Hugues Aufray

Adieu, monsieur le professeur (Audio)

Les enfants font une farandol'*,
et le vieux maîtr' est tout ému
Demain il va quitter sa chèr' écol'
Sur cett' estrad' il ne montera plus.

(Refrain :)
Adieu, monsieur le professeur !
On ne vous oubliera jamais
Et, tout au fond de notre cœur,**
ces mots sont écrits à la craie
Nous vous offrons ces quelques fleurs
pour dir' combien on vous aimait
On ne vous oubliera jamais
Adieu, monsieur le professeur*** !

Une larm' est tombée sur sa main
Seul dans la classe il s'est assis
Il en a vu défiler des gamins
qu'il a aimés tout au long de sa vie.

Refrain

De beaux prix sont remis aux élèves
Tous les discours sont terminés
Sous le préau l'assistance se lèv'
Une dernièr' fois les enfants vont chanter :

Refrain (bis)


*Wer sein "Wissen" nur von Wikiblödia und ähnlich seriösen "Quellen" bezieht, wird hier stutzen, denn dort steht: "Südfranzösischer Tanz im 6/8-Takt" - und daß das kein 6/8-Takt ist, hört selbst ein ansonsten völlig unmusikalischer Mensch sofort, so er denn bis 6 zählen kann. Aber diese Definition ist, vorsichtig ausgedrückt, überholt. F. ist heute - und war auch schon 1968, als dieses Lied erschien, jeder Ringelreih'n, den Kinder tanzen; und das geht nunmal in jedem anderen Takt leichter als ausgerechnet im 6/8-Takt ;-)
**Das halte ich schlicht für falsch. Man kann zwar im Deutschen sagen: "Im Grunde unseres Herzens"; aber auf Französisch muß es heißen: "Im Grunde unserer Herzen"; allerdings würde "de nos cœurs" die Zeile silbenmäßig nicht ausfüllen.
***Diese Anrede gebührt eigentlich nur Lehrern an höheren Schulen, und hier ist ganz eindeutig ein Volksschullehrer gemeint. H.A. kam ja - aus Gründen, über die ich auf der Hauptseite geschrieben habe - nicht über das 1. Schuljahr hinaus, ist also nie von einem "professeur" unterrichtet worden; aber da ich bei der deutschen Coverversion nur etwas über meine Volksschullehrer[innen] geschrieben habe -, will ich hier auch etwas über meine Lehrer[innen] an der Oberschule schreiben. Das Meiste habe ich vergessen oder erfolgreich verdrängt, mit Ausnahme der letzten paar Wochen - die ein Horror waren, den man sein Lebtag nicht vergißt - und des ersten Schultags, den ich freilich nicht ganz aus dem eigenen Gedächtnis, sondern mit fremder Hilfe rekonstruiert habe, und das kam so:
Eines Tages - ich weiß nicht mehr genau, wann und wo - lief mir eine ältere Frau über den Weg, die mir zwar irgendwie bekannt vorkam, die ich aber nicht richtig einordnen konnte. Also zog ich den Hut, sagte höflich "Guten Tag" und wollte weitergehen; doch das ließ sie nicht zu: "Guten Tag, Hansi! Ich darf Sie doch noch so nennen, oder? Wie ist es Ihnen denn ergangen? Erzählen Sie mal!" Mit diesen Worten zog sie mich auf die nächste Bank. (Früher gab es auf Deutschlands Straßen noch Bäume und Bänke, dort wo heute Parkplätze und Parkuhren sind.) Es war mir ziemlich peinlich, daß ich einer Frau, die zwar mich zu kennen schien, die aber ich nicht [er]kannte, meine Lebensgeschichte erzählen sollte; also machte ich es so kurz wie möglich. "Wie schade! Ich hatte immer gehofft, Sie würden Mathematik studieren und der FDP beitreten." Ich starrte sie entgeistert an: Das mußte meine erste Mathematik- und Klassenlehrerin auf dem Gymnasium sein. [Ich hatte sie nicht wiedererkannt, weil zu unseren jährlichen Klassentreffen nur Lehrkräfte eingeladen wurden, die wir in Oberprima hatten - und auch von denen nicht alle -, und zu denen hatte sie nicht gezählt.] Ja, war die denn noch bei Trost? Die beiden letzten Dinge, die ich im Leben getan hätte, waren Mathematik zu studieren und einer politischen Partei beizutreten! "Sie müssen mich verwechseln, Frau Doktor." Auf diese Anrede hatte sie immer größten Wert gelegt. Sie war die einzige promovierte Frau an der Schule, worauf sie sehr stolz war, und Alle respektierten das, sogar diejenigen ihrer männlichen Kollegen, die selber einen Dr.-Grad hatten - obwohl Promovierte einander ja sonst nicht andoktern. ["Einander" trifft es auch nicht ganz, denn sie selber redete alle Kollegen - einschließlich der promovierten - nur mit "Herr + Nachname" an. Dennoch wurde sie auch in ihrer Abwesenheit allgemein "die Frau Doktor" genannt; nur ein frecher junger Referendar nannte sie hinter ihrem Rücken "die Lilo" - nicht, weil sie so geheißen hätte, sondern weil er fand, daß sie Ähnlichkeit mit der damals sehr populären Schauspielerin Lilo Pulver hatte. Er fiel übrigens mit einem glatten "ungenügend" in Mathematik durch's 2. Staatsexamen, obwohl ich nicht den Eindruck hatte, daß die Frau Doktor es darauf angelegt hätte, ihn in die Pfanne zu hauen; dies festzuhalten ist mir wichtig, vor allem im Hinblick auf das, was ich weiter unten schreiben werde.] "Aber Hansi, wie könnte ich Sie verwechseln! Ich werde nie den Tag Ihrer Einschulung vergessen und Ihr enttäuschtes Gesicht, als sie erfuhren, daß Sie eine Klassenlehrerin bekommen würden, keinen Klassenlehrer, wie die Parallelklassen."
[Wir hatten in Sexta 3 Parallelklassen à 40 Schüler; das schien viel, aber es wurde knallhart "gesiebt"; in Quarta waren wir noch ungefähr die Hälfte, und genau 8 - acht -, mich eingeschlossen, kamen "ungeschoren" bis zum Abitur durch. Davon müßte man eigentlich noch einen abziehen, der normalerweise nichtmal den Volksschulabschluß geschafft hätte; aber sein Onkel war ein hohes Tier im Düsseldorfer Kultusministerium; kein Lehrer hätte gewagt, ihm ein Mangelhaft oder gar ein Ungenügend zu geben. Ein einziges Mangelhaft reichte damals zum Sitzenbleiben, wenn man keinen "Ausgleich", d.h. mindestens ein Befriedigend in einem "wissenschaftlichen" Fach hatte. Und A. hatte keinen; er hatte immer nur Vieren auf dem Zeugnis, übrigens auch in den "nicht-wissenschaftlichen" Fächern, denn er konnte keinen Ball werfen oder fangen, keine Note lesen oder singen und kein Mondgesicht zeichnen oder malen. Damals mußte, wer zum zweitenmal sitzenblieb, die Schule verlassen und wurde auch von keinem anderen Gymnasium in Deutschland mehr aufgenommen - und wer konnte sich schon ein teures Privatinternat in der Schweiz leisten? Mein Vater hätte mich sofort vom Gymnasium genommen, wenn ich nur einmal sitzengeblieben wäre - das hatte er wiederholt gesagt, und damit war es ihm ernst.
Nachtrag auf ungläubige Anfragen: 1. Die "8" bezog sich nur auf unsere Klasse; aus den beiden Parallelklassen kamen weitere 7 hinzu, insgesamt waren wir also 15! 2. Es war nicht so, daß wir am Ende nur noch 8 Schüler in der Klasse gewesen wären, denn es kamen ja "von oben" immer wieder welche nach. 3. Nicht alle Fluktuationen kamen von oben oder gingen nach unten. Damals war die Gesellschaft noch mobiler als heute - es klebte nicht jeder an seinem Arbeitplatz. Schüler, deren Väter anderswo Karriere machen wollten, wechselten halt in eine andere Stadt - und umgekehrt. Ich erinnere mich noch an einen gewissen U. - den Schüler mit den meisten Klassenbucheintragungen in der Geschichte unseres Gymnasiums. Er wurde nämlich täglich als "fehlend" eingetragen, weil sich sein Wechsel zu uns um zwei Schuljahre verzögerte; aber angemeldet ist angemeldet - also mußte seine Abwesenheit täglich auf's Neue festgehalten werden. Er blieb nur ein Jahr, danach zog seine Familie wieder weg. Ich weiß nur noch, daß er ausweislich seines Namens Jude war, aber überhaupt nicht "jüdisch" aussah. Der einzige Jude, den wir sonst noch in der Klasse hatten - er war in der Mittelstufe "von oben" gekommen -, sah dagegen genau so aus (darüber konnte auch sein "urdeutscher" Rufname nicht hinwegtäuschen): Schwarze Schmalzlöckchen, piekfeine Anzüge, Nichtschwimmer, mit niemandem Freund, mit niemandem Feind - außer mit dem jeweiligen Englischlehrer, denn mit der Sprache stand er auf Kriegsfuß. (Aber Mädäm schenkte auch ihm zuguterletzt ein Ausreichend - dazu unten mehr -, so daß er problemlos durch's Abitur kam ;-)]
Das hatte ich völlig vergessen, aber jetzt erinnerte ich mich wieder - mit Schaudern: Das war ihr damals aufgefallen und bis jetzt nicht entfallen? Und sie hatte nicht nur die Enttäuschung in meinem Gesicht gelesen - was wohl kein so großes Kunststück war, Kinderaugen lügen nicht -, sondern sie auch noch richtig interpretiert?! [Ich hatte zu niemandem darüber gesprochen, auch nicht zu meinen Eltern.] Hatte sie vielleicht in anderen Jungengesichtern (wir waren eine reine Jungenschule, wie das damals üblich war) das Gleiche gelesen, und war sie deshalb uns gegenüber immer so betont maskulin und "herrisch" aufgetreten? Ob sie wohl auch jetzt in meinem Gesicht las - und was? Ich schwieg verdattert. "Was ich vorhin sagte mögen Sie für abwegig halten; aber das ist es garnicht. Wissen Sie, man hat mich immer nur Unterstufe unterrichten lassen; offenbar traute man einer Frau nicht zu, jungen Männern höhere Mathematik beizubringen; dabei hätte ich das bestimmt besser gekonnt als Herr J. oder Herr von S., die Sie dann in Mittel- und Oberstufe unterrichteten." [Auch die Beiden waren promoviert. Aber Dr. J. pflegte zu sagen: "Für meinen Dr.-Titel bekomme ich keinen Pfennig mehr Gehalt, den könnt Ihr Euch sparen." Und Herrn Dr. von S. waren sein Adelprädikat und seine Dienststellung viel wichtiger als so ein akademischer Grad, den Jeder haben konnte; dazu gleich mehr.] "Ich bin überzeugt," fuhr Frau Doktor fort, "wenn ich Sie bis Oberprima unterrichtet hätte, dann hätten Sie Mathematik studiert. Und wenn Leute wie Sie der FDP beigetreten wären, dann wäre das heute noch eine angesehene national-liberale Partei, nicht so eine profillose Chaotentruppe, zu der sie heute verkommen ist, und die niemand mehr ernst nimmt."
[Frau Doktor hatte nach dem Krieg die Berliner FDP - noch unter anderem Namen - mitgegründet und den Aufstand vom 17. Juni 1953 mitorganisiert. Das erzählte sie uns ganz freimütig zu einer Zeit, als in Westdeutschland amtlicherseits noch das Märchen verbreitet wurde, das sei ein "ganz spontaner Arbeiteraufstand" der Ossis gewesen, mit dem der Westen nicht das Geringste zu tun hatte. Manche behaupten das ja immer noch - und einige glauben es sogar! -, obwohl die Fakten eindeutig dagegen sprechen: Die vielzitierte Erhöhung der Arbeitsnormen vom Mai 1953 hatte das SED-Regime noch vor deren geplantem Inkrafttreten zurückgenommen - übrigens auf Druck aus Moskau - und den Untertanen auch sonst erhebliche Erleichterungen gewährt. Warum waren die bis dahin friedlich Streikenden dann, statt nach Hause bzw. wieder an die Arbeit zu gehen, ganz im Gegenteil auf die Straßen gezogen und hatten Krawall gemacht? Irgendwo las ich mal die interessante These, daß Aufstände und Revolutionen nie dann ausbrechen, wenn eine Diktatur besonders hart ist, sondern vielmehr, wenn sie die Zügel schleifen läßt, weil ihr das als Zeichen von Schwäche ausgelegt wird und einige Drahtzieher hinter den Kulissen dann glauben, daß sie ihr eigenes Süppchen kochen und selber an die Macht gelangen können, wenn sie das blöde Volk (engl. "sheeple", aus "sheep" und "people" ;-) nur genügend aufhetzen. Angesichts der vielen gut belegten Beispiele seit der französischen Revolution von 1789 halte ich das für garnicht so abwegig... Wie dem auch sei, nach Scheitern des Aufstands wurde Frau Doktor der Boden in Berlin zu heiß, und sie ging ins Rheinland.]
Ich wußte nicht, ob ich lachen oder weinen sollte, machte wohl ein ziemlich dummes Gesicht und sagte nur: "Jawohl, Frau Doktor!" - "Hansi, Sie waren zu lange beim Militär," sagte sie und setzte zum Abschied ihr säuerliches Lächeln auf, das mich nicht an Lilo Pulver, sondern an eine Mischung aus Eva Pflug und Ruth-Maria Kubitschek erinnerte. Sie starb kurz vor Vollendung ihres 100. Lebensjahres als Ehrenvorsitzende des örtlichen Skatvereins; und ich bin sicher, daß sie auch darauf bannig stolz war, denn das war ja eigentlich ein Spiel für Männer; und sie genoß es bestimmt sehr, denen regelmäßig ihr überlegenes Gedächtnis und Rechengenie zu demonstrieren.
[Nachtrag. Da fällt mir noch etwas ein, das ich nicht in eine Fußnote verbannen will, denn 1. soll Frau Doktor nicht zu gut wegkommen - sie war alles Andere als eine harmlose alte frühe Emanze, die gut rechnen und kartenspielen konnte -, und 2. habe ich etwas von ihr für's Leben gelernt, nämlich, was Demokratie ist. (Uns das beizubringen war eines ihrer erklärten Ziele, und es ist ihr auch gelungen - nicht nur bei mir.) Als unsere Klassenlehrerin hatte sie das Recht - so sagte sie jedenfalls -, jede Woche eine sogenannte "Ordinariatsstunde" abzuhalten. Auf dem Stundenplan standen 4 Stunden Deutsch und 3 Stunden Mathematik. "Aber Deutsch könnt Ihr ja alle schon," meinte sie, "Mathematik ist viel wichtiger!" Also zwackte sie die "Ordinariatsstunde" vom Deutschunterricht ab und... wandelte sie in eine Mathematikstunde um. Die tatsächliche Ordinariatsstunde nahm sie aus den verbliebenen 3 Deutschstunden - im Klassenbuch stand dann hinterher immer "Diktat". Das sah so aus, daß sie uns "erzieherische" Briefe an die Eltern diktierte, die wir dann von diesen unterschrieben wieder mitbringen mußten. Nein, es stand nicht drin: "Wirken Sie darauf hin, daß Ihre Kinder später Mathematik studieren und der FDP beitreten," aber manche waren nahe dran. Ich erinnere mich noch an einen Brief über das Schwänzen der Schulmesse. Frau Doktor selber war völlig unreligiös, aber "der Besuch der Schulmesse ist Bestandteil der Schulpflicht, jedenfalls solange der Schüler nicht vom Religionsunterricht abgemeldet ist." Was mit solchen Briefen erreicht wurde? Ist doch klar: Daß sich nach Vollendung des 14. Lebensjahres viele Schüler vom Religionsunterricht abmeldeten. Das war schade, denn der hatte - anders als noch zu Volksschulzeiten - ein gutes Niveau, auch und gerade im Vergleich mit dem Unterrichtsniveau in anderen Fächern. Natürlich gab es keine Bibelkritik - damit meine ich nicht Kritisieren der Bibel, sondern die Teildisziplin, die heute im Theologiestudium eine wichtige Rolle spielt, aber die setzt ja Kenntnisse in Griechisch und Hebräisch voraus, die wir nicht hatten -; doch im Lehrbuch "Kirchengeschichte" stand z.B. Einiges, was im "normalen" Geschichtsbuch nicht stand; und unsere Lehrer behandelten auch Themen, die heute unter "Sozialkunde" laufen (oder laufen sollten). Für mich kam eine Abmeldung ohnehin nicht in Frage, denn das hätte mir meine Mutter - die auf eine merkwürdige Weise religiös war, aber das tut hier nichts zur Sache - sehr verübelt. Sie nahm solche Briefe anfangs immer wörtlich. (Mein Vater dagegen kontrollierte sie bloß auf Rechtschreibungs- und Zeichensetzungsfehler meinerseits ;-) "Hast Du etwa die Schulmesse geschwänzt?" fragte sie entsetzt. "Nein, das hat die Frau Doktor uns Alle schreiben lassen, weil mal zwei Leute gefehlt haben, und von denen war einer noch krank." (Das häßliche, von Juden erfundene Wort "Kollektivschuld" kannte ich noch nicht.) Um das aufzuklären, ging meine Mutter zum Elternsprechtag. Als sie zurückkam, meinte sie nur lakonisch: "Deine Frau Doktor spinnt ja." Seitdem unterschrieb sie die "Diktatbriefe" ungelesen. (Mein Vater überprüfte sie indes weiterhin auf Fehler ;-)
Nun war die "Ordinariatsstunde" mit dem 10-15-minütigen Diktat ja noch nicht vorbei; und den Rest der Zeit nutzte die Frau Doktor, um uns gewissermaßen "spielerisch" beizubringen, wie "Demokratie" geht. In der Sache ging es durchweg um belanglose Dinge, z.B. ob für die Fensterbank im Klassenzimmer aus der Klassenkasse ein Blumentopf gekauft werden sollte, wenn ja, was für Blumen hinein sollten usw.
(...)
Eine Ausnahme machte sie übrigens: Ihre Entscheidung, eine Deutsch- in eine Mathematikstunde umzuwandeln, stellte sie nicht zur Wahl. Sie wußte wohl, daß sie da 100 Jahre lang hätte diskutieren, abstimmen, auszählen und manipulieren können - das Ergebnis wäre immer 40:0 gegen ihren eigenmächtigen Beschluß ausgefallen.
