Verschiedene Gerichtsurteile

 

Inhaltsverzeichnis:

 

Grundsätzliches Urteil zur Anordnung einer lebensrettenden BLUTTRANSFUSION bei Kindern entgegen dem Willen der Eltern

Vormundschaftsgerichtliche Eilmaßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls: Anordnung einer lebensrettenden BLUTTRANSFUSION gegen den Willen der Eltern

Orientierungssatz:

1. Nach BGB § 1666 Abs 1 hat das Vormundschaftsgericht zur Abwendung einer konkreten Gefahr für das Wohl des Kindes die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, wenn die Eltern nicht gewillt oder in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden.

Es kann keinem ernsthaften Zweifel unterliegen, daß diese Voraussetzungen gegeben sind, wenn ein Kind lebensnotwendig auf die Verabreichung von Blut und Blutprodukten angewiesen ist, die Eltern aber die Zustimmung zu dieser Behandlung aus religiösen Gründen verweigern (vergleiche BayObLG München, 1975-09-25, BReg 1 Z 55/75, FamRZ 1976, 43 und OLG Hamm, 1967-10-10, 3 Ss 1150/67, FamRZ 1968, 221).

Die Eltern können sich in diesem Fall auch nicht mit Erfolg auf ihre Grundrechte aus GG Art 6 Abs 1 (elterliches Erziehungsrecht) und GG Art 4 Abs 1 (Glaubens- und Gewissensfreiheit) berufen, weil diese infolge der Kollision mit dem Grundrecht des Kindes auf Leben und körperliche Unversehrtheit zurücktreten müssen.

2. Bei besonderer Eilbedürftigkeit darf das Vormundschaftsgericht die vorläufige Anordnung gerichtet auf Verabreichung einer erforderlichen BLUTTRANSFUSION auch ohne vorherige Anhörung der Eltern und sogar ohne Gewährung rechtlichen Gehörs treffen, wenn es die Überzeugung gewonnen hat, daß die von den behandelnden Ärzten gegebene Sachdarstellung zutreffend ist.

Gericht: OLG Celle 17. Zivilsenat, Datum: 21. Februar 1994 Az: 17 W 8/94
Fundstelle: NVwZ 1995, 518 (red. Leitsatz), MDR 1994, 487-488 (red. Leitsatz und Gründe), NJW 1995, 792-794 (red. Leitsatz und Gründe), RdLH 1995, Nr 1, 32 (Gründe),KirchE 32, 62-67 (1998) (red. Leitsatz und Gründe)

 

Wie lange gilt der Entzug des elterlichen medizinischen Sorgerechts? Wann ist eine Anfechtung möglich?

Entzug der elterlichen Sorge, soweit es um die Zustimmung zu einer Bluttransfusion im Rahmen einer Operation geht

Durch Vollzug der Operation und der damit verbundenen Bluttransfusion war die angefochtene Entscheidung gegenstandslos geworden.

Das AG hat durch Beschluß vom 9.2.1992 im Wege der einstweiligen Anordnung den Eltern gemäß § 1666 BGB die elterliche Sorge entzogen, soweit es um die Zustimmung zu einer Bluttransfusion im Rahmen einer Operation des Kindes in der St. L. Klinik ging. Zugleich hat das AG die Einwilligung zu einer Bluttransfusion im Rahmen dieser Operation erteilt. Das Kind ist am 9.2.1992 als Notfall operiert worden, eine Bluttransfusion hat stattgefunden.

Gegen die Entscheidung des AG haben die Eltern mit Schriftsatz ihrer Verfahrensbevollmächtigten vorn 26.2.1992, eingegangen beim Amtsgericht am 28.2.1992 Beschwerde eingelegt, mit der sie begehrt haben, den amtsgerichtlichen Beschluß sowie die einstweilige Maßregel unverzüglich aufzuheben.

Das AG hat die Eltern persönlich am 6.4.1992 angehört und die Sache dem LG zur Entscheidung vorgelegt.

