Der UKRAINE-Konflikt

und die Rückkehr der offenen Machtpolitik

von Wolfgang Hebold (Die Freie Welt, 22. Januar 2022)

Bilder, Links und Anmerkungen: Nikolas Dikigoros

»Nie wieder Nationen«, dieses Mantra westeuropäischer Politiker, zerschellt in der Ostukraine.

Da sind sie wieder. Die Geister einer, ginge es nach den Vorstellungen westeuropäischer EU-Politiker, vergangenen Zeit, erheben sich und füllen Bilder und Geschichten früherer Tage mit neuem und offenbar kräftigem Leben. Die Geister Nation und Reich haben Russland und China, die Türkei und Persien ergriffen; schon bald wird Indien folgen – sie alle beanspruchen Machtbereiche und stecken sie manchmal stillschweigend, mitunter rücksichtslos ab. Und wie selbstverständlich sitzt in Nordamerika der letzte europäische Staat und beherrscht mit seiner Flotte die Meere: Die Amerikanischen Vereinigten Staaten. Konkurrenz zwischen Nationen und Reichen wird ausgetragen; schließlich kommt, wiederum manchmal stillschweigend und mitunter rücksichtslos, die Drohung kriegerischer Aktionen dazu.

Vordergründig geht es im Konflikt zwischen Moskau und Kiew um ein Gebiet im Osten der Ukraine, das bis vor kurzem nur Historiker auf der Karte auffinden konnten, die den Verlauf des Deutsch-Russischen-Krieges nach Stalingrad untersuchten. Aber der wirkliche Konflikt liegt unter dieser vordergründigen, medial präsenten Schicht sehr viel tiefer. Beim Zusammentreffen der Außenminister Deutschlands und Russlands war er mit Händen zu greifen. Dort der selbstbewußte, mit allen Kniffen der Außenpolitik vertraute Vertreter einer Großmacht, die sich ihrer politischen und militärischen Macht Schritt für Schritt wieder bewusst wird – hier eine mit verqueren Visionen schwangere Pennälerin, die sich, halb Hausfrau, halb Bürokraft, nach dem quotierten Vorsitz einer 14%-Partei in naivem Übermut zutraut, Deutschland vor der ganzen Welt zu vertreten.

Russland mag im Ukrainekonflikt vielleicht gar keine längerfristigen Pläne verfolgen, aber es ist wieder das, was es mal war: Eine Großmacht, die ihre Interessen rigoros durchsetzen will. Dagegen wirkt Deutschland so deplatziert wie die EU mit ihren Luxusproblemen, wiederum gut symbolisiert von Frau Baerbock, wenn sie davon redet, eine »feministische Außenpolitik« machen und sich für die Klimarettung einsetzen zu wollen. Darin der höchsten EU-Beamtin gleich, die mit Polen und Ungarn internationale Konflikte riskiert, um die vermeintlichen Rechte von Kleinstminderheiten gegen die Vorstellungen der Bevölkerungsmehrheit und des gesunden Menschenverstands durchsetzen zu wollen.

Der Punkt ist nur der – und das haben diese neuen, allerdings auf Westeuropa beschränkten eurozentristischen Politiker nicht verstanden: Niemand in Moskau, Peking, Teheran und Delhi ist an den Luxusproblemen wohlversorgter, westeuropäischer Kleinbürger interessiert. Frauen sind dort Frauen und Männer Männer; tertium non datur. Auch der vermeintliche oder wirkliche Klimawandel ist für die Regierungen dort zwar ein Thema. Aber es werden eben – wenn man sie braucht – Kohle- und Atomkraftwerke gebaut.

Denn zuerst denkt man in den Hauptstädten jener Länder an sich. Die Ideologie rangiert unter ferner liefen. Vom vermeintlichen Altruismus grüner Erweckungspolitikerinnen ist man noch sehr viel weiter entfernt. Und eine Auflösung der Nation steht schon gar nicht zur Debatte. Viel eher denkt und plant man in Perspektiven auf neue Reiche in der Tradition der Alten: Ein Zarenreich, das bis Kalifornien ausgeholt hatte; China, das in den Fußstapfen mongolischer Eroberer nach Europa marschiert; Persien, das durch Syrien nach Arabien greift; Indien, das sich Häfen in dem Ozean sichert, der mit treffsicherer Voraussicht »indischer« genannt worden ist.

Die Fundamentalideologie der EU und speziell Deutschlands steht im Ukrainekonflikt in Frage: Die Vorstellung, es könne eine Welt in Eintracht geben, eine Welt, in der alle Hauptstädte sind wie Berlin, eine Welt ohne Nationen und Reiche, eine Welt, in der auf dem Weg der Verhandlung schließlich Einvernehmen erreicht werden kann. Nicht, dass das nicht ginge. Und natürlich sind Verhandlungen kriegerischen Konflikten vorzuziehen. Aber es muss nicht so sein.

