythologie konnte er das nicht haben, denn da war es umgekehrt: Atli lockte die Nibelungen in seine Burg, und deren Schwester rächte den Mord an ihrem Mann und den gemeinsamen Kindern.) Saxo Grammaticus widmet sein Werk einem König Waldemar, der die Elbe erobert habe. Wenn sich das auf König Waldemar II von Dänemark bezog und auf ein Ereignis im Jahre 1208 (oder 1215), dann paßte auch das. Das Problem war nur, daß man den Dichter nicht ausfindig machen konnte, denn der einzige, den man im 13. Jahrhundert als "Meister Konrad" zu bezeichnen pflegte, nämlich Konrad von Würzburg, war damals noch nicht geboren. Also beließ und beläßt es die herrschende Meinung bis heute bei einem fiktiven "Konrad von Passau" als Verfasser des Nibelungenliedes.

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Allerdings gibt es da einige Ungereimtheiten: Zunächst einmal ist zweifelhaft, ob wirklich Wolfram aus dem Nibelungenlied abgeschrieben hat oder nicht vielmehr der Nibelungendichter aus dem Parzival. Letzteres würde bedeuten, daß das Nibelungenlied deutlich nach 1203, vielleicht sogar nach 1220 geschrieben wurde - dann hätte es aber nicht mehr in die Lebenszeit Wolfgers von Erla gepaßt. Nun ist es ziemlich unwahrscheinlich, daß Wolfram aus der kurzen, geradezu nichtssagenden Erwähnung von Azagouc und Zazamanc (sie werden in Vers 362 bzw. 439 des Nibelungenliedes eher beiläufig als Seidenprovenienzen unter vielen anderen genannt) derart umfangreiche Kapitel abgeleitet haben sollte, wie er sie den Ländern dieses Namens im Parzival widmet. Die ältere Nibelungenforschung war daher auch der einhelligen Meinung, daß der Nibelungendichter aus dem Parzival abgeschrieben habe und nicht umgekehrt. Die modernen Germanisten haben indes die These aufgestellt, daß Azagouc und Zazamanc wohl "Einfügungen" späterer Kopisten des Nibelungenliedes sein müßten (es sind uns keine Versionen des Nibelungenliedes überliefert, die vor etwa 1240 entstanden sind). Im übrigen halten sie an Rumolt als Kronzeugen für ihre These fest: Der rät im Nibelungenlied (Vers 1465) den Burgunder-Königen ab, die Einladung an Etzels Hof anzunehmen, wird jedoch überstimmt und in Worms zurück gelassen. Darauf scheint auch Wolfram im VIII. Buch (Vers 420 f.) des Parzival anzuspielen, wo er Rumolt den Satz in den Mund legt: "Wenn Ihr zu den Hunnen fahren wollt, könnt Ihr ja gleich Brot in Scheiben schneiden, Euch als Sandwich dazwischen legen und beidseitig im Kessel braten lassen." Das paßt so recht zu einem bloßen Koch - und genau das ist Rumolt bei Wolfram von Eschenbach auch nur. Nicht paßt das allerdings zu seiner Rolle im Nibelungenlied: Dort ist Rumolt kein Koch, sondern vielmehr "Küchenmeister", ein bedeutendes Amt bei Hof - etwa wie der "Superminister" für Wirtschaft und Finanzen in der Neuzeit -, das noch vor den traditionellen Hofämtern Mundschenk, Truchseß, Marschall und Kämmerer genannt wird. Folgerichtig wird ihm in absentia der Könige auch deren Vertretung, d.h. die Regentschaft in Worms übertragen. Kann es sein, daß Wolfram von Eschenbach - der stets Wert darauf legte, ein genauer Historiker zu sein und der selber Hofministeriale war, ein solches Amt also kennen mußte, aus einem "Küchenmeister" einen simplen Koch machte? Kaum. War es umgekehrt denkbar, daß der Nibelungendichter - der ja auch an anderen Stellen gerne etwas dick auftrug -, aus einem Koch einen "Küchenmeister" machte? Durchaus. Dann hat aber der Nibelungendichter bei Wolfram abgeschrieben, nicht umgekehrt - und damit gerät die herrschende Meinung ins Wanken.

