EIN PREIS FÜR MR NAIPAUL*

Literaturnobelpreis für einen Weltbürger und Gentleman

*[das ist eine Nachäffung von "Ein Haus für Mr Biswas, Anm. Dikigoros]

von Bruno v. Lutz (NZZ, 12. Oktober 2001)

Seit langer Zeit schon ist der 1932 als Sohn indischer Einwanderer in Trinidad geborene Romancier V. S. Naipaul als Kandidat für den Literaturnobelpreis im Gespräch. Auch wenn er seinem eigenen, von hohen Massstäben (sic! Diese Schreibweise mit 3 "s" hintereinander ist nicht nur lächerlich, sondern auch nach der Rechtschreibreform falsch, denn es handelt sich um ein langes "a", nach dem noch immer "ß" stehen muss, Anm. Dikigoros) diktierten Urteil manchmal eher gefolgt ist als den Geboten der politischen Korrektheit, ist dem Kosmopoliten und grossen (dto - es muß noch immer "großen" heißen, Anm. Dikigoros) Prosastilisten nun die höchste literarische Ehre zuteil geworden.

Wer kann V. S. Naipaul für sich reklamieren? England? Indien? Trinidad? Seit 1950, als er zum Studium nach Oxford ging und danach kurz für die National Portrait Gallery und die BBC arbeitete, lebt er, unterbrochen von vielen und langen Reisen, in England. Geboren wurde er 1932 in Trinidad, wo er als Abkömmling der von den Briten in die Kolonie geholten Inder aufwuchs.

Zu Hause ist er in vielen Welten - seine Literatur ist die der Kolonien, seine Heimat die der Kolonialisten. V. S. Naipaul steht in einer illustren Phalanx von sogenannten postkolonialen Autoren, also Schriftstellern aus den ehemaligen Kolonialländern, die sich in ihrem Schreiben mit den politischen und historischen Brüchen, den politischen und kulturellen Hinterlassenschaften der zumeist wenig zimperlichen europäischen Kolonialherrschaft auseinandersetzen. Die Liste reicht hier von den Nobelpreisträgern Patrick White (Australien), Wole Soyinka (Nigeria), Derek Walcott (St. Lucia) und Nadine Gordimer (Südafrika) bis zur Algerierin Assia Djebar und dem Inder Salman Rushdie. [Von denen kann doch keiner Naipaul das Wasser reichen - Anm. Dikigoros]

Naipauls Schaffen umfasst ein vielschichtiges, breites Œuvre von Romanen, Reportagen, Short Stories, Essays und Reisebeschreibungen; nach seiner frühen Auseinandersetzung mit der heimischen Karibik weitet sich das Spektrum auf Afrika, Süd- und Nordamerika, Indien und die islamische Welt, mit einer Betrachtung der unterschiedlichen kolonialen Erfahrungen in diesen Regionen. Die Kraft seines Schreibens erwächst aus einer engen Anbindung an die persönliche Erfahrung, es ist durchwoben von autobiographischen Elementen, den Eindrücken seiner ausgedehnten Reisen, der Geschichte seiner Familie, den Beziehungen zu seiner Schwester und seinem ebenfalls als Schriftsteller berühmten, jedoch allzu früh verstorbenen Bruder Shiva. Naipauls Biographie repräsentiert beispielhaft die entwurzelte Existenz des postkolonialen Menschen. Sein geographischer Weg ist der so vieler Westinder, die in den fünfziger Jahren im Zuge der Dekolonisierung das Heimatrecht in Grossbritannien (s.o.) wahrnahmen und sich dort eine bessere Zukunft erträumten. Zusammen mit den Einwanderern aus Indien und Afrika veränderten sie das Antlitz Grossbritanniens derart, dass man heute von einer wirklich multikulturellen Gesellschaft sprechen kann.

Über alle Grenzen

Zusammen mit vielen in England lebenden postkolonialen Autoren hat Naipaul seinen Beitrag zur Schaffung dieser neuen Identität geleistet. Die autobiographischen Interferenzen in seinem Schreiben gehen in ihrer Intensität so weit, dass er die Grenzen der Gattungen verwischt und seine Reiseerfahrungen meisterhaft in fiktionale Zusammenhänge einbettet. Seine Auseinandersetzung mit dem Islam in «Among the Believers», die zwei Indienbücher «India: A Wounded Civilization» und «India: A Million Mutinies Now», «The Middle Passage», «A Turn in the South» und viele andere Werke sind Zeugnis dieses faktisch-fiktionalen Schreibens.