Nachtrag: Was machte Frau Dr. denn sonst, wenn sie mit ihren Wahlmanipulationen nicht zum Erfolg kam? Auch dazu fällt mir im Nachhinein noch etwas ein: In Quinta hatten wir einen Mitschüler namens S. Sein Vater war am Generalkonsulat einer gerade erst unabhängig gewordenen Ex-Kolonie Frankreichs beschäftigt. (Damals stellte sich noch niemand die Frage, ob es sich eine Negerrepublik, die fast ausschließlich von - überwiegend deutscher - Entwicklungshilfe lebte, unbedingt leisten mußte, ein solches zu unterhalten, da doch ca. 25 km südlich in Bonn eine Botschaft mit Konsular-Abteilung bestand.) In einem Anfall früher gutmenschlicher Gesinnung hatten wir ihn fast einstimmig zum Klassensprecher gewählt. (Ich auch ;-) Warum? Wahrscheinlich aus Gedankenlosigkeit: Niemand wußte, wozu ein Klassensprecher gut sein sollte was die Aufgaben, Rechte und Pflichten eines Klassensprechers waren - also warum nicht den kleinen Mohrenkopf wählen? Frau Dr. war zutiefst empört, ließ es sich aber kaum anmerken und machte zunächst gute Miene zum bösen Spiel. Doch schon wenige Tage später erwischte sie S. dabei, daß er seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte und erklärte daraufhin: "Dann kannst du nicht länger Klassensprecher sein, du bist hiermit abgesetzt." Einer meiner Mitschüler hatte immerhin den Mut zu fragen: "Aber Frau Dr., warum kann S. nicht länger Klassensprecher sein, bloß weil er mal seine Hausaufgaben nicht gemacht hat?" - "Weil das ein Charakterfehler ist." - "Vielleicht war er krank oder hatte sie vergessen?" - "Dann hätte er sich vor Unterrichtsbeginn melden und sagen müssen: 'Frau Dr., ich konnte meine Hausaufgaben nicht machen'. Und natürlich hätte er einen Grund dafür angeben müssen." Frau Dr. sorgte auch dafür, daß S. uns am Ende des Schuljahrs verließ, indem sie ihm ein Mangelhaft in Deutsch gab. (Dabei waren seine Deutschkenntnisse garnicht so schlecht für jemanden, der noch nicht so lange im Lande lebte; aber den damaligen Ansprüchen an einen Gymnasiasten genügten sie natürlich nicht.) Damals gab es noch die Regel, daß man, wenn man im Fach Deutsch nicht mindesten "ausrechend" war, sitzenblieb, egal wie gut man in alle anderen Fächern war. (Eine an sich sehr vernünftige Regel, die man schleunigst wieder einführen sollte ;-) Seine Eltern nahmen ihn daraufhin von der Schule; ich habe ihn nie wiedergesehen.
Solange Frau Dr. unsere Klassenlehrerin blieb, haben wir keinen Klassensprecher mehr gewählt, weil niemand mehr kandidieren wollte; und einfach nach dem "Führerprinzip" einen ernennen wollte Frau Dr. denn doch nicht. (Wen wir später gewählt haben, nachdem wir sie los geworden waren? "Uns Uwe" - unseren besten Fußballspieler; damals waren nicht nur gebürtige Hamburger Fans von Uwe Seeler ;-)
Soviel zu meinen ersten Erlebnissen mit "Demokratie" und "Wahlen". Damals glaubten wir in unserer Naivität noch, das hätte etwas damit zu tun, daß Frau Dr. eine "Liberale" war - worunter wir uns freilich ebensowenig Genaueres vorstellen konnten wie unter einem "Klassensprecher". Wie dem auch sei, ich glaube nicht, daß Einer von uns je im Leben FDP gewählt hat.
Halt, auch hier muß ich eine Ausnahme machen: A., den erklärten Lieblingsschüler von Frau Doktor - nicht obwohl, sondern weil er so dumm und leicht zu manipulieren war. Hätte sie ihm gesagt: "Spring aus dem Fenster, das ist gut für die Demokratie!", dann wäre er aus dem Fenster gesprungen. Hätte sie ihm gesagt: "Wähle FDP, das ist gut für die Demokratie!", dann hätte er FDP gewählt. Und hätte sie ihm gesagt: "Studiere Mathematik, das ist gut für die Demokratie!", dann hätte er... nein, so weit wäre es wohl doch nicht gekommen, denn er konnte ja nichtmal größere Zahlen richtig addieren und subtrahieren, geschweige denn multiplizieren und dividieren - ich glaube, er beherrschte nichtmal das kleine 1x1. Er studierte ein halbes Semester Jura, dann gab er auf. (Man hat mir die Szene, wie ihn ein Professor vor versammeltem Hörsaal lächerlich gemacht hat, geschildert; aber ich gebe sie hier nicht wieder, da ich sie nur aus 3. Hand habe, mich also für ihre Richtigkeit nicht verbürgen kann. Sie machte jedoch noch lange die Runde und war wirklich sehr lustig ;-)]
Nun sind oben zwei Namen gefallen. Über Herrn J. will ich hier nichts schreiben, denn ich schäme mich. Im Rückblick halte ich ihn fachlich und menschlich für unseren besten Lehrer überhaupt, und wir haben ihm Alle bitter Unrecht getan, Schüler, Eltern und Kollegen - wie ja auch die Frau Doktor, sonst hätte sie ihn nicht in einem Atemzug mit Herrn von S. genannt.
Über letzteren kann man dagegen garnicht genug Negatives schreiben. Aber zunächst mal das Positive:

(Für Alle, die das nicht richtig verstanden haben sollten: Das war eine Leerzeile!)
Nun der Rest: Herr von S. war unser dienstältester Studiendirektor; und da unser etatmäßiger Direktor schon länger krankgeschrieben war, hatte man ihn zum kommissarischen Schulleiter bestellt. Er ließ sich denn auch mit "Herr Direktor" anreden - auch von den anderen Lehrkräften, die er selber etwas herablassend mit "Kollege + Nachname" anredete, nie mit "Herr Kollege" oder "Herr + Nachname" - mit Frauen redete er überhaupt nicht, denen ließ er von männlichen Kollegen ausrichten, was er ihnen zu sagen hatte. Uns redete er mit "Schüler + Nachname" an, so wie man beim Militär jemanden mit "Schütze Arsch" anredet. Sein Fach war wie gesagt Mathematik, und eine typische Unterrichtsstunde sah ungefähr so aus: Er kam herein, ließ sich das Klassenbuch vorlegen, studierte, wer fehlte oder zu spät gekommen war und fragte hochnotpeinlichst nach, warum und wieso. Wenn er selber die 1. Stunde hatte, wartete er so lange, bis Alle vollzählig waren oder vollständige telephonische Krankmeldungen vorlagen und trug unterdessen mit sichtlichem Genuß jede Verspätung auf die Minute genau ein. Dann begann er, die Tafel mit mathematischen Formeln zu füllen und dazu irgendwelche Erläuterungen abzugeben, aus denen kaum jemand schlau wurde, Alles im Schweinsgalopp, denn er mußte die verlorene Zeit ja wieder aufholen. Wenn es zum Stundenende klingelte, war er dennoch nie fertig, meist auch dann noch nicht, wenn es zum Beginn der nächsten Stunde läutete; Kollegen, die hereinkamen, um ihren Unterricht zu beginnen, verwies er barsch des Klassenzimmers. Dann murkste er weiter an der Tafel herum, bis er am Ende einsehen mußte, daß die Gleichung mal wieder nicht aufgegangen war. Dann meldete sich regelmäßig aus der letzten Reihe K.-W.: "Der Fehler lag schon in der 1. Zeile; Sie hätten garnicht weiterzumachen brauchen." - "Warum haben Sie das nicht gleich gesagt, verdammt nochmal?" K.-W. pflegte dann unschuldig zu lächeln und zu sagen: "Ich hatte mich ja gemeldet, aber Sie hatten das wohl übersehen; und im Unterricht zu sprechen oder Sie zu unterbrechen, ist ja verboten." Niemand wußte, ob das stimmte oder ob K.-W. nur bluffte: Ob sich jemand in der letzten Reihe meldete, sahen wir in den vorderen Reihen ja nicht; und Herr von S. stand die meiste Zeit mit dem Rücken zur Klasse an der Tafel, die er immer mehrmals vollschrieb; was vorher war, wischte er aus, das Mitschreiben hatten wir längst aufgegeben, und das Mitdenken erst recht.
[Ehrlich gesagt kenne ich heute nichtmal mehr den Unterschied zwischen Integralrechnung und Infinitesimalrechnung; und ich weigere mich auch, das nachzuschlagen; ich will es einfach nicht mehr wissen. Ich erinnere mich nur noch, daß es etwas mit dem Versuch eines bekloppten Juden namens Isaak Neustädter zu tun hatte, die "Unendlichkeit" zu "berechnen", und dem eines Schweizer Uhus... Aber lassen wir das, sonst müßte ich auch etwas über die Juden Freud, Einstein - nach dem wir unseren Physiklehrer "Zweistein" nannten, obwohl der eher dem Komiker Klaus Havenstein ähnelte - und Chomsky schreiben; wobei man den letzten Dreien ja zugutehalten muß, daß sie im Alter ihre spinnerten Theorien allesamt über Bord warfen - stillschweigend aufgaben, modifizierten oder relativierten. Das wissen freilich nur die Wenigsten, weil es an unseren VerblödungsBildungsanstalten krampfhaft verschwiegen wird. Ich erinnere mich auch noch, daß einer meiner Mitschüler mal sagte: "Wenn ich das Volumen eines Körpers wissen will, egal wie unregelmäßig er sein mag, dann fülle ich ihn einfach mit Wasser und gieße das dann in einen Meßbehälter. Das geht ratzfatz, und das Ergebnis ist garantiert immer richtig. Unser Herr Direktor füllt statt dessen die Tafel mit lauter mathematischen Formeln, um das theoretisch zu berechnen. Das dauert Stunden, und das Ergebnis ist garantiert meist falsch. Warum quält er sich und uns mit solchen überflüssigen Fisematenten?" Jener Mitschüler mag, "wissenschaftlich" gesehen, kein großes Licht gewesen sein, aber er verfügte über viel gesunden Menschenverstand und war praktisch begabt: Er konnte ein Radio reparieren, ein Moped "schneller machen", und er gründete später als Einziger von uns eine ordentliche Familie, mit einer Frau und 5 gemeinsamen Kindern. Ich finde, daß das eine 5 in Mathe allemal "ausgleicht" - oder?]
Herr von S. starrte K.-W. dann immer wütend an; er haßte ihn von ganzem Herzen - de tout son cœur. Ich erinnere mich noch an eine Wahl zum Schülersprecher, bei der K.-W. kandidierte. Herr von S. stellte alle Kandidaten über die zentrale Lautsprechanlage vor, ausnahmsweise sogar mit Vor- und Nachnamen. Zum Schluß sagte er: "Ach ja, und dann ist da noch K.-W. [...], aber so eine Schlafmütze kann man unmöglich wählen. Der macht im Unterricht nie den Mund auf, wie soll er da Sprecher werden?!" Die meisten seiner Mitschüler, die den Hintergrund kannten, wählten ihn trotzdem; aber DDR - der dumme Rest - aus den anderen Klassen ließ sich abschrecken und wählte E., der die Wahl indes nicht annahm. Er begründete das (wenngleich nicht offiziell - dazu war er nicht verpflichtet -, sondern nur hinter vorgehaltener Hand) wie folgt: "Ich will nicht durch Manipulation und Wahlbetrug Schülersprecher werden, schon garnicht, wenn der Betrüger von S. heißt."
[Dem wurde das trotzdem von irgendeinem Petzer zugetragen, und er rächte sich mit einem Mangelhaft in Mathe für E. Wir haben nie herausbekommen, wer das Kameradenschwein war. Ich hätte auf den kleinen, dicken, dummen W. getippt, der auch mich mal bei Herrn von S. verpetzt hatte, und zwar vor versammelter Klasse: "Herr Direktor, der Hammer hat gesagt, Mathematik sei ein ganz unpraktisches Fach. Er könnte im Schach Sie und alle anderen Mathematiklehrer dieser Schule auf einmal schlagen, mit verbundenen Augen!" (Er meinte "simultan blind" ;-) Ich reagierte einigermaßen schlagfertig, leugnete nicht etwa, sondern sagte frech: "Was ich jederzeit bereit bin, unter Beweis zu stellen." Herr von S. runzelte eine Weile irritiert die Stirn, dann sagte er ebenso schlagfertig: "Das ist durchaus möglich, aber das ist mir Wurst." (Er sagte nicht etwa "Wurscht", wie es sonst im Rheinland üblich war, sondern "Wurßt" ;-) Dann wandte er sich wieder seinen Klassenbucheintragungen zu. Aber W. kann es nicht gewesen sein, denn der hatte uns im Zeitpunkt jener Schülersprecherwahl bereits "freiwillig" mit "Mittlerer Reife" verlassen. (Warum ich das in Anführungsstriche setze, erkläre ich hier in der letzten Fußnote.)]
Es kam die schriftliche Reifeprüfung. Ich hatte gleich mehrere schwarze Tage erwischt, das wußte ich; aber die Gewißheit, wie schwarz, bekam ich erst, als die Ergebnisse offiziell verkündet wurden. Das geschah - wie die Bekanntgabe der Vornoten - vor versammelter Klasse, normalerweise durch den Klassenlehrer; aber in diesem speziellen Fall machte der "Herr Direktor" von seinem Recht Gebrauch, sie uns persönlich unter die Nase zu reiben. "Ich hatte ja gleich den Eindruck, daß die meisten von Ihnen viel zu gut vorbenotet waren. Wer meint, daß dieser Eindruck falsch ist und seine Vornoten auf dem Reifezeugnis wiederfinden will, kann sich ja zur mündlichen Prüfung melden." Er grinste höhnisch. "Schüler Hammer, Sie haben die schlechteste Arbeit im Fach Mathematik abgeliefert. Ich erwarte Sie morgen früh pünktlich um 8 Uhr in meinem Büro. Sie, Schüler [...] erwarte ich pünktlich um 8 Uhr 15, Sie, Schüler [...]" Und so weiter. Am Ende stolzierte er hocherhobenen Hauptes hinaus. Einen Augenblick herrschte Totenstille im Raum, dann großes Geschrei, und schließlich schlichen wir Alle mit hängenden Köpfen nach Hause. "Is' was?" fragte meine Mutter. "Nein, ich kann jetzt nichts essen," sagte ich mit Galgenhumor, "jedenfalls keine Nudeln. Könntest Du mir bitte einen kleinen Wurstsalat machen?" [Den bekam ich immer herunter: ein paar Scheiben Einfachwurst mit Knoblauch, Zwiebeln, Paprika, Essig und Öl.] Als mein Vater abends nach Hause kam, merkte auch er gleich, daß etwas nicht stimmte. "Ist etwas mit der Schule?" fragte er, während wir gemeinsam die aufgebratenen Nudeln aßen, "ist etwa Dein Abitur gefährdet?" - "Nein, keine Sorge," sagte ich verbissen, "ich werde exakt denselben Notendurchschnitt**** bekommen wie bei den Vornoten." Da war mein Vater beruhigt, denn die waren ja in Ordnung.
Am nächsten Morgen, pünktlich um 8, empfing mich also Herr von S. "Ich hätte Ihnen auch ein Ungenügend unter die Arbeit setzen können," begann er, "aber da Sie ja als Vornote ein knappes Ausreichend haben, wollte ich Ihnen die Chance geben, sich im mündlichen Abitur darauf prüfen zu lassen." - "Zu gütig, Herr Direktor, aber ich verzichte." - "Wollen Sie Ihr Leben lang mit einem Mangelhaft in Mathematik auf dem Reifezeugnis herumlaufen?" - "Ich habe wissenschaftlichen Ausgleich, wie man so schön sagt." - "Ja ja, Sie haben ein Sehr gut in Musik; aber das ist kein wissenschaftliches Fach." - "Wollen Sie darüber mit mir streiten? Hinter klassischer Musik steckt mehr Wissenschaft als hinter Einsteins Relativitätstheorie und Ihrer Vektorenrechnung."
[Daran halte ich bis heute fest, und da weiß ich mich zwar nicht mit den Mathematikern, aber mit allen halbwegs gescheiten Physikern einig: Musik ist etwas Hör- und Greifbares. Wer sich damit beschäftigt, lernt etwas, schafft also Wissen. Dagegen war die 1. ("spezielle") Relativitätstheorie ein Phantasieprodukt, ein Hirngespinst. Selbst der dumme August, pardon Albert, sah das irgendwann ein und ersetzte sie durch die 2. ("allgemeine") Relativitätstheorie, die freilich nur noch eine Mischung aus längst Bekanntem u.a. Allgemeinplätzchen war - und Wissenschaft bedeutet ja, neues Wissen zu schaffen, nicht olle Kamellen wiederaufzubacken. Auch "Vektoren" existieren in der Realität nicht - es hat sie jedenfalls noch niemand gesehen oder gehört. Gewiß, man kann sich Licht- und Schallwellen als "Vektoren" im dreidimensionalen Raum denken, aber das ist bloß eine Eselsbrücke, die nicht wirklich trägt, zumindest nicht auf der Erde, denn dort gibt es ja keinen luftleeren Raum ohne Hindernisse. (Es sei denn, man schafft ihn künstlich im Labor; aber das zeigt nur die praktische Irrealität solcher Rechnereien.) Diese Wellen kann man messen, aber man kann sie nicht theoretisch "berechnen", jedenfalls nicht so, wie die Mathematiker das tun, indem man ihre "Vektoren" addiert, subtrahiert - und dabei womöglich "negative Werte" herausbekommt! - multipliziert und dividiert. Das ist "l'art pour l'art", Gehirnakrobatik ohne Sinn und Verstand; sie ersetzt insbesondere nicht eine seriöse experimentelle Physik!]