Aber das ist nicht die einzige Ungereimtheit. Wieso soll eigentlich Wolfger von Erla den Beinamen "Pilgrim" geführt haben? Der Kreuzzug nach Jerusalem, auf dem er Heinrich VI begleiten wollte/sollte, kam nie dort an, d.h. er kam gar nicht zustande, weil Heinrich VI zuvor in Italien starb. Zwar fuhren einige hohe Herren - wohl auch Wolfger - anschließend noch kurz nach Antiochia; aber für so einen Segeltörn verdiente man sich nicht den Beinamen "Pilgrim"! Und auch die Sache mit dem Gegenkönig, der den Waisen nicht hat, stimmt so nicht: Zwar hatte Otto IV. Welf die Krone nicht bei der Krönung im Jahre 1198; aber später - er war immerhin fast ein Jahrzehnt unangefochten König - hatte er sie sehr wohl; es konnte also gar keine Rede davon sein, daß er den "Waisen" nicht hatte, ebenso wenig bei Friedrich II. (Die Annalen des Albert von Stade berichten ausdrücklich, daß nach dem Tode Ottos IV. dessen Bruder die Reichsinsignien an Friedrich II übergab - der erstere hatte sie also, und der letztere bekam sie nun. Und noch etwas: Sowohl Otto IV. als auch Friedrich II. waren auch gekrönte Kaiser - Otto von Botenlauben hätte sie schwerlich als bloße "Könige" bezeichnet. Auch die Parallele zu Saxo Grammaticus ist nicht stichhaltig: Er erwähnt nämlich im Vorwort, daß der Großvater jenes Königs Waldemar aufgrund seines "ungerechten" Todes ein Heiliger geworden sei. Dann handelte es sich aber nicht um Waldemar II - dessen Großvater der völlig unbedeutende Herzog Knut Laward von Schleswig war -, sondern um Waldemar I, dessen Großvater Knut II, "der Heilige", war. Dazu paßt auch, daß Saxo Grammaticus als seinen Auftraggeber den Erzbischof Absalon nennt - der bereits 1201 starb. Da wir über das Leben des Saxo Grammaticus, abgesehen von diesen Anhaltspunkten in seinem Werk, nichts wissen, werden wir auch dessen Lebensdaten korrigieren müssen - um eine Generation nach hinten. Er kann also das Nibelungenlied nicht gekannt haben, selbst wenn es um 1204 geschrieben worden wäre. Woher hatte er dann aber die Geschichte von Kriemhilt und ihren Brüdern? Ganz einfach: aus der "Svava", der alten Version der Thidrekssaga, wie sie Heinz Ritter-Schaumburg rekonstruiert hat, denn die wurde nach Berichten aus der Zeit vor der Umgestaltung der Stadt Soest in den Jahren 1170-1180 nieder geschrieben, und Absalon wurde 1178 Erzbischof. (Als Skandinavier hatte Saxo darauf ohnehin eher Zugriff als auf das Werk eines unbekannten bayrischen Dichters.) Fazit: Die Theorie von der Entstehung des Nibelungenliedes um das Jahr 1204 steht auf mehr als wackeligen Beinen.