Das LG hat das Rechtsmittel als unzulässig verworfen und zur Begründung ausgeführt, nachdem die angefochtene Entscheidung bereits am 9.2.1992 dadurch vollzogen worden sei, daß dem Kind im Rahmen der Operation Blut übertragen worden sei, sei die angefochtene Entscheidung gegenstandslos geworden. Sie beinhalte ausdrücklich nur den Entzug der elterlichen Sorge insoweit, als es die Zustimmung zu der Bluttransfusion betraf, die im Rahmen der am 9.2. 1992 anstehenden Operation in 5. anstand. Ein darüber hinausgehender Regelungsgehalt sei der angefochtenen Entscheidung nicht zugekommen.

Hiergegen richtet sich die weitere Beschwerde der Eltern, die rügen, das AG habe sie erst auf ihre Beschwerde hin angehört, es sei jedoch verpflichtet gewesen, die Anhörung unverzüglich nachzuholen, wenn sie schon vor Erlaß der Entscheidung unterblieben sei. Im übrigen sei die Geltungsdauer einer vorläufigen Anordnung grundsätzlich nicht begrenzt, die einstweilige Anordnung müßte deshalb aufgehoben werden.

Die weitere Beschwerde der Eltern ist statthaft und auch in der rechten Form eingelegt. Die Eitern sind beschwerdeberechtigt, denn ihr Rechtsmittel gegen die Entscheidung des Amtsgerichts ist vom Landgericht als unzulässig verworfen worden.

Das LG ist zutreffend davon ausgegangen, daß bereits bei Einlegung der Beschwerde durch die Verfahrensbevollmächtigte der Eltern am 28.1.1992 eine Erledigung des Verfahrens eingetreten war. Zu diesem Zeitpunkt war nämlich das betroffene Kind bereits operiert und die nach Auffassung der Ärzte unerläßliche Bluttransfusion bereits durchgeführt worden. Nur insoweit war aber den Eltern die elterliche Sorge durch die einstweilige Anordnung des AG entzogen worden. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer enthielt die Entscheidung des AG keinen weitergehenden Regelungsgehalt. Soweit die Beschwerdeführer vortragen, ihr Sohn sei nicht nur am 9.2.1992, sondern auch am 13. und 14.2. 1992 operiert worden, handelt es sich um neues tatsächliches Vorbringen, das der Senat als Rechtabeschwerdegericht nicht berücksichtigen kann, so daß dahinstehen kann, ob auch an diesen Tagen Bluttransfusionen beim betroffenen Kind vorgenommen worden sind. Selbst wenn dies aber der Fall wäre, wäre auch insoweit jedenfalls vor Einlegung der Erstbeschwerde eine Erledigung des Verfahrens eingetreten.

Den Eltern kann auch nicht dahin zugestimmt werden, daß die Geltungsdauer der vorläufigen Anordnung nicht begrenzt gewesen sei, so daß die einstweilige Anordnung aufgehoben werden müßte. Die vom AG - uneingeschränkt angeordnete vorläufige Entziehung der elterlichen Sorge beinhaltet gleichzeitig eine abschließende Entscheidung in der Hauptsache, weil - anders als in den Regelfällen des § 1666 BGB - hier wegen der Dringlichkeit der erforderlichen Operation und der unmittelbaren Durchführung nach dem Beschluß des AG sich sowohl die vorläufige Regelung als auch die "Hauptsache" erledigt hatte. Ein Regelungsbedarf hinsichtlich der vom AG im Wege einer vorläufigen Anordnung getroffenen Maßnahme bestand danach nicht mehr.

Anm. d. Eins.: Der Beschluß ist aktuell, weil die Zeugen Jehovas seit dem Bluttransfusionsurteil des BGH v. 17.12.1991 bei den Gerichten jetzt "aktiv werden", und um weitere Gerichtsentscheidungen nachsuchen.

Gericht: Beschluß d. OLG Düsseldorf. 1.7.1992 - 3 Wx217/92

 

Greift das Vormundschaftsgericht auch bei volljährigen, geistig behinderten Kindern eines Zeugen JEHOVAS ein?