"Im Übrigen stehe ich in allen anderen Fächern, auch den sogenannten wissenschaftlichen, befriedigend oder besser," fuhr ich fort, "ein Mangelhaft in Mathematik fällt also nicht auf mich, sondern auf Sie zurück. In der Zeit, die ich für die Vorbereitung auf Mathematik bräuchte, kann ich vier andere Fächer vorbereiten. Ich werde mir alle anderen Vornoten im Mündlichen zurückholen, wie Sie das ja selber angeregt haben." - "Sie wollen viermal ins Mündliche?" - "Ja, ganz recht." [Ich hatte garkeine andere Wahl, wenn ich den Vornotenschnitt halten wollte, wie ich es meinem Vater versprochen hatte: In Mathematik verlor ich eine Note; in den anderen Hauptfächern mußte ich ins Mündliche, um die Vornote zu halten; das einzige Fach, in dem ich mich um eine Note verbessern konnte, um wieder auf den alten Schnitt zu kommen, war Biologie. Damit war mein Fahrplan für's Mündliche vorgegeben.] "Das sollten Sie sich nochmal überlegen. Ich biete Ihnen eine Chance, die andere Kollegen Ihnen nicht geben werden." - "Wieso nicht?" - "Weil ich sie entsprechend instruieren werde." - "Wollen Sie damit sagen, daß Sie Ihre Kollegen anweisen werden, mich durchfallen zu lassen?" - "Was erlauben Sie sich, mir zu unterstellen? Ich werde die Kollegen lediglich dahingehend instruieren, Ihnen von einer Prüfung in anderen Fächern als Mathematik dringend abzuraten." Damit warf er mich hinaus.
Mädäm empfing mich wie immer mit sphynxhaft freundlichem Lächeln. "Ach, mein lieber Hansi, ich habe schon gehört, daß Sie auch in anderen Fächern etwas Pech hatten und wohl ziemlich viel Stoff für's Mündliche vorbereiten müssen. Da habe ich mir Ihre Arbeiten nochmal angesehen und bin zu dem Schluß gelangt, daß man an Ihre Vornote durchaus ein Plus hängen kann, ebenso an ihre Abiturarbeit; daher kann ich es ausnahmsweise verantworten, Ihnen im Fach Englisch auch ohne mündliche Prüfung die bessere Note zu geben." Ach, die Gute...! Aber sie war noch nicht fertig: "Ich habe auch mit meinem lieben Kollegen G. gesprochen; Sie sollen ihn sofort nach unserem Gespräch aufsuchen; er wird Sie kurz zwischendurch drannehmen." In dem Augenblick hätte ich sie umarmen können. Erst später erfuhr ich, daß sie es bei allen meinen Mitschülern ebenso machte; sie verschenkte die besseren Noten nach dem Füllhorn (oder sagt man Gießkannen?)-Prinzip. Sie hatte wohl einfach keine Lust, irgendwen zu prüfen - dachte ich damals. Es brauchte einige Jahre, bis ich begriff, daß ihr Motiv ein für uns viel weniger schmeichelhaftes war: Sie wollte Keinen von uns mehr wiedersehen. Ein Jahr lang hatte sie gute Mine zum bösen Spiel gemacht, aber nun war Sense. Sie erschien als Einzige nicht zu unserem offiziellen Abiturempfang, geschweige denn zu unserer inoffiziellen Abifeier und auch später nie zu einem unserer Klassentreffen, obwohl sie jedesmal eingeladen wurde, einmal sogar mit einem besonders netten, persönlichen Schreiben von mir, nachdem ich meine Prüfung als Dipl.-Dolmetscher - mit Hauptfach Englisch - bestanden hatte; aber sie schrieb nie auch nur eine Absage zurück. Vielleicht hatte sie Recht - wir waren ein ziemlich unmöglicher Haufen und zumal im Fach Englisch eine Zumutung gewesen.
Vor dem Zimmer unseres Französischlehrers stand K.-W., wie ein Häufchen Elend. "Nanu, was willst Du denn hier?" fragten wir einander wie aus einem Munde. Wir tauschten uns kurz aus. K.-W. hatte als Vornote ein Ausreichend, aber im Schriftlichen ein Mangelhaft gebaut. Und der Ausgang einer mündlichen Prüfung war für ihn eine absehbare Katastrophe - es war tatsächlich so, daß er im Unterricht nie den Mund aufmachte; ich glaube nicht, daß er jemals einen französischen Satz herausgebracht hatte, schon garnicht fehlerfrei. "Könntest Du mir nicht ein bißchen Nachhilfe im Sprechen geben? Nur ein oder zwei Stunden pro Tag... Du bist doch so gut!" - "Ja, bloß meine schriftliche Abiturarbeit war nicht so gut. Deshalb muß ich auch kurz 'rein; ich habe Anweisung, mich vorzudrängeln." - "Bittesehr, ich hab's nicht eilig." - "Also, Hammer," empfing mich Herr G., ich habe mir Ihre Arbeiten nochmal angesehen und auch Frau Kollegin L. zurate gezogen, die ja Französin ist; und wir sind, äh... ich bin zu dem Schluß gelangt, daß man an Ihre Vornote durchaus ein Plus hängen kann, ebenso an Ihre Abiturarbeit; daher kann ich es ausnahmsweise verantworten, Ihnen im Fach Französisch auch ohne mündliche Prüfung die bessere Note zu geben." Mir schien völlig klar, wem ich das verdankte; selbst die Formulierung war ja auf's Wort die gleiche. Ich wollte mich schon mit höflichem Dank verabschieden, da sagte G.: "Im Gegenzug erwarte ich von Ihnen, daß Sie sich mit aller Kraft auf die mündliche Matheprüfung bei von S. vorbereiten. Machen Sie den Dreckskerl zur Sau!" Ob dieser deutlichen Worte fiel mir doch die Kinnlade herunter. Jeder wußte, daß die Beiden einander nicht grün waren: Herr von S. war Nichtraucher und Abstinenzler, Herr G. dagegen Kettenraucher und passionierter Rotweintrinker. Aber noch schwerer wog wohl das dienstliche Konkurrenzverhältnis: Herr G. war unser zweitdienstältester Studiendirektor; und da unser etatmäßiger Direx noch immer krankgeschrieben war, stand zwischen seinem Ehrgeiz, selber Schulleiter zu werden - sei es auch erstmal nur kommissarisch - allein Herr von S. "Und jetzt schicken Sie mir Ihren Mitschüler herein, diesen Unglücksraben," verabschiedete mich G. Ich überlegte: Vielleicht hatte Mädäm ja auch mit ihrem lieben Kollegen W., meinem Deutschlehrer, gesprochen, oder würde es noch tun? Dann bräuchte ich nur Biologie vorzubereiten und hätte Zeit, um K.-W. jeden Tag ein wenig Nachhilfe zu geben; ich hatte auch schon eine Idee, wie sich das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden ließe: Wir würden gemeinsam die neuesten Chansons einstudieren! Singen ist ja die beste Methode, um eine Sprache sprechen zu lernen. "Gut, ich gebe Dir Nachhilfe," sagte ich; "ich warte hier, bis Du bei G. fertig bist, dann besprechen wir alles Weitere." - "Vielen Dank, das vergesse ich Dir nie!"
Als K.-W. wieder herauskam, strahlte er über's ganze Gesicht: "Du wirst es nicht glauben, was mir G. gesagt hat: Er hat sich meine Arbeiten nochmal angesehen und ist zu dem Schluß gekommen," - "... daß er sowohl an Deine Vornote als auch an Deine Abiturarbeit ein Plus hängen kann; deshalb kann er verantworten, Dir ohne mündliche Prüfung die bessere Note zu geben." Nun war es an ihm, die Kinnlade fallen zu lassen. "Woher weißt Du?" - "Das Gleiche hat er mir auch gesagt." - "Na sowas. Aber, äh... im Gegenzug mußte ich ihm etwas versprechen." - "Na, was denn?" - "Daß ich mich für die mündliche Prüfung im Fach Mathematik melde und Zorro zur Sau mache." [K.-W. nannte Herrn von S. "Zorro den Kreidefechter", weil der immer einen schwarzen Anzug trug und so wild mit der Kreide an der Tafel herumstrich wie der Westernheld mit dem Degen. Sonst wagte es niemand von uns, ihn so zu nennen.] - "Auf welcher Grundlage denn? Du hast in der Vornote eine 2, im Schriftlichen auch; Du müßtest also im Mündlichen ein Sehr gut mit Sternchen schaffen." - "Tja, für Dich wäre es natürlich viel leichter, Zorro fertigzumachen." - Wieso?" - "Na ja, wenn ich mich auf 1 mit Sternchen prüfen lasse und er dabei Schwächen zeigt, dann wäre das verzeihlich; aber wenn Du Dich auf 4- prüfen läßt und er da patzt, das wäre schon mehr als peinlich. Ich könnte Dir Nachhilfe geben; Du würdest es bestimmt schaffen." - "Nein, ich würde es bestimmt nicht schaffen. Wieso ist das dem G. eigentlich plötzlich so wichtig? Hätte er das nicht ein paar Jahre vorher arrangieren können? Dann wäre uns Manches erspart geblieben." - "Weil dieses Jahr großer Bahnhof angesagt ist. Das Kultusministerium schickt nicht nur den üblichen Beischläfer, sondern zusätzlich einen speziellen Beobachter mit Fachkenntnissen, dto die Universität. Zorro soll nämlich Mitglied der Prüfungskommission für Staatsexamenskandidaten und sein Lehrauftrag zu einer Honorarprofessur aufgewertet werden. Außerdem bekommen wir einen externen Prüfungsvorsitzenden, weil unser alter Direx immer noch krank ist, d.h. niemand wird vor Zorro kuschen, bloß weil er kommissarischer Schulleiter ist. Wenn jemals die Möglichkeit bestand, ihn abzuschießen, dann jetzt." Aus ihm sprach ungeheurer Haß, dabei war er sonst so ein netter, friedfertiger Junge, der keiner Fliege etwas zu Leide tat und den ich nie über irgendjemand Anderen ein böses Wort sagen hörte. "Ich drück' Dir beide Daumen, und meinetwegen die Hühneraugen dazu; aber das mußt Du alleine erledigen; ich könnte allenfalls erreichen, daß wir uns Beide blamieren, und das ist ja wohl nicht der Sinn der Sache."
"Was wollen Sie denn hier?" empfing mich Frau D.-S. ungnädig, "genügt Ihnen etwa ein Befriedigend in Biologie nicht? Schauen Sie lieber zu, daß Sie das Mangelhaft in Mathematik wegbekommen!" - "Ich wüßte nicht wie." - "Und ich wüßte nicht, wie Sie sich in Biologie verbessern wollen. Sie hatten in Unterprima 1. Halbjahr ausreichend, 2. Halbjahr befriedigend, erst im 1. Halbjahr Oberprima ein ganz schwaches Gut, das ich Ihnen eigentlich nur gegeben habe, um das glatte Befriedigend in der Vornote zu rechtfertigen. "Und in der Abschlußklausur hatte ich ebenfalls ein Gut; das gibt mir das Recht," - "... mir die Zeit zu stehlen und sich selber bis auf die Knochen zu blamieren? Ihre Kenntnisse reichen einfach nicht für ein Gut!" - "Das wird sich ja herausstellen. Würden Sie mir bitte den Prüfungsgegenstand mitteilen?" - "Prüfungsgegenstand ist selbstverständlich der gesamte Lehrstoff der letzten beiden Schuljahre, also auch der, bei dem Sie nur ausreichend waren." - "Ist das Alles?" - "Ich werde Sie schon nicht auf Gänseblümchen aus der Mittelstufe prüfen." - "Aber Gregor Mendel..." - "Der hat nicht mit Gänseblümchen experimentiert, sondern mit Erbsen. Wenn Sie selbst das nicht mehr wissen, dann gute Nacht. Ich warne Sie, die mündliche Prüfung ist keine Einbahnstraße, auch dann nicht, wenn Sie sich freiwillig dazu gemeldet haben. Wenn Sie ein Mangelhaft bauen, dann wird Ihre Abiturnote auf ausreichend heruntergesetzt; und Sie wissen, daß ich das so einrichten kann, wenn ich will." Ach, daher weht der Wind, dachte ich, noch ein Erpressungsversuch?! [Damals kannte ich den Unterschied zwischen "Erpressung" und "Nötigung" noch nicht so genau.] "Kann ich das mit dem Unterrichtsstoff dann bitte schriftlich haben?" - "Wozu?" - "Nur der guten Ordnung halber." Sie überlegte kurz. "Schön, Sie können sich das morgen im Sekretariat abholen. Sie werden dort überdies eine von Ihnen zu unterschreibende Aktennotiz vorfinden, daß Sie darauf hingewiesen wurden, daß Prüfungsgegenstand der gesamte Inhalt des Lehrbuchs ist; nicht daß Sie glauben, Sie könnten sich mit der Behauptung herausreden, wir hätten irgendetwas davon nicht im Unterricht behandelt. Ich werde das Lehrbuch zur Prüfung mitbringen und Ihnen auf jede Frage, die Sie falsch beantworten, die Passage vorhalten, aus der sich die richtige Antwort wörtlich ergibt. Wenn Sie bis zum morgigen Schulschluß nicht im Sekretariat waren und das erledigt haben, werde ich davon ausgehen, daß Sie Ihre Meldung zur mündlichen Prüfung im Fach Biologie zurückziehen."
"Ein Befriedigend bei mir ist Ihnen also nicht gut genug?" fragte Herr W. und blinzelte mich mit seinen kleinen Schweinsäuglein tückisch listig an. "Nein, wie schon der Name sagt, ein Befriedigend ist kein Gut; und warum sollte ich ausgerechnet in meiner Muttersprache schlechter sein als in allen Fremdsprachen?" - "Wie Sie so leicht zu Ihren guten Fremdsprachennoten gekommen sind, das hat sich im Kollegenkreis schon herumgesprochen. Herr G. hat versucht, auch mich mit einer Kiste Rotwein zu be... äh, überreden; aber bei mir gibt es nichts geschenkt. Ich habe vielmehr Rücksprache mit unserem Herrn Direktor gehalten; und wir stimmen darin überein, daß es besser für Sie wäre, das häßliche Mangelhaft in Mathematik vom Reifezeugnis zu bekommen. Ob Sie in Deutsch eine 2 oder eine 3 haben, das ist doch nicht so wichtig." - "Das sagen Sie als Deutschlehrer?" - "Ach, wissen Sie, ich hatte im Examen auch bloß ein Befriedigend und lebe noch. Aber wenn ich im anderen Fach ein Mangelhaft gehabt hätte, dann wäre ich heute nicht Gymnasiallehrer. Also, wozu wollen Sie sich die viele Arbeit machen? Der Prüfungsstoff wäre sehr umfangreich." - "Wie umfangreich genau?" - "Nun, sagen wir das Nibelungenlied und das Werk Nietzsches." Das war eine bodenlose Gemeinheit. Wir hatten nichts davon jemals im Deutschunterricht behandelt. Mag sein, daß das im Rahmenkatalog des Kultusministeriums vorkam; aber das ließ den einzelnen Schulen und Lehrkräften damals noch ziemlich freie Hand bei der Stoffauswahl, und bei uns hatte das niemand ausgewählt! "Wenn ich meinen Mitschüler A. bitten würde, mal über seinen Onkel nachfragen zu lassen, ob die Werke Nietzsches tatsächlich im Kanon des Deutschunterrichts auftauchen oder vielleicht eher dem des Philosophieunterrichts - was würde dabei wohl herauskommen?" W. ging zum Schrank, holte einen Ordner hervor und begann zu blättern. "Meinen Sie diesen Volltrottel, den wir Jahr für Jahr mit durchschleppen müssen, obwohl er keinen richtigen Satz zustande bekommt? Ich wage zu bezweifeln, daß der in der Lage ist, Ihre Frage so weiterzugeben, daß Sie eine brauchbare Antwort erhalten." - "Darauf würde ich es mal ankommen lassen. Das Kultusministerium soll ja auch einen oder sogar zwei Beobachter zur Prüfung entsenden." - "Moment, da steht es. Hm, die meisten Werke Nietzsches sind in der Tat Bestandteil des Faches Philosophie. Aber die Unzeitgemäßen Betrachtungen sind Bestandteil des Faches Deutsch; ich werde mich also darauf beschränken. Dagegen steht das gesamte Nibelungenlied selbstverständlich im Katalog, und zwar auf Mittelhochdeutsch. Und glauben Sie bloß nicht, daß Sie eine Übersetzung oder ein Wörterbuch bekommen; ich bin ja nicht Frau L.; bei mir gibt es nur Originaltexte, ohne Hilfsmittel." Ich muß wohl ziemlich konsterniert geguckt haben, denn er ergänzte: "Überlegen Sie sich das mit der Deutschprüfung nochmal. Herr von S. will doch nur Ihr Bestes!" - "Davon bin ich überzeugt. Trotzdem..." - "Wie Sie meinen. Frau D.-S. hat mir übrigens berichtet, daß Sie Zettel in Sachen Prüfungsstoff sammeln. Sie werden also morgen im Sekretariat auch zwei Zettel von mir vorfinden. Wenn Sie die nicht... aber das hat Ihnen meine Kollegin ja schon gesagt; für mich gilt das Gleiche entsprechend. Guten Tag!" - "Auf Wiedersehen!" [Ich habe ihn in späteren Jahren noch ein paarmal durch Zufall wiedergesehen und ihm immer einen "Guten Tag" gewünscht - höflich, nicht etwa höhnisch oder ihn nachäffend, darauf lege ich Wert -, aber er hat mich nie zurückgegrüßt. Ein schlechter Verlierer!]
