REIF FÜR DIE INSEL
Alan Sillitoe: Travels in Nihilon*
*Reisen im Land der Nihilisten

"Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose
qui est de ne savoir pas demeurer en repos dans une chambre"
[Alles Unglück der Menschen kommt von einer einzigen Sache
das ist sie wissen nicht in Ruhe in einem Zimmer zu bleiben]

"All the evil in the world comes from
our inability to sit quietly in a room"
[Alles Übel dieser Welt kommt von unserer
Unfähigkeit, still in einem Zimmer zu sitzen]

[Alan Sillitoe]

Ein Kapitel aus Dikigoros' Webseite
LÄSTERMAUL  AUF  REISEN
Große Satiren der Weltliteratur

Man kann trefflich darüber streiten, welchen zeitgenössischen Schreiberling aus dem Lande Jonathan Swifts man als seinen Epigonen vorstellen soll. Manche meinen, die kastrierte Tunte James (nach seiner "Geschlechtsumwandlung" mit 46 Jahren nur noch "Jan", also mitten im Wort - sogar mitten im Buchstaben! - abgetrennt :-) Morris passe besonders gut in unsere Zeit, zumal seine, nein ihre, doch seine (der Leutnant a.D. ist ja jetzt ein Neutrum :-) "Last Letters from Hav [Letzte Briefe vom Him]" doch ganz in der Tradition der Montesquieu, Karinthy und Borges stünden und auch deutliche Anspielungen auf wirkliche Länder enthielten (manche meinen, auf "die" Länder der "Dritten Welt" im allgemeinen, andere, auf Indien im besonderen). Mag ja sein; aber erstens folgt Dikigoros dieser Tradition nicht, und zweitens ist er überzeugt, daß auch die "Reisen nach Nihilon" durchaus Anspielungen auf die Wirklichkeit enthalten - vielleicht etwas versteckter, aber das macht sie ja nur umso reizvoller.

Zugegeben, auf den ersten Blick ist das ein durch und durch idiotisches Buch: Fünf Mitarbeiter eines Verlags reisen - je eine[r] per Fahrrad, Auto, Eisenbahn, Schiff und Flugzeug - in jenes merkwürdige Land und versuchen, Material für einen Reiseführer zu sammeln. Dabei erleben (und überleben :-) sie allerlei haarsträubende Abenteuer und reisen am Ende mehr oder weniger frustriert wieder ab, nach dem Motto: "Man muß sich fragen, ob es überhaupt lohnt, dieses Land zu besuchen, wenn man nicht gerade geschäftlich dort zu tun hat."

Ist das eigentlich wirklich so absurd, liebe Leser? Dikigoros hält es nicht einmal für abwegig - im ursprünglichen Sinne des Wortes, denn es gibt durchaus Länder auf dieser Welt, auf deren Wegen es nicht viel weniger verrückt zugeht. Er selber hat zwar auf seinen Reisen stets versucht, sie zu meiden; aber wie fleißige Leser seiner "Reisen durch die Vergangenheit" wissen, hat sein leider viel zu früh verstorbener Reisefreund Melone keinen Schurkenstaat, kein noch so gottverlassenes Land, kein noch so heimtückisches Volk, keinen noch so mörderischen Bürgerkrieg und auch sonst keine Gefahr ausgelassen (und er hat sie alle überlebt, um dann [s]einer idiotischen Leichtsinnigkeit beim Sex zum Opfer zu fallen - aber das ist eine andere Geschichte). Nein, der unterschwellige Kampf aller gegen alle (besonders gegen alle Ausländer und andere potentielle Spione, die sich als "Touristen" ausgeben ["niemand ist Tourist!"] :-), der auf Nihilon herrscht, ist eigentlich ganz natürlich, das müßte seit Hobbes' "Leviathan" doch eigentlich jeder wissen. Ihr meint, so etwas gäbe es heute nicht mehr, liebe Leser? Dann habt Ihr zuviel krauses Zeug gelesen, verfaßt von irgendwelchen Filosofen, Soziologen, Politologen u.a. Schreibtischtätern, die warm und trocken in ihren Elfenbeintürmen saßen - ganz nach dem Motto, das Dikigoros dieser Betrachtung nicht umsonst voran gestellt hat (und das in der deutschen Ausgabe fehlt), weil er nämlich überzeugt ist, daß der Cyniker Sillitoe (von dem die rechte Version stammt; er hat sie etwas ungenau bei Blaise Pascal - linke Version - abgeschrieben, ihn genauer gesagt auf die Schippe genommen, denn der glaubte es wohl wirklich) das genau auf jene Leute gemünzt hat - und ihre naiven Wunschvorstellungen zu Papier brachten: Hülfreich ist der Mensch, edel und gut, demokratisch und rechtsstaatlich, sozial und liberal... Wer immer sich aber seine Weltanschauung gebildet hat, indem er die Welt mit offenen Augen bereist und angeschaut hat, weiß, daß nichts von all dem professoralen Geschwätz jener Sesselpupser wahr ist, bei den Menschen noch weniger als im Tierreich, wo gewisse vernünftige Hemmungsmechanismen die Schwächeren in der Regel davon abhalten, sich gegen die Stärkeren aufzulehnen, so daß ein gewisses Gleichgewicht des Schreckens herrscht. Bei den Menschen kann dagegen ein Schwächling wie Adam bei der Einreise nach Nihilon versehentlich einen Schuß aus dem Gewehr eines Wachpostens auslösen - und damit gleich einen Krieg mit dem Nachbarstaat Kronakien.

Nehmt also bitte zur Kenntnis, liebe Gutmenschen, daß es abseits Eurer von TUI und anderen Neckermännern ausgewählten Touristenorten noch heute Gegenden gibt auf der Welt, wo dieser natürliche Zustand des Kampfes aller gegen alle weiterhin herrscht, wo es undenkbar ist, als Mann ohne Waffe auf die Straße zu gehen, und wo man als Frau besser zuhause bleibt oder sich jedenfalls nicht ohne männlichen Schutz nach draußen begibt. Nein, nicht nur in Afgānistān, Albanien, Bosnien usw. im Alfabet bis Zimbabwe, sondern praktisch in ganz Afrika - sowohl bei den Arabern im Norden als auch bei den Schwarzen weiter südlich. Es fällt uns dort bloß nicht so auf, weil wir das "in der Wüste", "im Busch" oder "im Urwald" eher normal finden; aber wenn einmal irgendwo die friedliebende Zivilisation Einzug gehalten hat, Häuser und Kirchen, Straßen und Eisenbahnlinien gebaut wurden, finden wir das nicht mehr. Aber so war es, bevor die Kolonialmächte dort eindrangen und die freien Männer ihrer Waffen und ihres Rechts auf Töten und Getötetwerden beraubten, indem sie mit Besatzungs- und Polizeitruppen ein fysisches Gewaltmonopol errichteten, das diese Freiheiten unterdrückte; und so ist es wieder geworden, seit sie abgezogen sind. [Und dort, wo sie Eingeborene mit nach Hause gebracht haben, hat dieses Fänomen auch bei ihnen Einzug gehalten, wie wir heute in den Ausländervierteln der Hauptstädte und Haupthäfen aller ehemaligen Kolonialmächte sehen können, von Paris bis London, von Lissabon bis Genua, von Amsterdam bis Marseille, von Madrid bis Hamburg. Und in den ehemaligen Sklavenhalterstaaten genauso, wie wir aus praktisch allen Großstädten Brasiliens und der USA wissen. Aber das nur am Rande.]

