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Losgehen mit nichts

   ,Einen der reichsten Particuliere (Privatleute) des Landes‘ nennt Heinrich von Kleist in Briefen an die geliebte Schwester Ulrike frohlockend seinen Dresdner Gönner Carl Adolph von Carlowitz.  Dem verabschiedeten preußischen Offizier und hungernden deutschen Dichter mag der sächsische Edelmann noch reicher erschienen sein, als er vielleicht war, in gutem Wohlstand lebte er gewiß.  Nichts davon ist zunächst bei dem Neffen sichtbar.

   „Was noch aus mir wird, weiß der liebe Himmel“, heißt es in einem der New Yorker Briefe an die Familie, 4. Mai 1841.  „Ich habe mich in der letzten Zeit viel damit beschäftigt; lange wird es wohl nicht mehr dauern, ehe das Steuer festgestellt und ein bestimmter Lebenskurs verfolgt wird; sein Leben lang kann man sich doch nicht für fremde Leute aufopfern; man muß auch etwas für sich selbst tun.  —Aber!  Wenn man auch Mut hat, mit Wenig anzufangen, so gehört doch verteufelt viel Mut dazu, mit gar nichts loszugehen — So viel ich weiß, ist bloß einmal aus nichts eine Welt erschaffen!  Versuchen müssen wir‘s, wenn wir auch den Maßstab etwas verjüngen, nur bewahre der Himmel, daß er im Alter nicht zu jung wird!“

   Die Klagen über die eigene Armut begleiten den jungen Mann noch viele Jahre.  Die erste Seite eben der New Yorker Briefe gilt gewöhnlich dem Verdacht, der Schreiber bleibe ohne Briefe von zuhause, weil den guten Angehörigen allen das Porto, das ja allerdings ein Vielfaches unserer heutigen Weltpostvereinsgebühren betrug — es wurde erzählt, es habe für ein einziges Zeitungsblatt einmal über drei Taler ausgemacht —, eine zu hohe Ausgabe scheine.  Er ist dauernd bemüht, die Kosten für die aus- und eingehenden Briefe von New York her zu erledigen, und den Rest, der noch immer zuhause aufläuft, möglich auf alle Familienmitglieder zu verteilen, und offenbar ist das eine ganz ernsthafte Meinung und Sorge von ihm.  Er selbst mußte in Leipzig Schulden hinterlassen, als er nach New York ging, Schulden, die die Mutter großherzig regelte.  Als er dann erste Ersparnisse auf ein Leipziger Haus überwiesen hat, erlaubt sich der Zwillingsbruder Alfred sofort eine Anleihe darauf.  Noch der preußische Gesandte Graf Eulenburg fand 1861 die Verhältnisse nun schon des preußischen und sächsischen Konsuls in Canton etwas geniert, und wir werden uns darüber mit ihm noch auseinandersetzen müssen.

   Die Familie lebte eben von dem einen Gute Colmnitz.  Die Existens eines Gutsbesitzers, wenn er nicht ein sorgfältiger Wirt ist oder die Jahre besonders gut sind, ähnelt aber immer etwas der des Villenbesitzers:  am Schluß des Lebens entdeckt er, daß er für seine Verhältnisse zu teuer gewohnt hat; die Erben können den Besitz nur unter Entbehrungen halten, und für die jüngeren Söhne ist so wenig ein Erbe vorhanden wie beim Bauern mit einem Hof und vielen Söhnen.  Richard von Carlowitz sah nüchtern seine Lage, wie sie war.  Ein Verlangen nach persönlicher Unabhängigkeit und eignem Aufbau des Lebens kam hinzu.  Es wurde ihm schon in der sonst zärtlich geliebten Familie zu enge, wenn jeder Schritt nur unter vielen Augen geschehen konnte und eine Reise, die er ein paar Meilen weiter ausdehnte, als vorgesehen war, zu Auseinandersetzungen führte.  Unerträglich schien ihm der Staatsdienst, als der für ihn ja nur der sächsische mit den Verhältnissen eines Kleinstaates in Frage kommen konnte.  Endlich wünschte er — sollen wir sagen als Obersachse?  — die Welt zu sehen.