Alternative Datierung

Für eine überzeugende Lösung bedarf es eines Zeitpunkts deutlich nach 1203 (und vor 1247 - dem mutmaßlichen Todesjahr Ottos von Botenlauben), auf den zweierlei zutrifft: 1. In Passau muß ein Bischof amtiert haben, der den Beinamen "Pilgrim" mit Recht führen durfte. 2. In Deutschland muß es einen - noch nicht zum Kaiser gekrönten - König gegeben haben, der den "Waisen" - also die echte Krone - nie (auch nicht nach der Krönung) in die Hände, geschweige denn aufs Haupt bekam. Besonders praktisch wäre es dann noch, wenn zur selben Zeit ein "Meister Konrad" gelebt hätte, der sich in erreichbarer Nähe Ottos von Botenlauben aufhielt (also in Würzburg) und in dessen Gesamtwerk das Nibelungenlied passen würde. Nun gab es im 13. Jahrhundert tatsächlich einen Bischof von Passau, der auf Kreuzfahrt ins Heilige Land zog und dabei auch nach Jerusalem gelangte (was nur in den Jahren 1230-1244 möglich war, nachdem Friedrich II mit Sultan Al Kâmil von Ägypten ein entsprechendes Abkommen geschlossen hatte), und zwar nur den einen einzigen: Rüdiger von Radeck. Er war mit Friedrich II ins Heilige Land gefahren und amtierte 1241-1250 als Bischof von Passau. Und es gab im 13. Jahrhundert auch einen - und wieder nur einen einzigen - deutschen König, der nie gekrönt wurde: den Landgrafen Heinrich Raspe von Thüringen. Der "Pfaffenkönig", wie er von seinen Feinden genannt wurde, wurde im Mai 1246 in einem Vorort von Würzburg zum König gewählt und besiegte die Staufer unter Friedrichs Sohn Konrad, starb jedoch schon im Februar 1247. Das engt die Entstehungszeit des Nibelungenliedes - und den Kreis seiner möglichen Verfasser - stark ein; denn wenn Otto von Botenlauben - der ja auch 1247 (einige meinen sogar, schon 1246) starb, das Nibelungenlied noch vor seinem Tode kennen gelernt haben soll und dieses nicht vor 1241 entstanden ist (dem Jahr des Amtsantritts von "Pilgrim" Rüdiger als Bischof von Passau), dann muß er zu einer Zeit, da neu erschienene Bücher noch nicht über Nacht in hoher Auflage im ganzen Land verteilt wurden wie heute, ziemlich nahe an der Quelle gesessen haben, um die bewußte Zeile so wörtlich zu zitieren, den Verfasser wahrscheinlich sogar persönlich gekannt haben. Frage: Wer saß damals noch in Würzburg? Wer hieß mit Vornamen "Konrad"? Wer wurde allgemein nur "Meister" oder "Meister Konrad" genannt? Antwort: Konrad von Würzburg.

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Dennoch leugnet die überwiegende Mehrheit der heutigen Germanisten hartnäckig, daß Konrad von Würzburg der Verfasser des Nibelungenliedes ist. Welche Argumente sollen gegen ihn sprechen? Zunächst die Lebensdaten. Während man seine Geburt früher um 1220 ansetzte, nimmt man heute eher 1225-1230 an. Wenn man die Entstehungszeit des Nibelungenliedes um das Jahr 1204 ansetzt, ist das egal; wenn man dagegen 1241-47 annimmt, ist es wichtig, denn ein 11-17-jähriger dürfte schwerlich in der Lage gewesen sein, ein solches Werk zu schreiben - wohl aber ein 21-27-jähriger. (Das Nibelungenlied ist in vielerlei Hinsicht ein "unreifes" Werk, nicht zu vergleichen mit den späten Werken der älteren hochmittelalterlichen Dichter). Warum also 1225-1230, und nicht mehr 1220? In seinem "Turnier von Nantes" verfaßte Konrad ein Loblied auf einen "König Richard von England" und beschrieb dabei die Wappen der Teilnehmer so genau, daß er dabei gewesen sein müsse. Da man damals noch keine Reporter zu solchen Veranstaltungen schickte, müsse Konrad wohl persönlich teilgenommen haben. Da aber Richard von Cornwall - um den es sich wohl handeln müsse - erst 1257 (also während des "Interregnums") zum deutschen (!) König gewählt und gekrönt wurde, wäre Konrad zu diesem Zeitpunkt schon zu alt gewesen, um selber an einem Turnier teilzunehmen, wenn er 1220 geboren wäre; folglich muß er um 1230, frühestens 1225 geboren sein. Diese Argumentation übersieht nur eines: Richard selber war 1209 geboren, also 1257 schon 48 Jahre alt, ein Alter, in dem damals niemand mehr in der ersten Reihe mitkämpfen konnte, auch nicht bei einem Turnier. (Konrad bezeichnet seinen Helden denn auch ausdrücklich als "jugendlich".) In Frage kommt also nur Richard Löwenherz, der - im Gegensatz zu Richard Cornwall - tatsächlich König von England und für seine häufige aktive Teilnahme an Turnieren bekannt war. Er war, als im Jahre 1177 die Bretagne an England fiel und darob in der alten und neuen Hauptstadt Nantes ein großes Turnier abgehalten wurde, mit einiger Sicherheit dabei (er lebte hauptsächlich in und um Nantes herum und liegt auch in der Nähe begraben), denn er war mit 20 Jahren im besten Alter dafür. Die Wappen aber brauchte Konrad nicht persönlich beim Turnier gesehen zu haben: Wenn man weiß, daß der Nibelungendichter aus der Thidrekssaga schöpfte und daß Konrad dieser Nibelungendichter war, braucht man nur noch einen Blick in die "Heldenschau" überschriebenen Absätze der Thidrekssaga zu werfen: die Wappen-Beschreibungen im "Turnier von Nantes" sind z.T. exakt von dort übernommen (Beispiele dafür in der Langfassung).

