DEN NATIONALSOZIALISMUS VERSTEHEN UND BEGREIFEN

Guenter Rohrmoser: Philosoph, Propagandist oder Ideologe ?



            Next

       Fuenfte Folge

        Faschismus/Nationalsozialismus – Destruktion und Verfall

         Rohrmoser bemerkt in Verbindung mit Nietzsches Unzeitgemaessen Betrachtungen, dass die „Konservative Revolution“ der Meinung war,

dass nicht die „falsche Herrschaft“ den Untergang der deutschen Kultur in der Weimarer Republik bewirkt hat, sondern der Verfall der Herrschaft selber (S.161).
Ungeachtet dessen, ob man den Faschismus/Nationalsozialismus als Gegenspieler der sogenannten „Dekadenz“ auffasst (Rohrmoser, S.160), oder als die „Dekadenz“ an und fuer sich, wie von uns vertreten, schneidet der Komplex der „extremistischen Mythenkultur“ gleichermassen schlecht ab. Indem die „Konservative Revolution“ die sogenannte „Dekadenz“ am „Verfall der Herrschaft“ festmacht, geraet ihr politisches, ideologisches und kulturelles Produkt, der Faschismus/NS doch nicht nur in den Dunstkreis des „Herrschaftsverfalls“, sondern er steht zum einen als Ergebnis, zum anderen als Hoehepunkt und schliesslich als Inbegriff des Verfalls selber da. In diesem Zusammenhang ist es sachgemaess, die „Kritik an der buergerlichen Kultur“ in der Tat als „eine der wesentlichen Quellen des Faschismus“ (S.161) zu betrachten. Damit ist der Stellenwert des kritischen Bewusstseins, der Kritik ueberhaupt in der extremistischen Mythenkultur angesprochen. Die historischen Vorgaenge um diesen Kulturkomplex belegen einwandfrei, dass, sofern es hier ausser unerbittlichster, brutalster Vernichtung des fingierten Gegners (Liberalismus, Judaeo-Bolschewismus, Juden- und Slawentum) auch Raum fuer „Kritik“ gab, letztere das Stadium der bedingungslosen Vernichtung nie ueberschritt. Wenn nun Nietzsche „hinsichtlich der Kritik an der buergerlichen Kultur“ der geistige Vater aller „Varianten der Konservativen Revolution und des Faschismus“ ist (S.162), dann ist es gerade Nietzsches vernichtende Kritik, um die es hier geht [Uebrigens setzt sich diese Haltung bei Heidegger fort und erfaehrt ihren Hoehepunkt in dessen „Destruktion der Geschichte der Ontologie“ (Dazu hoechst aufschlussreich Jean Grondin, Von Heidegger zu Gadamer. Unterwegs zur Hermeneutik, Darmstadt 2001, II. Heideggers Wiedererweckung der Seinsfrage auf dem Weg einer phaenomenologisch-hermeneutischen Destruktion, S.46-70, vor allem 2. Die phaenomenologische Hermeneutik des Daseins auf dem Weg einer Destruktion der abendlaendischen Ontologie (S.59-70)].

         Damit verbunden ist die Frage zu klaeren, wo der destruktiven Kritik Grenzen gesetzt werden sollten, um es zu verhindern, dass sie im Extrem der nihilistischen Vernichtung gipfelt. Es handelt sich darum, wann destruktive Kritik in konstruktive Kritik ueberfuehrt, von letzterer fortgesetzt werden sollte, und darum, ob die extremistische Mythenkultur diesen Schritt jemals wagte oder wagen wuerde. Uns beschleichen dunkle Nach- bzw. Vorahnungen, dass sie das niemals tat und auch niemals tun wird, weil das nicht in ihrer Intention, auch nicht in ihrem Wesen liegt. Bereits der Ansatz Rohrmosers, die Hinwendung der Deutschen zur griechischen Kultur seit Joachim Winkelmann sei „aus dem Unbehagen an der eigenen Kultur“ entstanden (S.162), bestaerkt uns in unserer Vermutung. Rohrmoser will zudem in Nietzsches Werk