   Es mögen dies alles persönliche Gründe sein:  mit dem Entschluß zum Außen-, genauer zum Überseekaufmann, der bei Carlowitz von Anfang an das Ziel ist, gehört er einer neuen Zeit an, der Zeit des wieder erwachenden deutschen Überseehandels.  Sachsen hatte als Gewerbe- und Industrieland und mit einem Weltplatz wie Leipzig trotz seiner Binnenlage nie den Absatz über See außer Augen gelassen.  Jene Oberschönaer Punktation und der Mitteldeutsche Handelsverein der beiden Oheime Richards hatte ausgesprochen den Zweck gehabt, sächsischen Erzeugnissen den Weg nach Übersee über Bremen offen zu halten.  Der Entschluß Richards von Carlowitz fiel schon in die Zeit des Preußisch-Deutschen Zollvereins; das von diesem ausgehende neue Leben mag ihn mitbestimmt haben.  Der Zollverein und die mit ihm verbundenen Fragen füllten ständig die Spalten der Presse.  Noch uns begeistert seine Gründung.  Sollte sie nicht auch auf einen suchenden Jüngling ihrer eigenen Zeit starken Einfluß haben üben können?

   Richard von Carlowitz besuchte die Leipziger Handelsschule und lernte das Gröbste von dem, was ein Kaufmann in jenen Tagen wissen sollte.  Sicher lernte er hier auch die saubere, peinlich genaue Kaufmannsschrift, die er nun sein Leben lang schrieb.  Es genügt, neben einen seiner vielen und langen, vom Anfang bis zum Ende in der Schrift nicht nachgebenden Briefe auf dünnem blauem Überseepapier Scheiben seines Zwillingsbruders Alfred an ihn zu legen, die dieser selbst allerdings auch nur Wische nennen kann, um zu wissen, was Richard gelernt hat.  Von der Handelsschule trat Carlowitz dann in das Haus Carl und Gustav Harkort in Leipzig ein.

   Haben die Carlowitz den Hanus Karlowicz ze Riczendorff von 1396, so können die Harkorts auf einen ‚Joannes de Harcuria‘ verweisen, den eine Urkunde vom 28. November 1373 nennt; es ist wahrscheinlich, daß mit Harcuria ihr Harkurten in Westfalen gemeint ist.  Ministerialen, Ritter, waren sie nicht, aber ‚stuhlfreie‘ Bauern und werden als solche schon 1486 ausdrücklich genannt.  Sie haben frühe neben die Landwirtschaft die Erzeugung von Eisen gestellt, wurden Reidemeister, „wo jemand auf seine Rechnung durch besoldete Arbeiter fabrizieren läßt“, wie eine alte Erläuterung von Reidemeister sich ausdrückt.  Entsprechend der Zeit mußten sie den Rohstahl oder die Sensen, die sich bei ihnen sammelten, selber in der Welt abzusetzen suchen.  Zusammen mit Schinken, Speck, Butter und Honig machten sie sich mit ihnen auf die Reise.  Bald hatten sie ihr Stapel in Lübeck und bezogen von dort im Austausch für ihre Waren Tran, Stockfische, Heringe, Leinsaat, Limburger Käse und Franzwein.  Monatlich im Durchschnitt drei bis vier Fuhren haben sie schon 1729/30 von Westfalen nach Lübeck unterwegs; die bloßen Frachtkosten betragen 130 Reichstaler.  Sie haben Kunden, denen sie gelegentlich einen ganzen Hirsch von 285 Pfund, ein Hirschkalb von 60 Pfund mitbesorgen.  1731 zählen sie 182 auswärtige Kunden, die in Lübeck, Kiel, Magdeburg, Berlin, aber auch in Riga, Mitau, Stockholm, Malmö und Kopenhagen sitzen.  Sie gewähren ihnen zwölf oder neun Monate Ziel, und als Kopenhagen von einem großen Brand zerstört wird, gewähren sie dem einen 100, dem andern 45 Taler Nachlaß an ihrer Forderung.  1784 sind es bereits 529 auswärtige Kunden geworden, und das Hauptbuch verzeichnet Geschäfte wie die Lieferung von 6300 Sensen nach Petersburg, für die 117 Pud Borsteln (Schweinsborsten) zurückkamen.  Das Haus hat das Geldgeschäft aufgenommen und hat mehrere tausend Taler zu guten Zinsen ausgeliehen.  Um die Wende des Jahrhunderts dehnt sich der Absatz auf Italien, Frankreich und Spanien aus.  Eine Branntweinbrennerei in fünf Stockwerken, eine Tabaksmühle, eine große Lederfabrik gehören mit zum Betrieb.