Das nächste Gegenargument betrifft Stil, Sprache und Versmaß des Nibelungenliedes, die nicht mit denen der übrigen Werke Konrads von Würzburg übereinstimmen. Doch das besagt nicht viel, denn das Nibelungenlied wurde für einen bayrischen Auftraggeber - den Bischof von Passau - geschrieben, folglich verfaßte es der Franke Konrad von Würzburg in einer Sprache, die man nicht als "Mittelhochdeutsch", sondern genauer als "Mittelhochbayrisch" bezeichnen sollte. Später siedelte Konrad nach Südwestdeutschland über, nach Basel; sein Auftraggeber war damals überwiegend der Bischof von Straßburg - daß er da in einer anderen Mundart schrieb bzw. schreiben ließ (er pflegte nicht selber zu schreiben, sondern zu diktieren), ist einleuchtend, ebenso, daß er als reiferer Dichter nicht mehr den primitiven "Nibelungenvers" gebrauchte. Zwei wichtige Punkte haben die Konrad-Leugner indes übersehen - vielleicht weil man sie nicht in einen Computer eingeben kann, um Vokabular und Schreibstil zu vergleichen: Konrad hat in allen seinen Werken die Angewohnheit, ständig in die Zukunft vorzugreifen: "Das sollte noch die und die Konsequenzen haben..." Diese Eigenart taucht bei keinem anderen hochmittelalterlichen Dichter und in keiner anderen hochmittelalterlichen Dichtung in dieser Massierung auf - mit einer Ausnahme: dem Nibelungenlied. Und noch etwas ganz Grundlegendes: Der Nibelungendichter hat zwei ältere Sagenkreise, die nicht notwendigerweise zusammen gehören - nämlich die um Siegfried und die vom Untergang der Nibelungen - mehr oder weniger kunstvoll miteinander verknüpft. An einer solchen "künstlerischen Freiheit" mag man heute nichts besonderes mehr finden. Aus damaliger Sicht bedeutete es jedoch eine ziemliche Dreistigkeit, derart "frei" in zwei ältere Überlieferungsstränge einzugreifen und aus ihnen einen neuen zu machen. Dafür gibt es in der ganzen hochmittelalterlichen Literatur nur noch ein anderes Beispiel: "Der Trojanerkrieg" fügt ebenfalls ganz respektlos zwei alte Sagen - die von den Argonauten und die vom Troianischen Krieg - zu einem neuen Epos zusammen; und dessen Verfasser war kein anderer als... Konrad von Würzburg!

