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Mitgift des Geschlechtes

   Ihre Exzellenz Frau Wirkliche Geheimrat Charlotte von Carlowitz, geborene von Maxen, blickte voll Zärtlichkeit auf den Enkel vor ihr.

   „Alles Glück, Alfred!  Du studierst Rechte.  Meine müden Augen werden es ja nicht mehr sehen.  Aber meine Wünsche darf ich dir mitgeben.  Werde Minister wie dein Großvater es war!  Das waren schönere Zeiten in unserem armen Sachsen.“

   Ihre Augen gingen nach dem Bild des Toten an der Wand.  Der Herr Konferenzminister sah auf ihm etwas zerstreut in die Welt.  Seine vielen Dienstgeschäfte, als Wirklicher Appellationsgerichts-präsident, als Mitglied des Geheimen Consiliums, als Direktor der Gesetzkommission, hatten ihn immer stark in Atem gehalten.  Es ließ sich nicht leugnen:  er hatte darüber nicht Zeit gefunden, oder es war ihm unwichtig geworden, die eigenen Angelegenheiten mit dem gebührenden Nachdruck zu betreiben.  Die Nachkommen mußten es büßen.  Seit seinem Tode, 1806, vor nunmehr dreißig Jahren, war so manches seiner Güter, auch das große Haus in Dresden, in fremde Hand übergegangen.  Maximilian, der einzige Sohn, Rittmeister, Kammerherr und Obersteuereinnehmer im Meißner Kreis, hatte sie bei den vielen Verpflichtungen, die vom Vater her darauf ruhten, in den schlechten Zeiten nicht halten können.  Maximilian selbst war mit 51 Jahren viel zu früh für seine zahlreiche Kinderschar vor drei Jahren auch gestorben.  Sogar der Älteste, Viktor, der Leutnant, wäre unversorgt dagestanden, wenn er nicht die Zinsen des Stösitzer Fideikommiß-kapitals gehabt hätte.  Die Töchter waren ja nun glücklich untergebracht, Adele als Hofdame der Königin Marie und Clementine als Frau von Münchhausen.  Aber hatte nicht die Mutter, die gute Marianne, sich auf Colmnitz sehr einschränken müssen, Aussteuer und Mitgift herauszuwirtschaften?  Für die drei übrigen Söhne, Hermann und die beiden Zwillinge, Richard und Alfred, gab es wirklich nur die Beamtenlaufbahn oder eine glückliche Heirat.  Aber zu einer solchen mußten sie immer vorher selber etwas darstellen.

   „Minister wie Herr Onkel Hans Georg hier oder Herr Onkel Christoph Anton in Altenburg“, murrte Richard, der Erstgeborene von den beiden Zwillingen vor sich hin.  „Unter Minister oder Gesandter gilt kein Carlowitz, wenn es nicht ein preußischer Gouverneur und Generalleutnant wie Herr Onkel Carl Adolph in Breslau ist.  Die andern sieht keiner.“

   Er knuffte den Bruder leise in den Rücken.  Die Post wartete nicht, und sie hatten noch manches vorher zu besorgen.

   „Und Monsieur Richard hat andere Entschlüsse?“, fragte die Großmutter, die jetzt ihm die Hand zum Kuß gereicht hatte.

   „Mit der gütigen Erlaubnis von grand’maman, ich werde die Handelsschule in Leipzig besuchen.“

   „In welches Amt soll das führen?  Gibt es nicht Kameralwissenschaften?“

   „Mit Erlaubnis von grand’maman, ich denke nicht an ein Amt.  Ich will Kaufmann werden.“

   „Fi donc, Dütchenkrämer!“

   Sie ließ seine Hand fahren, die sie gestreichelt hatte.

   Richard richtete sich auf.