Vormundschaftsgerichtliche Anordnung der Durchführung einer BLUTTRANSFUSION bei einem volljährigen, geistig behinderten Kind eines Zeugen JEHOVAS

Leitsatz:

Vormundschaftsgerichtliche Anordnung einer notwendigen BLUTTRANSFUSION bei einem geistig behinderten (hier: volljährigen) Kind eines Angehörigen der "Zeugen JEHOVAS".

Orientierungssatz:

1. Für ein volljähriges, geistig behindertes Kind eines Angehörigen der Glaubensgemeinschaft der Zeugen JEHOVAS kann das Vormundschaftsgericht gegen den Willen des betreffenden Elternteils (hier: des Vaters) als einstweilige Maßregel im Sinne der BGB §§ 1846, 1908i die Vornahme einer BLUTTRANSFUSION jedenfalls dann anordnen, wenn diese erforderlich ist, um den Betroffenen, der aufgrund seines psychischen Zustandes nicht selbst in die BLUTÜBERTRAGUNG einwilligen kann, aus einer lebensbedrohlichen Situation zu retten.

2. Dies gilt auch für den Fall, daß der Elternteil, der seine Zustimmung verweigert, der Betreuer des Betroffenen ist, denn in diesem Fall ist er aus religiösen Gründen an der Erfüllung seiner Pflichten gegenüber dem Betroffenen im Sinne von BGB § 1846 verhindert.

Gericht: AG Nettetal, Datum: 19. Oktober 1995 Az: 9 X 119/95
Fundstelle: FamRZ 1996, 1104-1105 (Leitsatz und Gründe)
KirchE 33, 374-375 (1998) (red. Leitsatz und Gründe)

 

Wie steht es bei einem Ehepaar, bei dem nur ein Partner ein Zeuge Jehovas ist? Kann dem Bluttransfusionen-ablehnenden Elternteil allein aufgrund seines Glaubens das "medizinische" Sorgerecht für die Kinder entzogen werden?

Familiensache: Teilentziehung des "medizinischen" Sorgerechts aufgr. der Zugehörigkeit des sorgeberechtigten Elternteils zur Glaubensgemeinschaft der Zeugen JEHOVAS

Orientierungssatz:

Die Zugehörigkeit des sorgeberechtigten Elternteils zur Glaubensgemeinschaft der Zeugen JEHOVAS allein reicht nicht aus, um ihm das "medizinische" Sorgerecht zu entziehen, denn eine Gefährdung des Kindeswohl infolge mangelnder Zustimmung zu einer BLUTTRANSFUSION ist eher unwahrscheinlich und hypothetisch.

Gericht: AG Meschede, Datum: 28. Januar 1997 Az: 7 F 276/95
Fundstelle:FamRZ 1997, 958 (red. Leitsatz und Gründe), NJW 1997, 2962 (red. Leitsatz und Gründe)

 

Entziehung der elterlichen Sorge wegen Zugehörigkeit des sorgeberechtigten Elternteils zu den "Zeugen JEHOVAS"

Orientierungssatz:

1. Der Umstand, daß der sorgeberechtigte Elternteil der Religionsgemeinschaft der "Zeugen JEHOVAS" angehört, rechtfertigt es nicht, ihm das Sorgerecht zu entziehen und dieses nach BGB § 1671 Abs 5 auf einen Vormund oder Pfleger zu übertragen.

Dem betreffenden Elternteil kann die Eignung zur Ausübung der elterlichen Sorge nicht allein wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Glaubensgemeinschaft abgesprochen werden. Dies würde dem Grundrecht der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit des GG Art 4 Abs 1 widersprechen.

2. Auch der Umstand, dass der sorgeberechtigte Elternteil aus Glaubensgründen eine BLUTTRANSFUSION auch im Rahmen einer ärztlichen Behandlung ablehnt, begründet für sich keine so gegenwärtige Gefahr für das Leben des Kindes, dass das gesamte Personensorgerecht nur durch einen Vormund oder Pfleger wahrgenommen werden könnte.