Nein, das war nur ein Exkurs, denn Sillitoes "Reisen in Nihilon" spielen in keinem der vorgenannten Länder. Wo dann? Wer lesen kann, der stolpert schon im ersten Satz darüber: "Mehr als 25 Jahre ist es her, daß ein Reiseführer für Nihilon erschienen ist." Geschrieben im Jahre 1971. Ach, Dikigoros kann sich noch gut erinnern, wie er selber damals jedes Buch verschlang, das die ersten westlichen Reisenden, die jenes Land nach rund einem Vierteljahrhundert wieder betreten durften, darüber verfaßten, die Lagercrantz, Mehnert, Terrill... noch nicht ahnend, daß das alles handverlesene linke Laberköpfe waren, die nicht sehen konnten oder nicht sehen wollten, was sich dort wirklich abspielte. Ihr kommt immer noch nicht drauf, liebe Leser? Dann wollen wir noch ein paar Sätze weiter lesen: "Sichausleben plus Sichgehenlassen ist gleich Nihilismus" (das ist die Staatsdoktrin von Nihilon, benannt nach ihrem Präsidenten Nil). Die Nationalhymne heißt "Hammer und Stemmeisen in Ewigkeit". "Sparsamkeit wird in Nihilon nicht gern gesehen, namentlich nicht bei Touristen." Falsch, liebe Leser, Ihr habt Euch schon wieder auf den Holzweg führen lassen. Der erste Satz hat nichts mit "Elektrizität plus Sozialismus ist gleich Sowjetmacht" zu tun - auch wenn er ihn offenbar nachäfft; die Nationalhymne ist nicht zu verwechseln mit der Nationalflagge - das ist ein schwarzer Tintenfleck auf weißem Grund -; und sparsame Touristen sind in keinem Land gerne gesehen, das vom Fremdenverkehr lebt, daraus kann man also gar keine Schlüsse ziehen. Also weiter im Text: "Wozu braucht denn einer Landkarten? Wer Karten braucht, ist ein Spion." - "Die Frauen von Nihilon verlangten Gleichberechtigung, und die bekamen sie auch - auf den Baustellen, beim Straßenbau, als Lkw-Fahrer usw." - "Die Männer sitzen den ganzen Tag im Café herum und arbeiten auf Büros." - "Diebe gibt es in Nihilon nicht. Jeder nimmt sich, was er braucht, so wird keiner zum Dieb. Immerwährende Unehrlichkeit bewirkt, daß jeder zu seiner Sache kommt." Zugegeben, der erste Satz könnte auch auf die Sowjet-Union zutreffen, der zweite auf Indien, der dritte auf Griechenland, und der vierte auf die Volksrepublik Polen. Aber in Griechenland und Polen werden nicht "mehrere Sprachen und Dialekte" gesprochen, in Indien und Griechenland muß man als ausländischer Tourist nicht mit speziellen Vouchern bezahlen, die alles um ein vielfaches teurer machen als für Einheimische (in der SU und in der VR Polen auch nicht, wenngleich der Zwangsumtausch praktisch den gleichen Effekt hatte), und in keinem dieser Länder fährt nur die Bonzokratie Auto, während sich der Rest der Bevölkerung glücklich schätzen muß, ein Fahrrad zu besitzen.

Für alle, die immer noch nicht drauf gekommen sind, will Dikigoros noch etwas aus Sillitoes Lebenslauf hinzu fügen (den er übrigens in dem autobiografischen Roman "Key to the Door [Schlüssel zu der Tür]" verarbeitet hat): Er war Berufssoldat, Fernmelder in der Royal Air Force und als solcher in den 1950er Jahren in British Malaya stationiert, als die kommunistische chinesische Guerilla, von Maos Volksrepublik mehr oder weniger offen unterstützt, das Land unsicher machte. Im verfluchten Dschungel Malaysias (oh ja, auch Dikigoros kennt ihn - auch wenn er nie darüber geschrieben hat) holte er sich Tuberkulose, und als er nach anderthalb Jahren im Lazarett nach England zurück kehrte, wurde er als nicht mehr tauglich entlassen und konnte sehen, wie er sich und seine Lebensgefährtin Ruth von seiner mageren Invaliden-Rente durchbrachte. Wie einst Frédéric Chopin und George Sand flüchteten die beiden auf eine spanische Mittelmeerinsel, in der Hoffnung, daß das milde Klima dort seiner Lunge gut tun würde; und als das Geld nicht mehr ausreichte (ja, erst die Scheiß-Touristen und später der noch beschissenere EWG-Beitritt haben die Preise im einstigen Billig-Paradies Spanien gründlich verdorben - vor allem die für Weine und Spirituosen :-) begannen sie zu schreiben, etwas, wofür der ungebildete Arbeitersohn Sillitoe, der mit 14 von der Volksschule abgegangen war, um als Hilfsarbeiter in einer Fahrradfabrik zu malochen, bis er alt genug war, Soldat zu werden, nun überhaupt nicht prädestiniert schien. Aber er lernte schreiben; vielleicht faszinierte es ihn deshalb, über das Land zu schreiben, in dem die Schrift erfunden wurde, das er zwar nie selber bereist hat, über das jedoch Leute, die besser darüber informiert waren als die oben von Dikigoros genannten Laberköpfe, nach und nach immer mehr Absurdes berichteten, so daß jemand, der seine fünf Sinne beieinander hatte, sich in der Tat fragen mußte, ob es sich lohnte, ein solches Land zu besuchen, wenn man ohnehin nur vorgesetzt bekam, was die Herrschenden einen sehen lassen wollen. [Und so ist es, nebenbei bemerkt, bis heute, allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz.] Jene Herrschenden hatten seine uralte, großartige Kultur und Zivilisation unwiederbringlich zerstört, u.a. die alte Schrift abgeschafft und die alten Bücher verbrannt (und die alten Lehrer, die sie noch hätten neu schreiben können, ermordet); es herrschte [Hungers-]Not und (nicht nur politisches) Elend - nur ein paar dumme 68er an den westlichen Verblödungsanstalten, pardon Universitäten, hielten den größenwahnsinnigen Führer und Verderber jenes Landes für einen "großen Steuermann", der es auf dem "langen Marsch" zum "großen Sprung nach vorn" gebracht hatte, und nach dem auch seine krause politische Doktrin benannt wurde, an der nichts, aber auch gar nichts Sinn machte - nur, daß er halt nicht "Nil", sondern "Mao" hieß, und seine Ideologie folglich nicht "Nihilismus", sondern "Maoismus". (Originalzitat Sillitoe: "Schulkinder und Studenten waren hellauf begeistert.")