Glaubt Ihr, liebe Musikfreunde, daß man binnen drei Wochen Mittelhochdeutsch lernen kann? Ja, das kann man, wenn man jung, sprachbegabt und - auch unabhängig vom Schulzwang - am Stoff interessiert ist. Das Nibelungenlied hatte ich schon als Kind gelesen, aber nur in einer Nacherzählung ad usum Delphini; ich wollte immer mal wissen, was im Original steht. Und ich habe Oberdeutsch ("Weanerisch", "Bayrisch" oder wie man es sonst nennen mag) immer als meine Muttersprache betrachtet - wenngleich meine Mutter mit uns nur "Hochdeutsch" sprach -, und das ist ja das legitime Kind des Mittelhochdeutschen. Das Nibelungenlied gab es in einer zweisprachigen Ausgabe des Fischer-Verlags, links der Originaltext, rechts die Übersetzung, mit einem Vokabelverzeichnis, ausführlichen Anmerkungen, einer Entstehungsgeschichte u.a. im Anhang. Das Problem war nicht so sehr die ungewohnte Rechtschreibung, sondern die richtige Aussprache, denn es ging ja um eine mündliche Prüfung. Also lieh ich mir ein Buch für Germanistik-Studenten aus der Stadtbibliothek - es war nicht die neueste Auflage, sondern ausweislich des Stempels eine, die die Universitätsbibliothek ausrangiert hatte, aber tote Sprachen ändern sich ja nicht mehr - und machte mich ans Werk, immer laut rezitierend. Ich bin heute noch froh, daß Herr W. mich damals zu diesem Kraftakt zwang, denn dem verdanke ich, daß ich jiddische Lieder verstehe, auch wenn ich Jiddisch weder lesen noch schreiben kann. Nietzsches Unzeitgemäße Betrachtungen - die es als Goldmann-Taschenbuch gab - las ich einmal durch, das Kapitel über die Zukunft unserer Bildungsanstalten noch ein zweitesmal - mir war klar, daß W. mich damit auf's Glatteis führen wollte, denn da konnte sich vielleicht das eine oder andere Mitglied der Prüfungskommission auf den Schlips getreten fühlen, je nachdem, was ich dazu sagte. Ihn selber fürchtete ich nicht: Er war im Hauptfach (ev.) Theologe, hatte wahrscheinlich weder das auf heidnischen Wurzeln beruhende Nibelungenlied noch die Werke des notorischen Atheisten Nietzsche richtig gelesen, sondern diese Themen bloß ausgesucht, um mich zu ärgern bzw. mir einen Haufen Arbeit zu machen. Echte Gefahr drohte mir allenfalls aus Düsseldorf.
In Biologie war das Hauptproblem, daß mich der Stoff nicht... nein, "interessierte" wäre der falsche Ausdruck; aber er überzeugte mich nicht. Ich hielt das, was im Lehrbuch stand, schlicht für Quatsch: Konrad Lorenz konnte sicher gut mit Wölfen und Graugänsen; aber das zu verallgemeinern, es insbesondere auf den Menschen zu übertragen, schien mir abwegig. (Heute ist allgemein anerkannt, daß jedenfalls die weitgehenden Schlüsse, die er aus gewissen Ähnlichkeiten auf den ersten Blick zog, falsch waren.) Sein Bestseller "Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression" - damals Pflichtstoff an allen höheren Schulen - ist vielleicht eines der fehlerhaftesten Bücher, die je über dieses Thema geschrieben wurden. Es hatte mit wissenschaftlicher Verhaltensforschung, wie sie später E. O. Wilson u.a. "Psychobiologen" betrieben, nichts zu tun. Doch Frau D.-S. selber hatte mich auf eine Idee gebracht. Sie wollte wörtliche Antworten aus dem Lehrbuch? Die konnte sie haben! Ich spielte Klavier, und das schult das Gedächtnis ungemein. Ich konnte ganze Wagner-Opern auswendig, den Klavierauszug ganzer Symphonien aus dem Kopf spielen, da sollte ich nicht so ein läppisches Lehrbuch von ca. 300 Seiten schaffen? Vier Tage vor der Prüfung las ich es mir einmal laut vor, drei Tage vorher noch einmal, zwei Tage vorher versuchte ich, es auswendig aufzusagen, mußte aber noch ein paarmal ins Buch schauen. Am Vorabend der Prüfung hörte mich meine Mutter mit dem Buch in der Hand ab; ich bekam es tatsächlich fehlerfrei hin! Auch meine Mutter hielt den Inhalt für ziemlichen Schwachsinn. [Sie versuchte, "mitzudenken" - das war sie als ehemalige Sekretärin gewohnt und hatte dafür von ihren Chefs immer viel Lob geerntet; denn die meisten ihrer Kolleginnen pflegten - und pflegen wohl noch heute -, einfach nur mechanisch aufzuschreiben, was man ihnen diktierte, auch wenn es grammatisch falsch war oder inhaltlich keinen Sinn ergab.] Aber ich erklärte ihr, daß es darauf nicht ankam - im Gegenteil: Wenn ich versucht hätte, das Alles "verständesmäßig" zu erfassen und in eigenen Worten wiederzugeben, wäre ich verloren gewesen.*****
Im Gegensatz zur schriftlichen bescherte mir die mündliche Reifeprüfung viel Spaß. Herr W. wußte erwartungsgemäß schon bald nicht mehr, was er mich fragen sollte, verstand auch z.T. meine Antworten nicht. (Er konnte kaum [noch] Mittelhochdeutsch - Lehramtsstudenten mit Deutsch als Zweitfach brauchten wahrscheinlich schon zu seiner Zeit nur einen Pflichtschein zu kloppen und konnten es dann gleich wieder vergessen.) Als die Vertreterin des Kultusministeriums zum zweitenmal ihr Kichern nicht unterdrücken konnte, fragte der Vorsitzende in die Runde, ob man die Prüfung unbedingt noch weiter fortsetzen müsse? Seines Erachtens könne man mir das Gut im Fach Deutsch zusprechen. Es erhob sich kein Einwand. Und in Biologie? Frau D.-S. erschien tatsächlich mit dem Lehrbuch unter'm Arm und einer großen neuen Hornbrille auf der Nase, die wohl furchteinflößend wirken sollte, mich aber eher belustigte. Auf jede ihrer Fragen antwortete ich wie aus der Pistole geschossen mit einem oder mehreren Absätzen aus dem Lehrbuch - wörtlich. Sie merkte das natürlich und versuchte, zunehmend verzweifelt, eine undichte Stelle bei mir zu finden, indem sie kreuz und quer von Thema zu Thema sprang - vergeblich. (Mein Klavierlehrer lobte mich mal gegenüber meiner Mutter, weil ich, wenn ich mich "verspielt" hatte, den Faden mittendrin wieder aufnehmen konnte. "Andere müssen dann immer ganz von vorne anfangen.") Irgendwann sagte der Vorsitzende: "Frau Kollegin, Sie prüfen den Kandidaten jetzt schon über eine Stunde. Mir erscheinen seine Antworten recht flüssig und auch logisch. Oder..." wandte er sich an die Fachbereichsleiterin, die mir schräg gegenüber saß, "war sachlich irgendetwas falsch?" - "Nein, ganz im Gegenteil, das war Alles goldrichtig; ich hätte es selber nicht besser formulieren können; das würde sogar für ein Sehr gut reichen!" [Das sagte die Frau, bei der ich bis Obersekunda nie über ein Ausreichend hinausgekommen war; ich hatte immer den Eindruck, daß sie mich nicht mochte.] "Ja, aber..." hob Frau D.-S. wieder an. "Kein aber, Frau Assessorin," unterbrach sie der Vorsitzende, "Sie haben doch gehört, was Ihre Vorgesetzte gesagt hat!" Und zu mir: "Vielen Dank, Sie können gehen; bitten Sie den Nächsten herein!"
Frau D.-S. hatte an ihrer Niederlage schwer zu knabbern. Auf dem Abiturempfang, den die Schule veranstaltete, kam sie auf mich zugeschossen und sagte mir in Gegenwart meiner Eltern ins Gesicht, daß ich das Gut nie und nimmer verdient habe, da ich offenbar nur einstudierte Antworten dahergeplappert hätte und auf Nachfragen immer wieder gebetsmühlenartig ausgewichen sei auf Auswendiggelerntes. "Prost, Frau D.-S.," sagte ich nur und hob mein Sektglas - ich hatte den Inhalt des Lehrbuchs schon wieder aus meinem Gedächtnis gestrichen und hätte keine einzige Frage mehr beantworten können. Aber meine Mutter konnte sich nicht verkneifen, zu sagen: "Tja, Frau D.-S., und stellen Sie sich mal vor: Ich habe meinem Sohn dabei geholfen. Wenn Sie das aufregt, dann sollten Sie vielleicht den Dienst quittieren. Sie sind doch jetzt verheiratet. Sicher hätten Alle hier Verständnis, wenn Sie sich der Doppelbelastung von Beruf und Haushalt nicht gewachsen fühlen. Und wenn Sie selber mal Kinder haben sollten, werden Sie vielleicht lernen, darüber anders zu denken." Frau D.-S. lief rot an, machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Saal - ich habe sie nie wiedergesehen. [Leider. Ich hätte gerne mal mit ihr über den inzwischen erreichten wissenschaftlichen Fortschritt in Sachen Verhaltensforschung diskutiert; aber ich habe ihren Vornamen vergessen; und ich weiß zwar noch, wie sich ihr Nachname ausspricht, aber nicht, wie er sich genau schreibt - mehrere Varianten sind möglich; die Suchmaschinen spucken nichts Brauchbares aus; sie ist verschollen - oder vielleicht auch schon verstorben, obwohl sie ja die jüngste unserer Lehrkräfte war.] Die nicht weit entfernt stehende Fachbereichsleiterin Biologie hatte die Szene mitbekommen und kam herbei. Sie trug einen Hosenanzug - was damals bei offiziellen Empfängen noch unüblich war, weshalb es mir im Gedächtnis geblieben ist. "Der haben Sie's aber gegeben, Frau Hammer," sagte sie, "ich sehe das genauso wie Sie und werde mein Möglichstes tun, damit die Ihrer Empfehlung, den Dienst zu quittieren, folgt." (Sie hatte bei der mündlichen Prüfung ja schon damit begonnen ;-) Zu mir sagte sie nur kurz: "Gut gemacht!" und verschwand wieder. [Wie ich später erfuhr, quittierte Frau D.-S. zwar nicht den Dienst, ließ sich aber an eine andere Schule versetzen - an welche, wußte mein Informant nicht, sonst hätte ich sie vielleicht doch noch wiedergefunden -; wahrscheinlich fühlte sie sich an unserer Schule "gemobbt", wie man heute sagt - damals gab es den Begriff noch nicht.] Herr G. erschien, sagte meinen Eltern kurz "Guten Tag" und gratulierte mir ebenso kurz, fast frostig, zum bestandenen Abitur.
[Erst im Nachhinein wurde mir klar, daß die Aktion "Füllhorn" nicht von Mädäm, sondern von ihm ausgegangen war: Er hatte sie unter dem Vorwand, daß sie Französin war, zur Noch-einmal-Beurteilung meiner Arbeiten herangezogen, sie bei der Gelegenheit angestiftet, es in ihrem Fach genauso zu machen und damit wohl auf die Idee gebracht, mit der gleichen Begründung überhaupt niemanden von uns zu prüfen und so zu tun, als sei das auf ihrem eigenen Mist gewachsen. (Sie war schon ein ausgekochtes Filuder - ich weiß nicht, wie ich es anders sagen soll, denn das französische Wort "filou" hat keine weibliche Form. Im Italienischen sagte man dafür früher "cicciolina"; aber seit ein aus Ungarn stammender Pornostar dieses Wort als "Künstlernamen" wählte, hat es seine Bedeutung in eine Richtung geändert, in die ich Mädäm denn doch nicht rücken will ;-) Bei W. hatte G. zwar auf Granit gebissen; aber er hatte es immerhin versucht und war natürlich sauer ob meiner vermeintlichen Undankbarkeit. Ich habe mich lange gefragt, wie er - und wer auch immer sonst noch - mich derart maßlos überschätzen konnte, daß er ausgerechnet auf mich setzte, um Herrn von S. ein Bein zu stellen und ihn zu Fall zu bringen. Heute, mit fast einem halben Jahrhundert Abstand, glaube ich, daß ich meine Rolle in dem Spiel - oder sollte ich besser "Komplott" schreiben? - arg überbewertete. Die Kollegen wußten - oder ahnten zumindest -, daß Herr von S. fachlich eine Null war und setzten ganz einfach darauf, daß das schon einem der hohen Herren vom Kultusministerium und/oder der Universität auffallen würde, wenn sich bloß irgendjemand ins Mündliche boxen ließ - egal wer. Das Problem war nur, daß Herr von S. alle anderen Schüler, die in Mathematik schwach waren, schon in den Jahren zuvor systematisch 'rausgekegelt hatte. Ich war halt das letzte mögliche Bauernopfer; und je dümmer ich mich während der Prüfung anstellen würde, desto besser - das hatte K.-W. ganz richtig gesehen. Auch die Idee, mich in allen anderen Fächern vom Mündlichen fernzuhalten, war richtig - nur die Taktik nicht immer: G. und Mädäm schenkten mir die bessere Note - das war klug. D.-S. und W. dagegen versuchten, mich abzuschrecken - das war dumm; denn sie provozierten mich dadurch erst recht, in ihren Fächern ins Mündliche zu gehen, womit sie nur erreichten, sich selber zu blamieren. Hätten auch sie mir die besseren Noten geschenkt, dann hätte ich mich wohl oder übel in Mathematik prüfen lassen müssen. Jeder hätte mich gedrängt - allen voran meine Eltern -; und nicht nur K.-W., sondern alle meine Mitschüler, die mehr als 2+2 addieren konnten - und in den Parallelklassen gab es davon einige -, hätten mir Nachhilfe angeboten. Denn Alle wußten, daß K.-W. für ihre Zwecke eigentlich der falsche Mann war: Was, wenn er einfach nur stumm sitzen - oder an der Tafel stehen - blieb und irgendetwas vor sich hinrechnete, was am Ende auch noch richtig war? Dann konnte niemandem auffallen, wie inkompetent Herr von S. war! Ich hätte umgekehrt fragen müssen: Warum war Herr von S. selber so scharf darauf, mich im Mündlichen in die Mangel zu nehmen? Bloß um mich "vorzuführen" und ob meiner mathematischen Inkompetenz zu demütigen? War das nicht leichtsinnig? Diese Frage hätte er mit "nein" beantwortet. Irgendeine Prüfung mußte er ja durchführen, um sich vor dem hohen Besuch zu profilieren. Aus seiner Sicht gab es da nur Einen, den er hätte fürchten müssen, nämlich E., dem er aus sach- bzw. fachfremden Gründen ein Mangelhaft verpaßt hatte - s.o. -; aber der sagte: "Von dem Ar...loch lasse ich mich nicht prüfen. Ich stehe in allen anderen Fächern befriedigend oder besser, das genügt mir." Dagegen bestand mein Mangelhaft objektiv zurecht; mich fürchtete er nicht. Und K.W. schon garnicht - der machte ja nie den Mund auf! Aber er hatte sich verrechnet... nicht nur an der Tafel.]
Dann erklomm Herr G. das improvisierte Podium - der Empfang fand nicht in der düsteren Aula statt, sondern im großen, sonnendurchfluteten Foyer -, bat um Ruhe und... hielt eine Lobrede auf K.-W., jenen famosen Schüler, den ersten an dieser Anstalt, der es, solange er zurückdenken könne, geschafft hatte, auf dem Abitur ein Sehr gut im Fach Mathematik zu erringen. Er rief ihn zu sich herauf und überreichte ihm "im Namen der Schulleitung" ein Buch, mit Goldschnitt und in feines Leder gebunden, mit handschriftlicher Widmung "für besondere Verdienste um das [...]-Gymnasium". Wie üblich blieb K.-W. stumm und lächelte unschuldig. Als der Beifall abgeebbt war, fragte irgendein Elternteil aus einer Parallelklasse, wer und wo denn der Mathematiklehrer jenes famosen Schülers sei, ob es nicht auch ihm Dank abzustatten gelte. Herr G., der sich gerade in bester Laune ein Glas Rotwein eingeschenkt hatte, ergriff nochmal das Wort. "Ich dachte, das hätte sich schon allgemein herumgesprochen. Nein? Also, Herr von S. kann heute leider nicht unter uns sein. Er hat am Abend der mündlichen Prüfung einen schweren Herzanfall erlitten und inzwischen seine krankheitsbedingte Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand beantragt. Wie ich aus zuverlässiger Quelle erfahren habe wird man seinem Antrag auch stattgeben." - "Gut, daß er nicht gleich abgekratzt ist," sagte E., der neben mir stand, laut und vernehmlich, "hoffentlich muß er noch recht lange leiden!" Alle Köpfe im Saal drehten sich in unsere Richtung. Der Vater von E. begab sich zum Podium - er war stellvertretender Klassenpflegschaftsvorsitzender. (Klassenpflegschaftsvorsitzender war der Vater von K.-W.; der konnte ja schlecht hingehen und eine weitere Eloge auf seinen eigenen Sohn halten.) Alle, die ihn nicht kannten, erwarteten, daß er sich für die Bemerkung seines Sohnes entschuldigen oder sie wenigstens abmildern würde - es war mucksmäuschenstill. "Leider ist heute nicht nur Einer nicht mehr unter uns," hob er an. "Es ist noch kein Jahr her, seit Herr von und zu S. unserem unvergessenen R., der bereits einmal eine Klasse hatte wiederholen müssen, durch ein Ungenügend im Fach Mathematik - das in 1. Linie seinem völlig inkompetenten Unterricht geschuldet war -, das Erreichen des Klassenziels verwehrte und ihn so zwang, ein Jahr vor der Reifeprüfung die Schule zu verlassen. Das traf den braven Jungen so hart, daß er sich zwei Tage später das Leben nahm und seine arme, alte, verwitwete Mutter, deren einziges Kind er war, alleine zurückließ. Und S., dieser Unter-, öh... Unmensch, hielt am nächsten Morgen seiner Klasse einen Vortrag, wie asozial es gewesen sei, sich mitten in der Rush-hour vor eine S-Bahn zu werfen, so daß Dutzende Menschen zu spät zur Arbeit oder zur Schule kamen, und forderte sie auf, das 'sozialverträglicher' zu tun, wenn es bei ihnen soweit sei. Ich will garnicht weiter darauf eingehen, daß diese fachliche, pädagogische und menschliche Null auch anderen Schülern mit einem Mangelhaft in Mathematik das Abitur verdorben hat, selbst solchen, die sich sonst nichtmal ein Ausreichend haben zuschulden kommen lassen [er gebrauchte tatsächlich diese Formulierung - seine Rede ist mir bis heute wörtlich in Erinnerung - einschließlich der "öh"s -, im Gegensatz zum Inhalt des Biologie-Lehrbuchs], wie z.B. meinem Sohn E. und dem braven H." [Einer von uns Beiden wäre sonst Klassenprimus geworden; so wurde es F. Über diejenigen, die Herr von S. ebenfalls mit einem Mangelhaft in Mathematik "beglückt" hatte und die darob fast durch's Abitur gefallen wären - einige schafften es nur mit Ach und Krach und einem Befriedigend in dem "wissenschaftlichen" Fach Religionslehre als einzigem Ausgleich - verlor er kein Wort.] Er machte eine Kunstpause und holte tief Luft. "Es ist mir daher eine besondere Genugtuung und Freude, daß eine so tüchtige Lehrkraft wie unser bewährter Herr Studiendirektor G., der nun schon den dritten meiner Söhne unbeschadet bis zum Abitur begleitet hat, die Leitung dieser Schule übernehmen wird. Und nun möchte auch ich unseren braven K.-W. zu seinem großen Erfolg beglückwünschen und ihm als Anerkennung ein kleines Präsent zukommen lassen." Er überreichte ihm mit großer Geste einen riesigen Bildband "Burgen und Schlösser am Rhein" und einen Briefumschlag, klopfte ihm kräftig auf die Schulter und schüttelte ihm ausgiebig die Hand, was der mit stummem Lächeln über sich ergehen ließ. "Im übrigen darf ich alle hier Anwesenden sowie deren Angehörigen, auch sofern sie heute vormittag nicht hier sein konnten, für heute abend ab 20 Uhr in das Restaurant [... - das teuerste Haus am Platz] einladen, zu einem ordentlichen Büffet. Der Imbiß und die Getränke hier sind ja doch etwas, öh... einfach. Natürlich Alles auf meine Rechnung!" Tosender Beifall brandete auf - und Jeder konnte sich aussuchen, auf welchen Teil der Rede sich der bezog.