Gericht: OLG Stuttgart Senat für Familiensachen, Datum: 19. April 1994 Az: 15 UF 53/94
FundstelleFamRZ 1995, 1290-1291 (red. Leitsatz und Gründe), KirchE 32, 138-139 (1998) (red. Leitsatz und Gründe)

 

Voraussetzungen für die gemeinsame Ausübung der elterlichen Sorge durch geschiedene Ehegatten sowie Erziehungseignung eines Elternteils, der der Glaubensgemeinschaft der Zeugen JEHOVAS angehört

Orientierungssatz:

1. Für die Beibehaltung der gemeinsamen elterlichen Sorge trotz Ehescheidung ist neben der uneingeschränkten Erziehungseignung beider Elternteile deren Bereitschaft, trotz ihrer Trennung auch zukünftig die Verantwortung für ihre Kinder gemeinsam wahrzunehmen, unverzichtbare Voraussetzung.

2. Die Zugehörigkeit eines Elternteils zur Glaubensgemeinschaft der Zeugen JEHOVAS allein beeinträchtigt seine Erziehungseignung nicht. Auch der Umstand, daß der Elternteil nach der Lehre der Zeugen JEHOVAS eine BLUTÜBERTRAGUNG selbst zur Lebensrettung ablehnt, beeinträchtigt die Erziehungseignung nicht, da daraus nicht zwangsläufig gefolgert werden kann, er wäre bereit das Lebens der Kinder zu gefährden.

Tenor:

Die befristete Beschwerde des Antragsgegners gegen Ziffer 2 des am 10.02.1994 verkündeten Urteils des Amtsgerichts - Familiengericht - Stadtroda wird zurückgewiesen.

Gründe:

Die gem. §§ 629 a Abs. 2 Satz 1, 621 Abs. 1, 3 ZPO an sich statthafte und auch im übrigen zulässige auf Ziffer 2 des angefochtenen Urteils beschränkte befristete Beschwerde des Antragsgegners hat in der Sache keinen Erfolg.

Es besteht kein Anlaß, an der durch das Amtsgericht getroffenen Regelung zur elterlichen Sorge für die gemeinsamen Kinder ... geb. am 12.07.1981, und ... geb. am 26.02.1985, eine Änderung herbeizuführen. Da die Parteien im Zusammenhang mit ihrer Scheidung darüber keine übereinstimmende Auffassung zu erzielen vermochten, war es nach § 1671 BGB Aufgabe des Gerichts, eine Lösung zu finden, die dem Kindeswohl am besten entspricht. Zu berücksichtigen sind dabei insbesondere die Bindungen der Kinder an Eltern und Geschwister, die erzieherische Eignung der Eltern, ihre Bereitschaft, Verantwortung für die Kinder zu tragen sowie die Möglichkeit der Unterbringung, Versorgung und Betreuung durch die Eltern. Es steht außer Zweifel, daß vorliegend beide Parteien ihren beiden gemeinsamen Kindern in Liebe verbunden und gewillt sind, alles für deren gesunde geistige und körperliche Entwicklung zu tun. Für die Beibehaltung der gemeinsamen elterlichen Sorge trotz der Ehescheidung besteht aber kein Raum. Eine solche Regelung erfordert nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG NJW 1983, 101), daß bestimmte unverzichtbare Voraussetzungen erfüllt sind. Außer einer uneingeschränkten Eignung beider Eltern zur Pflege und Erziehung der Kinder gehört zu den unabdingbaren Kriterien, daß beide Elternteile den Willen haben, die gemeinsame Verantwortung trotz der Trennung weiterhin zu tragen und daß keine Gründe vorliegen, die im Interesse des Kindeswohls gebieten, das Sorgerecht nur einem Elternteil zu übertragen. Nach herrschender Meinung müssen diese Voraussetzungen feststehen, wenn den Eltern nach Scheidung ihrer Ehe die gemeinsame Sorge für ihre Kinder belassen werden soll (BGH NJW 1993, 126 m. w. N.). Nur wenn die Eltern soweit übereinkommen, dem Gericht einen übereinstimmenden Vorschlag zu unterbreiten, kann auch für die Zukunft ihre Kooperationsbereitschaft erwartet werden. Das ist vorliegend jedoch nicht der Fall. Die Antragstellerin lehnt eine gemeinsame Sorge entschieden ab. Allein der Wille des Antragsgegners reicht nicht aus, um zu sichern, daß die Parteien künftig übereinstimmend die grundsätzlichen Fragen der Erziehung und Betreuung ihrer gemeinsamen Töchter regeln werden.

