DER  REGENBOGENMENSCH

von Norbert Bolz (Die Achse des Guten, 01.09.2021)

Bilder, Anmerkungen & Links: Nikolas Dikigoros

Das Gutmenschentum ist ein religiöser Ersatz, man orientiert sich wieder an Moral und Unmoral, Schuld und Sühne. Im Zentrum steht die Selbstanklage, wer sich verweigert, wird exkommuniziert. (Anm. Dikigoros: Pfui, was ist denn das für ein altmodischer Ausdruck? Auf Neudeutsch heißt das doch "gecancelt"!)

Der Gutmensch hat sein ultimatives Symbol gefunden: die Regenbogenflagge. Sie steht für Frieden, Umweltschutz, Toleranz, Diversität, Hoffnung - kurzum: das Gute. Und sie passt genau zum Universalismus der Menschenrechte, zur modernen Nächstenliebe als Fernstenliebe und zum Traum von der One World, dem Weltstaat, der kein Außen mehr kennt. So vermittelten die Medien bei Gelegenheit des Fußballspiels der guten Deutschen gegen die "homophoben" Ungarn den Eindruck, eine hysterisch erregte Gesellschaft habe sich unter der Regenbogenflagge vereint.

Neben dem Gendern gibt es jetzt also noch eine zweite preiswerte Möglichkeit, zu zeigen, dass man zu den Guten gehört: Man schwenkt eine Regenbogenflagge. Dieser Bekenntniszwang ist ein reinigendes Ritual. Das Virtue Signalling, das öffentliche Zurschaustellen der eigenen Tugendhaftigkeit, funktioniert nämlich wie eine Waschanlage der Gesinnung. Dass sich dabei die ehemaligen Weltmeister des Bösen heute als die Weltmeister des Guten zeigen wollen, ist psychologisch leicht erklärbar. Ihre Lust am Bußritual hat aber auch eine theologische Dimension. Das Gutmenschentum ist ein religiöser Ersatz, eine Nostalgie nach dem Absoluten. Nicht umsonst hat man schon den revolutionären Religionsfanatiker Thomas Münzer mit einer Regenbogenfahne abgebildet. (Anm.: Dikigoros hat das Bild leider nicht gefunden. Wer es kennt möge ihm bitte mailen!)

Doch warum können wir Derartiges heute weltweit beobachten - zumindest in der westlichen, freien Welt? Der Zufall, nicht in die Favelas von Rio, die Armenviertel von Bombay oder die syrischen Kriegsruinen, sondern in die westliche Welt und ihren Wohlstand hineingeboren zu sein, erzeugt ein Schuldgefühl. Nietzsche hat das sehr gut erkannt und von der "persönlichen Notwendigkeit des Unglücks" gesprochen. Demnach wären nicht nur die Unheilsvisionen vom Ende der Welt, sondern auch die Empfindlichkeiten des Diskriminiertseins psychisch bedingt. Das phantasierte Unglück entlastet das schlechte Gewissen, denn es erscheint als Sühne. Deshalb hat Schopenhauer "das Unglück als Surrogat der Tugend" bezeichnet. Am heutigen Schuldkult eines vom Menschen verursachten Klimawandels und eines Rassismus des "weißen Mannes" kann man sehr deutlich sehen, wie Schuld als moralische Droge funktioniert - "Moralin", wie Nietzsche wohl sagen würde. Die Selbstgeißelungen der Schuldbekenntnis-Hysteriker verschaffen ihnen nämlich nicht nur ein übersichtliches Weltbild, das sich wieder an Gut und Böse, Schuld und Sühne orientieren kann, sondern auch eine moralische Überlegenheit. Diese Flagellanten des Westens sind als unglückliches Bewusstsein glücklich, weil sie sich von der Komplexität der Welt mit einer einzigartigen Technik entlasten: An die Stelle der Analyse tritt die Selbstanklage. Nun war Selbstkritik immer eine der Stärken, ja vielleicht das Alleinstellungsmerkmal der westlichen Kultur. Aber diese Selbstkritik ist heute in Selbsthass umgeschlagen. Man könnte von einem Narzissmus der Empörung und des Schuldbewusstseins sprechen.