Nun muß Dikigoros den geneigten Lesern zu seiner Schande gestehen, daß auch er selber, als er zum ersten Mal "Reisen in Nihilon" las, nicht darauf gekommen ist, auf welches Land Sillitoe da anspielte. Er machte sich auch keine großen Gedanken darüber - was sollte man schon von jemandem erwarten, der allen Ernstes glaubte, daß der Langstreckenläufer an Einsamkeit litt? [Umgekehrt wird ein Schuh draus: Der Langstreckenläufer läuft fast immer in der Gruppe und kann sich selbst im Wettkampf von Vereinskameraden oder anderen Sportfreunden ziehen lassen; wirklich einsam ist nur der Kurzstreckenläufer, denn der darf nicht nach rechts oder links schauen, um nur ja keine wertvolle Hundertstel-Sekunde zu verschenken; da hat ja sogar jeder seine eigene Bahn!] Und bei "Nihilismus" dachte Dikigoros an Bakunin, Herzen oder Sorel (nein, nicht an Nietzsche, der heute so oft mit diesem Schlagwort in Verbindung gebracht wird - den hatte er schon gelesen und nichts "nihilistisches" an ihm gefunden), aber doch nicht an Mao! (Die so genannte "Mao-Bibel" hat er bis heute nicht gelesen - wohl aber die Bücher, aus denen sie abgeschrieben wurde :-) Was wußte man denn schon über den? Ein paar dümmliche Lobhudeleien aus der linkesten Polit-Ecke von gekaufter Feder. Erst Mitte der 1980er Jahre sollten in Deutschland Bücher auf den Markt kommen wie die Erinnerungen der Bao Ruo Wang, Yue Daiyun oder Nien Cheng - aber das waren ja "nur" Einzel-Schicksale von Privat-Personen, die niemand unter den so genannten "seriösen" Historikern, Politologen und Soziologen ernst zu nehmen, geschweige denn zu verallgemeinern wagte, zumal es durch die Bank entlassene Sträflinge und Exilanten waren - und die mußten ja voreingenommen sein gegenüber ihrer Heimat, der sie so undankbar den Rücken gekehrt hatten, oder? Erst Mitte der 1990er Jahre lernte Dikigoros dann die Schriften von Leuten kennen, die über jeden Zweifel erhaben waren, wie Jasper Becker und Jeff Lindsay, die wohl besten lebenden Kenner und Chronisten von Chinas jüngster Vergangenheit, wie Gordon Chang und Joe Studwell, die düstersten Profeten seiner Zukunft - und die ahnten noch nicht einmal etwas von SARS, sondern wußten halt nur, daß Chinas Gesundheitssystem ungenügend ist und daß Epidemien ebenso tot geschwiegen werden wie Hungersnöte... Aber Dikigoros will Euch nicht weiter mit diesen Scheußlichkeiten aufhalten, liebe Leser; wer - wie ein Kritiker schreibt - einen robusten Magen hat, kann sich ja mal die Leseempfehlungen am Ende von "Lästermaul auf Reisen" anschauen.

Zurück zum Beginn der 1970er Jahre, als Sillitoe "Travels in Nihilon" schrieb. Damals konnte man über praktisch jedes andere Land der Welt mehr erfahren als über China, wenn man nur einen alternativen Reiseführer wie "Anders Reisen" aufschlug. (Der China-Band dieser Serie sollte erst 1989 erscheinen, verfaßt von Hartwig Bögeholz, den man auch nicht gerade als Kapazität auf diesem Gebiet bezeichnen konnte - woher auch?!) Und mit diesem Manko sind wir wieder beim Thema: Der geplante Reiseführer, den zu verfassen Sillitoe die Journalisten nach Nihilon reisen läßt, soll nämlich nicht nur die touristischen Sehenswürdigkeiten des Landes beschreiben, sondern auch einen möglichst genauen Überblick seiner jüngsten Geschichte bieten. Das ist die Aufgabe von Benjamin, um die er wahrlich nicht zu beneiden ist, denn: "Die Werke über die neuere Geschichte Nihilons waren nichts als Geschwafel. Die politische Wirklichkeit war tabu. Geschichte im herkömmlichen Sinn brach bei der Machtübernahme der gegenwärtigen Regierung ab, die im Laufe der letzten 25 Jahre das Land von der Außenwelt abgeriegelt hatte. Touristen durften die fragwürdigen Freuden nihilistischer Lebensführung kosten, waren bei ihrer Rückkehr aber meist völlig verwirrt. Da sie ihre Enttäuschung nicht wahr haben wollten, lobten sie das Land über den grünen Klee (schau mal an, auch Sillitoe scheint Mehnert & Co. gelesen zu haben! :-) und ermunterten dadurch andere, es ihnen nachzutun; so mußten sie nicht an sich selber verzweifeln." Und "Insider", Leute, die das Regime von innen kannten? Ja, ein paar Manuskripte konnten außer Landes geschmuggelt werden; aber auch im Ausland - im ach-so-freien Westen - hatten sie es verdammt schwer, Verleger zu finden, denn es war 1971 nicht opportun, jenes Land und seine Machthaber offen und direkt zu kritisieren. Nur ein Jahr später sollte Nixon, der Verbrecher auf dem US-Thron, pardon Präsidentensessel, auf Anraten seines Pferdeflüsterers Süß-Oppenheimer, pardon Kissinger das kleine Taiwan verraten, um mit den Rotchinesen ins dicke Geschäft zu kommen (jetzt wissen wir also, worauf der zweite Halbsatz oben anspielt!) - "Pingpong-Politik" nannten sie das. Wie schreibt Sillitoe: Es war einmal ein ehrwürdiger nihilonischer Filosof, der eine vollständige Geschichte des letzten Bürgerkriegs in Nihilon geschrieben hatte, einschließlich der Nachkriegszeit, und sie einem Verleger unterbreiten wollte. Bald war er verhaftet worden, und man hat nie wieder etwas von ihm gehört... Und nun kam da so ein englischer Prolet (Sillitoe war in jeder Hinsicht ein Prolet, nicht nur weil er proletarischer Abstammung war) daher und schrieb ganz respektlos - aber halt gut verhüllt in einer Satire - wie man mit jenem Volk der Maoisten, pardon Nihilisten, umgehen müßte, um es zur Raison zu bringen: Als der nihilonische Zollbeamte Benjamin (von dem wir nebenbei erfahren, daß er ein Veteran des 25 Jahre zurück liegenden Bürgerkriegs ist, in dem er auf Seiten der am Ende unterlegenen "Rationalisten" - hinter denen sich, wie man unschwer erkennt, Tschang Kai-sheks "Nationalisten" verbergen - kämpfte) aus Schikane nicht einreisen lassen will, holt der einfach seinen Revolver aus dem Handschuhfach, richtet ihn auf den uniformierten Banditen und sagt nur: "Weg frei, sonst knallt's." Und so kommt er ins Land.