   „Grand’maman müßten die Güte haben, in dem Kaufmann nicht nur zu sehen, wer Kaffee und Schnupftabak in Düten wiegt oder den Jungfern Seidenbänder abschneidet.  Ich will ein Kaufmann werden, der Schiffe belädt.  Sollen wir in Deutschland ewig hinter dem Ofen hocken bleiben und zusehen, wie andere Völker groß und reich werden?  Der Kaufmann muß Deutschland in die Welt führen.  Der Herr nordamerikanische Konsul List sagte in Leipzig…“

   „Der Friedrich List ist als Demagoge verurteilt und nach dem Asperg gebracht worden, als er eben hätte anfangen sollen, gescheit zu sein, Mich wundert, daß ihn die Regierung je in Leipzig zugelassen hat.  Aber, mir scheint, meine Enkel fangen an, die Sprache der Demagogen zu lernen.  Deutschland?  Einstweilen brauchen wir immer noch Sachsen.“

   „Ich kann auch als Kaufmann unserem sächsischen König dienen.“

   „Als Dütchenkrämer?  Nein, es paßt mir nicht.“  Sie schob mit Nachdruck die Tasse Schokolade vor sich auf die Seite.  Jeder soll in dem Stand bleiben, in den er geboren wurde.  Aber helfe er sich!

   Sie waren entlassen.

   Die Mutter begütigte vor der Türe.

   „Ganz verstehe ich dich auch nicht, Dick.  Keiner deiner Brüder ist auf solche Gedanken gekommen.  Wenn es dir nur gut ausgeht!“

   „Warum soll es mir nicht gut ausgehen, Mama?  Ich bin ja ein Carlowitz.  Und gäben sich Onkel Hans Georg und Christoph Anton solche Mühe mit dem Kaufmannsstand, wenn er nicht der erste im Staat wäre?  Wenn ich ein reicher Kaufmann geworden bin, wird die ganze Familie mich loben.  Einen ganzen Kasten Seidenkleider werde ich dir noch anbringen.“

   „Ach, Dick!“

   Sie wehrte seine Umarmung ab.  Grand’maman mit ihren über achtzig Jahren durfte nach dem Ärger nicht zu lange allein gelassen werden.

   Uralt ist das Geschlecht der Carlowitz in Sachsen.  Schon 1396 wird in einer im Archiv zu Dresden aufbewahrten Urkunde ein Hanus Karlowicz ze Riczendorff genannt.  Riczendorff, das ist Reitzendorff am Porsberg nordöstlich von Pillnitz, kaum ein paar Stunden vor Dresden.  Hanus Karlowicz stand in Diensten der Burggrafen zu Dohna.  Die böhmische Kanzlei der Grafen mag aus einem deutschen Karlsdorf einen verwelschten Karlowicz gemacht haben, indem sie für das deutsche Dorf den lateinischen Vicus (Weiler, Ort) setzte.  Der deutschen Art der Carlowitz tat sie damit keinen Abbruch.  Als die Herrlichkeit der Dohna 1402 in der Doninschen Fehde blutig unterging, wurden die Carlowitz, von denen nach dem Kampf nicht mehr viele über waren, Lehensleute der Markgrafen von Meißen.