"Nein, da gehen wir nicht hin," sagte mein Vater, als wir wieder zuhause waren, "ich fand den Imbiß in der Schule völlig ausreichend. Ich lasse mich und meine Familie nicht von so einem protzigen Koofmich zu einem nächtlichen Zechgelage in so ein Schickimickilokal einladen."
[Mein Vater neidete niemandem seinen Reichtum, aber wenn ihm jemand zuwider war, dann kroch er auch nicht vor dessen dickem Bankkonto zu Kreuze. Ein "Koofmich" war für ihn "jemand, der am Telephon sitzt, 100 Zentner Kartoffeln kauft, sie binnen 5 Minuten weiterverkauft und dabei mehr verdient als der Bauer und der Krämer zusammen, obwohl er die Kartoffeln nie gesehen, geschweige denn sie angebaut und geerntet hat." Ich fragte, warum denn die Bauern ihre Kartoffeln nicht direkt an die Krämer verkauften oder die letzteren sie direkt auf dem Bauernhof einkauften? (Daß das zwei Paar Schuhe sind, war mir damals schon klar; es hat mit der Lieferung, d.h. den Transportkosten und dem sogenannten Gefahrenübergang zu tun.) Worauf mein Vater nur sagte: "Weil sie dumm sind." Als Kind genügte mir diese beamtentypische Sichtweise; aber heute sehe ich das differenzierter: Die "Distribution", wie die Wirtschaftswissenschaftler das auf Küchenlateinisch nennen, ist eine immens wichtige - und deshalb auch verdienstvolle, im wahrsten Sinne des Wortes - Aufgabe. Für den Bauern ist es unwirtschaftlich, jeden Zentner Kartoffeln einzeln an 100 verschiedene Kleinkrämer zu verkaufen; und für den Kleinhändler in Gemischtwaren ist es unwirtschaftlich, sich jede Ware seines Sortiments beim jeweiligen Produzenten einzeln abzuholen. Der Zeitaufwand für Verhandlungen und Organisation wäre in beiden Fällen immens, und die Transportkosten wären bei kleinen Mengen ungleich höher, egal wer sie letztlich trägt. Um das auszurechnen braucht es keine höhere Mathematik und kein Studium der Wirtschaftswissenschaften, sondern nur einen Blick über die Landesgrenzen hinaus: In der Ex-Sowjetunion, dem potentiell reichsten Land der Welt, funktionierte die Warenverteilung oft nicht, weil statt privater "Koofmichs" - die es dort ja nicht gab - Beamte diese Aufgabe versahen, mit der Folge, daß die Kartoffeln - und nicht nur die - in den Kolchosen bzw. Sowchosen verrotteten, die Regale leer blieben und die Verbraucher hungerten. Ich schreibe das, weil auch heute wieder viele Leute aus der linken und grünen Ecke zetern, daß böse Kapitalisten - man sagt nicht mehr "Koofmichs" - den armen Bäuerlein, vor allem in der "Dritten Welt", ihre Produkte für ein paar Cents abluchsen und sie dann mit riesigen Gewinnspannen den europäischen Verbrauchern andrehen. Wem das nicht gefällt, der kann ja selber nach Mittelamerika reisen und sie dort entweder direkt vom Campesino kaufen oder selber pflücken!]
Meine Schwester quengelte und argumentierte, daß wir sie schon nicht zum Empfang mitgenommen hatten, sie also völlig leer ausgehen würde; sie könnte ja alleine hingehen und uns entschuldigen. Sie war zwar gerade erst 15 geworden, aber schon voll erblüht: 1,75 m groß, schlank, vollbusig, blond und blauäugig. Niemand hätte sie bei einem abendlichen Lokalbesuch nach dem Personalausweis gefragt, zumal sie bei solchen Gelegenheiten die zwar etwas altmodischen, aber sehr eleganten Kleider meiner Mutter (die selber schneiderte) trug - obwohl die für sie eigentlich zu kurz waren, aber das war ja gerade "in" -, dazu deren ebenso altmodischen Schmuck - eigenen hatte sie noch nicht. Unter meinen Mitschülern waren viele "gute Partien", besonders E. und seine Brüder - die ebenfalls allesamt groß, blond und blauäugig waren, was zwischen dem typisch kölschen "Kroppzeug", wie mein Vater das nannte, schon auffiel; und meine Schwester hätte es überhaupt nicht gestört, einen protzigen Koofmich spendablen Großkaufmann zum Schwiegervater zu haben.****** Doch unser Vater blieb bei seinem Nein.
[Ich fand kurz darauf ein kleines Trostpflaster für mein Schwesterchen: In dem Briefumschlag, den K.-W. bekommen hatte, war wider Erwarten kein Geld, sondern "nur" ein Gutschein für zwei Personen für eine mehrtägige Schiffsreise auf einem Rheindampfer von Köln nach Basel und zurück. Er wollte mich mitnehmen, da er keine Freundin hatte - damals mußte ein Junge, um ein Mädchen kennenzulernen, es ansprechen; das war nicht seine Stärke, und umgekehrt war noch ein absolutes No-go. Aber ich drückte ihm stattdessen meine Schwester als Reisebegleitung auf's Auge. Bei so einem netten, harmlosen Menschen - der überdies eine 1 in Mathematik auf dem Abiturzeugnis hatte - hatte mein Vater nichts dagegen. Sie haben sich Beide gefreut und auch gut verstanden; aber es ist nichts "Festes" draus geworden.]
"War Euer Mathelehrer wirklich so schlimm?" fragte mein Vater. "Nein, noch viel schlimmer." - "Davon hast Du uns nie etwas erzählt!" - "Was hätte das gebracht? Mama wäre in die Elternsprechstunde gerannt und hätte ihm die Leviten gelesen, was Alles noch schlimmer gemacht hätte, nicht nur für mich, sondern auch für meine Mitschüler, denn der hätte sich doch an uns Allen gerächt." - "Du hast uns auch nie erzählt, daß einer Deiner Mitschüler in den Selbstmord getrieben wurde." [Heute würde so etwas von der Journaille an die große Glocke gehängt; damals wurde es diskret unter den Teppich gekehrt.] "Wenn ich es Euch erzählt hätte, wäre er auch nicht wieder lebendig geworden. Ihr kanntet ihn doch garnicht, ich hatte ja weiter keinen Kontakt zu ihm. Außerdem war er wirklich schlecht, nicht nur in Mathe. Die anderen Lehrer brachten es bloß nicht über's Herz, ihn zum zweitenmal sitzenzulassen, weil er ein armes Schwein war, körperlich behindert, Vater tot, Mutter berufstätig. Unser Musiklehrer sagte mir mal, als ich mich darüber beschwerte, daß er im Schulchor dauernd falsch sang: 'Der R. kann zwar keine Tonleiter singen und wird es auch nie lernen, und viele andere Dinge, die auf dieser Anstalt gelehrt werden, auch nicht. Aber ist das denn wirklich so wichtig? Bei unseren öffentlichen Auftritten ist er eh nie dabei, und bei den Proben stört er doch kaum. Er wird nie einer körperlichen Arbeit nachgehen können; also muß er doch wenigstens einen Schulabschluß bekommen, der es ihm ermöglicht, später irgendwie seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Oder soll er beim Sozialamt enden und dauerhaft der Allgemeinheit auf der Tasche liegen?' Aber dem S. ist halt irgendwann der Geduldsfaden gerissen, da hat er ihm die 6 verpaßt. Daß R. Selbstmord begehen würde, weil er von der Schule flog, konnte niemand wissen, sonst hätten wir jedes Jahr ein rundes Dutzend Selbstmorde. Soll deshalb jeder Idiot bis zum Abitur durchgeschleppt werden?"******* - "Aber bei diesem A., von dem Du selber mal gesagt hast, daß er ein Kretäng sei, ist Herrn von S. nie der Geduldsfaden gerissen?" - "Nein... dessen Onkel ist ja im Kultusministerium." Soviel zur Chancengleichheit.
Nein, Nachtrag, dazu fällt mir noch etwas wieder ein: "Wieso hat eigentlich der F. ein Befriedigend in Mathematik geschafft? Der war doch früher nicht besser als Du!" - "Ist er auch nicht; aber seine Mutter hat ihm Nachhilfestunden bezahlt." - "Das hätten wir doch auch tun können, wenn Du uns etwas gesagt hättest!" - "Ja denkste, nicht irgendwelche Nachhilfestunden, sondern beim Mathelehrer der Parallelklasse, Herrn B. Bei aller Rücksichtslosigkeit hätte es S. doch nicht gewagt, einen langjährigen Kollegen so zu desavouieren, daß er dessen Nachhilfeschüler bloß wegen schlechter Leistungen - denn gelernt hat er bei dem nichts - auch eine schlechte Note verpaßt und B. damit das Geschäft verdorben hätte." - "Das Geschäft?" fragte meine Mutter. "Ja, das Geschäft. Du hast doch schon gejammert, daß mein Klavier- und Akkordeonlehrer 5.- DM pro Stunde genommen hat. Weißt Du, was die Mutter von F. dem B. pro Stunde zahlen mußte?" - "Na, was schon? 10.- DM?" - "20.- DM pro Stunde, und zwar nicht 1x pro Woche, wie bei meinem Klavierunterricht, sondern 3x pro Woche!" Meine Mutter überschlug das schnell im Kopf und sagte dann erschrocken: "240.- DM im Monat?! Wenn ich so viel Haushaltsgeld mehr zur Verfügung hätte, dann könnten wir jeden Tag..." Sie verstummte kurz, dann nahm sie mich in den Arm und sagte: "Niemand wirft Dir die 5 in Mathe vor; das Zeugnis ist ja sonst gut." Niemand? Ich sah meinem Vater an, daß er mir die 5 sehr wohl vorwarf, auch wenn er es nicht laut sagte. Ausgerechnet in Mathe, wo er in Rechnen immer eine 1 gehabt hatte! "Woher hatte die bloß das Geld? Ich dachte, die wäre verwitwet und lebte von einer kleinen Rente?!" - "Verwitwet ist sie; aber sie lebt nicht von einer kleinen Rente, sondern von einer dicken Pension." Der Vater von F. war - wie meiner - 1944 schwer verwundet worden. Doch als die Bundeswehr neu gegründet wurde, ließ er sich, obwohl ein ziemliches Wrack, wieder anwerben, als Major, und brachte es noch bis zum Oberst, bevor er das Zeitliche segnete. Die nahmen damals Jeden; sie hätten auch meinen Vater genommen. Er hatte mir erzählt, wie der Vorsteher******** des Hauptzollamts Kehrwieder eines Tages seine Leute zusammentrommelte: "Wie Sie vielleicht schon gehört haben, hat die Regierung angesichts der großen kommunistischen Bedrohung aus dem Osten... bla bla bla..." Kurzum, sie hatte beschlossen, Deutschland wiederzubewaffnen und die sogenannte "Bundeswehr" ins Leben zu rufen. Das "Rahmenpersonal" dafür suchte sie bevorzugt bei Grenzschutz, Polizei und Zoll. "Der Führer hatte also doch Recht," hörte mein Vater hinter sich sagen, "jetzt haben die blöden Amis, die uns damals in den Rücken gefallen sind, das auch kapiert, wo's zu spät ist; und nun sollen wir diesen Scheißkrieg gegen die Rußkis nochmal führen, unter viel ungünstigeren Bedingungen. Die Deutschen an die Front, was? Nee, ohne mich!" [Das war das gängige Schlagwort, nach dem diejenigen, die so dachten, "Ohnemichels" genannt wurden.] Ein anderer Kollege meines Vaters zitierte den Spruch, den man aufsagte, wenn man von Spendensammlern belästigt wurde: "Ich habe schon gegeben!" und hielt seine linke Hand hoch, an der drei Finger fehlten. "Daher wird in der nächsten Woche ein Vertreter des Amtes Blank hier erscheinen," fuhr der alte Zollrat unbeirrt fort, "um mit einigen von Ihnen ein persönliches Gespräch unter vier Augen zu führen und sein Angebot im Einzelnen zu erläutern. Verstehen Sie mich nicht falsch; ich würde es sehr bedauern, jemanden von Ihnen zu verlieren;******** aber das Vaterland braucht Soldaten vielleicht bald wieder dringender als Zöllner..."
Ein paar Tage später kreuzte also jemand von der Bonner Hardthöhe in Hamburg auf und eröffnete das Gespräch mit meinem Vater wie folgt: "Herr Kamerad, haben Sie schon mal darüber nachgedacht, mit welcher Besoldung Sie bestenfalls in Pension gehen würden, wenn Sie beim Zoll blieben?" Da brauchte mein Vater nicht groß nachzudenken, lesen und rechnen konnte er noch, trotz seines zerschossenen Beins. "Ja, aber ich gehe am Stock." - "Das spielt überhaupt keine Rolle, Herr Kamerad. Schauen Sie mich an, ich habe nur noch einen Arm und ein Glasauge. Wir würden Verwendungen finden, bei denen Sie eine überwiegend sitzende Tätigkeit ausüben können. Ich darf Ihnen folgendes verbindliche Angebot machen: Sie werden als Oberleutnant eingestellt, ein Jahr später zum Hauptmann befördert und baldestmöglich auf Stabsoffizierslehrgang geschickt. Wenn Sie den bestehen - woran ich keinen Augenblick zweifle -, dann sind Sie spätestens mit 40 Major und würden bereits soviel verdienen wie Ihr hiesiger Amtsleiter, der gut über 60 ist. Und nach meiner persönlichen Einschätzung - für die ich zwar nicht garantieren kann, aber von deren Richtigkeit ich überzeugt bin - wird in den neuen Streitkräften kein Selbstgestrickter in einen Generalsrang befördert, bevor nicht der letzte noch aktive Weltkriegsoffizier wenigstens Brigadegeneral geworden ist. Das gilt ausnahmslos, auch für den letzten Leutnant der Reserve!"
[Das könnte mein Vater gewesen sein. Er war noch im Mai 1945, einen Tag nach seiner Entlassung aus dem Lazarett, zum Leutnant d.R. befördert worden, genauer gesagt erhielt er an jenem Tag seine Ernennungsurkunde. Dazu wurde ihm nicht etwa ein Genesungsurlaubsschein zugestellt, sondern ein Marschbefehl an die Front. Aber es gab keine Transportmöglichkeit: Der örtliche Bahnhof und die Gleise waren völlig zerbombt - Reparaturen wurden keine mehr durchgeführt, sie hätten bloß den nächsten Luftangriff provoziert -, das Benzin war so gut wie alle, und zu Fuß zur Front humpeln konnte mein Vater ja schlecht. Der Zusteller bot ihm großzügig sein Fahrrad an - froh um jeden Vorwand, selber nicht wieder zurück zu müssen -; aber auch damit konnte mein Vater wegen seines beschädigten Kniegelenks nicht mehr fahren. Also kam er nicht noch einmal zum Einsatz. Mit ihm zusammen hatten 4 weitere Kameraden aus dem Lazarett ihre Ernennungsurkunden erhalten - alle vordatiert auf den 1. Juli 1945. (Die "da oben" schienen noch immer ihren eigenen Durchhalteparolen zu glauben.) Der erste - der aus dem Osten stammte - verschwand mit den Worten, er wolle sich "nach Hause durchschlagen"; von ihm ward nichts mehr gehört. Die Anderen gingen gemeinsam in Gefangenschaft - aus der sie aber als Kriegsversehrte bald entlassen wurden. Danach ging der zweite zur Bundesbahn, der dritte zur Bundespost, der vierte führte zusammen mit seiner Mutter die Kneipe das Lokal seines Vaters - der gefallen war - weiter. Bei ihm trafen sie sich bis zu seinem Tode einmal im Jahr, um Erinnerungen auszutauschen. Auch sie erhielten Besuch vom Amt Blank; aber Keiner erlag den Sirenengesängen; sie hatten die Schnauze voll genug vom Militär.]