Längst ist Harkorten ein Fideikommiß geworden.  Die jüngeren Söhne gehen auch hier in die Welt.  Carl und Gustav Harkort waren mit Friedrich jüngere Söhne von Johann Caspar Harkort, 1753 bis 1818, auf Harkorten.  Friedrich Harkort blieb in Westfalen und begründete, 26 Jahre alt, mit dem Elberfelder Kaufmann Heinrich Kamp zusammen eine ‚Mechanische Werkstätte‘ auf Burg Wetter an der Ruhr, die als erste deutsche Maschinenfabrik die Wiege unsrer rheinisch-westfälischen Industrie wurde.  1822 konnte die Preußische Staatszeitung sie beloben, weil sie eine Dampfmaschine zu 20 Pferdekräften baute; 1825 baute sie solche zu 120 PS.  Mit englischen Mitarbeitern hatte Friedrich Harkort beginnen müssen.  „Ich habe verschiedene sozusagen vom Galgen herunterschneiden müssen“, meinte er später, „nur um überhaupt welche zu bekommen.“  Aber eine deutsche Maschinenfabrik und damit deutsche Maschinenfacharbeiter gab es eben vor der ‚Mechanischen Werkstätte‘ nicht.  Harkort ließ einen mechanischen Webstuhl aus England kommen und baute nach ihm mechanische Webstühle für die Wuppertaler Webereien.  Er war unermüdlich als Industrieller, und er drängte auf Belebung des Verkehrs.  Als erster in der deutschen Öffentlichkeit rief er, schon 1825, nach einer Eisenbahn und begründete 1828 die erste deutsche Eisenbahnaktiengesellschaft.  1832 legte er den „Plan des Terrains der Eisenbahn von Köln nach Minden und deren Seitenverbindungen“ vor; es ist nicht seine Schuld, wenn ihr Bau erst zehn Jahre später angefangen wurde.  Er errichtete eine Schiffsmaschinenfabrik in Duisburg am Rhein.  Während bisher Schiffsmaschinen für Dampfer aus England bezogen werden mußten, lag am 24. Januar 1836 sein Dampfer ‚Friedrich Wilhelm‘ mit deutscher Maschine in Duisburg zur Abfahrt bereit und bestand unter persönlicher Führung Harkorts die gefahren- und abenteuerreiche Winterreise über die Zuydersee nach der Wesermündung und die Weser hinauf zum Besteller nach Minden.  Harkort baute flußseeschiffe und hoffte auf einen regelmäßigen Frachtenverkehr Köln—London; aber die Kölner Kaufleute boten ihm als einzige Fracht eine Ladung Pflastersteine.  Auf dem Rhein wollte er eine Dampfschleppfahrt mit Matthias Stinnes zusammen einrichten; er scheiterte am Widerspruch des sonst wohlmeinenden Oberpräsidenten, der Sorge um die nach seiner Meinung dann arbeitslosen Pferdeknechte auf den Treidelwegen am Ufer hatte.  Harkort trat für öffentliche Banken ein, hatte praktische Ratschläge für die Landwirtschaft und saß im Landtag als aufrechter Volksmann, gleich unabhängig gegenüber dem König wie gegenüber den Wählern.  Immer bemüht um den gemeinen Nutzen, war er unbedenklich bei Rückschlägen, die ihn persönlich trafen.