Es besteht auch kein Anlaß, die elterliche Sorge in Abänderung des angefochtenen Urteils dem Antragsgegner allein zu übertragen. Denn seit der Trennung der Parteien im Januar 1992 hat sich gezeigt, daß die Antragstellerin besser als der Antragsgegner in der Lage ist, den mit der Erziehung und Versorgung der Kinder verbundenen Aufgaben gerecht zu werden. Mit der Mutter verbindet beide Mädchen eine enge gefühlsmäßige Bindung, während sie dem Vater zumindest teilweise distanziert gegenüberstehen. Im Interesse der Kinder ist die Antragstellerin teilzeitbeschäftigt und gewährleistet ihnen zudem die vertraute Umgebung, in der sie sich wohl fühlen. Zwar sollte auch nach dem Wunsch der Kinder der Kontakt zum Vater erhalten bleiben und nach Möglichkeit allein mit ihm gestaltet werden, einer grundsätzlichen Änderung ihres Lebensmittelpunktes stehen sie aber ablehnend gegenüber. Einen Umzug zum Vater, der mit einer anderen Frau und deren zwei Söhnen in Stuttgart lebt, ist für die Mädchen nicht vorstellbar. Angesichts der bei der Mutter erfahrenen Geborgenheit liegt auch kein zwingender Grund dafür vor. Allein, daß die Antragstellerin seit ca. drei Jahren den Zeugen JEHOVAS angehört und die Kinder in dieser Glaubensgemeinschaft intensiv eingebunden sind, berechtigt nicht an ihrer Eignung zur Ausübung der elterlichen Sorge zu zweifeln (BayObLG FamRZ 1976, 43). Zwar lehnt sie nach der Lehre der Zeugen JEHOVAS eine BLUTÜBERTRAGUNG selbst zur Lebensrettung ab, ist aber davon überzeugt, im Ernstfall Möglichkeiten einer BLUTLOSEN Operation zu finden. Diese Haltung zeigt, daß sie unter keinen Umständen das Leben der Kinder gefährden würde. Deren Wohl ist daher bei der Mutter unbedenklich gesichert.

Gericht: Thüringer Oberlandesgericht Senat für Familiensachen, Datum: 7. Dezember 1994 Az: 7 UF 44/94

 

Erziehungseignung eines Elternteils, der der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas angehört sowie Übertragung der Entscheidungsbefugnis über die religiöse Erziehung auf den Elternteil, der nicht die elterliche Sorge innehat

Orientierungssatz:

Die Zugehörigkeit eines Elternteils zur Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas allein beeinträchtigt seine Erziehungseignung nicht. Es ist mit dem Grundsatz der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit unvereinbar, einem Elternteil allein wegen seiner Glaubenszugehörigkeit die Eignung zur Ausübung der elterlichen Sorge abzusprechen. Eine Aufspaltung des Sorgerechts, in der Form daß die Entscheidung über die Religionsausübung und die religiöse Erziehung auf den Elternteil übertragen wird, der nicht Inhaber der elterlichen Sorge ist, ist mit dem Kindeswohl letztlich nicht vereinbar, da es das Kind in ständige Loyalitätskonflikte stürzt.