„Die Bewegung zurueck zu den Anfaengen, zu den Griechen“ als „Grundbewegung“ ausmachen, mit dem Ziel, „von den Griechen aus die eigene Zeit zu ueberwinden und eine neue Zukunft zu gewinnen“ (S.163).
         Bezeichnend ist der Exkurs Rohrmosers, wo er Mussolinis Projekt der Wiedererweckung roemischer Groesse und das Projekt Lenins Mythen nennt, wobei er die Erscheinungsformen extremistischer Mythenkultur, die ein deutschnationales Vorzeichen tragen, aus diesem Bedeutungsfeld geflissentlich heraushaelt. Die Antwort fuer diese krasse Inkonsequenz liefert Rohrmosers kurze Behauptung, der NS sei im Unterschied zum Nationalismus des italienischen Faschismus „eine Gestalt des Internationalismus“ gewesen (S.163). Von der Irrwitzigkeit dieser Behauptung abgesehen, liegt es zweifelsohne in Rohrmosers Intention, seiner apologetisch-verharmlosenden Interpretation des NS weitere Moeglichkeiten zu eroeffnen, in der Richtung:

a) den krankhaft-obsessiven NS-Nationalismus (=den Deutschnationalismus, den Deutschenglauben, den "deutschen Gedanken") und den NS-Rassismus ganz zu vergessen;

b) den deutschen Nationalismus insgesamt zu verniedlichen;

c) die expansive Eroberungs- und Vernichtungspolitik der Nazis unter der Mogelpackung des „Internationalismus“ in ihr Gegenteil umzudeuten, in dem Sinn, dass es den Nazis eigentlich um die Rettung der europaeischen Voelkerfamilie vor dem verheerenden Bolschewismus, also um die Behauptung der europaeischen Identitaet gegangen sei.

 Rohrmoser entwickelt  ab S. 164 seine apologetische Beweisfuehrung, Nietzsche sei „im Vergleich zu Marx der groessere und tiefere Denker gewesen“. Was wohl besagen will, dass Nietzsche ein besserer Mythenschmied als Marx war! Zentral sei Nietzsches Kulturbegriff und seine vorgebliche „Kulturkritik“. Indem Rohrmoser bemerkt, Nietzsche sei „ein grandioser Sophist gewesen“ (S.165), bestaetigt er, woher seine eigene Sophisterei herkommt.

Der „Volks“-Begriff und die darwinistische „Sauberkeit“

         Der Extremismus Nietzsches kommt auch in seinem totalitaer veranlagten Ruf nach kultureller „Einheit“ zum Ausdruck. Er verwirft die „Pluralitaet der Stile“, das „Chaos der Stile“ (S.166). Und dieses totalitaere Gebaren wird durch ein weiteres fingiertes Element der Vereinheitlichung, das „Volk“ potenziert, weil dieses laut Nietzsche das einzige kulturtragende Subjekt sei (Ebenda). Zwar versucht Rohrmoser, diesen Begriff des kulturtragenden Volkes auf die deutsche Aufklaerung zurueckzufuehren (S.167), er uebersieht aber, dass die deutsche Aufklaerung, wie die europaweite auch, weder den Begriff der Kultur, noch den des Volkes an einem einzigen „Volk“, naemlich am deutschen, festmacht, weil ihre Bemuehungen der europaeischen und weltweiten Pluralitaet der Voelker und Kulturen galt (Herder nennt seine Volksliedersammlung doch nicht von ungefaehr Stimmen der Voelker in Liedern!). Der totalitaere Extremismus, der exklusive Purismus des Kultur- und Volksverstaendnisses, das die extremistische Mythenkultur pflegt, ist eben der fatale Mythos, der im NS seinen traurigen Hoehepunkt erreichte.

         Es ist auffallend, dass Rohrmoser in diesem Zusammenhang auch ueber „Sauberkeit“ im Sinne einer „grossen Sauberkeitskultur“, welche die Deutschen hervorgebracht haetten, schreibt, diese aber nach „Blockwartmanier“ sich in skurrilem Nachbarschaftsalltag erschoepft wissen will (S.167). Wichtiger, und fuer die sachgerechte Erklaerung, fuer das „Verstehen“ und „Begreifen“ , das Rohrmoser sich doch so inbruenstig zum Ziel setzt, ist die Erkenntnis, dass auch der Reinheitsfimmel (= der Purismus) eine extremistische Erscheinung, ein Wesenszug totalitaerer Aeusserungsformen ist. Das haette Rohrmoser ansprechen muessen, diese Beziehung haette er herausstellen sollen, was er in seiner oberflaechlichen, ganz im Stil des extremistischen Mythendiskurses gehaltenen Argumentations- und Schreibweise geflissentlich unterlaesst.

         Die nihilistische Betrachtungsweise Nietzsches gipfelt in dem, was Rohrmoser das „dritte Element“ nennt, wo Nietzsche Begriffe wie „Barbarei“ und „Kulturzerfall“ einsetzt, die insgesamt der Ausdruck aufgeloester „Produktivitaet“ seien (S.167). Dieser ablehnend-arroganten Einstellung Nietzsches entsprechen die an David Friedrich Strauss festgemachten Stereotypen „Philisterkultur“ und „Philister“.