   Die Markgrafen von Meißen wurden im Laufe der Jahrhunderte Herzöge und Kurfürsten von Sachsen, und immer hatten sie Carlowitze in ihren Diensten.  Deutsche Schulkinder lernen den Namen des Herzogs Moritz von Sachsen.  Er war ein Schwiegersohn des Landgrafen Philipp von Hessen, Philipp von Hessen wiederum war mit dem damaligen sächsischen Kurfürsten Johann Friedrich dem Gutmütigen zusammen das Haupt des Schmalkaldner Bundes, der Vereinigung der evangelischen Reichsstände.  Trotz seines Schwiegervaters und obwohl er wie dieser evangelisch war, trat Moritz zu Kaiser Karl V. über, als dieser den Schmalkaldnern als Aufrührern den Krieg erklärte.  Jetzt besiegte der Kaiser den Bund.  Moritz aber und mit ihm die albertinische Linie des Hauses Wettin (Meißen) wurden nun in die sächsische Kurwürde und die sächsischen Kurlande eingesetzt und stiegen mit der Zeit zu Königen auf.  Die ernestinischen Wettiner, die bislang in Wittenberg als Kurfürsten residiert hatten, wurden auf die thüringischen Herzogtümer beschränkt.  Als Kurfürst machte Moritz noch einmal eine unerwartete Wendung.  Allzustark schien ihm plötzlich die kaiserliche Gewalt geworden.  Er fürchtete auch, der siegreiche Kaiser könne mit dem evangelischen Bekenntnis aufräumen wollen.  In raschem Entschluß schlug er low und scheuchte den Kaiser von Innsbruck auf, daß er bis über die Alpen floh.  Dann begannen Verhandlungen.  Der Vertrag von Passau und der berühmte Augsburger Religionsfriede folgten.  Deutschland gewann so zuletzt durch Moritz den vorläufigen Frieden unter den Bekenntnissen; es bezahlte allerdings dafür mit Metz, Toul und Verdun; denn Moritz spielte diese drei Grenzbistümer dem französischen König in die Hände, der ihm Rückhalt gegen den Kaiser geboten hatte.  Die Schüler hören von Moritz mit Lust und Grausen zugleich.  Die Gelehrten aber sagen uns:  der Berater des Herzogs oder Kurfürsten auf seinen nicht immer leichten politischen Wegen war Christoph von Carlowitz, 1502—1578.  Und ein Carlowitz kann hinzufügen:  Kaiser Karl V., glücklich über die wiederhergestellte Ruhe in deutschen Landen, erhob Christoph von Carlowitz, der beim Passauer Vertrag das meiste getan hatte, zum Erbvierritter des Heiligen Römischen Reiches.  Die Carlowitz teilten diese Ehre in den Jahrhunderten im ganzen Reich nur mit drei Familien, den Andlau, den Frauenberg und den Weißenbach.

   Wenn ihn der große Christoph oder sein Großvater von Vaters Seite, der Konferenzminister, nicht anspornten, hatte der junge Richard von Carlowitz drei Onkel vor sich, die es zu Namen und Rang gebracht hatten.  Carl Adolph, Hans Georg und Christoph Anton von Carlowitz, alle drei Stiefbrüder seiner Mutter.  Denn auch von Mutters Seite ist er ein Carlowitz.  Wir hätten Lust, das Leben aller drei Onkel zu erzählen.  Denn es ist schön zu wissen, daß Carl Adolph ein Freund Heinrichs von Kleist war, ja den Dichter während seines Dresdner Aufenthaltes kaufmännisch gesprochen finanziert hat und gewissermaßen Pate bei den vier großen Werken stand, die Kleists Dresdner Aufenthalt bezeichnen, Michael Kohlhaas, Penthesilea, Käthchen von Heilbronn, Hermannsschlacht, oder daß Hans Georg ein Freund eines andern großen deutschen Dichters, des Grafen Friedrich Hardenberg-Novalis, war, der mit ihm den geheimen Todesbund geschlossen hatte, den Willen zum Tode als Krönung des Lebens.  Als Novalis in den Tod versank, sah er im Freund den Erben und Vollender aller seiner Gedanken über Staat und Deutschheit.  Carl Adolph hatte als sächsischer Major im napoleonhörigen Sachsen den Auftrag bekommen, ein Jägerkorps aufzustellen.  Er wollte seinen König und sein Land 1813 zum Kampf gegen den Fremden mitreißen, aber die Schlacht bei Bautzen zwang den sächsischen König an die Seite des Korsen zurück.  Carl Adolph blieb bei den Preußen und war mit Niebuhr der Gehilfe Steins beim Abschluß der Bündnisse mit England und Österreich, die Napoleons Schicksal entschieden.  Für die Verbündeten stellte er den Banner freiwilliger Sachsen auf.  Er wurde nach dem Krieg als preußischer General Vizegouverneur von Mainz, dann Gouverneur von Breslau; als solcher starb er 1837.  Hans Georg blieb im verkleinerten Sachsen, war 1821—1827 sächsischer Gesandter beim Bundestag in Frankfurt, wurde in den Geheimen Rat nach Dresden zurückberufen und bekam den Auftrag, die erste sächsische Verfassung auszuarbeiten.  Er war kein Liberaler und sah in der Verleihung der Verfassung, 1831, das Leichenfest des Standes, dem er angehörte.  Trotzdem berief ihn sein König zum Innen-, dann Kultus- und Unterrichtminister im neuen Staat.  Er blieb Minister bis zu seinem Tode, 1840.  Christoph Anton endlich wurde von seinem König herzog Ernst I. von Sachsen-Koburg-Gotha vorgeschlagen, als dieser ihn um einen Beamten bat, der sein durch Schulden und innere Unruhen zerrüttetes Land wiederaufrichte.  Er hat als oberster koburgischer Minister das Entscheidende tun können, zwei Prinzen des koburgischen Zweiges des Hauses Wettin auf europäische Königsthrone zu setzen, Ferdinand als Gemahl Marias II. in Lissabon und Leopold I. in Brüssel und einen dritten, Albert, zum Prinzgemahl der Königin Viktoria von England zu erheben.  Wenige Wochen vor der von ihm so geförderten Vermählung der beiden starb er 1840.