Das ganze Leben als Bußritual

Das extreme Schuldgefühl der westlichen Welt manifestiert sich als Kollektivneurose. Die Schuld des "weißen Mannes" ist die Erbsünde, an die die Regenbogenmenschen glauben. Da sie aber nicht mehr wie die Christen an eine Erlösung glauben, verwandeln sie das ganze Leben in ein einziges Bußritual. Es geht hier um eine raffinierte Technik, sich selbst zu rechtfertigen, indem man sich selbst bezichtigt. Heute hat dieser politische Moralismus eine theologische Zuspitzung gewonnen: die Selbstgeißelung. Niemand soll mehr stolz sein - es sei denn: stolz auf die eigenen Sünden. Die Deutschen beziehen ihren Sündenstolz aus dem Holocaust, die großen europäischen Nationen aus dem Kolonialismus und die USA aus der Rassendiskriminierung.

Der Regenbogenmensch nimmt die Inszenierung des Jüngsten Gerichts in eigene Regie. Er ist der politische Moralist, der als Angeklagter, Verteidiger und Richter zugleich auftritt. Der Gesellschaft wird der Prozess gemacht, indem sich der Bürger mit schlechtem Gewissen zum Gewissen der Gesellschaft aufwirft. Dabei klagt man nicht nur im eigenen Namen, sondern auch im Namen der Empfindsamen und Beleidigten, der Minderheiten und Migranten an.

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass solche religiösen Fanatiker immer wieder aufgetreten sind - bei den Puritanern, den Jakobinern und den Bolschewisten. Die Regenbogenmenschen beschwichtigen also ihr eigenes schlechtes Gewissen, indem sie sich als das Gewissen der Gesellschaft aufspielen. Sie warnen vor dem ökologischen Weltuntergang, klagen die soziale Ungerechtigkeit und Diskriminierung im Namen unterdrückter Minderheiten an und sind unermüdlich im anti-faschistischen "Kampf gegen rechts".

Die Exkommunikation wird wieder aktuell

Je schwächer der gesunde Menschenverstand, desto stärker die Gesinnung. Man zeigt Haltung, setzt Zeichen und schwenkt Fahnen. Und wo Gefühle statt Argumente die Debatten bestimmen, kommt es ganz unvermeidlich zur Verteufelung der Andersdenkenden. Alle Sachfragen geraten in den Sog moralistischer Polemik, und so wird heute ganz selbstverständlich der politische Gegner als unwählbar behandelt. Im Extremfall, der leider immer häufiger eintritt, sieht der Regenbogenmensch im politischen Gegner einen Unmenschen. Und so wird die Exkommunikation wieder aktuell - als sozialer Boykott. Die sozialpsychologische Erklärung hierfür liegt auf der Hand: Gesellschaftliche Gruppen, die sich der Welt pazifistisch und humanitaristisch zeigen, wenden ihre Aggression nach innen - im unerbittlichen Kampf gegen die Andersdenkenden. Die neuen Puritaner berauschen sich an Vorschriften und Verboten.

Nicht nur die Regenbogenmenschen und die Protestbewegungen, sondern auch öffentlich-rechtliche Medien und Gesinnungspolitiker wollen den gordischen Knoten gesellschaftlicher Komplexität mit Moral durchhauen. So kollabiert die Differenz zwischen Politik und Moral im politischen Moralismus von heute. Das ist der Grund für den Niedergang der Debattenkultur und die Ohnmacht der Argumente. Denn das Moralisieren macht jede Verständigung unmöglich.

Die politische Szene wird zunehmend von der bornierten Gewissheit und Selbstgerechtigkeit eines moralischen Urteils geprägt, in dem immer auch die Sanktion der Missachtung des Andersdenkenden spürbar ist. Wenn Politik auf Moral reduziert wird, disqualifiziert man den politischen Gegner als unmoralisch, d.h. man grenzt ihn aus der Politik aus. So wird das Polemische der Politik von der Moral ins Inquisitorische gesteigert. Es geht nicht mehr um die Sache, sondern um die eigene Identität.