Dort gibt es, wie Richard, der nächste Journalist, schon bei seiner Einreise im Flugzeug von einem Professor der Nihilon-Universität erfährt, immer noch eine bewaffnete Guerilla, die der Regierung Widerstand leistet, irgendwo im Gebirge. Der gute Professor stellt sich ihm gleich als Anführer dieser "Freiheitsbewegung" vor und übergibt ihm den Schlachtplan für den nächsten Aufstand, damit er ihn unauffällig in die Hauptstadt Nihilon City schmuggele. Was gar nicht so einfach ist, denn erst müssen sie einen Angriff auf das Flugzeug überleben (bei der Gelegenheit erfahren wir so ganz nebenbei - etwa in der Mitte des Buches - daß Nihilon eine "Volksrepublik" ist, womit die letzten Zweifel beseitigt sein dürften, welcher Staat gemeint ist), dann die Taxifahrt vom Flughafen in die Stadt und ins Hotel "Stigma". (Der Taxifahrer ist zufällig auch einer der anti-nihilistischen Anhänger des Professors, und das Hotel wird von seiner Mutter gemanagt.) In der Stadt erlebt er dann die üblichen Schießereien, über die auch Melone aus den Städten Indochinas berichtet hat - man gewöhnt sich schnell daran und muß halt so lange im Hotel bleiben, bis sie sich wieder gelegt haben. (Nicht alle sind solche Weicheier wie die Reporter im 3. Golfkrieg, die im teuersten 5-Sterne-Luxus-Hotel der Hauptstadt hockten in der festen Annahme, daß das bei den Kämpfen ausgespart würde und ganz schockiert waren, als es dann doch beschossen wurde.) Einen Tag nach seiner Ankunft wird er schon zum General der anti-nihilistischen Aufständischen-Armee ernannt und läßt sich vom Kellner der Hotelbar über die Geschichte der Konter-Revolution briefen: Zwei Jahre zuvor hatten sie schon einmal versucht, das nihilistische Regime zu stürzen; aber diese "Schlechtwetter-Revolution" war gescheitert, weil die Aufständischen wegen des schlechten Wetters einfach nach Hause gegangen seien. Tja, liebe Leser, wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß... Doch diesmal soll es besser werden! "Wollen Sie auch mitkämpfen, wenn Sie Feierabend haben?" fragt Richard den Kellner. "Nein, Herr General," sagt der, "dann gehe ich nach Hause und schaue mir die Sache im Fernsehen an. Aber wenn alles vorbei ist, gehe ich natürlich mit meiner Fahne auf die Straße, darauf können Sie sich verlassen." Ja, darauf kann man sich immer verlassen: Erst demonstrieren die Leute gegen den Krieg, dann schauen sie ihn sich zuhause am Fernseher an, und hinterher demonstrieren sie für den Sieger - wer immer das ist - und fordern "ihren" Anteil an der Beute.

Hat Dikigoros in der Einleitung zu "Lästermaul auf Reisen" geschrieben, daß "Reisen in Nihilon" eine schlechte Satire sei? Ja, hat er. Warum? Nun, weil es eigentlich kein Kunststück ist, eine so genannte "Real-Satire" zu schreiben. Wer jemals mit offenen Augen und Ohren durch ein ostasiatisches Land gereist ist, weiß nur zu gut, daß alles, was Sillitoe da beschreibt, die Wahrheit ist und nichts als die Wahrheit, auch wenn es unbedarften Zeitgenossen, die noch nie dort waren oder nur im Pauschal-Arrangement mit deutscher Reiseleitung - also als taubstumme Analfabeten - so scheinen mag, als sei das alles frei erfunden. Edgar (der mit dem Schiff einreist) bekommt vom nihilonischen Hafenmeister zu hören: "Sie haben sich wohl einreden lassen, daß Sie hier eingekerkert, mißhandelt, gerupft, gedemütigt, angeschossen und gehetzt, ausgeraubt, herein gelegt und abserviert werden, wie man das im Ausland fälschlicherweise behauptet." Fälschlicherweise? Aber das ist doch ganz normal in Ländern wie Barmā, Syām ("Thailand"), Kambodja, Laos, Vietnam - und besonders in China. (Gewiß, im ehemaligen Ostblock kam das auch vor, aber doch nicht in derart krasser, flächendeckender Art und Weise.) "Nihilon ist ein unterentwickeltes Land; wir müssen sehen, daß wir zu ausländischen Devisen kommen," sagt ein ertappter Kellner zur Rechtfertigung. Deshalb wollen sie auch nur so genannte "Qualitäts-Touristen", keine Hungerleider, die etwa so billig wie die Einheimischen leben wollen: "Wie können wir es mit solchen Touristen zu etwas bringen? Es ist eine Schande, daß man diese Strolche über die Grenze läßt. Man sollte niemanden in unser schönes Land lassen, der weniger als zehntausend Coupons mit sich hat. Wie soll es sonst wirtschaftlich aufwärts gehen?" Eben. Die Polizei stiehlt den Touristen Geld und Ausweise, schiebt ihnen Rauschgift unter und nimmt sie dann fest, in der Hoffnung, daß die Regierung der Betroffenen sich wird erpressen lassen... Leider geht ihre Rechnung nur zu oft auf, obwohl Narren, die in solche Drecksländer reisen, selber schuld sind - man sollte sie tunlichst dort verrecken lassen, statt ihnen noch gutes Geld hinterher zu werfen. Dort sind die wahren "Schurkenstaaten", mit denen man mal gründlich abrechnen sollte... Aber sie schämen sich nicht im mindesten - im Gegenteil: "Schämen tun sich nur diejenigen, die sich ehrlich durchs Leben bringen wollen," sagt ein anderer nihilonischer Kellner, "Betrug ist normal und natürlich, warum sollte ich mich dessen schämen? Einen Ausländer zu betrügen ist noch besser, es ist patriotisch."

