Spezielle Probleme der Eingriffseinwilligung und der Aufklärungspflicht [Auszug]
W. Weißauer
"Chirurgie und Recht"
hrsg. Rudolf Häring, Blackwell Wissenshaft
Berlin 1993, S. 134-143

 

[farbliche Hervorhebungen durch uns]

Verweigerung der Bluttransfusion aus religiösen Gründen

Lassen Sie mich zunächst rekapitulieren: Mit dem Erfordernis der Eingriffseinwilligung und Eingriffsaufklärung schützt die Rechtsprechung das Selbstbestimmungsrecht und die Körperintegrität des Patienten. Die in Art. 1 und 2 des Grundgesetzes geschützten Persönlichkeitsrechte hat der Arzt zu respektieren. Der willensfähige Patient kann in freier Selbstbestimmung einen vital indizierten und dringenden Eingriff selbst aus Gründen ablehnen, die rational nicht nachvollziehbar sind.

Zeugen Jehovas lehnen die Bluttransfusion aus religiösen Gründen kompromisslos ab. Im rechtlichen Ausgangspunkt gibt es keinen Zweifel: Eine Bluttransfusion, gegen die Weigerung des willensfähigen Patienten ist ein rechtlich unzulässiger Eingriff in die Körperintegrität und beim Zeugen Jehovas auch noch in die durch Art 4 des Grundgesetzes gewährleistete Religionsfreiheit. Dieses Grundrecht gibt. um das Bundesverfassungsgericht zu zitieren, jedem das Recht, "sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner Überzeugung gemäß zu handeln".

Deshalb kann sich der Arzt gegenüber der religiös motivierten Verweigerung der Bluttransfusion keinesfalls darauf berufen, die Entscheidung des Patienten beruhe auf Irrtum oder auf irregeleitetem religiösen Gewissen oder er sei, da er mit seiner Weigerung gegen seine gesundheitlichen Interessen handele, nicht einsichts- und willensfähig.

Nicht weniger abwegig wäre es, eine Parallele zur Hilfeleistungspflicht gegenüber dem Suizidpatienten. zu ziehen, der die Tatherrschaft verloren hat, also etwa nach einem Suizidversuch bewusstlos geworden ist. Wer eine Behandlung verweigert und dem schicksalshaften Geschehen seinen Lauf lässt, legt damit nicht Hand an sich selbst. Der Zeuge Jehovas will zudem noch nicht einmal dem Krankheitsgeschehen seinen Lauf lassen. Er weigert sich nur, um den Preis der Verletzung eines imperativen Glaubensgebotes gerettet zu werden.

Lehnt der Zeuge Jehovas bei klarer Besinnung eindeutig und kompromisslos die Bluttransfusion selbst für den Fall ab, dass sie als lebensrettende Maßnahme absolut indiziert ist, nützt es auch nichts, wenn der Arzt zuwartet, bis der Patient das Bewusstsein verloren hat, um dann nach seinem mutmaßlichen Willen zu handeln, denn der mutmaßliche Wille stimmt mit dem erklärten Willen des Patienten überein. Anders als sonst hilft die Handlungsmaxime "in dubio pro vita" hier nicht weiter; es gibt aufgrund der Erklärung des Patienten keinen Zweifel, dass er um seines Glaubens willen bereit ist, den Tod in Kauf zu nehmen.

Damit ist die Entscheidung des Arztes klar vorgezeichnet, wenn er eine Bluttransfusion als selbständige Behandlungsmaßnahme durchführen soll. etwa im Rahmen einer konservativen Behandlung, als lebensrettenden Eingriff nach einem schweren Blutverlust durch Unfall oder zur Vorbereitung einer Operation. Vermag der Arzt den Patienten nicht umzustimmen, so muss die Bluttransfusion unterbleiben.

Sehr viel schwerer zu beantworten ist die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen der Arzt eine Operation durchführen darf oder auch durchführen muss, wenn der Patient zwar mit ihr voll einverstanden ist, eine Bluttransfusion aber kategorisch ablehnt.

Der Arzt gerät hier zwischen Skylla und Charybdis. Seine Weigerung, eine vital indizierte und dringende Operation unter dieser Prämisse durchzuführen, muss sich an dem strafrechtlich sanktionierten allgemeinen Hilfeleistungsgebot messen lassen. Führt der Arzt den Eingriff aber durch, so kann er in den ausweglosen Konflikt geraten, entweder den Tod des Patienten als Folge operationsbedingter Blutverluste in Kauf zu nehmen oder die Bluttransfusion unter Verletzung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten durchzuführen.