Mein Vater kannte zwar den komischen neuen Dienstgrad "Brigadegeneral" noch nicht - in der Wehrmacht kam über dem Oberst gleich der Generalmajor -; aber den Pferdefuß des Wortes "ausnahmslos" [er]kannte er nur zu gut: Die Einschränkung lag in den Wörtchen "noch aktiven": Es konnte ja nicht Jeder General werden; und wer im Wettlauf mit der Beförderungsuhr nicht mithielt, wurde vorzeitig in den Ruhestand versetzt. Der Werbeoffizier schien seine Gedanken zu lesen: "Selbst wenn Sie nicht mehr als Major würden, Herr Kamerad, könnten Sie sich im Alter von 54 Jahren zur Ruhe setzen, bei voller Pension. Ihr Amtsleiter wird bis 65 Dienst tun müssen und dann nichtmal die volle Pension erhalten, weil er die dafür notwendigen Jahre im letzten Rang nicht mehr zusammenbekommt." Das klang verlockend. Meinem Vater war auch klar, daß es im nächsten Krieg - wie schon in der Endphase des vorigen - an der Front nicht lebensgefährlicher wäre als zuhause. Aber der Werbeoffizier hatte einen taktischen Fehler begangen: Er hatte seine Kandidaten an ihrer Dienststelle aufgesucht, nach dem Motto: Alle in einem Aufwasch. Er hätte sie zuhause, in Anwesenheit ihrer Ehefrauen, aufsuchen und das Gespräch statt mit der abstrakten Frage nach der Besoldungsgruppe mit dem Satz eröffnen sollen: "Gnädige Frau, haben Sie schon mal darüber nachgedacht, wie lange es dauern könnte, bis Sie sich hier in Hamburg eine ordentliche Wohnung in einem schönen Neubau leisten können?" Dann wäre das Gespräch mit Sicherheit ganz anders ausgegangen - jedenfalls bei uns. Meine Mutter (bei der freilich auch der Hinweis auf die Besoldungsgruppe genügt hätte - sie kannte sich da aus) hätte meinem Vater so lange die Hölle heiß gemacht zugeredet, bis er "ja" gesagt hätte. So aber erzählte er ihr nichts von dem Angebot, und auch mir - der ich ja noch ein Kind war - erst viele Jahre später. Nun, mit 18, wußte ich es zwar schon; aber ich hielt dicht. (Deshalb sagte er wohl auch nichts über die 5 in Mathe; sonst hätte ich ihm vorhalten können, daß er seinerzeit ein Gehalt ausgeschlagen hatte, mit dem 240.- DM für Nachhilfestunden kein Thema gewesen wären.) Erst nach dem Tode meines Vaters "beichtete" ich es meiner Mutter. Das hätte ich nicht tun sollen. Sie ging, obwohl schon über 80, die Wände hoch, genauer gesagt zum Schrank, holte eine Besoldungstabelle hervor und rechnete aus, wieviel höher ihre Witwenpension wäre, wenn mein Vater "wenigstens Brigadegeneral" geworden wäre. Dann begann sie hemmungslos zu weinen und konnte sich garnicht wieder einkriegen. "Was für einen schönen Lebensabend hätten wir uns machen können; und ich müßte jetzt nicht in diesem Loch hausen!" Dieses "Loch" war eine schmucke kleine Wohnung mit Küche, Bad und Balkon, um die sie viele andere Witwen ihrer Generation beneidet hätten. Eine Generalswitwe vielleicht nicht; aber mein Vater wäre, entgegen allen schönen Versprechungen, schwerlich General geworden - er hatte ja kein Parteibuch und lehnte es auch strikt ab, eines zu erwerben. "Parteibonzen" waren für ihn noch schlimmer als "Koofmichs". Das sagte ich meiner Mutter. [Der Vater von F. hatte Abitur, war schon in der Reichswehr Berufsoffizier und bei Kriegsende Hauptmann i.G. gewesen; dennoch wurde nichtmal er "wenigstens Brigadegeneral" - auch ihm fehlte "das richtige Parteibuch".] Aber sie war untröstlich: "Dann hätte er halt in irgendeine Partei eintreten müssen!" Seitdem war mein Vater für sie - nicht nur physisch - gestorben. Nachtrag Ende.
Auf was man alles kommt, wenn man an seine Schulzeit und seine Lehrer zurückdenkt, nicht wahr, liebe Musikfreunde? Aber ich bin noch nicht fertig. Herr von S. mußte tatsächlich lange im Pflegeheim leiden. Er starb just eine Woche vor unserem 25. Klassentreffen, bei dem es infolgedessen nur ein Gesprächsthema gab. K.-W. mußte drei Stunden lang immer wieder jede Einzelheit jener Mathe-Prüfung rekapitulieren, die ihn vorübergehend zum Held des Tages und "Zorro" zum Pflegefall gemacht hatte. Alle Mitschüler waren gekommen (außer A., der schon vor Jahren irgendwo ertrunken war, weil er selbst zum Schwimmenlernen zu dumm und/oder faul war), und auch viele Lehrer, die wir lange nicht mehr gesehen hatten, allen voran Oberstudiendirektor i.R. G., den ich noch nie so aufgekratzt erlebt hatte. Er schüttete eine Flasche Rotwein nach der anderen in sich hinein, bis er unter den Tisch sank. Irgendwann war K.-W. es leid, einem Haufen besoffener Idioten immer wieder alle Lösungsschritte einer komplizierten Analysis-Aufgabe zu erklären, die außer ihm selber doch niemand verstand - bis dahin hatte er sich darauf, d.h. auf's Fachliche, beschränkt. Aber nun setzte er sein altes, unschuldiges Lächeln auf und sagte: "Also ehrlich, die schwerwiegenden Folgen, die diese Prüfung sonst noch hatte, hatte ich garnicht bedacht, geschweige denn beabsichtigt. Aber Zorro wollte mich um jeden Preis durchfallen lassen, das war offensichtlich. Und da sagte ich mir: Warum soll eigentlich ich diesen Preis zahlen? Es war doch reine Notwehr, wenn ich der Prüfungskommission ausführlich darlegte, weshalb meine Lösung richtig war und Zorros Einwände falsch - geradezu sextanerhaft falsch." - "Dann war das, was Du immer über die Fehler in der ersten Zeile gesagt hast, also nicht geblufft, sondern wahr?" fragte ich. "Natürlich war das wahr," gab er empört zurück, "hat wirklich jemand von Euch geglaubt, daß ich mir das nur ausgedacht hätte? Ich habe die Aufgaben dann zuhause richtig gelöst; ich fand das wahnsinnig spannend." (Ja, liebe Musikfreunde, manche Leute finden es wahnsinnig spannend, das Nibelungenlied auf Mittelhochdeutsch zu lesen, und andere finden es wahnsinnig spannend, Mathematikaufgaben zu lösen - Ihr könnt Euch aussuchen, was Ihr für verrückter spannender haltet ;-) "Und so habe ich am Ende den Stoff beherrscht," fuhr K.-W. fort, "im Gegensatz zu Zorro." - "Und wer oder was hat letztlich den Ausschlag gegeben?" - "Das weiß ich nicht mehr genau. Irgendwann kam allgemeines Gemurmel auf. Jemand sagte: Der sollte sich sein Kolleggeld zurückgeben lassen." [Früher mußte man an deutschen Universitäten noch "Kolleggeld" für jede Veranstaltung bezahlen, die man besuchte - deshalb verdienten einige Professoren mehr als andere.] "Dann sagte jemand: Es ist eine Schande, daß sowas Lehrer an einem Gymnasium ist, noch dazu Fachleiter und, wenn ich richtig informiert bin, sogar kommissarischer Schulleiter!?! Darauf sagte der Typ vom Kultusministerium, er werde Sorge tragen, daß Herr von S. umgehend dieser Stellung enthoben werde; und der Typ von der Uni sagte irgendetwas über den Lehrauftrag und die Honorarprofessur, und dann redeten Alle mehr oder weniger unverständlich durcheinander; bloß Zorro saß kreidebleich da und sagte kein Wort mehr." [In mindestens einem Punkt log K.-W.: Er wußte ganz genau, was jene Prüfung bezweckte, nämlich "Zorro zur Sau zu machen" und ihn "abzuschießen" - Herr G. hatte ja keinen Zweifel daran gelassen -, und das wollte er auch, einschließlich aller Folgen; das hatte er damals mir gegenüber mehr als deutlich zum Ausdruck gebracht - allerdings wohl nur mir gegenüber, und ich hielt dicht, so daß er den Anderen das Märchen von seiner moralischen Unschuld auftischen konnte. (Auf Rückfrage: Warum ich das tat? Weil ich der Meinung war, daß er nichts Unrechtes getan hatte - Herr von S. hatte sein Schicksal in vollem Umfang verdient -; weshalb ihm eine "Schuld" anhängen, die garkeine war?)] - "Und das Alles in Deiner Gegenwart?" - "Ja, aber anschließend hat der Vorsitzende der Prüfungskommission uns Alle zu absolutem Stillschweigen verdonnert, unter Androhung schärfster Konsequenzen, wenn auch nur ein Wort von Alledem nach draußen dringen würde. Aber das ist doch nun, da Zorro endlich tot ist, verjährt, oder?" Zustimmender Jubel, "Bravo"-Rufe und Gläserklingen erfüllten den Raum - aber niemand sang "Adieu, Monsieur le professeur", nichtmal ironisch oder sarkastisch. Aber hätte ich nicht gewußt, daß außer Herrn G. und mir in unserem Kreis niemand mehr genug Französisch konnte, geschweige denn sich im französischen Chanson so gut auskannte, daß er die Anspielung hätte verstehen können, dann hätte ich den Text spontan umgedichtet und ihn in diesem Augenblick angestimmt:
"Au Diable, monsieur le directeur
On ne vous pardonn'ra jamais
Et là, tout au fond de nos cœurs, [et là und hier also mein Lösungsvorschlag für das Problem aus der 2. Fußnote]
ces mots sont écrits à la craie
Nous vous offrons les fleurs du mal
pour dir' combien on vous haït
On ne vous pardonn'ra jamais
Au Diable, monsieur le directeur !"
(Im Saal stand ein Klavier, auf dem ich mich hätte begleiten können.)
Darüber gingen drei Dinge völlig unter: 1. meine soeben errungene Deutsche Meisterschaft [der Senioren meiner Altersklasse] in einer leichtathletischen "Königsdisziplin" - ich war direkt vom Wettkampf gekommen, demonstrativ noch im Trainingsanzug, die Sporttasche mit der Meisterschaftsurkunde und der Medaille unter'm Arm. 2. das frisch verliehene Bundesverdienstkreuz unseres Sportlehrers, das er gut sichtbar am Revers trug und immer wieder im Licht der Kristalleuchter blitzen ließ - aber auch das interessierte niemanden; er kam einfach nicht dazu zu erzählen, wie und wofür er es bekommen hatte.
[Inzwischen habe ich es recherchiert, aber da es nichts mit seiner Tätigkeit an unserer Schule zu tun hatte, lasse ich es weg. Im Rückblick glaube ich, daß er ein guter Lehrer war, von dem wir weit mehr als nur Laufen, Springen und Werfen hätten lernen können. Aber Lehrer in "nicht versetzungsrelevanten" Fächern wurden halt nie richtig ernst genommen - weder von ihren Schülern noch von ihren Kollegen, zumal wenn sie nicht verbeamtet, sondern "nur Dipl.-Sportlehrer" im Angestelltenverhältnis waren -, und viele fühlten sich darob verletzt. Mit Recht, denn Musik, Sport und Kunst sind doch eigentlich viel wichtiger im Leben als z.B. höhere Mathematik oder Atomphysik. Auch unser Sportlehrer fühlte sich verkannt, besonders von mir. Er nannte mich "desinteressiert" und "trainingsfaul" und ging mir auch später aus dem Weg. Schade, das wäre der Abend zum Ausräumen aller Mißverständnisse und für eine große Versöhnung vor versammelter Mannschaft gewesen - es hätte mir nichts ausgemacht, mich coram publico bei ihm zu entschuldigen -; aber selbst darum hat mich der verfluchte von S. noch im Tode gebracht! Umgekehrt hatte auch mein Sportlehrer mir Unrecht getan. Völlig "desinteressiert" war ich nur an Geräteturnen - ich sah nicht ein, wofür man z.B. das Risiko eingehen sollte, vom Reck zu fallen und sich dabei ernsthaft zu verletzen. (Außerdem war ich Brillenträger - damals gab es noch keine "Kontaktlinsen", jedenfalls keine, die für Normalsterbliche erschwinglich gewesen wären.) Aus dem gleichen Grund sah ich auch den Sinn des Hochkletterns an einem Tau nicht ein - ich wollte ja nicht zur Marine! (Ein paar meiner Mitschüler konnten das erstaunlich gut; sie waren behende wie die Affen - das waren allerdings die, die auch geistig nicht viel besser waren ;-) Und gewisse Ballspiele fand ich mit zunehmendem Alter kindisch. Gewiß, sie erfüllten in der Unterstufe den Zweck, daß pubertierende Jungen überschüssige Kräfte abreagierten; aber daß 22 fast erwachsene Männer einem einzigen Ball nachliefen, einander in die Knochen traten und mit den Köpfen zusammenstießen, das fand ich dumm und eines Gymnasiasten unwürdig. (Damals konnte man mit Balltreten noch kein Milionario werden; als die "Bundesliga" gegründet wurde - bis dahin war man Amateur, und in anderen Ball-"Sport"-Arten blieb man das noch lange - durfte man monatlich höchstens 360.- DM brutto verdienen; weil man davon nicht leben konnte, war das nur ein Nebenberuf, für den eine höhere Steuerklasse galt; netto blieb also allenfalls die Hälfte übrig. Und ein Verein, der gegen diese Höchstgehaltsgrenze verstieß, wie z.B. Hertha BSC, wurde disqualifiziert und in die Regionalliga zwangsversetzt.) Dagegen war ich immer ein Leichtathletik-fan und auch bemüht, ordentlich zu trainieren - soweit meine damals noch unstabile Gesundheit das zuließ. Allerdings konnte man Leichtathletik nur im Sommer ausüben; um im Winter "Konditions- und Krafttraining" in der Halle zu machen war ich in der Tat zu "faul". (Heute ist das anders; seit ich erkannt habe, daß längere Trainingspausen zumal im Alter zu Muskelschwund führen, trainiere ich auch im Winterhalbjahr brav "indoors", wie man das jetzt nennt. Meine Muskulatur ist noch immer vorzüglich; ich nehme es mit jedem untrainierten 20-jährigen locker auf.)]
3. daß derjenige, von dem wir Alle doch den größten Jubel erwartet hätten, teilnahmslos in einer Ecke saß und kaum den Mund auftat, nämlich E. Er war schwer herzkrank - ausgerechnet er -; und einige Monate später war er tot. [Ich ging zur Trauermesse und zur Beerdigung - als Einziger aus unserer Runde, obwohl die Anderen sicher auch eine Todesanzeige erhalten hatten; aber die Kirche wurde auch so voll - und erfuhr bei der Gelegenheit, daß seine Witwe eine alte Bekannte von mir war. Ich hatte bis dahin nicht gewußt, daß die Beiden miteinander verheiratet waren; zu ihrer Hochzeit hatten sie mich nicht eingeladen. Sie führte ihren Geburtsnamen weiter, während er einen Doppelnamen angenommen hatte, den er freilich nicht führte, obwohl ihr Name noch um mindestens eine Null "wertvoller" war als seiner; Geld hatte zu noch mehr Geld geheiratet. Sie ließ sich nicht lumpen - der Sarg sah jedenfalls sündhaft teuer aus, und Speisen und Getränke schmeckten ebenso.] Mit E. starb auch unser Jahrestreffen; denn er war es, der uns jedesmal dazu eingeladen hatte, in dasselbe Schickimickilokal Nobelrestaurant wie einst sein Vater - natürlich Alles auf seine Rechnung. Ohne diese Großzügigkeit war das den Meisten zu teuer; Einige von uns trafen sich noch ein paarmal in einem billigeren Schuppen bürgerlichen Lokal auf eigene Rechnung, dann schlief auch das ein. Inzwischen sind noch mehr verstorben, aber ich nahm an keiner Beerdigung mehr teil. Seht Ihr, liebe Musikfreunde, es gibt im Internet "Musikforen", die fast nur aus Todesanzeigen und Nachrufen bestehen; das erspare ich mir tunlichst, denn auf seine alten Tage sollte man sich nicht auch noch mit solchen traurigen Geschehnissen belasten. Hatte ich eingangs geschrieben, daß ich "das Meiste" von meiner Schulzeit vergessen oder verdrängt habe? Nun, dafür ich das doch ein recht ansehnlicher Rückblick geworden - oder?
(Heinrich von Kleist - mit dem man uns irgendwann in der Mittelstufe traktierte - hat mal behauptet, die Gedanken kämen beim Reden. Doch das gilt allenfalls für Berufspolitiker - und was die reden ist eh frei erfundener Unsinn, der nur den Zweck verfolgt, Wähler zu belügen und zu betrügen. Aber den Satz, daß die Gedanken beim Schreiben kommen, genauer gesagt wiederkommen, würde ich ohne weiteres unterschreiben ;-)
Nachtrag: Einmal bin ich meinem Vorsatz, an keiner Beerdigung meiner ehemaligen Mitschüler mehr teilnehmen zu wollen, doch untreu geworden, nämlich bei P., dem neben mir einzigen wirklich musikalischen Menschen in meiner Klasse. (Er war kurz nach seiner 3. Giftspritze "Anti-Covid-Impfung" gestorben, also "im Zusammenhang mit Corona", wie es so [un]schön hieß.) Aber das war nicht der Grund für mein Kommen, vielmehr wollte ich nach so vielen Jahren seine Schwester noch einmal wiedersehen. Ich hätte es mir besser ersparen sollen... Ich erkannte Binchen gleich wieder, aber sie mich nicht - oder vielleicht wollte sie mich bloß nicht wiedererkennen. Nicht ganz überraschend, war sie eine verbitterte alte Jungfer geworden; aber sie hatte aus der Not eine Tugend gemacht - oder was sie dafür hielt: Sie war Vorsitzende der örtlichen LGBT-Community, die sie einst als reinen Lesbenverein gegründet hatte. Aber das war noch nicht das Schlimmste. Wo war denn T., ihr kleiner Bruder, geblieben? Gewiß, der war immer das schwarze Schaf der Familie gewesen. [Niemand wäre auf die Schnapsidee gekommen, etwa ihn Medizin studieren und die väterliche Praxis übernehmen zu lassen.] Aber bei der Beerdigung des eigenen Bruders würde er doch nicht kneifen, oder? "Der ist sicher nach Lodsch gefahren," witzelte jemand. "Nein, der steht im Fußballtor," meinte ein älteres Semester, das
jenen Schlager noch kannte. Aber dafür war jemand aufgekreuzt, den bzw. die ich noch nicht kannte: eine gewisse "Dora". Langer Rede, kurzer Sinn: T. hatte nach fast 60 Lebensjahren und drei gescheiterten Ehen endlich erkannt, woran letzteres lag: Er hatte im falschen Körper gesteckt! Also ließ er sich kastrieren umgendern (oder heißt es "transgendern"? Ich kenne mich da nicht so gut aus) und lief seitdem als "Frau" herum. [Seine Schwester und ihre Gesinnungsgenoss*innen Gesinnungsgenießenden hatten ihn dazu ermutigt.] Ich verzichtete darauf, ihn/sie/es zu fragen, wie es sich als "Diverse[s]" lebt, sonst hätte er womöglich noch versucht, auch mich zu bekehren... Nach diesem Reinfall werde ich nun aber wirklich nie mehr an einer Mitschüler-Beerdigung teilnehmen - das habe ich mir geschworen!