   Carl und Gustav Harkort, die 1820 ein Haus in Leipzig aufsetzten, beschränkten sich auf das Kaufmännische, Carl und Gustav Harkort, Englische Garne, heißt eine frühe Bezeichnung des Hauses.  Am Mittelpunkt des deutschen Innenhandels und vielleicht unter dem Einfluß sächsischer Vorsicht, waren sie vom geschäftlichen Erfolg mehr begünstigt als ihr um Verdienen immer wenig besorgter Bruder Friedrich.  Sie streckten ihm aus ihren Leipziger Gewinnen die nötigen Mittel vor, die Schiffsmaschinenfabrik in Duisburg zu errichten, als er 1832 wegen der ausgebliebenen Gewinne unter großen Verpflichtungen aus der Mechanischen Werkstätte ausschied.  Frühe zählte ihr Haus zu den führenden Handelshäusern des Platzes.  Vor allem Gustav, 1795—1865, wurde ein Führer der Leipziger und sächsischen Wirtschaft.  Er hat die Allgemeine Deutsche Kreditanstalt, die führende sächsische Kreditbank, begründet und lange Jahre geleitet, wie er mit seinem Haus schon bei der Gründung der Leipziger Bank, der ersten sächsischen Bank, beteiligt war.  Die Zwickauer Kohlenindustrie ist sein Werk.  In die deutsche Geschichte ging er ein, weil er die Anregung Friedrich Lists, Leipzig mit Dresden durch eine Bahn zu verbinden, zur Ausführung brachte und den Bau zwar nicht der allerersten, so doch der ersten längeren deutschen Eisenbahn besorgte.  Von Friedrich List her kann ihm der Vorwurf gemacht werden, daß er an die Spitze des Unternehmens trat, also auf den Platz, den List selbst vielleicht hätte beanspruchen können.  Es bliebt die Frage, ob List den Geldgebern das Vertrauen eingeflößt hätte, daß er sich auf das Mögliche beschränken, nicht immer neue Pläne beginnen werde.  Hartkort faßte von Anfang seine Aufgabe an der Spitze des Unternehmens und das Unternehmen selbst nicht als „abgeschlossene Angelegenheit einer Stadt, einer Provinz oder eines Landes, nein, als gemeinsame Angelegenheit des gesamten deutschen Vaterlandes“ auf.

   Die Eisenbahn wurde gerade in den Jahren gebaut, als Carlowitz als junger Handlungsdiener in das Haus eintrat.  Am 10. Mai 1835 war bei der Ostermesse in wenigen Stunden das Kapital von mehr als einer Million Taler gezeichnet worden.  1837 konnten die Leipziger bereits bis zum Dorf Althen zwei Stunden vor der Stadt zum Kaffee fahren.  Juli 1838 erreichte die Bahn Wurzen, im November Riesa.  Am 7. April 1839 konnte das sächsische Königspaar die vollendete Linie durch einen Frühstücksbesuch in Leipzig eröffnen.

   Nur der Staat scheint uns heute der Bauherr, der über genügend Mittel und Kräfte für ein solches Unternehmen verfügt.  Gustav Harkort mußte die Aufgabe gewissermaßen im Nebenamt, nämlich neben der Führung seines eigenen Hauses, leisten.  Und er hat ein Menschenalter als Direktor seine Leipzig-Dresdner Eisenbahnkompanie geführt, ohne sein eigenes Haus darüber zu vernachlässigen oder die zahlreichen sonst im Leben ihm zugewachsenen Aufgaben.  Der junge Edelmann aus sächsischem Geschlecht, der Kaufmann werden wollte, konnte kaum einen besseren Lehrmeister finden als diesen Westfalen, der auch in Sachsen nach dem Spruch seiner Heimat lebte: Vierecken Stein, wie er auch fällt, sich immer auf ein Seiten stellt.

   Die Vermutung läge nahe, Carlowitz habe den Weg zu dem angesehenen Handelshaus über einen seiner Onkel Minister gefunden.  Aber das Leben braucht nicht immer Empfehlungen, noch ein Kaufmann Gnaden:  die Handelsschule besuchte auch ein Sohn Friedrich Harkorts aus Harkorten, und mit ihm freundete sich Carlowitz an.  So hat er dessen Onkel in Leipzig kennen gelernt; er ist aber auch nach Harkorten eingeladen worden und hat so zum sächsischen Handel und Gewerbe auch die westfälische Industrie aus der Nähe sehen dürfen.

   Bewährte sich Richard von Carlowitz im Haus Harkort?  Es spricht dafür, daß das Haus ihn immer wieder mit neuen Aufgaben betraut, auch wenn er schon aus seinem Dienst ausgeschieden scheint.  Und auch das größte Handelshaus kann darin nichts verschenken.  Es war wohl schon eine ihm von Gustav Harkort gestellte Vertrauensaufgabe, daß er von 1839 auf 1840 als Oberkontrolleur in der Verwaltung der Leipzig-Dresdner Bahn tätig war.  Es war ein Posten, der eine Zukunft verhieß.  Carlowitz konnte hoffen, einmal an der Spitze des sächsischen Eisenbahnwesens zu stehen.  Er blieb aber trotzdem seinem ursprünglichen Entschluß treu, Kaufmann, nicht Verwaltungsbeamter zu werden.  Harkort mußte dem Rechnung tragen.

 
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