Tenor:

Der Beschluß des Amtsgerichts - Familiengericht - Essen-Steele vom 13. Dezember 1995 wird abgeändert.
Die elterliche Sorge für das Kind ... geboren am 30. Juni 1987, wird für die Dauer des Getrenntlebens der Eltern uneingeschränkt der Mutter übertragen.
Die Anschlußbeschwerde des Vaters wird zurückgewiesen.
Die gerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens werden den Eltern je zur Hälfte auferlegt. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

Gründe:

I. Der am 22. August 1947 geborene Antragsgegner und die am 26. März 1955 geborene Antragstellerin haben am 1. September 1986 geheiratet. Aus der Ehe ist der Sohn ..., geboren am 30. Juni 1987, hervorgegangen. Die Eltern trennten sich im September 1992. Die Antragstellerin zog zusammen mit dem Kind und ihrer weiteren Tochter ..., geboren am 17. September 1983, aus der Ehewohnung aus. Das Kind ... lebt seitdem in ihrem Haushalt.

Durch Beschluß des Amtsgerichts - Familiengericht - Essen vom 23. November 1992 (Aktenzeichen 110 F 287/92) wurde das Aufenthaltsbestimmungsrecht für R. der Mutter übertragen. Die Eltern schlossen in dem Termin am 23. November 1992 einen Vergleich, in dem sie sich über ein umfangreiches Umgangsrecht des Vaters mit ... einigten.

Die Antragstellerin ist nicht erwerbstätig. Sie ist Hausfrau und versorgt die beiden Kinder. Sie erhält vom Sozialamt der Stadt Essen Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz. Die Antragstellerin ist Mitglied der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas.

Der Antragsgegner ist Taxifahrer. Er hat ein Fahrzeug und betreibt das Gewerbe selbständig. Von Aushilfskräften abgesehen hat er keine Angestellten.

Mit ihrem am 27. Oktober 1995 eingegangenen Antrag hat die Antragstellerin die Übertragung der elterlichen Sorge für den Sohn ... während der Dauer des Getrenntlebens auf sich beantragt. Sie hat vorgetragen, daß wegen der bestehenden Meinungsverschiedenheiten über die religiöse Erziehung des Kindes eine Regelung über die Ausübung der elterlichen Sorge erforderlich sei. Sie habe R. seit der Geburt überwiegend betreut und versorgt. Der Antragsgegner sei dazu schon wegen seiner Berufstätigkeit nicht in der Lage und auf die Hilfe Dritter angewiesen. Durch seine ablehnende Haltung gegenüber ihrer Religion bringe er das Kind in einen ständigen Loyalitätskonflikt.

Der Antragsgegner ist dem Begehren entgegengetreten und hat um die Übertragung der elterlichen Sorge für das Kind auf sich nachgesucht. Er hat vorgetragen, daß die Antragstellerin ... ganz im Sinne der Zeugen Jehovas erziehe und versuche, ihn, den Vater, von der Erziehung auszuschließen, da er mit den Glaubensüberzeugungen und den daraus resultierenden Lebensverhältnissen der Zeugen Jehovas nicht einverstanden sei. ... sei katholisch getauft und solle in diesem Glauben aufwachsen. Er sei in der Lage, das Kind zu versorgen. Während seiner berufsbedingten Abwesenheit könne R. nach der Schule einen Kinderhort besuchen.

Das Amtsgericht - Familiengericht - Essen-Steele hat nach Anhörung der Eltern, des Kindes R. und des Vertreters des Jugendamtes durch den Beschluß vom 13. Dezember 1995 die elterliche Sorge für das Kind ... der Mutter übertragen mit Ausnahme der Entscheidungen über die religiöse Erziehung und die Religionsausübung. Insoweit sollte allein dem Vater die Entscheidung und Durchführung zustehen. Dabei hat es sich auf den Standpunkt gestellt, daß das Kind durch die Taufe der katholischen Kirche angehöre und einen Anspruch darauf habe, altersgemäß in diesem Glauben unterrichtet und erzogen zu werden. Dies sei nur durch die Einwirkung des Vaters möglich. Die Grundversorgung des Kindes sei bei der Mutter gewährleistet, während der Vater dazu wegen seiner Berufstätigkeit nicht in der Lage sei. Es sei deshalb für die Übertragung der elterlichen Sorge grundsätzlich der Mutter der Vorrang einzuräumen. Auf den Beschluß vom 13. Dezember 1995 wird Bezug genommen.