****Ich sagte bewußt nicht "dieselben Noten", denn mir war klar, daß das aussichtslos war. Früher war der "Durchschnitt" mit Recht völlig belanglos gewesen, d.h. er hätte es sein können. Aber als ich auf's Gymnasium kam, gab es noch die sogenannten "Kopfnoten", und die Frau Doktor - die ja als unsere Klassenlehrerin für deren Vergabe zuständig war - machte es sich da ganz einfach: Sie errechnete den Notendurchschnitt, und den schrieb sie dann 4x in die Kopfnotenzeilen. Sie rechtfertigte das wie folgt: "Wenn ich jemandem, der in allen Fächern nur ausreichend steht, ein Gut in Fleiß gäbe, dann würde doch jeder, der das liest, denken: Was muß das für ein Dummkopf sein - obwohl er so fleißig ist, schafft er keine besseren Noten. Das würde also dem Betreffenden mehr schaden als nützen. Umgekehrt kann ich jemandem, der überall befriedigend steht, kein Mangelhaft in Fleiß geben; sonst würde doch der Eindruck entstehen, daß an dieser Schule die Anforderungen zu niedrig sind, wenn selbst ein Faulpelz mühelos mitkäme. Eure Ordnung kann ich nicht wirklich beurteilen, dann müßte ich ja bei Euch zuhause vorbeischauen, und das kann ich nicht. Mündliche Mitarbeit fließt bei mir in die Fachnote ein, und ich nehme an, bei meinen Kollegen auch; ich kann daraus also guten Gewissens die Kopfnote ableiten. Und Führung ist für mich die Gesamtheit der drei anderen Kopfnoten, also muß ich auch da das Gleiche 'reinschreiben." Wenn ein Durchschnitt ziemlich genau zwischen zwei Noten lag (sonst rundete sie einfach auf oder ab), dannn rechnete sie zunächst die "unwichtigen" Fächer heraus (das waren nach ihrer Auffassung Musik, Kunst, Sport und Religionslehre), und wenn auch das nicht half, dann gewichtete sie ihre eigenen Fächer doppelt - auch dafür fand sie eine Begründung: Deutsch und Mathematik waren ja die "Kernfächer" schlechthin! (Später wurden die Kopfnoten als solche zwar abgeschafft, aber nicht wirklich; vielmehr wurden sie durch mehr oder weniger blumige Umschreibungen ersetzt, wie "nicht immer gut", "läßt zu wünschen übrig", "läßt sehr zu wünschen übrig" usw.; aber da hatten wir die Frau Doktor schon nicht mehr als Klassenlehrerin.)
Ansonsten war uns der Notendurchschnitt herzlich egal; und was ich oben von "Klassenprimus" geschrieben habe, war längst nichts Offizielles mehr, sondern wurde nur noch spaßeshalber errechnet. Es herrschte zwar ein gesunder Konkurrenzkampf, aber der beschränkte sich auf einzelne Fächer oder sogar nur auf Teile davon. Z.B. freute sich der Eine darüber, der beste Fußballer zu sein, der Zweite, am schnellsten zu schwimmen und der Dritte, am weitesten Schlagball zu werfen. Oder im Musikunterricht, wer am höchsten (vor dem Stimmbruch) oder tiefsten (nach dem Stimmbruch) singen konnte oder wer am besten Klavier spielte. (M. spielte wohl etwas besser als ich; aber er schaffte es, in der Mittelstufe von der Schule verwiesen zu werden - nicht wegen mangelhafter Fachleistungen, sondern aus disziplinarischen Gründen; als "Künstlernatur" glaubte er, sich Alles herausnehmen zu können; und für einige Dinge, die er sich leistete, würde er selbst heute, da fast Alles "erlaubt" ist, von der Schule fliegen.) Am besten Querflöte spielte unstreitig P. Er hatte ein tolles Instrument, ich glaube aus echtem Silber, nicht so ein schäbiges Ding aus Holz, wie es mein Großvater aus dem 1. Weltkrieg - er war Pfeifer in einem Musikzug gewesen - mitgebracht hatte. Andere waren am besten in Geographie oder Chemie oder sonstwas - meist in einem Fach, das sie auch mal studieren wollten. Aber daß jemand in mehr als einem Fach der Klassenbeste war, kam nur alle paar Jahre mal vor. [Jedenfalls war es bei uns so. In einer Parallelklasse gab es freilich I., der in allen "wissenschaftlichen" Fächern der Beste war; er wurde später Professor an einer "Koop"-Universität - ich weiß nicht mehr für welches Fach, er hätte es wahrscheinlich in jedem geschafft. Und in der anderen Parallelklasse galt das Gleiche für S. Auch er strebte eine Universitätskarriere an; aber seine Doktorprüfung fiel nicht gut genug aus - damals brauchte man mindestens "magna cum laude", und er schaffte nur "cum laude" -; also wurde er... Gymnasiallehrer. Irgendwann hatte er es satt, "dumme Kinder" zu unterrichten, die "den Anforderungen an eine höhere Schulbildung mehrheitlich nicht genügten", ließ sich in den vorzeitigen Ruhestand versetzen und schrieb einige angeblich sehr beachtliche Fachbücher - was ich freilich nicht beurteilen kann, denn seine Fächer waren Mathematik und Lateinisch.]
Dann - ein Jahr vor unserem Abitur - wurde plötzlich der "numerus clausus" eingeführt. Nein, das lag noch nicht daran, daß zuviele Schüler Abitur machten (dazu schreibe ich ein paar Fußnoten weiter unten etwas), sondern daran, daß - anders als früher - fast jeder Abiturient studieren wollte. (Und fast jede Abiturientin - früher hatten die meisten Mädchen nur Abitur gemacht, um einen Akademiker zu heiraten ;-) Und zwar nicht ein Fach, für das sie vielleicht besonders geeignet gewesen wären, sondern eines, mit dem sie hofften, besonders viel Geld scheffeln zu können. An 1. Stelle stand Medizin - Ärzte galten generell als "wohlhabend". Und da es nicht so viele Studienplätze wie Bewerber gab, verfiel man auf die Schnapsidee geniale Idee, die vorhandenen Studienplätze nach dem Notendurchschnitt zu vergeben. Wer also Arzt werden wollte, der mußte künftig [sehr] gut in Mathematik, Lateinisch, Religionslehre u.a. "relevanten" Fächern sein. (Na klar: Er mußte doch hohe Rechnungen - jedenfalls für Privatpatienten - schreiben, mit küchenlateinischen Fremdwörtern Fachausdrücken um sich werfen und den sprichwörtlichen "Halbgott in Weiß" spielen können ;-) P. fiel aus allen Wolken. Er war weder dumm noch faul - er gehörte zu den 8 von uns, die den direkten "Durchmarsch" von Sexta bis zum Abitur schafften -, aber auch kein Streber. Ihm hatte es immer genügt, in allen Fächern glatt "ausreichend" zu stehen, außer in Musik und Sport (er war unser bester Fußballtorwart - kein kraftstrotzender Anaboliker, wie die heutigen, sondern eher ein Typ wie Sepp Maier, der sein großes Vorbild war), da stand er "sehr gut". Was wollte er mehr? Für ihn war klar, daß das Meiste, was wir auf dem Gymnasium machten, für sein späteres Leben belanglos sein würde: Sein Vater hatte eine gut gehende Augenarztpraxis; er würde also in aller Ruhe Medizin studieren, seine Facharztausbildung machen und dann die väterliche Praxis übernehmen. Aber nun hatte es sich ausgeflötet. Um einen Studienplatz in Medizin zu bekommen, hätte er viele Jahre warten müssen. Also studierte er Pädagogik - dafür gab es keinen ncl - und endete als Leiter einer staatlichen Anstalt für Schwererziehbare. Und die väterliche Praxis? Zum Glück hatte er eine jüngere Schwester, die noch rechtzeitig anfangen konnte, für [sehr] gute Noten zu pauken. Sie übernahm später die Praxis, und ich bezweifle nicht, daß sie eine gute Augenärztin war; aber sie zahlte einen hohen Preis, nämlich den Verzicht auf Heirat und eigene Kinder, so ähnlich wie "Céline" in dem anderen Evergreen von Hugues Aufray. [Sie hieß Sabine, und um sie war es besonders schade. Ich habe sie als hübsches, liebenswertes Mädchen in Erinnerung. Sie kam nach ihrer Mutter, die mit 16 geheiratet hatte und immer noch sehr jugendlich wirkte; meine Mutter - die sie von den Elternabenden kannte - nannte sie "die Kindfrau".] Und so wie den Beiden erging es unzähligen Anderen - es gab ja nicht nur elterliche Arztpraxen, die zum Problem wurden. Weil nun jeder Durchschnitts-Idiot in vermeintlich "lukrative" Berufe drängte, auch wenn er eigentlich garnicht für sie geeignet war, während Leute, die letzteres sehr wohl gewesen wären, von ihnen ausgeschlossen wurden, verflachte das Niveau dieser Berufe immer mehr; und heute haben wir fast nur noch unfähige Ärzte, Apotheker usw. - mit verheerenden Folgen nicht nur für die Volksgesundheit, sondern auch für die Volkswirtschaft und die Gesellschaft insgesamt. [Mit einer kompetenten Ärzteschaft wäre z.B. die "Corona"-Plandemie garnicht möglich gewesen - der Schwindel mit "Covid19" wäre sofort aufgeflogen, und die de-facto-Zwangs-"Impfungen" mit den gesundheitsschädlichen und auf lange Sicht tödlichen mRNA-Spritzen hätte es nie gegeben.] Bevor Ihr weiterlest, liebe Musikfreunde, nehmt Euch doch bitte einen Augenblick Zeit, um darüber nachzudenken, wie man diese verhängnisvolle Fehlentwicklung, die damals ihren Anfang nahm, rückgängig machen könnte. Ja, ich höre schon den Satz: "Erstmal alle Berufspolitiker, vor allem die auf dem Sektor Bildungspolitik tätigen, totschlagen wie räudige Hunde!" Aber was dann? Kritik ist leicht, doch gefragt sind konstruktive Lösungsvorschläge! [Ich hätte schon einen: 'runter mit den irrsinnig hohen Arzthonoraren und den Gewinnspannen bei apothekenpflichtigen Mittelchen; dann würde die medizinische Versorgung nicht nur billiger, sondern auch besser, denn dann würden nur noch Leute diese Berufe ergreifen, die sich wirklich berufen fühlen - und nicht nur wegen des Geldes. Jawohl, das ginge mit ein paar Federstrichen, denn das Alles ist gesetzlich festgelegt! Wenn die Parteibonzen in der gesetzgebenden Quasselbude sich nicht immer wieder von den Lobbyisten der pharmazeutischen Industrie und der Ärzteschaft bestechen ließen... pardon, Parlamentarier können ja per definitionem nicht "bestochen" werden, denn sie haben auch Gesetze verabschiedet, nach denen es ihnen erlaubt ist, ungestraft Dinge zu tun, die bei Normalsterblichen "Bestechlichkeit" genannt werden. (Sie gelten nicht als "Amtsträger" - Lehrer schon. Hätte also damals Herr W. die Kiste Rotwein von Herrn G. angenommen, so wäre das "Bestechung" gewesen.) Mein Vorschlag ist also leider nicht ganz praktikabel.]
*****Ich weiß, so hätte es gerade nicht sein sollen. In der Mittelstufe sagte uns mal ein Lehrer: "Jungs, macht Euch von dem Gedanken frei, daß Ihr von Beruf Schüler seid. Ihr sollt hier nicht Auswendiglernen und Nachplappern üben - dann könntet Ihr in den Zoo gehen und Papageien werden. Ihr seid auf der höheren Schule, um drei Dinge zu lernen: Lesen, Schreiben und Reden. Das heißt, Ihr sollt lernen, einen Text mit Verstand zu lesen, damit Ihr seinen Inhalt schriftlich wie mündlich in eigenen Worten wiedergeben könnt!" Allerdings erwähnte er nicht den 4., schwierigsten - und für einen Dolmetscher und Schlagerfreund wichtigsten - Punkt, nämlich einem Redner (oder Sänger ;-) so zuzuhören, daß man seinen Vortrag schriftlich wie mündlich in eigenen Worten wiedergeben kann. Vielleicht hat ihm deshalb auch nie jemand richtig zugehört; er redete gegen eine Wand aus Dummheit, Faulheit und Böswilligkeit - aber ich wollte ja hier nichts weiter zu Herrn J. schreiben. Frau D.-S. bin ich im Rückblick nicht wirklich böse; ich weiß, daß ihr Herr Direktor sie zwang, so zu handeln. Aus ihrer Sicht hatte sie in der Sache Recht; und ich verstehe auch, daß sie umgekehrt mir böse war, weil ich sie ausgetrickst hatte. Aber juristisch war das zulässig - es war kein "Pfuschen". Es hat mir auch nie leidgetan, im Gegenteil: Ich bin heute noch ein klein wenig stolz darauf - allerdings wirklich nur ein klein wenig ;-)
Nachtrag: Jemand hat mir gemailt, was ich denn getan hätte, wenn Frau D.-S. der Prüfungskommission anhand des Lehrbuchs offengelegt hätte, was ich da trieb? (Außer ihr und der Fachbereichsleiterin waren ja Alle fachfremd, konnten es also nicht von sich aus merken.) Dann hätte ich mich dumm gestellt und auf die von mir gegengezeichnete Aktennotiz verwiesen, wonach Prüfungsgegenstand nicht der Lehrstoff der letzten beiden Jahre, sondern der Inhalt des Lehrbuchs der letzten beiden Jahre war, ich mich also exakt an die Vorgaben gehalten hatte. Frau D.-S. - die noch nicht fest verbeamtet war, sondern das, was man damals "Assessorin" und später "Studienrätin zur Anstellung" nannte - hätte ein Disziplinarverfahren riskiert, wegen eigenmächtiger Abänderung des Prüfungsgegenstands, dazu noch in einer so absurden Weise, die offensichtlich darauf angelegt war, einen Prüfling zu schikanieren und/oder in die Irre zu führen. [Wenn man den Zettel nicht so genau las, fiel das nicht weiter auf; aber wenn man mein Auswendiglernen thematisiert hätte...] Deshalb konnte ich auch jeder Nachfrage elegant ausweichen; denn wenn sie das moniert hätte, dann hätte ich ebenfalls auf die Aktennotiz verwiesen und darauf, daß sich die Antwort auf diese Nachfrage so nicht aus dem Lehrbuch ergab (sondern Verstehen des Stoffs und eigenes Denken erfordert hätte - aber das hatten wir ja schon).
2. Nachtrag: Ein anderer Jemand hat mich nach der Moral von der Geschicht' gefragt. Die Antwort darauf ist ganz einfach: Es gibt keine! Namen sind gut für Grabsteine. (James Bond, wenn ich nicht irre. Deshalb habe ich sie hier abgekürzt - abändern wollte ich sie nicht -, denn ich will niemandem ein Denkmal setzen, auch kein negatives. Ich bin froh, den Namen unseres Mathematiklehrers nirgendwo im Internet entdeckt zu haben - er ist tot, mausetot, da werde ich ihn doch nicht zum virtuellen Leben wiedererwecken! Es genügt, daß er mich - und bestimmt nicht nur mich - noch jahrelang in meinen Albträumen verfolgt hat. So wie ihn habe ich mir immer Mephisto vorgestellt. Ich habe noch ein Photo von dieser Teufelsfratze - von K.-W. mit versteckter Kamera aufgenommen. Seine Augenbrauen bogen sich an den äußeren Enden nach oben, wie Hörner, während sie bei normalen Menschen doch nach unten abfallen; und er hatte einen wahrhaft diabolischem Gesichtsausdruck; da wäre selbst ein Gustav Gründgens vor Neid erblaßt. Aber ich werde auch das nicht ins www stellen.) Und eine "Moral" ist gut für Märchen - im wahren Leben gibt es sie nicht, und dies ist ja eine wahre Geschichte. Aber ich finde, daß sie durchaus ein moralisches Ende hat - wenn ich hier mal etwas vorgreifen darf: Hätte Herr von S. den armen K.-W. nicht ständig schikaniert, seine Wahl zum Schülersprecher verhindert und versucht, ihm die verdiente 1 in Mathematik vorzuenthalten, dann wäre er wahrscheinlich im Alter von 65 Jahren als hochangesehener und kerngesunder Oberstudiendirektor und Honorarprofessor in den Ruhestand getreten, und die Anmerkungen zu diesem Schlagertext wären nie geschrieben worden. Wäre das "moralischer" gewesen? Oder nicht vielmehr eine himmelschreiende Ungerechtigkeit? (Die Frage, ob er womöglich sogar noch ein guter Lehrer - und Mathematiker - geworden wäre, wenn er sich von seinem besten Schüler ab und zu etwas hätte sagen, d.h. auf Fehler hinweisen und korrigieren lassen, wage ich garnicht zu stellen ;-)
******Damals durften Mädchen in Deutschland mit 16 heiraten; und es war üblich, ein Jahr Verlobungszeit vorausgehen zu lassen; die Aktivitäten meiner Schwester kamen also durchaus nicht zur Unzeit - weshalb meine Eltern auch nichts dagegen hatten. [Damals brauchte man in Deutschland noch keine Angst zu haben, daß ein junges Mädchen nachts auf offener Straße von einer Horde moslemischer Rapefugees, pardon "Flüchtlinge", überfallen, vergewaltigt und womöglich sogar ermordet wurde. Gegen "normale" Belästigungen reichte es aus, wenn ihr Freund sie von zuhause abholte und auch wieder zurückbrachte, wie das damals üblich war - heute wäre ein solch einfacher "Begleitschutz" illusorisch.] Aber meine Mutter bestand darauf, daß ihre Tochter erst die Schule "zuendemachte", und sie gehorchte. Auf ihrem Abiturzeugnis gab es übrigens kein Mangelhaft in Mathematik oder irgendeinem anderen Fach -; allerdings glaube ich nicht, daß sich einer ihrer Ehemänner jemals ihre Zeugnisnoten zeigen ließ, weder vor noch nach der Hochzeit.