Machtpolitiker – und ein solcher ist Putin –, Machtpolitiker akzeptieren nur eine einzige Grenze: Die ihrer Macht. Daher spekulieren sie immer ein wenig und manchmal mehr. Denn die Grenze ihrer Macht lässt sich schwerlich benennen. Sie liegt im Niemandsland eines Machtgleichgewichts, das es nicht gibt und niemals geben wird. Im März 1939 hat das Deutsche Reich beim Einmarsch in Prag einen Krieg mit England und Frankreich riskiert – und gewonnen. Ein halbes Jahr später sollte sich das Spiel, wäre es nach Hitler gegangen, wiederholen; doch zwei Tage nach Kriegsbeginn trafen am 3.September die Ultimaten aus London und Paris in der Reichskanzlei ein und Göring blieb nur ein verzweifeltes: »Was nun?«

Im Osten der Ukraine zählt allein, was ein Land kann und was es nicht kann. Russland konnte sich die Krim einfach nehmen; wer sollte es daran hindern? Russland kann die Ostukraine annektieren; wer sollte es daran hindern? Ob Russland Kiew einnehmen und bis Lemberg vorstoßen kann – das steht auf einem ganz anderen Blatt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 hat eine kriegserprobte Rote Armee Jahre gebraucht, um den militärischen Widerstand der Ukrainer zu brechen. Die Pripjatsümpfe sind bis heute ein für Panzerverbände ungeeignetes Gelände geblieben.

Weil für Polen, Ungarn und für die Baltischen Staaten die Bedeutung der Nation nie auch nur eine Sekunde in Frage stand, reagieren sie auf die Bedrohung durch Russland mit einer glasklaren Haltung. Selbst Schweden und Finnland haben deutlich gemacht, sich der Nato anzunähern, falls Moskau die Ukraine angreifen sollte. (Anm. Dikigoros: ein Jahr später traten sie ihr bei.) Sie alle wissen: In der Ukraine sind auch ihre Interessen betroffen. Und alle haben ihre Erfahrung mit einem Russischen Reich, das nach ihnen ausgreifen will. Bis 1914 war Warschau russisch. 1939 wurde das unabhängige Polen von Russland überfallen. 1940 war Finnland an der Reihe. Die Baltischen Staaten verschwanden 1945 für fast ein halbes Jahrhundert. Ungarn zahlte 1956 einen hohen Blutzoll für seinen Aufstand gegen die moskowiter Okkupanten.

Hinter diesen mitteleuropäischen stehen die Vereinigten Staaten, die ohnehin in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg immer für sich Politik gemacht haben. Gerade so, wie Russland und China, Persien und Indien es jetzt machen und in Zukunft machen werden. Mit dem feinen Unterschied, dass einige Länder unter amerikanischem Schutz ordentlich prosperierten.

Durch die russische Bedrohung der Ukraine wird auf einem indirekten Weg einer moralisch überhöhten und ideologisierten EU-Politik gezeigt, dass sie ausgedient hat. Sie war bestrebt, militärische Macht durch moralischen und in kritischen Fällen wirtschaftlichen Druck zu ersetzen, Außenpolitik sollte zur Innenpolitik umgemünzt werden. Auch das ein Grund, warum dieses so zentrale Ministeramt in Deutschland durch immer banalere Figuren besetzt worden ist. Indes, damit ist es langsam vorbei. Schon hat Frankreich einen eigenen Weg im Ukraine-Konflikt angedeutet. Großbritannien hat den Exit genommen und schmiedet weltumspannende Allianzen mit Australien und den Vereinigten Staaten; an die Ukraine liefert es Waffen.

Was bleibt, ist ein erbärmliches, altruistisches Deutschland. Ein Land, das seit 70 Jahren nicht für seine eigene Sicherheit sorgt, sondern sich absichern lässt. Seine Verteidigungskosten wurden und werden in einer Art Länderfinanzausgleich von Russland und den Vereinigten Staaten beglichen. Diese Umverteilung der Gelder hat in den 1950er Jahren nicht nur das Wirtschaftswunder geschaffen; es hat auch den Sozialstaat zu bezahlen ermöglicht und schließlich die sogenannte Willkommenskultur – diesen letzten Hügel der schlechten Parolen von 1789. Die horrenden Kosten der Energiewende wären nicht zu begleichen, müsste Deutschland selbst für seine Verteidigung sorgen.

Und so kommt eins zum anderen: Ein Deutschland, das sich im Grunde passend von einer Frau vertreten lässt, die nie wirklich für sich selbst sorgen musste und deshalb Flausen ausbrüten konnte, stößt an seine ideologische Grenze. An dieser hat das Land eine Entscheidung zu treffen. Entweder ist es bereit, im Machtspiel der Nationen und Reiche seine Rolle zu finden und auch finanzieren zu können. Es muss mit einer Realpolitik beginnen, die sich moralisch zurückhält und klare machtpolitische und damit wirtschaftliche und auch militärische Interessen verfolgt.

Oder es wird früher oder später geschluckt.


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