Ein Reisebericht, der im Licht der derzeitigen Islamdiskussion düstere Aktualität erlangt, ist sein Buch «Beyond Belief: Islamic Excursions Among the Converted People», in dem er seine Reisen durch Länder wie Indonesien, Iran, Pakistan und Malaysia schildert - Länder, die den Islam in ihre viel ältere Kultur aufgenommen haben und dadurch kulturelle Spannungen erfahren müssen, die sich vor allem auf den Einzelnen in seinem täglichen Leben auswirken.

Naipauls grosses Verdienst ist es, dass er einerseits sich frei machen konnte von einer epigonenhaften Kolonialliteratur, die den Kanon der Grossen nachschreibt und adaptiert, und andererseits nicht in der Attitüde des literarischen Revolutionärs verharrte, der sich in ständiger Reibung am Kanon der kulturellen Tradition westlich-abendländischer Prägung befindet. Insofern ist seine biographische und seine künstlerische Entwicklung - die er in seinem bis dato letzten autobiographischen Text, «Reading and Writing: A Personal Account», aufrollt - geradezu paradox: Je mehr er sich in England, dem Herzen des Empire, und noch dazu in einem Cottage in Wiltshire, der klassischen Landschaft der Gärten, Country Houses und Gentlemen, festsetzt, sich also den alten Herrschern und deren Lebensstrukturen annähert, desto unabhängiger wird er literarisch und politisch. Da er sich von keiner Seite vereinnahmen lässt, gilt er als schwierig. Er attackiert den Imperialismus aller Kolonialmächte, äussert sich aber auch scharf und unerbittlich über die Situation in der Karibik oder über den religiösen Fundamentalismus. Insofern ist er nicht, wie man das bei dem aus St. Lucia stammenden Derek Walcott oder dem Iren Seamus Heaney konstatieren könnte, Sprecher seiner ethnischen bzw. seiner politisch-religiösen Gruppe. «Political correctness» wird man ihm wohl nie nachsagen können. Nichtsdestoweniger wurde er mit Preisen und Auszeichnungen überhäuft: 1971 erhielt er den Booker-Preis für «In a Free State», 1991 den sehr hoch dotierten Cohen-Preis für sein Lebenswerk, um nur die zwei wichtigsten zu nennen. Er erhielt den höchsten Orden Trinidads und wurde in Grossbritannien geadelt.

In dem 1967 erschienenen Roman «The Mimic Men» beschreibt der Erzähler, dass er gern in einer Bar hinter einer Säule sitzt und die Welt beobachtet. Dies könnte als frühes Zeugnis der Naipaul'schen Grundhaltung gelesen werden: Hinter der Säule muss er sich nicht festlegen, die Beobachtung kann ohne Rücksichtnahme auf die Anwesenden erfolgen. Analyse ist wichtig, nicht Mitgefühl, wie Naipaul einmal in einem Interview betonte. Dies macht den Umgang mit Naipaul schwierig. Von zwei Schriftstellern, ebenfalls aus der Szene der cross-culturals, wurde Naipaul scharf angegriffen. Edward Said, der mit seinem Buch «Orientalism» überaus einflussreiche palästinensisch-amerikanische Kulturkritiker, nennt ihn den «darling of liberal culture», einen «verspäteten Kipling», der in seiner klischeehaften Gegenüberstellung von Ost und West, die den vorgefassten Meinungen und dem moralischen Überlegenheitsgefühl der westlichen Leser entgegenkomme, nicht der Aufklärung diene, sondern im Gegenteil alte Vorurteile weiterschreibe. Dies wirft er ihm im Besonderen im Zusammenhang mit seinem Buch «Among the Believers» («Eine islamische Reise - Unter den Gläubigen») vor. Später hat der italoamerikanische Romancier, Essayist und Reiseschriftsteller Paul Theroux, über 30 Jahre lang Naipauls Freund und Reisegefährte auf mehreren Kontinenten, in einer üblen, persönlichen Attacke dessen Snobismus, Eitelkeit und Streitsucht öffentlich gemacht («Sir Vidia's Shadow»).