Und noch etwas ist so realistisch, daß es schon fast plump anmutet, wenn man es mehr als drei Jahrzehnte nach seiner Entstehung liest. Heute weiß jeder (im Ausland :-), daß die chinesischen Staudämme Schrott sind und in absehbarer Zeit unter dem Druck der Wassermassen bersten werden; aber laßt Euch gesagt sein, liebe Leser, daß Sillitoe mit dieser seiner Erkenntnis damals noch ziemlich alleine stand; vielmehr wurden derartige Mammutprojekte auch von Westlern allgemein bewundert - und von ihnen in vielen Ländern der "Dritten Welt" sogar gefördert. So denkt sich auch Adam nichts Böses, als er in der Stadt "Flut" ankommt; er wundert sich nur, daß Übernachtung und Essen im Hotel von Flut so verdächtig billig sind, bis ihm jemand erzählt, daß praktisch täglich mit einem Dammbruch und einer Flutkatastrofe gerechnet wird, die einen leicht das Leben kosten kann. Tja, was hatte China unter Mao nicht alles für schöne, utopische Projekte. Die Staudämme waren ja nur der Gipfel vom Eisberg. Die größten Müllhalden hatte der so genannte "Große Sprung nach vorn" erzeugt, der darin bestand, alle Produkte aus Stahl und Eisen in "Volks-Hochöfen" einzuschmelzen und neues Roheisen aus ihnen zu gewinnen. Das Einschmelzen funktionierte schon ganz gut - nur mit den neuen Produkten haperte es ganz gewaltig - so auch in Nihilon: Richard liest in der Lügen-Zeitung, daß man künftig alle Haushaltsgegenstände nach einmaligem Gebrauch wegwerfen kann; man bekommt dann umgehend neue aus feinstem Porzellan und rostfreiem Edelstahl; genauso wird mit Kleidung und anderen Textilien verfahren. In Paradies-Stadt, einer neuen Plattenbau-Siedlung vor den Toren der Hauptstadt, ist es schon so weit, fährt der Zeitungs-Artikel fort. Allerdings trifft da gerade ein junger Mann ein, dem es gelungen ist, aus Paradies-Stadt zu entkommen, und der berichtet Richard schonungslos, wie es wirklich dort aussieht: Die alten Klamotten sind hin, und wenn man Glück hat, bekommt man sie notdürftig zusammen geflickt wieder zurück; von neuer Qualitätsware kann gar keine Rede sein... (Ja, liebe Leser, Dikigoros hat ja schon geschrieben, daß Sillitoe an dieser Stelle ziemlich plump ist :-)

Unterdessen hat sich Benjamin den Weg ins Land weiter frei geschossen und eine Tankstelle, an der man ihn zu betuppern versucht hat, in die Luft gejagt. Die vielen Geisterfahrer - Unfälle bauen ist der Nationalsport der Nihilonier - macht er mit seinem grell aufgeblendeten Fernlicht (das es in Nihilon sonst nicht gibt) nieder und kämpft sich so zu einem Motel durch, wo er am nächsten Morgen aus den staatlichen Lügennachrichten erfährt, wie es seinen Kollegen mutmaßlich ergangen ist, die nicht das Glück hatten, mit einem eigenen Auto einzureisen: Die Fähre, mit der Edgar eingereist ist, wurde von mehreren Divisionen der nihilonischen Armee zusammen geschossen, in Abwehr dieser unverschämten Invasion. Das Flugzeug, in dem Richard saß, ist abgeschossen worden, viele Passagiere sind tot. Der Staudamm über "Flut", wo Adam übernachtet hat, ist in der Nacht gebrochen; 30.000 Menschen sind ertrunken. Und ein als ausländischer Tourist verkleideter feindlicher Agent (das ist Benjamin selbst :-) hat eine Tankstelle überfallen und 100.000 Hektoliter Benzin vernichtet. Auf der Weiterfahrt trifft er Widerstandskämpfer der Benjamin-Smith-Brigade, benannt nach jenem tapferen Offizier, der damals im Bürgerkrieg gegen die Nihilisten gekämpft hat (auch das ist er selbst :-) und seither als verschollen gilt. Mit ihnen erobert er die Stadt Amrel, und als er die Kapitulation des Stadtkommandanten entgegen nimmt, erkennt er in ihm denselben Nihilisten, an den er selber 25 Jahre zuvor im Bürgerkrieg die Stadt übergeben hatte. Der versichert ihm, daß er inzwischen die Nase voll habe vom Nihilismus und bietet ihm an, die Seiten zu wechseln, mit den Worten: "Ich bin alt geworden, aber noch immer von Herzen Soldat. Schießen und plündern, das ist das Wahre." Ja, auch darin liegt keine Satire, sondern bitterer Ernst - wieviele "Freiheitskämpfer" hängen ihr Fähnchen nur nach dem Wind und machen überall mit, wo es etwas zu plündern und abzuzocken gibt?!

