DEN NATIONALSOZIALISMUS VERSTEHEN UND BEGREIFEN

Guenter Rohrmoser: Philosoph, Propagandist oder Ideologe ?



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       Vierte Folge

Legitimierung des totalitären Extremismus


         Auch folgende Aussage kann nach einer Durchnahme von 157 Seiten Rohrmoser nicht verwundern:
 

Den Linken dagegen faellt es bis heute schwer, zu begreifen, dass man sich aus Verzweiflung ueber die Dekadenz zu faschistischen Ueberlegungen getrieben sehen kann.“
Diesen Passus fassen wir in dem Sinne auf, dass der Faschismus bzw. die, welche sich um den Faschismus sorgen (vgl. Rohrmosers Anmerkung 34, S.157) folgendes Legitimierungsmuster bedienen: Der Faschismus/NS entstand als Antwort auf die sogenannte „Dekadenz“ der buergerlichen Kultur und als Versuch, diese Dekadenz zu ueberwinden. Auf diese Weise erhaelt der Faschismus/NS ein positives Vorzeichen verpasst. Aber, und das ist bezeichnend, nicht nur der historische Faschismus/NS, sondern auch die politisch-kulturelle Option eines zukuenftigen faschistischen Projektes bekommt dieses Vorzeichen. Weil die heutigen Zustaende laut Rohrmoser eine Fortsetzung der Weimarer „Dekadenz“ sind.

        Dass diese Legitimierungsstrategie ebenso mythische Zuege traegt wie die Vorstellungen Nietzsches , der „Konservativen Revolution“ und des Faschismus/NS ueber die sogenannte „Dekadenz“, wurde schon dargelegt. Dieser Sachverhalt wird umso handgreiflicher, wenn wir den Faschismus/NS - ob den historischen oder den fuer die Zukunft ersehnten/in Aussicht gestellten -, samt dem Dekadenz-Mythos als Einzelbereiche ein und desselben Phaenomens, u.zw. der tatsaechlichen Dekadenz begreifen. Anders ausgedrueckt: Nietzsche, die „Konservative Revolution“ und der Faschismus/NS standen niemals auf Positionen der Verteidigung vor und der Abwehr von „Dekadenz“, sie waren keinesfalls als Reaktion auf die „Dekadenz“ der buergerlichen Kultur entstanden, sondern sie waren die Dekadenz schlechthin. Durch diese Richtigstellung und Neuzuordnung des ganzen Komplexes der extremistischen Mythenkultur werden auch seine Freund-Feind-Grundlagen greifbarer. Es besteht naemlich kein Zweifel mehr, dass dieser Komplex, ob in theoretischer oder in praktischer, gesellschaftlicher und kultureller Beziehung im Unterschied zum freiheitlich-christlich-humanistischen Kulturkomplex und Kulturverstaendnis seine Existenzberechtigung einbuesst, sobald er den Freund-Feind-Schematismus und alles, was sich daraus ableitet, wie z.B. die Schwarz-Weiss-Malerei, den Mythos des unversoehnlichen, auf Liquidation des Feindes hinzielenden Kampfes, den Mythos der Erneuerung usw. aufgeben wuerde. Auf diesen Grundlagen beruht und hieraus schoepft die extremistische Mythenkultur ihre Legitimation. Sie definiert sich immer als im Gegensatz zu, als im Kampf mit der freiheitlich-christlich-humanistischen Kultur befindlich. Was heisst, dass die extremistische Mythenkultur sich selbst die Zwaenge, wie den des Kampfes und des „Endsieges“ gegen den liberalistischen Feind auferlegt, was ihrem narzisstischen Zug durchaus entspricht. In philosophisch erweitertem Rahmen bedeutet das, dass die extremistische Mythenkultur niemals von aussen, von aeusseren Zwaengen her determiniert (=bestimmt) wird, dass sie also nicht objektiv vorgegeben, objektiv verankert, tatsaechlich ist - obzwar sie das alles felsenfest behaupptet, indem sie die Notwendigkeit ihrer Existenz immer wieder betont -, sondern, dass die Quelle ihres Determinismus in ihr selbst liegt. Anders ausgedrueckt: die extremistische Mythenkultur wird nicht von Umstaenden, von Tatsachen bestimmt, die ausserhalb ihrer selbst liegen, sondern sie bestimmt sich ausschliesslich selbst, von innen her. Worher des weiteren ihr gewollter, eingebildeter, fingierter, meistens ueberspannter Charakter herruehrt. Ebenso der Umstand, dass die extremistische Mythenkultur ein Feld unbegrenzter Beliebigkeit und Willkuer darstellt, das jedes, auch das verabscheuenswuerdigste Wort- und tatsaechliche Experiment ermoeglicht – siehe industriemaessiger Massenmord, Raumordnung und Raumplanung im eroberten Osten usw.

