Hi, Mitkids!
Erinnert ihr euch noch an Sophie Liebevoll? Sophie war neu in unserer Schulklasse, nachdem sie zuvor mit ihren Eltern einige Jahre in Australien gelebt hatte. Am Anfang hatte sie Sirpa und mich damit verwirrt, dass sie sich nachmittags als ihr böser Zwillingsbruder Arnie, genannt: Terminator, verkleidete. Dann klärte sie alles auf: Sophie erzählte mir, dass sie Mitglied einer Theatergruppe in Hannover sei, die Stücke in englischer Sprache aufführte. Und sie lud mich sogar ein, sie einmal zu den Proben zu begleiten.
Als ich meiner finnischen Klassenkameradin Sirpa Hundelainen, mit der ich schon sehr lange befreundet bin, erzählte, dass ich Sophie zu den Theaterproben begleiten würde, sagte Sirpa sofort: "Da komme ich mit! Wenn du da hingehst, geh' ich da auch hin!" Hi hi. Wisst ihr was? Ich glaube, Sirpa war eifersüchtig. Sie dachte wohl, Sophie sei in mich verknallt und habe mich deswegen zur Theatergruppe eingeladen. War Sophie aber bestimmt nicht. Und als wir ihr am Freitagmorgen sagten, dass Sirpa am Nachmittag gern mit zum Theater kommen wollte, strahlte Sophie sogar und sagte: "Cool. Je mehr, um so besser. Vielleicht bekommt ihr beide ja sogar Lust mitzuspielen. Ich schlage vor, wir treffen uns um drei an der Bushaltestelle an der Kreuzung Peiner Straße / Lehrter Straße." Und so machten wir es dann auch.
Wir fuhren mit dem Bus nach Hannover-Kleefeld, wo die englische Theatergruppe ihre kleine Bühne hatte. Im Bus erzählte uns Sophie: "Wir proben zur Zeit das amerikanische Musical ANNIE, das wir demnächst in Hannover aufführen wollen." Sirpa wurde neugierig. "Musical? Also ein Stück, in dem die Schauspieler nicht nur sprechen, sondern auch singen, ja?" Sophie nickte: "Ganz genau. Es wird sogar ziemlich viel gesungen." - "Musst du da zwischendurch auch mal 'was trällern, Sophie?" fragte Sirpa weiter. "Ja, ein paarmal sogar", antwortete Sophie. Und Sirpa hakte nach: "Was für eine Rolle hast du denn in dem Stück? Irgendwas, wo du auch mal was sagen musst?" Sophie nickte erneut: "Ja, ja, schon. Ich spiele nämlich die Hauptrolle in dem Stück - die Annie." Wir staunten nicht schlecht - und Sirpa schien sogar ein bisschen neidisch zu sein.
Wir kamen ein bisschen zu früh. Als wir ankamen, schloss eine ältere Frau die Tür auf. "Hi, Annie" wurde sie von Sophie begrüßt. Sirpa wollte wissen: "Wieso? Ich dachte, du spielst die Annie, Sophie." - "Tut sie ja auch", antwortete die ältere Frau, und meinte: "Ich heiße mit Vornamen zufällig genauso wie das Stück. Annie. Ich bin hier aber nur die Beleuchterin. Mit Nachnamen heiße ich Lampe."
Sophie führte uns das kleine Theater. Sie zeigte uns die Umkleideräume, das WC, die Teeküche und natürlich die Bühne und den Zuschauerraum. "Ich hatte mir das alles viel größer vorgestellt", musste ich zugeben. "Ja, das sagen alle", meinte Sophie.