Edgar hat das Glück gehabt, daß sich eine der Gepäckträgerinnen vom Hafen in ihn verliebt hat; nachdem er die Nacht mit ihr verbracht hat, stellt sie sich ihm als Mella vor, die Tochter des letzten vor-nihilistischen Präsidenten Tuk. Tatsächlich haben einige Divisionen in der Stadt gekämpft, aber nicht gegen eine ausländische Invasion, sondern gegen einen inneren Aufstand; die Hafenstadt Shelp liegt in Trümmern, und Edgar und Mella fliehen zu Fuß Richtung Nihilon City. Unterwegs werden sie von Aufständischen überrascht, die ihnen verraten, daß der Aufstand tatsächlich vom Ausland gesteuert wird, nämlich just von der Redaktion der Reisehandbuchs, das sie, die fünf Journalisten, ganz bewußt mit wertvollen Utensilien - vor allem Kartenmaterial - nach Nihilon geschickt habe, um denselben vor Ort zu unterstützen. Warum tut das Ausland das? fragt sich der Leser unwillkürlich. Lohnt es denn, diesen maroden Staat anzugreifen und ihn sich womöglich samt all seiner Nihilisten ans Bein zu binden? Ach, liebe Leser, lohnte es denn für die Deutschen anno 1990, sich die marode DDR mit all ihren Ossis ans Bein zu binden? Aber da sind wir wieder beim Thema: Die dummen Westler hatten sich Jahrzehnte lang Sand in die Augen streuen lassen über die tatsächlichen Verhältnisse in den kommunistischen Staaten. Auf dem Papier waren das mit die größten und am besten funktionierenden Volkswirtschaften der Welt! (Manche Narren glauben ja heute noch, daß China "der Markt der Zukunft" sei oder ähnliche Märchen :-) Selbst Benjamin beginnt zu zweifeln, ob am Nihilismus wirklich alles so schlecht war, wie er dachte, als er die Wirtschafts-Statistiken liest, die ihm in die Hände gefallen sind, mehrere dicke Bände über den Aufschwung, den die nihilonische Industrie seit der Machtübernahme durch die Nihilisten genommen hat, ein bestechendes Bild des wirtschaftlichen Aufstiegs einer Nation, die dazu ausersehen war, die Welt zu beherrschen: "Jeder Rohstoff sei in Nihilon in genügender Menge vorhanden, von Kohle, Bauxit und Wolfram bis zu Roheisen, Kupfer und Öl, obwohl noch nie jemand dergleichen behauptet hatte, bevor das Land nihilistisch wurde. Doch das Nihilistische Amt für Statistik und Mystik verschaffte Nihilon solche Vorkommen einfach dadurch, daß es behauptete, sie seien vorhanden. In der Vorstellung und auch im Druck waren sie damit vorhanden." Eben.

Nun läßt Sillitoe nach der Holzhammer-Methode eine Beschreibung der Hauptstadt Nihilon City einfließen, die jeder, der schon mal in Peking war, sofort wieder erkennen muß: Die Stadt ist schachbrettförmig angelegt und läßt sich so leicht beherrschen, daß ein einziges Maschinengewehr genügt, um einen zwei Kilometer langen Straßenzug zu sichern. Da zwölf solcher Straßen von Norden nach Süden verlaufen, und zwölf rechtwinklig dazu von Osten nach Westen, benötigt man nur 48 Maschinengewehre, um die Bevölkerung dauern unterdrückt zu halten. Nur die Beschreibung der Wirtschafts-Unternehmen scheint auf den ersten Blick nicht so recht in ein kommunistisches Land zu passen: Die Betriebe sind verstaatlicht (deshalb brauchen die Arbeiter keine Gewerkschaften, die Betriebe gehören ihnen ja als Eigentümer :-), aber da es ohne die Arbeitgeber nicht läuft, sind die weiterhin angestellt und infolgedessen organisiert. Wenn sie eine Lohnerhöhung wollen, streiken sie, und fast immer mit Erfolg. Folge: "Die Arbeitgeber führten von ihren Löhnen ein flottes Leben, während die Arbeitnehmer sich mit dem Gewinn begnügen mußten, von dem sie nicht fett wurden. Die Spirale, die zum wirtschaftlichen Zusammenbruch führen mußte, drehte sich weiter." Man braucht aber nur anstelle der "Arbeitgeber" die Parteibonzen zu setzen, die von den mageren Gewinnen der Betriebe alimentiert werden müssen, und die Perspektive stimmt wieder: Die Arbeiter in China arbeiten für einen Hungerlohn (von dem schönen Gefühl, daß die Betriebe ihnen gehören, werden sie nicht satt), auf dem geduldigen Papier akkumulieren sich die vorgetäuschten Gewinne, und tatsächlich machen sie nur Verluste, weshalb sie nicht erneuert werden können, sondern immer mehr auf den Hund kommen - ein Teufelskreis, aus dem erfahrungsgemäß nur fremdes Kapital helfen kann, weshalb man über jede ausländische "Invasion" froh sein müßte. Ihr kennt doch sicher die böse Theorie, liebe deutsche Leser, die da lautet: Als die SED-Bonzen die DDR in den Ruin gewirtschaftet hatten, öffneten sie die Mauer und leiteten die "Wiedervereinigung" ein, um sich künftig von den Steuerzahlern der BRD alimentieren zu lassen: Fast alle Parteibonzen behielten ihre schönen, bequemen Verpisser-Posten (die jetzt sogar mit echtem Westgeld entlohnt wurden) oder sie bekamen noch bessere - oder sie gingen mit vollen Pensionen (einschließlich Ehrensold für besonders verdiente Kämpfer gegen den Kapitalismus) in Rente. Absurd? Gewiß - aber das konnte Sillitoe doch noch nicht gewußt haben?! Gewußt wohl kaum, aber vielleicht geahnt... warten wir noch etwas ab.

Hat Dikigoros schon von Jacqueline berichtet, der einzigen Frau unter den Journalisten, die per Zug nach Nihilon gereist ist? Nach diversen Belästigungen und Vergewaltigungsversuchen durch einheimische Würdenträger (ja, auch das gilt als "patriotisch" unter Chinesen, pardon Nihilisten, nein, kein Pardon, auch unter Chinesen, wie man hier nachlesen kann!) lernt sie als Abteilnachbarin eine Einheimische kennen, von der sie sich das chinesische, pardon nihilistische, nein, kein Pardon, auch das chinesische Justizsystem im allgemeinen erklären läßt, und danach von einen Einheimischen, der sich irgendwie in ihr Bett geschmuggelt hat, das Gefängniswesen (er hatte eingesessen, weil er Korruption in der Staatswirtschaft hatte aufdecken wollen) im besonderen. Dann erfahren wir eine Weile nichts mehr ihr, bis Benjamins Truppen sie knapp vor einer Vergewaltigung retten. Er, der bis dahin nur halbherzig und mit einer gehörigen Portion Cynismus den General der Befreiungskrieger gespielt hat, ist nun plötzlich ganz scharf darauf, den Nihilismus auszurotten - so machen kleine persönliche Erlebnisse Geschichte.