   Diese drei hochgestiegenen Carlowitz sind wie die Mutter Richards, Marianne, Kinder von Hans Carl August von Carlowitz.  Wir müssen erzählen, wie dieser sein Glück bergründete.  Denn einzelne Züge seines Wesens, sächsische Arbeitslust und sächsische Nüchternheit, scheinen uns im Enkel wiederzukehren.  Hans Carl August besuchte als armer junger Leutnant eine Tante, die reiche Herrin von Großhartmannsdorf.  Er fand sie bei der Arbeit in der Käserei.  Ohne viele Worte tat er seine reich bestickte und bebänderte Uniform ab, legte sie auf einen Stuhl und stellte sich in Hemd und Leinenunterhosen neben die Tante an die Käse.  Bei Tisch konnten ihn seine beiden Vettern, die Söhne der Tante, über die Weiberarbeit und die ängstlich behütete kostbare Uniform nicht genug necken.  Aber nach Jahr und Tag wählten sie, ohne Kinder geblieben, unter vielen Vettern ihn aus, ihm ihren reichen Besitz als Erbe anzutragen.  Nur eine Bedingung stellten sie:  sie wünschten, daß der Besitz ein Majorat wurde.  Hans Carl August griff zu und wurde Majoratsherr auf Großhartmannsdorf und von der Stadt Liebstadt.