Verlorene Identität

Die Sichtweise der europäischen Kolonialisten und Reisenden, denen die Karibik als unproduktives kulturelles Vakuum erschien, dient Naipaul als Ausgangspunkt seines Schaffens: «Null mal null ist null» heisst es in «Ein Haus für Mr Biswas». Hier beschreibt er - vor dem Hintergrund einer von den Briten in komödienhaftem Chaos zurückgelassenen kolonialen Welt - den Traum des Mr Biswas (unschwer als literarisches Abbild von Naipauls Vater zu erkennen) vom eigenen Haus: ein in dickensscher Breite und Groteske angelegter Roman von der postkolonialen «Unbehaustheit» des pikaresken Einzelkämpfers, der gegen die Unbilden der strukturlos zurückgelassenen Welt antritt. Der Kultur- und Identitätsraub - in Shakespeares «Sturm» von Prospero an Caliban beispielhaft vollzogen und deshalb von vielen Autoren der postkolonialen Literaturen immer wieder thematisiert - führt zu einer von Naipaul bitter beklagten Mimikry: In «The Mimic Men» führt er eine Secondhand-Gesellschaft vor, die auf keinerlei eigener Tradition fussen (s.o.) kann, keine eigenen Strukturen entwickelt und das eigene Ich mit allen Wertvorstellungen ständig den Erwartungshaltungen der so lange als erstrebenswert und ideal angesehenen britischen Kultur anpasst.

«Living in a borrowed culture» - mit einer entliehenen Kultur leben - nennt er das schon viel früher in «The Middle Passage» (1962), einer erst 1999 auf Deutsch unter dem Titel «Auf der Sklavenroute» erschienenen Porträtsammlung der karibischen Inselwelt. In Anlehnung an die Sklaventransporte des Atlantic Triangle - englische Waren werden nach Afrika verschifft, gegen Sklaven eingetauscht, welche in die Karibik verfrachtet werden, um dort gegen die Inselprodukte verkauft zu werden, die wiederum zurück nach England gehen - beschreibt Naipaul seine Reise in die Karibik auf einem Rückkehrerschiff von Southampton aus in Richtung Trinidad. Das erste Kapitel ist starker Tobak, denn es schildert die nach England eingewanderten karibischen Immigranten entweder als abstossend oder als komische Figuren, mit denen der Schriftsteller nichts gemein hat.

Seine Reise führt ihn über den gesamten Inselbogen von Trinidad bis nach Jamaica. Naipaul schildert diese Kultur als unecht, als nicht einmal hybrid - d.h. eben nicht als Ergebnis einer kreativen Verschmelzung -, sondern durch und durch fremdbestimmt und fern jeglicher Eigeninitiative, ausschliesslich eine Kreation des Kolonialismus. «Die koloniale Situation Westindiens ist einzigartig, weil Westindien in all seiner rassischen und gesellschaftlichen Komplexität so vollständig ein Werk des Empire ist, dass der Rückzug des Empire fast keine Bedeutung hat.»

Es ist verständlich, wenn das generalisierende «der Karibe», «der Inder» usw. und die verletzende Schärfe von Naipauls Urteil auf wenig Gegenliebe stossen (s.o.) und man ihn der Nestbeschmutzung bezichtigt. In dem gleichen Buch wirft er seinen westindischen Schriftstellerkollegen vor, die meisten von ihnen hätten bis anhin lediglich weiterhin die Vorurteile ihrer Rasse reflektiert und bedient. Von sich selbst schreibt er, dass ihm die Gesellschaft in Trinidad nur eins vermittelt habe: die Notwendigkeit des Ausbruchs. Helden habe es keine gegeben, Kultur habe es keine gegeben, Identität habe es keine gegeben, es sei denn eine aufgepfropfte britische. Tatsächlich habe ihn die Erinnerung an seine Heimat noch viele Jahre nach seiner Auswanderung in Albträumen verfolgt.

Naipauls wohl wichtigster autobiographisch-fiktionaler Text ist «The Enigma of Arrival» (1987, dt. «Das Rätsel der Ankunft»), die Geschichte seiner Einwanderung und Lebensgestaltung in England. Er schildert, wie sich ein international bekannter Autor ein «sicheres Haus» in Wiltshire einrichtet und sich seinen karibischen Jugendphantasien von englischer Landschaft und Englishness annähert. Und die Ankunft in England symbolisiert gleichzeitig die Ankunft eines grossartigen (s.o.), versatilen Schriftstellers in der englischen Literatur, dessen Lebenswerk nun mit dem Literaturnobelpreis gekrönt wird.

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