Unterdessen hat sich Adam als einziger aus "Flut" gerettet und ist ebenfalls auf Aufständische gestoßen, die ahnen, daß die nihilistische Regierung den Staudamm absichtlich gesprengt hat (eine Schwäche bei Sillitoe, der einfach alles auf Bosheit und Sabotage zurück führen will, statt der allgemeinen Schlamperei und Unfähigkeit, den ein solches System zwangsläufig mit sich bringt, den ihr gebührenden Raum zu lassen) und nun auf ihn als einzigen Augen- und Ohrenzeugen Jagd machen werde. Zusammen mit einem zwielichtigen Individuum namens "Hetzbruder" kommt er gerade rechtzeitig in dem strategisch wichtigen Städtchen Orcam an, um ungewollt mit seinem Fahrrad - dessen Bremsen versagen - in eine nihilistische Maschinengewehr-Stellung zu fahren, vor der sich der Angriff der Befreiungskrieger um Edgar und Mella festgefahren hatte, und die feindliche Besatzung zu töten.

Damit ist der Bürgerkrieg praktisch zugunsten der Aufständischen entschieden, die sich nun "Rechtschaffende" nennen. Bleiben nur noch ein paar Kleinigkeiten: Zum Beispiel hat China, pardon Nihilon, wiewohl es wirtschaftlich völlig auf den Hund gekommen ist, ein ehrgeiziges Raumfahrt-Programm entwickelt: Ein nihilistisches Pärchen soll in den Weltraum geschossen werden und dort einen jungen Nihilisten zeugen, zu Ruhm und Ehre des Vaterlandes... Leider ist besagtes Pärchen just vor dem Start erkrankt, und so kidnappen die Nihilisten statt dessen Adam und Jacqueline, die gerade zueinander gefunden haben, und schießen sie in den Weltraum - was durchaus nicht selbstverständlich ist für den Leser, der die scheinbar Besorgnis erregende Entwicklung bis dorthin verfolgt hat: Erklärtes Ziel der "Rechtschaffenden" ist es nämlich, diesen Start zu verhindern - die Sprengtrupps stehen schon bereit -, und auch im Inneren müssen wir mit Sabotage rechnen. Denn so wie der alte Kaiser von China von den Maoisten zum Gärtner gemacht worden war, so ist der alte Präsident Tuk von den Nihilisten zum Putzmann im Raumfahrtzentrum gemacht worden; und auch er will seinen Feinden diesen Triumpf nicht gönnen. Aber natürlich steht er noch unter Beobachtung, und kaum hat er ein Kabel durchtrennt, wird es insgeheim von seinen Bewachern wieder repariert. Die aufständischen Truppen kommen auch nicht mehr rechtzeitig, um den Start zu verhindern; also finden sie eine ganz andere Lösung: Da alle übrigen Teile Nihilons inzwischen von ihnen besetzt sind, behaupten sie einfach, daß der Raketenstart auf ihre Veranlassung zurück gehe - auch das Pärchen (dessen Kopulationsakt live im Fernsehen übertragen wird) ist ja kein nihilonisches, geschweige denn nihilistisches mehr. So weit, so gut. Leider ist Präsident a.D. Tuk schon so verkalkt, daß er weder seine Tochter Mella noch seinen alten Mitkämpfer Benjamin wieder erkennt, sondern bald abkratzt. Mella wird neue Königin, und Edgar ihr Prinzgemahl. Ende gut, alles gut?

Aber nein, liebe Leser, Ihr glaubt doch nicht, daß Dikigoros Euch diese Satire vorgestellt hätte, wenn sie so billig enden würde! Das dicke Ende kommt noch, und damit auch die eigentliche Pointe der Geschichte. Es beginnt so ähnlich wie zwei Jahrzehnte später in der Ex-DDR: Die Ex-Nihilisten haben nun die Westmark und die Westautos, aber plötzlich beginnt sie einiges an ihrem neuen Leben zu stören: Der Arbeitsstreß, die Hektik, und vor allem die Rechtschaffenheit: Früher war das Leben doch beschaulicher; es kam nicht so sehr darauf an, ob man arbeitete oder einfach nur absurden Unsinn trieb, denn die Wohnungsmieten waren subventioniert, die Grundnahrungsmittel auch, vor allem der Schnaps, "Nihilitz" genannt. (Genau so wie es in Ländern, wo man kaum Bananen, geschweige denn andere kulinarische "Luxus-Güter" kaufen konnte, bis zuletzt Rotkäppchensekt und Wodka satt gab - und in Rotchina "Reiswein" genanntes Reisbier.) Den hat die neue Regierung durch Mineralwasser ersetzt - pfui Deibel! (Erinnert Ihr Euch, liebe Leser? Über einen derartigen Fauxpas ist auch der "Mineral-Sekretär" Gorbatschow gestürzt und hat die ruhmreiche Sowjet-Union mit sich in den Abgrund gerissen :-) Alkohol gibt es nun nur noch zu Schwarzmarktpreisen, die sich die Masse der Bevölkerung nicht mehr leisten kann. (Soll sie ja auch nicht :-) Als Benjamin und seine Kollegen sich dennoch eine Flasche schwarz gebrannten Nihilitz leisten, werden sie prompt von einem der "Befreiten" angepöbelt: "Ihr gehört wohl zu den Söldnern, die uns um den guten alten Nihilismus gebracht und dafür diesen lausigen Rechtschaffenheitsstaat eingebrockt haben? Ich bin von hier gebürtig, und jetzt soll ich zuschauen, wie nichtsnutzige Ausländer uns den Nihilitz weg trinken!"

Ja, die Leute wollen ihren guten alten Honni, pardon Nil zurück - wo steckt der eigentlich? Nein, liebe Leser, nicht in Chile - das konnte Sillitoe nun wahrlich noch nicht ahnen (obwohl dort damals der kommunistische Diktator Allende an der Macht war, der es sicher zu einem zweiten "Nihilon" gemacht hätte, wenn ihm nicht Nixon, Kissinger und Pinochet in den Arm gefallen wären - aber das ist eine andere Geschichte), außerdem schreibt er ja nicht über die DDR, sondern über Rot-China. Dennoch müssen wir nun noch einmal zu der scheinbar absurden Theorie zurück kehren, daß das marode SED-Regime kurz vor dem Staatsbankrott seinen Sturz freiwillig herbei geführt hat, um die DDR - und sich selber - auf Kosten der blöden Wessis zu sanieren. Genau das unterstellt nämlich schon Sillitoe dem Präsidenten Nil: Es war nicht einfach irgend ein ausländischer Verlag, der die fünf Reporter[innen] nach Nihilon geschickt hat, sondern Nil selber steckt hinter diesem Verlag (hinter wie vielen Verlagen in Westdeutschland hat nicht die Stasi gesteckt :-), und auf ihn selber geht diese Idee zurück: Er wollte, daß das nihilistische Regime gestürzt wird, damit die blöden Kapitalisten das Land wieder aufbauen, und sich selber aus dem Staub machen, mit allem Gold und allen Devisen, die noch aufzutreiben waren. Das klappt auch ganz gut, bis er im Hafen - schon an Bord des auslaufenden Schiffes, als er gerade aus Rache noch ein paar Einrichtungen per Fernzündung in die Luft sprengen will - von dem alten Krieger Benjamin erkannt und erschossen wird.