   Jene drei Onkel waren Kinder aus Hans Carl Augusts erster, mit zehn Kindern gesegneter Ehe.  Richards Mutter Marianne war das erste Kind aus seiner zweiten Ehe mit Christiane von Carlowitz.  Fäden liefen das ganze Leben zwischen den Kindern beider Ehen.  Mariannes Bruder von Vater und Mutter, Job, begleitete so den Stiefbruder Carl Adolph im Banner freiwilliger Sachsen 1814 nach Paris.  So liegt es nicht vom Wege, auch von einem wirtschaftlichen Versuch Hans Georgs und Christoph Antons bei der Lebensgeschichte ihres Neffen Richard, des Kaufmanns, zu reden.  Hans Georg und Christoph Anton begründeten in der Oberschönaer Punktation den ‚Mitteldeutschen Handelsverein‘.  Sie wurde auf Hans Georgs Schloß Oberschöna am 26. März 1828 von Sachsen, Sachsen-Koburg-Gotha und Sachsen-Weimar unterzeichnet.  Dieser Mitteldeutsche Handelsverein war ein Zollbund Sachsens und der sächsisch-thüringischen Länder, der auch weitere mitteldeutsche Länder an sich zu ziehen hoffte, aber mit dem Austritt Kurhessens, 1831, das Beste von seiner Stoßkraft verlor.  Heinrich von Treitschke, der aus einem Sachsen ein Preuße wurde, hat in seiner ‚Deutschen Geschichte‘ aus der Stimmung von 1866 die schärfsten Urteile über die Gründung gefällt:  „So wurde denn ein hochgefährliches Unternehmen gegen Deutschlands Handelseinheit in aller Stille eingefädelt, harmlos gemütlich wie eine Carlowitzsche Familienangelegenheit … Die Träger dieser Politik waren zwei Gebrüder Carlowitz, aus einem der ehrenwertesten Häuser des obersächsischen Adels.  Der ältre, kgl. Sächsischer Minister, war bis zum vorigen Jahr noch Bundestagsgesandter gewesen und stand in der Eschenheimer Gasse in lebhaftem Andenken als ein wohlmeinender Geschäftsmann der alten Schule, ein pedantischer Vertreter der bekannten kursächsischen Formelseligkeit.  Der jüngere, jetzt Minister in Gotha, hatte alle die unausrottbaren Vorurteile des kursächsischen Adels mit aus der Heimat hinübergenommen.“  Der Mitteldeutsche Handelsverein ist Treitschke „eine der bösartigsten und unnatürlichsten Verschwörungen gegen das Vaterland, gleich dem Rheinbund ein Zeugnis, wessen das deutsche Kleinfürstentum fähig war.“

   Wir sehen heute die Zeitgebundenheit auch der preußischen Politik deutlicher.  Es ist uns schon kaum mehr eine Frage, ob Preußen in den Jahren unmittelbar nach 1813, auch mit seinem gerne zum Beweis angeführten Zollgesetz von 1818, das die Zollgrenzen Preußens an seine äußeren Grenzen verlegte, wirklich schon die wirtschaftliche Einheit der deutschen Lande vor Augen hatte, oder ob es nicht mit dem Recht des Stärkeren im wirtschaftlichen Wettbewerb seine doch ebenso deutschen Nachbarn durch das Gesetz von innen her auszuhöhlen suchte.  In diesem zweiten Fall aber war ein Mann wie Hans Georg, der die sächsischen Wirtschaftsnöte, Nöte eines auf die Hälfte zurückgeschnittenen Landes, täglich vor Augen hatte, berechtigt und verpflichtet, für Sachsen zu sorgen, sächsischem Gewerbe die Bedingungen zu schaffen, vor allem indem er ihm Absatzwege offenhielt, unter denen es hinter dem preußischen Wettbewerb nicht zurückblieb.  Der Mitteldeutsche Handelsverein wurde von seinen Gründern ohne großes Bedauern aufgegeben, als der Preußisch-Deutsche Zollverein den Zusammenschluß bot, der auch den Kleineren Leben und Entfaltung offen ließ.  Die sächsische Industrie hat im Zollverein und weiter im Reich bis auf unsere Tage ihren Wert für das gesamte Deutschland bewiesen; vielleicht hat ihr gerade der Mitteldeutsche Handelsverein den Schutz gewährt, auf den sie angewiesen war, um sich so zu entwickeln, daß sie als gleichberechtigter Partner in den neuen Verein eintreten konnte.  Treitschkes Zorn über Hans Georg verliert sein Recht vor dessen Sohn Albert, der den ihm lieben sächsischen Staatsdienst, in dem er Justizminister geworden war, März 1850 aufgab, weil er einen engeren Auschluß Sachsens an Preußen nicht durchsetzen konnte.  Er hat sich dann in den Preußischen Landtiag wählen lassen, hier aber im Grunde nur einmal das Wort ergriffen, um mit der größten Schärfe sich gegen den Frankfurter Bundestag zu wenden; er war also in der Verurteilung der Eschenheimer Gasse mit Treitschke völlig einig.  Sobald er im Norddeutschen Bund den Anfang einer von Preußen kräftig geführten deutschen Einheit gesichert sah, schied er dankbar aus der Politik aus, um sich ganz seinen geliebten wissenschaftlichen Studien zu widmen.  In gewissem Sinn hat Richard von Carlowitz das Werk seiner beiden Oheime wieder aufgenommen:  sein Auszug nach China sollte vor allem der heimischen sächsischen Industrie ein fruchtbares Absatzgebiet erschließen.