[Ich hatte mir das Abiturzeugnis meiner Künftigen auch nicht angeschaut, sondern unbesehen geglaubt, was sie erzählt hatte - ungefragt, aus Stolz auf ihren guten Notendurchschnitt. Erst nachdem wir schon viele Jahre verheiratet waren, bekam ich es zufällig mal zu Gesicht. Da fiel mir auf, daß der offiziell errechnete Durchschnitt - der an ihrer Schule auf dem Zeugnis vermerkt wurde [an meiner nicht] - nicht stimmte: Ihre Klassenlehrerin - die zugleich ihre Mathematiklehrerin war - hatte sich zu ihren Gunsten verrechnet, war also noch unfähiger als unser Herr von S., d.h. nichtmal in der Lage, eine simple Additions- und Divisionsaufgabe zu lösen (Volksschulstoff - 3. Schuljahr -, jedenfalls zu meiner Zeit)! Und meine Frau - die immerhin ein Gut in Mathe auf dem Abi hatte - hatte es angeblich nie bemerkt, also entweder nicht oder genauso falsch nachgerechnet. Sie redete sich damit heraus, daß ihre Lehrerin vielleicht nicht so genau wußte, welche Fächer als "wissenschaftlich" galten (nur die durften berücksichtigt werden) und welche nicht; aber das klang mir eher nach fauler Ausrede. Offenbar war ein Gut an ihrer Schule vom Niveau her niedriger als ein Mangelhaft an unserer - Zentralabitur gab es ja noch lange nicht. Aber was will man schon von einem gemischten Dorfgymnasium erwarten? (Nein, offiziell war das - infolge zahlreicher Eingemeindungen - eine Stadt; aber sie führte noch das "...dorf" im Namen ;-) Etwa soviel wie von einer heutigen Gesamtschule...]
(...)
*******Wer diese Zeilen gelesen hat weiß, wie ich über Herrn von S. dachte - und auch heute, ein halbes Jahrhundert später, noch denke: Möge er in der Hölle schmoren! Man wird mich also nicht verdächtigen, ihn in Schutz nehmen zu wollen. Aber ich war schon damals objektiv genug einzusehen, daß er am Selbstmord von R. nicht die Haupt-, geschweige denn die Alleinschuld trug; er war nur der Auslöser. Es war gewiß nicht die feine englische Art, wie er uns das mitteilte; aber 1. hatte ich seine Worte nicht so kraß in Erinnerung, wie E. sie wohl zuhause wiedergab, und 2. fand und finde ich noch immer, daß er in der Sache Recht hatte. Wer unbedingt Selbstmord begehen will - wofür es gute Gründe geben mag - soll sich gefälligst ins stille Kämmerlein zurückziehen, einen Strick nehmen, eine Überdosis Schlaftabletten schlucken, sich eine Kugel in den Kopf jagen o.ä. [Ich persönlich habe mir noch etwas Besseres ausgedacht, wenn die Zeit gekommen ist - ohne andere Menschen zu verletzen oder auch nur Sachen zu beschädigen -; aber das werde ich hier nicht breittreten; vielleicht liest ja jemand aus der Versicherungsbranche mit; und meine Frau soll doch die nicht unbeträchtliche Summe meiner Unfallversicherung auf den Todesfall anstandslos und ungeschmälert ausgezahlt bekommen, damit sie sich einen schönen Lebensabend machen kann und mich finanziell in besserer Erinnerung behält als meine Mutter meinen Vater.] Aber ein Moslem, der einen Selbstmordanschlag verübt, verdient kein Mitleid, ebensowenig ein Kanak, der Amoek läuft oder ein Vertreter des "christlichen Abendlandes", der sich vor einen fahrenden Zug wirft. Was, wenn der Zugführer ihn sieht und eine Vollbremsung durchführt, bei der nicht bloß ein paar Schüler Zeit verlieren und daher nicht pünktlich zum Mathematik-Unterricht erscheinen können, sondern einige Passagiere schwer verletzt oder sogar getötet werden? Und wenn die Erbmasse - die von R. war mit Sicherheit gleich null - nicht ausreicht, um Schadensersatz- und Schmerzensgeld-Ansprüche zu befriedigen? Dann sollte man die Leiche zu Hundefutter verarbeiten und den Erlös aus dem Verkauf an die Geschädigten verteilen! (Und so drastisch wie ich hier hatte es Herr von S. denn doch nicht formuliert ;-)
Wer waren also die wahren Schuldigen am Tod von R.? Die Antwort war und ist für mich ganz klar: Diejenigen, für die der Mensch erst beim Abiturienten anfing, womöglich sogar erst beim Akademiker. Und wenn sich jemand einreden ließ, daß [s]ein Leben darunter nichts wert sei - warum sollte er es dann nicht gleich wegwerfen? Wie sagte mein Vater: "Wenn es nach denen ginge, gäbe es bald keine Indianer mehr, sondern nur noch Häuptlinge. Und wer repariert dann den Abfluß?" (Der Spruch von der Putzfrau, die bald ein Vollstudium mit akademischem Abschluß als "Dipl.-Parkettkosmetikerin" würde vorweisen müssen, kam zwar erst später auf, aber die Tendenz bestand schon.) Der psychische Druck auf junge Menschen - vor allem auf solche, die wie R. körperbehindert waren und deshalb einen "geistigen" Beruf erlernen mußten -, war immens. Aber ob es eine sinnvolle Lösung war, ihnen diesen Druck dadurch zu nehmen, daß man Jedem das Abitur nachwarf - womöglich auch bald den Universitätsabschluß? Was sollte das, was bezweckte man damit? Wohlgemerkt, es wäre nichts gegen eine gute Bildung für möglichst viele junge Leute zu sagen - wenn die verlängerte Schulzeit sie denn tatsächlich gebracht hätte! Tatsächlich aber stieg mit der Zahl der Oberschüler[innen] nicht etwa deren Bildungsniveau, sondern das allgemeine Unterrichtsniveau paßte sich dem unteren Rand der Menge an, d.h. es sank immer mehr - heute haben viele Abiturienten einer Gesamtschule weniger drauf als früher Volksschüler mit ordentlichem Abschluß! (Ich muß es wissen - meine Frau war Lehrerin, und sie hat mir oft genug ihr Leid geklagt ;-) Ein US-Amerikaner veröffentlichte in den 1990er Jahren ein Buch, in dem er eine provokante These vertrat, die zugespitzt wie folgt lautete: Die staatliche Highschool ist nicht dazu da, um ihre Absolventen klüger zu machen, sondern ganz im Gegenteil, um sie dümmer zu machen, damit man sie als Untertanen besser manipulieren kann - daher die Schulpflicht (die in den USA nun schon bis zum 18. Lebensjahr dauert, aber einen immer weiter ansteigenden Prozentsatz von Analphabeten hervorbringt) -; und je länger sie diesem Verblödungs-Unterricht ausgesetzt sind, desto besser für die Obertanen. [Im neuen Jahrtausend legte er noch Eins drauf mit einem ähnlichen Buch über das College.] Ich will das hier nicht im Einzelnen kommentieren; aber je länger ich darüber nachdenke... Müssen wir den Amis denn Alles nachmachen? Wenn Ihr des Englischen mächtig seid, liebe Musikfreunde, und etwas Zeit erübrigen könnt, dann werft doch selber mal einen Blick hinein!

[John Taylor Gatto, Dumbing us down - Wie man uns verblödet, 1992] [John Taylor Gatto, Weapons of mass instruction - Massenverblödungswaffen, 2008] [Das Resultat der staatlichen Verblödungsanstalten in den USA]

********So sagte man tatsächlich; und unter seinen Schreiben stand dann:
"Hinzpeter" [nur der Nachname, nie der Vorname]
"Zollrat und Hauptzollamtsvorsteher" [Dienstgrad und Dienststellung]
Damals war das noch ganz einfach: Vorsteher eines Zollamts war ein Zollamtmann, Vorsteher eines Hauptzollamts ein Zollrat. Darunter gab es Zollinspektoren; die beaufsichtigten (inspizierten) die Angehörigen des Mittleren und Einfachen Dienstes. (Höheren Dienst gab es beim Zoll nicht; dessen Angehörige arbeiteten bei der übergeordneten Behörde, der Oberfinanzdirektion.) Dann kam die schleichende Inflation der Dienstgrade: Zwischen dem Inspektor und dem Amtmann wurde ein "Oberinspektor" eingeschoben, ebenso ein "Oberamtmann" - aus dem später ein neuer "Zollrat" wurde, während der alte Zollrat zum "Oberzollrat" wurde. In der letzten Zeile - die ja zuvor noch nicht lang genug gewesen war - stand dann also:
"Oberzollrat und Hauptzollamtsvorsteher"
Inzwischen wurde der Oberzollrat, um die Verwirrung vollständig zu machen, in "Regierungsrat" umbenannt, aber nicht etwa in allen Bundesländern einheitlich, sondern... Aber lassen wir das; in anderen Bereichen des Öffentlichen Dienstes war es ja nicht besser. Ich erinnere mich an meine Bundeswehrzeit. Auf unserem Stabsgeschäftszimmer saß ein StUffz, der mit Nachnamen "Dienst" hieß. Die letzten beiden Zeilen der von ihm verfaßten Schreiben lauteten also:
"Dienst
Stabsunteroffizier und Stabsdienstunteroffizier"
Ein Zivilunke Zivilist, der ein solches Schreiben zu sehen bekam, mußte glauben, daß unser Geschwader das reinste Irrenhaus sei. (Das war es auch, aber aus anderen, viel schlimmeren Gründen, die hier freilich nichts zur Sache tun. Vielleicht schreibe ich darüber ein andermal.)
Zurück zum Zoll. Was der Zollrat da von wegen bedauern sagte, war pure Heuchelei. Man wollte "die blöden Krüppel", die nicht voll einsatzfähig waren, lieber heute als morgen loswerden. Die Gesunden meinten, daß die, die sich "ihr Zipperlein beim Militär geholt" hatten, "gefälligst auch dorthin zurückgehen" sollten. Diese Auffassung konnte man bei ehemaligen Berufssoldaten vielleicht vertreten. (Die meisten von denen gingen denn auch wieder zurück.) Aber gegenüber Leuten wie meinem Vater, die nicht gefragt worden waren, ob sie ihre gesunden Knochen "für's Vaterland, für's teure" opfern wollten, und die als Kriegsversehrte - oder, wie man damals sagte, "Kriegsbeschädigte" - kehrwiedert wiedergekehrt waren, war das eine Frechheit. Es war nicht schön, wenn man von den lieben Kollegen hörte - und sei es auch nur indirekt über Dritte -, daß sich "Hinkebein" bei einem "kostenlosen Italienurlaub" anderthalb Jahre lang "die Sonne auf den Bauch scheinen" ließ, sich dann "rechtzeitig den Heimatschuß abholte," den Rest des Krieges "gemütlich in einem gut geheizten Lazarett, in einem weichen Bett, mit netten Krankenschwestern" verbrachte und "zur Belohnung auch noch Offizier" wurde, obwohl er "nichtmal Mittlere Reife, geschweige denn Abitur" hatte. Noch unschöner, wenn man hörte, daß "7-Finger-Ede" wahrscheinlich "Selbstverstümmelung" beging, "um sich vor dem Fronteinsatz zu drücken, so wie er sich jetzt vor der Arbeit drückt. Wenn er nicht richtig schreibmaschineschreiben kann, soll er doch Außendienst machen - er hat ja zwei gesunde Beine!" [Damals wurde im Öffentlichen Dienst noch erwartet, daß man "Zehnfingerblindschreiben" beherrschte - was ja gegenüber dem abfällig "Methode Adler" genannten Zweifingersystem eine große Zeitersparnis bedeutete. Aber wenn man keine 10 Finger mehr hat...] Ersteres war "nur" gemein.
[Mein Vater hatte tatsächlich ein halbes Jahr in einem sehr guten Lazarett - einem ehemaligen Sanatorium - verbracht; solange dokterten die Ärzte immer und immer nochmal an seinem Bein herum in der Hoffnung, es wieder hinzubekommen - vergeblich, denn nach jeder vermeintlich gelungenen Operation eiterten neben den gerade verheilenden Wunden neue Knochensplitter hervor. Immerhin blieb ihm die Amputation erspart. Doch er lag nicht die ganze Zeit "gemütlich im Bett herum", denn gleichzeitig absolvierten er und ein paar Andere, die man hoffte, "wieder hinzubekommen", einen theoretischen Lehrgang zum Reserveoffizier, umständehalber unter Verzicht auf den praktischen Ausbildungsteil. Genauer gesagt waren es zwei Lehrgänge am Stück; aber auch auf die sonst übliche "Frontbewährung" dazwischen mußte und konnte man verzichten, denn Kampferfahrung hatten sie ja schon mehr als genug. Und auf formale Bildungsabschlüsse legte man in der Endphase des Krieges keinen gar so großen Wert mehr - mein Vater hatte gute Beurteilungen als Soldat, das war wichtiger. (Er hat sie aufbewahrt, und ich habe sie gelesen. Sie wären sogar sehr gut gewesen, wenn da nicht ominöse Sätze gestanden hätten wie dieser: "Ist in der nationalsozialistischen Weltanschauung noch ungeschult." Das war natürlich bloß ein Euphemismus wohlwollender Vorgesetzter, denn darin wurden damals Alle "geschult" - bis zum Erbrechen. Aber es gab halt Schüler, die unbelehrbar waren. In der nächsten Beurteilung stand: "Ist in der Weitergabe der nationalsozialistischen Weltanschauung noch ungeschult." Das hieß auf gut Deutsch: Von dem hört man kein gutes Wort über..." Aber auch kein schlechtes; er hielt einfach schön den Mund, denn Politik war ihm zuwider - ein Leben lang. Doch so kurz vor dem Endsieg nahm man offenbar auch das nicht mehr so wichtig.) Aber die Kollegen hatten einen wunden Punkt angesprochen, der auch bei seinem Entschluß, das Angebot von der Hardthöhe auszuschlagen, eine entscheidende Rolle spielte: Inzwischen war ja der Friede ausgebrochen; und da schielte man plötzlich wieder nach den Schulzeugnissen. Ja, man hätte ihn auf Stabsoffizierslehrgang geschickt - aber wer garantierte ihm, daß man ihn den auch hätte bestehen lassen? Ein gewisser Prozentsatz mußte ja "routinemäßig" durchfallen, und dafür hätte man sich in erster Linie die Volksschüler ausgesucht. Dann wäre er Subalternoffizier geblieben, und man hätte ihn mit 52 als Hauptmann a.D. nach Hause geschickt - danach stand ihm nicht der Sinn. Dazu fällt mir wieder etwas aus meiner Bundeswehrzeit ein - ja, das gehört hierher, weil es etwas mit Schule zu tun hat! Im Irrenhaus Geschwader hatten wir nicht nur einen StUffz Dienst, sondern auch einen StUffz Durth. Der war Leiter der Fahrbereitschaft und nebenbei für Sport zuständig - beides eigentlich Planstellen für einen Feldwebel, auf die man ihn voreilig setzte, noch bevor man ihn auf Feldwebellehrgang geschickt hatte. Aber das war doch nur eine Formsache - oder? Der Pferdefuß war, daß man als "Portepee-Unteroffizier" entweder die "Mittlere Reife" haben oder die sogenannte "Bildungsprüfung II" bestehen mußte. Er aber hatte "nur Volksschule". Na und? Er konnte lesen, schreiben, rechnen, laufen, springen, werfen, schießen und autofahren. Aber das half ihm bei der verdammten Prüfung nicht - er fiel durch, so oft man ihn hinschickte. Seine Vorgesetzten brieten ihm eine Extrawurst in Sachen Wiederholung nach der anderen; seine Kameraden mühten sich redlich, ihm Nachhilfe zu geben - ohne Erfolg. Und auch für gegen ihn tickte die Beförderungsuhr unerbittlich: Er war S.a.Z. 12, und diese 12 Jahre liefen aus. Es hätte ihm nichts ausgemacht, sein Leben lang als StUffz herumzulaufen; aber um als Berufssoldat übernommen zu werden, mußte man wenigstens Feldwebel sein, sonst bekam man einen Tritt durfte man gehen. "Bin ich denn ein schlechter Soldat?" fragte er. "Mache ich meine Arbeit nicht ordentlich? Wozu brauche ich da Dreisatz und Wurzelziehen und so'n Zeug?" Es half nichts - er wurde gegangen verabschiedet. Und da wollten die meinem Vater weismachen, er hätte, obwohl er "nur Volksschule" hatte, General werden können? Der Spruch vom "Marschallstab im Tornister", den "jeder" Soldat mit sich trägt, war ein Märchen; und an Märchen glaubte mein Vater nicht.]
Letzteres aber war Bezichtigung einer Straftat - das ging ans Eingemachte! Der Betroffene erstattete jedoch keine Anzeige wegen Verleumdung und/oder falscher Verdächtigung, sondern zog eines Tages seine Schuhe aus - langsam und umständlich, denn es waren Spezialanfertigungen, die man schon mit zwei gesunden Händen nicht so einfach an- und ausbekommen hätte - und zeigte den Kollegen seine Füße, d.h. das, was von ihnen beim Fronteinsatz im russischen Winter übriggeblieben war. (Ich spare mir die Einzelheiten.) Danach verstummte zwar das Gerede über ihn, aber die Atmosphäre blieb giftig - es gab ja noch genügend andere Opfer. [Auch von unseren Lehrern waren viele kriegsversehrt, um das noch nachzutragen. Ich habe es hier nicht thematisiert, weil es nichts zur Sache Schule tut; aber ich will noch erwähnen, daß Herr von S. nicht zu ihnen zählte; vermutlich hatte er sich erfolgreich gedrückt.] Wen wundert es da, daß einige Betroffene - auch wenn sie zuvor keine Berufssoldaten gewesen waren - zur Bundeswehr abwanderten? Mein Vater dagegen gab den Stichlern Kontra und zog über die "Etappenhengste" her, die unversehrt geblieben waren, weil sie nie vorne im feindlichen Feuer lagen, sondern hinten die Verpflegung der armen Frontschweine mitfraßen "und Fettbäuche ansetzten, wie man ihnen ja heute noch ansieht." (Die Freßwelle - die freilich erst nach dem Krieg einsetzte - hatte nachhaltige Wirkung gezeigt ;-) Mein Vater blieb also beim Zoll; aber als es zu schlimm und ihm klar wurde, daß er in Hamburg kaum Beförderungschancen mehr hatte - da hatte der Werbeoffizier ja Recht - ließ er sich versetzen, weit weg, ins Rheinland; deshalb spielt der Rückblick auf meine Oberschulzeit dort. Das Hauptzollamt Hamburg-Kehrwieder wurde inzwischen aufgelöst - wann genau und warum weiß ich nicht; es interessiert mich auch nicht wirklich.

[altes Siegel des Hauptzollamts Kehrwieder]

Hansis Schlagerseiten