Nanu - wieso verläßt denn auch Benjamin das Land? Und nebenbei bemerkt auch alle seine Kollegen? (Sogar Edgar hatte die Nase voll vom Prinzgemahlspielen und ist seiner Mella davon gelaufen :-) Tja... Nach und nach erfahren wir, daß sich in Nihilon eigentlich kaum etwas geändert hat (außer der Staatsbezeichnung - die lautet jetzt "Neu-Nihilon :-), geschweige denn zum Positiven. Dabei hatte Adam während der Kämpfe noch einem jungen Mann gelauscht, der den nihilistischen Parteibonzen die mutigen Worte entgegen schleuderte: "Fettes Gewürm seid ihr, das auf Kosten des Volkes lebt. Während andere sich auf den Äckern abrackern und nichts zu beißen haben, stopft ihr euch voll. Ihr seid nichts als eine Herde reicher Schweine, tagaus tagein der Völlerei ergeben, während das Volk sogar des Nachts hungert. Wenn der Umsturz kommt, dann werdet ihr alle in Arbeitslager geschickt, um Straßen zu bauen, Sümpfe zu bewässern, Berge zu versetzen, Kanäle auszuheben - dann kriegt ihr endlich einen Spaten in die Hand!" Von wegen: Die alten Seilschaften reißen sich wieder alle fetten Posten unter den Nagel (der Stadtkommandant von Nihilon City, der vor Benjamin kapituliert hatte, ist gar zum Kommandanten der Benjamin-Smith-Brigade aufgestiegen); Aspron, die Stadt der Verbannten (wo die Gehirnwäschen an den Regime-Gegnern vorgenommen wurden) wird von der neuen Regierung wieder als Umerziehungslager genutzt, aber nicht etwa für die alten Nihilisten, sondern für ihre Opfer, die wieder "umgepolt" werden müssen. Die Nihilonier sind halt wie sie sind, und wie sie schon immer waren.

Halt liebe Leser, lest bitte nicht so einfach über diese bittere, da desillusionierende Erkenntnis hinweg, besonders dann nicht, wenn Ihr daran glaubt, daß man nur allenthalben Freiheit, Demokratie und Liberalismus zu verbreiten brauche - notfalls mit Gewalt -, damit alle Probleme der Welt gelöst werden. Auch Dikigoros ist mit dem Irrglauben aufgewachsen, daß Ideologien die Völker machen. Aber diese einstrahlige Erklärung ist falsch: Gewiß hat der Kommunismus aus Deutschen zwischen Elbe und Oder Ossis gemacht, und aus Festlandschinesen Rotchinesen und und und... Aber wenn sie nicht schon eine Veranlagung dazu gehabt hätten, wäre dies schwerlich möglich gewesen, auch nicht unter massivem Druck von außen und gewaltsamer Unterdrückung im Inneren. Nicht Systeme bringen Völker hervor, sondern Völker Systeme, zumindest besteht eine Wechselwirkung mit weit über 90% Anteil des letzteren. Und verwechselt bitte auch nicht das, was man im Englischen "freedom" und "liberty" nennt: Persönliche Freiheit (zu der auch und vor allem die unternehmerische gehört) geht nicht notwendigerweise einher mit politischer Freiheit, geschweige denn mit "demokratischer" Beteiligung der Untertanen am Staatswesen, schon gar nicht in den so genannten "Partei-Demokratien" des Westens, die sich insoweit kaum von den "Partei-Diktaturen" des Ostblocks unterscheiden. Wo liegt dann der Unterschied? Nun, liebe Leser, schaut einfach mal auf die Chinesen: Sie sind ein Volk, das keinen Wert auf staatsbürgerliche Freiheit legt; die Nation ist für sie (wie für alle ordentlichen Asiaten) eine große Familie, die zusammen halten und patriarchalische Autoritäts-Strukturen respektieren muß - wo kämen wir hin, wenn da jeder mit reden oder gar mit entscheiden wollte?! Die Gesellschaften der Chinesen im Ausland - von Taiwan bis Singapur - sind, was die politische Freiheit anbelangt, kaum weniger streng und autoritär als die Roten auf dem Festland. Aber politische Freiheit und Demokratie kann man ohnehin nicht essen, und das macht den Unterschied aus, denn die Auslandschinesen haben die - ungleich wichtigere - Freiheit, sich privatwirtschaftlich zu betätigen und so zu Wohlstand zu kommen (wo in Asien ißt und trinkt man besser als auf den chinesischen Märkten Singapurs?), während die Menschen in Rotchina (und anderen kommunistischen Staaten, wie Barmā und Nord-Korea) bis heute hungern - und verhungern.

Was wollt Ihr als Abschluß, liebe Leser? Einen Ausblick auf die Zukunft Rotchinas? Da kann man Sillitoe eigentlich nur beipflichten: Mao ist seit über einem Vierteljahrhundert tot, aber er wird nach wie vor verehrt wie eine Ikone, und auch sonst hat sich kaum etwas geändert. Nur den dummen ausländischen Langnasen wird der Sand jetzt noch etwas geschickter in die Augen gestreut - die sollen ja ordentlich Devisen abdrücken, um das alte, marode System noch etwas länger am Leben zu erhalten. Tatsächlich vegetiert es nur noch vor sich hin und wird früher oder später zusammen brechen (denn von innen reformierbar ist es entgegen der von einigen Dummköpfen und selbst ernannten China-Keksperten weit verbreiteten Auffassung nicht). Vielleicht direkt durch einen Anstoß von außen, vielleicht indirekt durch einen "Verrat" wie den des Präsidenten Nil von innen. Aber wie dem auch sein mag, ob sich dadurch viel ändern wird (außer vielleicht einer Umbenennung von "Volksrepublik China" in "Neue Republik China" :-) wagt Dikigoros ebenso entschieden zu bezweifeln wie Sillitoe.

[Steuermann Mao alias Präsident Nil]

Anhang: Jet Lag Travel Guides

zurück zu Ephraim Kishon

heim zu Lästermaul auf Reisen