In der Literatur vertretene extreme Auffassungen, nämlich der Arzt dürfe die von einem irregeleiteten religiösen Gewissen ausgehende Verweigerung der Bluttransfusion nicht respektieren, und die diametral entgegengesetzte, der Arzt solle selbst eine vital indizierte dringende Operation ablehnen, wenn auch nur die entfernte Möglichkeit bestehe, dass eine Bluttransfusion notwendig werden könne, sind weder rechtlich noch ethisch haltbar; sie führen zu inhumanen Ergebnissen.

Wer sich um eine ernsthafte Lösung des Konflikts. bemüht, muss differenzieren und dabei von der grundlegenden Erwägung ausgehen. dass die Verweigerung der Bluttransfusion die Hilfeleistungspflicht des Arztes nicht tangiert, sondern lediglich seine Hilfeleistungsmöglichkeiten limitiert.

Bleibt die Nutzen-Risikobilanz einer Operation positiv, obwohl der Patient jede intra- und postoperative Bluttransfusion verweigert, so kann für die Indikationsstellung zur Operation aus ärztlicher wie aus rechtlicher Sicht letztlich nichts anderes gelten, als wenn dem Arzt das für die Bluttransfusion benötigte Blut aus faktischen Gründen nicht zur Verfügung stünde.

Als Grundkonzept kann gelten: Je notwendiger und dringender eine Operation ist und je geringer die Wahrscheinlichkeit, dass eine Bluttransfusion erforderlich werden wird, desto mehr spricht dafür, die Eingriffsindikation auch beim Zeugen Jehovas zu bejahen. Danach ergibt sich eine Stufenfolge von Fallgruppen:

1. Auf Operationen, die eine Bluttransfusion zwingend erfordern, muss der Arzt verzichten; sie sind beim Zeugen Jehovas strikt kontraindiziert.

2. Vital indizierte dringende Eingriffe mit einer trotz Verweigerung der Bluttransfusion positiven Nutzen-Risikobilanz wird der Arzt dagegen mit der Einwilligung des voll informierten Patienten nicht nur durchführen dürfen, sondern sogar durchführen müssen. Dies folgt aus der allgemeinen Hilfeleistungspflicht (§ 323 c StGB) und - wenn der Arzt die Behandlung übernommen hat - aus seiner Garantenstellung. Bietet nur eine sofortige Operation die Chance der Lebensrettung, so wird sie selbst dann durchzuführen sein, wenn die überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass eine Bluttransfusion erforderlich werden wird. Es geht hier darum, die Chancen des Patienten auf Lebensrettung zu wahren.

3. Selbst die Durchführung elektiver Eingriffe, die trotz der Verweigerung der Bluttransfusion eine positive Nutzen-Risikobilanz haben. erscheint prinzipiell als zulässig. Im Unterschied zu den vital indizierten dringenden Eingriffen entfällt hier das Obligo aus der allgemeinen Hilfeleistungspflicht. Der Arzt sollte jedoch solche Eingriffe nur dann durchführen, wenn nach den individuellen. Umständen des konkreten Falles sowie der persönlichen Erfahrung des Operateurs eine Bluttransfusion nur unter einer Verkettung ungewöhnlicher Umstände erforderlich werden kann.

Eine rückhaltlose Aufklärung des Patienten über das erhöhte Risiko, dem er sich infolge der Verweigerung einer Bluttransfusion aussetzt, ist hier unerlässlich.

Entschließt sich der Chirurg beim Zeugen Jehovas zur Operation, so stellt sich die Frage, wie in der äußersten Grenzsituation zu verfahren ist, in der nur noch eine intra- oder postoperative Bluttransfusion das Leben des Patienten zu retten vermag.

Hat der Patient die Bluttransfusion kompromisslos verweigert, so handelt der Arzt rechtmäßig, wenn er auch in dieser äußersten Situation auf die Bluttransfusion verzichtet. Transfundiert er gegen den Willen des Patienten, so ist das Risiko einer strafrechtlichen Verurteilung wegen vorsätzlicher Körperverletzung und darüber hinaus u. U. auch noch von Schadenersatzansprüchen, etwa wenn durch die Transfusion eine schwerwiegende Infektion übertragen wurde, nicht a limine von der Rand zu weisen.