Zeitalter der emotionalen Inkontinenz

So ist allmählich eine Art sanfter Wahnsinn gesellschaftsfähig geworden. Man denke nur an die Tabus und Verbote der Politischen Korrektheit, an die gepflegte Hysterie in allen Umweltfragen, an die Überempfindlichkeit der Schneeflocken-Generation und vor allem natürlich an den para-religiösen Greta-Kult.
(Anm. Dikigoros: Wenig mehr als zwei Jahre nach Erscheinen dieses Artikels wurde die arme Irre aus Skandinavien im "Wertewesten" gecancelt, weil sie sich von ihren Hintermännerndiversen einen falschen Standpunkt zum Gaza-Krieg hatte eintrichtern lassen; nun suchen die Klima-Gläubigen nach einer neuen Kult-Figur - sic transit gloria :-)

Dass bei den Veganern Essen zur Religion geworden ist oder dass man den Frauen der westlichen Welt nahelegt, weniger Kinder zu bekommen, um den "ökologischen Fußabdruck" zu vermindern, erstaunt heute kaum mehr jemanden. Eine moderne Gesellschaft kann wohl nicht anders, als einen Wahn, der massenweise auftritt, als neue Form von Intelligenz anzuerkennen. Im Klartext bedeutet das, dass Hysteriker nicht mehr psychoanalytisch behandelt, sondern politisch geadelt werden. So verlangt jeder Wahn heute Respekt.

Es handelt sich also um eine optische Täuschung, wenn man die heutigen Haltungsjournalisten, Zeichen setzenden Politiker und Protestbewegungen mit kritischem Bewusstsein und linker Politik identifiziert. Eher haben sie etwas mit Kindlichkeit, Pubertätsriten und dem künstlichen Paradies überlanger Ausbildungszeiten zu tun. Es geht nicht um politische, sondern psychische Probleme. Der Konformismus ihres aggressiven Ungehorsams verschafft den Aktivisten den infantilen Trotzgenuss einer Protestidentität. Die ewigen Kinder werden so sehr verwöhnt, dass sie ihre Aggression nach außen wenden müssen: als Strafpredigt gegen die Erwachsenen, die den Laden am Laufen halten. Das verschafft den Regenbogenmenschen die narzisstische Befriedigung, sich für besser zu halten als die anderen. Und nie war es bequemer, zu demonstrieren - gegen was auch immer. Die Protestbewegungen schneiden nämlich in Butter. Die Veranstalter von Demonstrationen unter der Regenbogenflagge dürfen damit rechnen, dass Regierungsvertreter in der ersten Reihe mitmarschieren.

Das 21. Jahrhundert hat als Zeitalter der emotionalen Inkontinenz begonnen: Die Wahrheit muss verletzten Gefühlen weichen. Die Welt dreht sich um winzige Minderheiten. So wird das Pathologische normalisiert und das Normale als pathologisch stigmatisiert. Die Linken sind heute extrem antimarxistisch, denn sie setzen auf das "Lumpenproletariat", das Marx verabscheut hat - sie sind also wieder bei Herbert Marcuse, Jean-Paul Sartre und Franz Fanon angekommen. Ihre Politik hat nur noch einen Inhalt: Diskriminierung ist böse. Man argumentiert nicht mehr politisch oder ökonomisch, sondern ist einfach "woke". "Diskriminierung" hat "Ausbeutung" als linken Schlüsselbegriff ersetzt. Da aber jede Unterscheidung diskriminiert, muss man aufhören zu denken, um niemanden zu verletzen. Alles Gute ist "trans-", alles Böse ist "-phob". (Anm. Dikigoros: oder "cis-" :-)

Bleibt die Frage: Warum geschieht das gerade heute? Antonio Gramsci hat den langen Marsch durch die Institutionen propagiert - und dieser Marsch ist heute abgeschlossen. Die Saat des universitären Nihilismus ist aufgegangen; der Elfenbeinturm diktiert die Politik. Was Postmoderne, Dekonstruktivismus und Politische Korrektheit für die Bewohner des Elfenbeinturms so attraktiv macht, ist das Angebot der totalen Entlastung: Es gibt weder Wahrheit noch Wirklichkeit. Die Bomben, die vor 50 Jahren gebastelt wurden, gehen heute hoch, aber als Feuerwerkskörper - Kulturrevolution als Farce.


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