Nach und nach trafen die anderen Mitglieder der Theatergruppe ein: Mehrere Schauspieler, einige Helfer, und dann stellte uns Sophie dem Regisseur des Stücks, Steven Playmountain, vor. "Kennt ihr zwei das Musical eigentlich?" fragte er Sirpa und mich. "Nö - nicht so richtig", meinte ich. "Eigentlich gar nicht", gab Sirpa zu. Steven klärte uns auf: "Stellt euch vor, ihr seid im New York der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts. Die Wirtschaft ist kaputt, und den Menschen geht es gar nicht mal so gut. Annie wurde als kleines Baby von ihren Eltern ausgesetzt, weil sie zu arm waren, um sie großzuziehen. Annie ist nun elf Jahre alt und lebt im Waisenhaus. Dort gibt es die gemeine Direktorin Miss Hannigan, die Annie und die anderen Waisen tyrannisiert, malträtiert, terrorisiert und übel traktiert. Außerdem behandelt sie die Kinder schlecht. Einmal läuft Annie sogar mal weg, um nach ihren Eltern zu suchen - die Polizei bringt sie aber zurück. Dann entschließt sich der alleinstehende, stinkreiche und eigentlich ziemlich hartherzige Milliardär Oliver Warbucks, Weihnachten irgendein Kind aus dem Waisenhaus zu holen, damit es in seinem Hause feiern kann - er will halt mal etwas Gutes tun. Deshalb kommt seine Sekretärin Grace Farrell ins Waisenhaus und nimmt ausgerechnet Annie mit. In den nächsten Tagen gewinnt Warbucks das Waisenkind Annie wider Erwarten lieb und möchte es adoptieren. Annie mag Warbucks auch, möchte aber lieber ihre richtigen Eltern finden. Der Milliardär und Grace helfen ihr auch bei der Suche nach den Kindern (sogar der amerikanische Präsident macht dabei mit), aber am Ende stellt sich heraus, dass Annies Eltern schon lange tot sind. Dann adoptiert der Milliardär Annie doch noch, und ganz am Schluss bekommt Annie sogar ihren Hund Sandy zurück, der ihr mal zugelaufen war und dann doch wieder verschütt ging. Am Ende sind alle netten Menschen und der Hund in dem Stück glücklich und zufrieden, and they live happily ever after, wie wir Amerikaner das so schön sagen."
Ich runzelte die Stirn und bemerkte: "Äh ... tja. Ziemlich kitschiger Quark, oder?" Das hatte ich eigentlich als Beleidigung gemeint, aber der Regisseur Steven empfand das nicht so. "Ja. Ein wunderschöner Schmalz, nicht wahr?" Sirpa schien die Geschichte auch zu gefallen: "Cool, und so sentimentaaaal!" Sophie grinste und erzählte Steven: "Simon und Sirpa haben übrigens auch Theatererfahrung. Sie haben an ihrer Schule vor zwei Jahren mal ROMEO UND JULIA aufgeführt. Dabei ist zwar einiges schiefgelaufen, und am Ende der Aufführung lag die Bühne in Schutt und Asche und drei Kinder hatten eine Gehirnerschütterung, aber es soll trotzdem ein voller Erfolg gewesen sein." Oh, meine Güte, das stimmte! Woher wusste denn Sophie von dieser peinlichen Sache? "Und wie ist ihr Englisch?" wollte Steven von Sophie wissen. Sophie fand: "Ganz gut. Nichts Besonderes, aber ganz gut. Das mit dem Singen geht auch so." He, was sollte das denn heißen - nichts Besonderes? Steven machte Sirpa und mir einen Vorschlag: "Wir müssen noch die Rollen der beiden ältesten Waisenkinder besetzen, die sind beide dreizehn Jahre alt. Was haltet ihr davon, wenn ihr in unserem Stück mitspielt?" - "Cool, machen wir", antwortete Sirpa sogleich. Fand ich übrigens interessant, dass sie für mich gleich mitantwortete. Der Regisseur sagte: "Dann herzlich willkommen im Team. Ich schlage vor, Sirpa spielt die Duffy, und Simon spielt die July. Ihr bekommt gleich mal eure Textbücher. Übrigens sind einige von den Schauspielern arbeitslose Englischlehrer. Wenn ihr Probleme mit der Aussprache habt, bringen die euch das schon bei. Und das Singen lehren euch unsere arbeitslosen Musiklehrer." Einen Augenblick mal! Hatte er eben gesagt: Simon spielt die July? Was sollte das denn? Ich beschwerte mich: "Was, ich soll ein Mädchen spielen? Also, ich weiß nicht, aber ich als Tunt...." Sophie merkte wohl, dass ich einen Rückzieher machen wollte, und erklärte mir: "Wenn mit der Aufführung alles klappt, fahren wir bald alle zu einem Gastspiel nach Australien." Ach so. Nach Australien? Das Land der Kängurus, des Bumerangs und einer Sache, die man Vegemite nennt? "Gut, spiele ich eben ein Mädchen." Sirpa und ich riefen vom Theater aus unsere Eltern an und fragten, ob wir mitmachen dürften. Die waren einverstanden. An diesem Nachmittag schauten wir noch bei den Proben zu, und schon das nächste Mal sollten wir mitproben. Aber davon erzähle ich euch ein anderes Mal.
Es grüßt euch mit Lampenfieber
Euer SIMON FLUNKERT
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