   An den drei Onkeln wird deutlich, was Richard von Carlowitz als Mitgift des Geschlechtes in sein Leben bekam:  trotzige Liebe zu Sachsen, das aber als Glied eines kommenden ‚deutchen Vereins‘ aufgefaßt wurde, Fleiß zu großen Aufgaben, Blick für die Welt und Verständnis für wirtschaftliche Fragen, Ablehnung aller Gleichmacherei und Achtung vor Gewachsenem, im privaten Leben Neigung zu Wissenschaft und Kunst und dazu Glauben an sich selbst.

   Minister, Gesandte, Generäle, Kammerherren, Hofmarschälle und Präsidenten von Ämtern oder Herren auf großen Gütern und Führer des Adels in den ständischen Vertretungen waren die Carlowitz im alten Sachsen gewesen und blieben es auch im 19. Jahrhundert.  Der Weltkrieg von 1914 sah noch einen Carlowitz als sächsischen Kriegsminister und Oberbefehlshaber der neunten, dann zweiten Armee.  Richards Geschwister gingen ähnliche Wege.  Viktor, der älteste Bruder, unabhängig als Fideikommißerbe und durch eine Heirat, wechselte vom Offizier in den diplomatischen Dienst hinüber; er starb in jungen Jahren als Legationsrat.  Hermann, nach ihm Fideikommißerbe, studierte Kameralwissenschaften und übernahm von der Mutter das Familiengut Colmnitz.  Alfred, Richards Zwillingsbruder, studierte Rechte, wurde Amtshauptmann zu Rochlitz und Polizeidirektor in Dresden.  Er erhielt dazu die Pfründe als Domkapitular, dann Domdekan zu Meißen.  Mußte grand-maman nicht erstaunen wenn ein Enkel so gute, sichere Aussichten verschmähte?

   Das großmütterliche Entsetzen hat Richard von Carlowitz nie vergessen.  Als gemachter Mann schrieb er noch unter dem 23. Mai 1846 aus Canton nach Hause:  „Ich besinne mich recht gut, wie chère grand’maman bei dem Handkuß beinahe aus der Haut gefahren wäre, als ich nach ihrer Ansicht Dütchenkrämer werden wollte, und mit den Ansichten einer Hofdame hat es wohl lange nicht harmonieren können, daß jemand den Stand erwählte, — der ihm am schnellsten seinen Lebensunterhalt, die ausgebreitetste Bildung und die größte Unabhängigkeit sichert; und was habe ich von anderen Leuten mir nicht sagen lassen müssen, Leuten, die, wenn sie es weit gebracht haben, jetzt 300 Reichstaler Gehalt haben und dafür sich hinterm Pulte und Aktentische krank und elend arbeiten müssen!“

   Fast scheint es, als fürchte er, die Familie halte ihn noch immer für aus der Art geschlagen.  Er hält ihr immer wieder vor Augen, was er erreicht hat, und Amt und Titel eines kaufmännischen Konsuls, die er schon von frühe anstrebt, sind ihm so begehrenswert, auch wenn sie nichts einbringen sollten, weil sie „in der Geschlechtstafel dem Kind einen Namen geben“ und er bei einer Rückkehr in die Heimat den vielen, mit Ämtern und Titeln reich geschmückten übrigen Familienmitgliedern nicht so bemitleidenswert nackt und unausgezeichnet entgegentreten wird.

   Was aber trieb ihn denn in den kaufmännischen Beruf?

 
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