Die absolute Freiheit des „Geistes“ und des Spiels

         Diese Ueberlegungen stellen das wiederholte Argument Rohrmosers, die Wertwahl sei frei und jedem zugebilligt, weshalb „man nicht nur liberal sein kann“ (S.152) in ein neues Licht. Schien es doch zunaechst einfach ein Kunstgriff zu sein, womit Rohrmoser fuer seine eigene „philosophische“ Domaene und fuer seinen Anbetungsgegenstand, die extremistische Mythenkultur, damit nichts weiter einforderte, als die in der „dekadenten“ buergerlichen Kultur sowieso allgemein akzeptierte Freiheit, Werte frei zu waehlen. Nun stellt sich heraus, dass die nach den Grundsaetzen schrankenloser Beliebigkeit und Willkuer, d.h. entfesselter Subjektivitaet funktionierende extremistische Mythenkultur ihren Exponenten (Vertretern) von vornherein die Wertewahl gewaehrleistet, selbst die Definierung „neuer“ Werte, also das, was Rohrmoser „Neusetzen von Werten“, „Abwerten von Werten“ oder „Umwerten von Werten“ nennt und beim Faschismus/NS begruesst.

         Der „Geist“ geniesst in der extremistischen Mythenkultur voellige Freiheit, er kann denken, was er will, wobei ausser Acht gelassen wird, dass nicht alles, was denkenswert ist bzw. gedacht wird, dass nicht jedes „Neusetzen“, „Abwerten“ oder „Umwerten“ von Werten auch Werte hervorbringt. Das sollte bedacht werden.

         Wenn Nietzsche und in seiner Folge die „Konservative Revolution“ und schliesslich der NS diese Autonomie des Geistes, diese absolute Freiheit des Ab-, Auf-, Um- und Entwertens auf die bekannte Spitze trieben, so entspricht das einem Spieltrieb, der unsaeglich Folgen hatte und noch haben kann.

         Nach all dem Gesagten duerfte es einleuchten, dass die extremistische Mythenkultur ein Kunstprodukt ist in dem Sinne, dass eben alles in und an ihr durch den sich seine absolute Freiheit selbst verordnenden und verpassenden Geist erkuenstelt, also, in vulgaerem Sprachgebrauch, erstunken und erlogen ist. Als Ausdruck des spielerischen Triebes ist es der festgestellten Selbstbezogenheit, der Selbstzentriertheit und Selbstreferentialitaet der extremistischen Mythenkultur eigen, dem Spiel mit Ideen, mit Konstrukten, eben dem Spiel mit Mythen zu froenen. Und auch hier setzt sich der „Geist“ keinerlei Grenzen. Rohrmosers Diskurs folgt diesem Selbstverstaendnis des „Geistes“ ganz in Einklang mit seinem Idol Nietzsche.

         Ganz in der Kontinuitaet der Ausfuehrungen ueber den absoluten Freiheitszustand des „Geistes“, der sich im Rahmen der extremen Mythenkultur in gewagtesten Ideen und Konstruktionen austobt, steht Nietzsches Mythos vom „letzten Menschen“, der dem von Nietzsche fingierten letzten Gesellschaftsstadium der „Anarchie“ entsprechen und sich durch Rueckentwicklung hin zur blossen Beduerfnisbefriedigung auszeichnen soll (S.158). Hinter diesem nach schwarzer Utopie riechenden Zukunftsbild laesst sich ohne Schwierigkeit die Befuerchtung Nietzsches herauslesen, dass die gesellschaftliche und politische Entwicklung dorthin steuere, wo Typen wie seinesgleichen, die Schmiede und die Schmieden der modernen Mythen,samt der von ihnen geschaffenen extremistischen Mythenkultur die Existenzberechtigung entzogen wuerde. Es ist die Angst Nietzsches, dass es zu einer gesellschaftlichen Wende kommen koennte, in der die Art der geistigen Freiheit, wie sie die Mythenkultur gewaehrleistet, also die absolute Freiheit des Geistes, auch das Undenkbare zu denken, nicht mehr moeglich sein wuerde. Der drohenden Bastardisierung der Menschheit durch den „letzten Menschen“ stellt Nietzsche den Mythos des „Uebermenschen“ entgegen.

         Den gesamten Komplex um Nietzsche, die „Konservative Revolution“ und den Faschismus/Nationalsozialismus haben wir auch wegen seiner Grundtendenz, nur in Extremen zu denken, nur extrem gepolte Entwuerfe zu produzieren, wozu auch seine Vorliebe zur Uebertreibung (Hyperbolisierung) und Ueberbietung herruehrt, „extremistische Mythenkultur“ genannt. So wie die Begriffe des „letzten Menschen“ und des „Herrenmenschen“, so ist auch das apokalyptische Szenario des „Endes der Menschheit“, das durch den „letzten Menschen“ hervorgerufen werden koennte (S.159), ein extremer, ein extremistischer Mythos.



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Die Folgen werden woechentlich nachgereicht

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Kritische Blaetter zur Geschichtsforschung und Ideologie


Datei: Rohrmoser4.html            Erstellt: 19.09.2002       Geaendert:       Autor und © Klaus Popa


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