Als Heinrich von Meißen ("Frauenlob") 1287 eine Totenklage auf Konrad von Würzburg verfaßte, leitete er sie mit folgenden Zeilen ein:

"Geviolierte blüete kunst
dins brunnens dunst
unt din geroeset flammenriche brunst..."
Die erste Zeile ist - darüber herrscht Einigkeit - eine Anspielung auf Konrads "geblümten Stil" (ge-violiert = "mit Veilchen versehen"). Und die zweite und dritte? In keinem uns bekannten Werk, das offiziell Konrad von Würzburg zugeschrieben wird, gibt es eines Brunnens Dunst oder eine rosarote flammenreiche Feuersbrunst. Könnte man das erstere noch als allgemeine Redensart abtun, wird das beim letzteren schon schwieriger. Da Konrad in seinem (unvollendeten) Trojanerkrieg nicht bis zum Brand Troias gelangt ist, kommt für diese Anspielung eigentlich nur der Brand des Nibelungensaals in Etzelburg in Betracht; und die zweite Zeile könnte sich auf den "schönen Brunnen" in Vers 1533 des Nibelungenliedes beziehen, wo Hagen die "Meerweiber" trifft, die ihm den Untergang der Burgunden weissagen.

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Warum sollte Konrad von Würzburg aber aus dem Zug der Nibelungen gegen die westfälischen Hunen nach Soest (so steht es in der Thidrekssaga, die ihm offenbar als "Steinbruch" diente) einen Zug der Burgunder gegen die "Hunnen" nach Ungarn machen? Gab es dafür einen konkreten Anlaß, womöglich gar eine historische Parallele? Ja, auch die gab es, und wenn man die richtige Entstehungszeit - zwischen 1241 und 1247 - kennt, ist sie auch nicht schwer zu finden: 1241 waren die deutschen (und polnischen) Ritter bei Liegnitz schwer geschlagen worden von einem Volk, das wir heute als "Mongolen" kennen, das man im Mittelalter aber als "Tartaren" oder schlicht als "Hunnen" bezeichnete, in Erinnerung an die Einfälle der letzteren während der Völkerwanderungszeit. Dagegen sind all die Parallelen, die man zwischen den Nibelungenlied und jener acht Jahrhunderte zurück liegenden Ereignisse zu ziehen versucht hat, schief: Damals zogen nicht die Burgunder gen Osten, sondern die Hunnen gen Westen, wo sie schließlich selber vernichtend geschlagen wurden - allerdings nicht von den Burgundern. Das Nibelungenlied macht nur Sinn im aktuellen Bezugsrahmen des "Mongolensturms" und seiner Auswirkungen insbesondere auf Ungarn, aber auch auf Österreich (damals noch die - bayrische - Ostmark); indirekt führte er zum Untergang zwar nicht der Burgunder, wohl aber der Babenberger, doch das ist allgemein bekannte Geschichte, die an dieser Stelle keiner weiteren Ausführungen bedarf. Erwähnenswert ist dagegen noch die ausführliche Schilderung der prachtvollen Hochzeit zu Worms in der 10. Aventiure und des anderen Festes rund zehn Jahre später dortselbst in der 13. Aventiure. Beide finden in anderen Überlieferungen des Nibelungen-Stoffes keine Parallele. Wohl aber in der Wirklichkeit - wenn man sie denn in der Lebenszeit Konrads von Würzburg sucht: 1235 feierte Kaiser Friedrich II in Worms mit großem Aufwand seine Hochzeit mit der englischen Prinzessin Isabel (der Schwester Richards von Cornwall, der später zum deutschen König gewählt werden sollte); und 1243 verlieh Friedrich der Stadt Worms die Zollfreiheit und das Marktrecht, was ebenfalls mit einem großen und überaus prächtigen Fest gefeiert wurde. (Die Tradition des darauf zurück gehenden "Pfingsmarktes" hat sich bis heute in Worms erhalten.) Beide Ereignisse könnte Konrad miterlebt haben - das erstere als Jüngling, das letztere kurz vor oder während der Niederschrift des Nibelungenliedes, in welches er ihre Schilderung einfließen ließ.


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heim zu Reisen, die Geschichte machten