Zu berücksichtigen ist jedoch, dass in dieser äußersten Konfliktsituation Gewissensentscheidung gegen Gewissensentscheidung steht. Hat der Arzt die Indikationsentscheidung sorgfältig abgewogen und alles Erdenkliche getan, um die Blutverluste möglichst gering zu halten und sie durch fremdblutersetzende Maßnahmen auszugleichen, so kann er gleichwohl infolge einer Verkettung unglücklicher Umstände in den Widerstreit zwischen der Pflicht, die Glaubensüberzeugung des Patienten zu respektieren, und seiner ärztlich-ethischen Grundverpflichtung geraten, das Leben des Patienten zu retten. Man wird dem Arzt keinen Vorwurf machen können, wenn er sich hier für die Transfusion entscheidet. Aus strafrechtlicher Sicht kommt die Berufung auf die rechtfertigende oder jedenfalls die entschuldigende Pflichtenkollission in Betracht.

Offenbar sind die angesprochenen äußersten Grenzsituationen aber sehr viel seltener, als man zunächst annehmen möchte. Die Erfahrungen mit den Zeugen Jehovas haben gezeigt, dass die Grenzwerte, bei deren Unterschreitung eine Bluttransfusion unabweisbar notwendig wird, oft sehr viel niedriger anzusetzen sind, als man bisher annahm.

Die Verweigerung der Einwilligung durch die Eltern

Interdisziplinäre Kooperation

Da es bei der Operation von Zeugen Jehovas um ärztlich-ethische Grundsatzentscheidungen geht, kommt es nicht selten zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Chirurg und Anästhesist, ob eine aus der Sicht des Chirurgen indizierte Operation durchgeführt werden soll.

Legt man den Vertrauensgrundsatz und das Prinzip der strikten Arbeitsteilung zugrunde, von dem die interdisziplinären Vereinbarungen zwischen Chirurgen und Anästhesisten ausgehen, so obliegt die Beurteilung, ob die Operation trotz der Verweigerung der Bluttransfusion indiziert ist, dem Operateur Der Anästhesist hat ihn auf die aus der Sicht seines Fachgebietes kontraindizierenden Umstände hinzuweisen, also etwa auf eine erhöhte Blutungsneigung. Er darf und muss dann aber die Beurteilung des Operateurs, dass die Operation gleichwohl indiziert ist, in den Grenzen des Vertrauensgrundsatzes akzeptieren.

Im übrigen ist jedoch zu unterscheiden: An vital indizierten dringenden Eingriffen muss der Anästhesist mitwirken; dagegen wird man ihm die Mitwirkung an elektiven Eingriffen freistellen müssen. Die Entscheidung des Operateurs für den Eingriff impliziert die Zusage an den Patienten, auch in der äußersten Grenzsituation auf eine Bluttransfusion zu verzichten. Eine elektive Operation unter dieser Prämisse kann für den Anästhesisten, aber auch für jeden anderen an der Operation Beteiligten, eine schwerwiegende Gewissensbelastung bedeuten. Trotz der unterschiedlichen Ausgangssituation lässt sich ihr Gewicht durchaus mit dem einer Mitwirkung am medizinisch nicht indizierten Schwangerschaftsabbruch vergleichen. Die Grundentscheidung, die der Gesetzgeber für die Mitwirkung hier zugunsten der Gewissensfreiheit des Arztes und der nichtärztlichen Mitarbeiter getroffen hat, fordert Anerkennung über ihren unmittelbaren Anwendungsbereich hinaus. Die gemeinsame ärztliche, ethische und rechtliche Verantwortung, die Operateur und Anästhesist mit elektiven Eingriffen bei. Zeugen Jehovas übernehmen, erfordert auch ihre gemeinsame Entscheidung für oder gegen die Operation.

Um Konfliktsituationen nach Möglichkeit von vornherein zu vermeiden, sollten in Krankenhäusern, in denen häufiger Zeugen Jehovas operiert werden, Operationsteams gebildet werden, die in den Grundsatzfragen eine übereinstimmende Auffassung vertreten. Soweit es um elektive Eingriffe geht, bei denen die Probleme am größten sind, sollten sich die Zeugen Jehovas informieren, an welchen Krankenhäusern sie damit rechnen können, dass ihre Glaubensüberzeugung voll respektiert wird.


letzte Aktualisierung: 15. 4. 2001
Web-Adresse: http://www.geocities.com/athens/ithaca/6236/weissauer.htm

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