         Den Uebergang zum Extremismus und Totalitarismus der Naturwissenschaft, der in der extremistischen Mythenkultur eine zentrale Rolle spielt, also auch bei Nietzsche, moechte Rohrmoser ueber David Friedrich Strauss schaffen, der angeblich empfohlen haben soll, „die Welt so zu begreifen, wie der Darwinismus sie erklaert“ (S.169). Rohrmoser versucht, die darwinistischen, rassistisch-biologistischen Grundlagen der „Philosophie“ Nietzsches auf David Friedrich Strauss zurueckzufuehren. Dem darf entgegengestellt werden, dass Nietzsche zum Darwinismus auch ohne D.F. Strauss gefunden haette, weil diese Lehre in der zweiten Haelfte des 19. Jahrhunderts in aller Munde, sozusagen der Bestseller war, und zweitens die extremistische Radikalisierung hin zum biologistischen Rassismus eine Verfaelschung, eine Pervertierung des Darwinismus darstellt.

         Bei naeherer, aufmerksamer Betrachtung laesst sich feststellen, dass die bereits angesprochene Angst, die Empoerung, die Unzufriedenheit Nietzsches wie der extremistischen Mythenkultur insgesamt mit der buergerlichen Gesellschaft ihrer Zeit, ferner der Vorwurf Nietzsches, diese Gesellschaft fluechte sich in Humanismus, statt dem Staerkeren sein Recht zu verschaffen, den Schwaecheren zu unterdruecken – was eigentlich ein Pseudoargument ist, weil diese Unterdrueckung mit kapitalistischen Mitteln laengst Realitaet war -, eigentlich darauf zurueckzufuehren ist, dass die extremistische Mythenkultur die aus ihren extremistischen Grundlagen und Voraussetzungen erwachsende innere Widerspruechlichkeit und die sich daraus ergebenden inneren Konflikte, die sie zu zerreissen drohen, in einfacher, mechanischer Weise nach aussen, auf die ihr verhasste buergerliche Welt (Kultur) projiziert und in diese zu transpotieren versucht. Die Folge davon ist,

- dass man nicht bereit ist, die offensichtlichen, krassen Unzulaenglichkeiten der eigenen Psyche und der selbst entworfenen und verbreiteten Theorien extremistischen Inhalts und totalitaerer Zielrichtung zuzugeben;

- dass man von seiner eigenen Unfehlbarkeit ueberzeugt ist und Fehler nur bei anderen erkennt – allesamt Zuege eindeutigen Narzissmus [Selbstliebe, Selbsteingenommenheit, Selbstreferentialitaet].

Auf diese Weise konstruiert Nietzsche die Unzulaenglichkeiten der buergerlichen Gesellschaft, daher ruehrt es, dass Nietzsche einen Bruch zwischen „wissenschaftlichem Wirklichkeitsverstaendnis“ (gemeint ist das aus dem pervertierten Darwinismus hervorgegangene, konstruierte biologistisch-rassistische Wirklichkeitsverstaendnis) und der buergerlichen Ethik fingiert. Rohrmoser als Exponent extremistischer Mythenkultur laesst den fingierten „Bruch zwischen Wissenschaft und Ethik“, der „die moderne buergerliche Welt“ kennzeichnen soll, natuerlich uneingeschraenkt gelten. Weil es die Diskrepanz zwischen wissenschaftlicher (biologistisch-rassistischer) und ethischer Welt nun mal gibt, koennen die Buerger nichts anders als nur Heuchler sein und „schizophren“ leben (S.170). Dass hier die Sichtweise, nicht die angegriffene Realitaet schizophren sein koennte, das wuerde kein Mystiker extremistischen Kulturverstaendnisses zugeben, was gewiss auch Rohrmoser ganz fern liegt. Eines darf indessen sicher gelten: wir haben hier eine Hauptwurzel der extremistischen Mythenkultur, naemlich ihre schizophrenen Voraussetzungen und Grundlagen angesprochen.


Zurueck zu Vierte Folge
Next

Sechste Folge
Die Folgen werden woechentlich nachgereicht

Counter

Kritische Blaetter zur Geschichtsforschung und Ideologie



Datei: Rohrmoser5.html            Erstellt: 25.09.2002       Geaendert: 05.10.2003       Autor und © Klaus Popa


1