Gegen diesen Beschluß richtet sich die Beschwerde der Mutter, mit der sie die uneingeschränkte Übertragung der elterlichen Sorge auf sich erreichen will. Der Vater begehrt mit seiner Anschlußbeschwerde eine Abänderung der Entscheidung dahingehend, daß ihm die elterliche Sorge übertragen werde.

Die Antragstellerin trägt vor, daß es ihrer Meinung nach nicht zutreffend sei, daß die Eltern an die einmal getroffene Entscheidung über die religiöse Erziehung bis zur Volljährigkeit des Kindes gebunden seien. Es sei auch nicht so, daß ... von ihr indoktriniert oder zu einem Verhalten oder zu Maßnahmen gezwungen werde, die er selbst nicht möchte. Ihm stehe es frei, weiterhin den katholischen Religionsunterricht in der Schule zu besuchen oder auch in die Kirche zu gehen. Dies wolle er jedoch, wie viele Kinder seines Alters, nicht. Der Antragsteller seinerseits habe während des ehelichen Zusammenlebens und auch während der Trennungszeit kein Interesse an Religion oder religiöser Erziehung gehabt. Er sehe jetzt nur eine Möglichkeit, durch die Diffamierung der Glaubensgemeinschaft der Antragstellerin dieser selbst zu schaden. Dabei nehme er in Kauf, daß ein solches Vorgehen auch dem Kindeswohl schade.

Die Antragstellerin beantragt,

den Beschluß des Amtsgerichts - Familiengericht Essen-Steele vom 13. Dezember 1995 - 13 F 280/95 - insoweit aufzuheben, als die Entscheidung über die religiöse Erziehung und Religionsausübung für das Kind ..., geboren am 30. Juni 1987, allein dem Antragsgegner übertragen wurde, und ihr die elterliche Sorge auch insoweit zu übertragen.

Der Antragsgegner beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Im Wege der Anschlußbeschwerde beantragt er,

die elterliche Sorge für das Kind ... geboren am 30. Juni 1987, insgesamt auf ihn zu übertragen.

Die Antragstellerin beantragt,

die Anschlußbeschwerde zurückzuweisen.

Der Antragsgegner trägt vor, daß es nicht nur darum gehe, dem Kind den Kontakt zu der Religion zu erhalten, die ihm seit seiner Geburt ... vermittelt worden sei, sondern auch darum, daß der Kontakt des Kindes zu ihm gefährdet sei. Die Antragstellerin lehne nicht nur seine Religion, sondern auch die Personen ab, die nicht der Sekte der Zeugen Jehovas angehörten, insbesondere ihn, den Antragsgegner. ... habe jedoch tiefe, echte Beziehungen zu beiden Elternteilen und brauche für seine Entwicklung auch den Kontakt zum Vater. Gegen ihn, den Vater, spreche nur seine berufliche Tätigkeit. Er sei jedoch in der Lage, das Kind ordnungsgemäß zu versorgen. Es bestehe die Möglichkeit, ... während seiner berufsbedingten Abwesenheit in einem Hort in der Nähe der Schule unterzubringen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen. Der Senat hat im Termin am 12. April 1996 die Eltern und das Kind R. persönlich angehört. Das Ergebnis der Anhörung ist in einem Berichterstattervermerk niedergelegt, auf den verwiesen wird.

II. Die Beschwerde der Mutter ist gemäß §§621 e Abs. 1, 621 Abs. 1, 621 e Abs. 3 i.V.m. §§516 ff ZPO zulässig und in der Sache begründet. Die Anschlußbeschwerde des Vaters ist nicht begründet und war zurückzuweisen.

Dem Wohle des Kindes ... entspricht es am besten, wenn die elterliche Sorge während der Dauer des Getrenntlebens der Eltern uneingeschränkt auf die Mutter übertragen wird (§§1672 i.V.m. 1671 Abs. 1 BGB).

Bei der vorzunehmenden Gesamtabwägung aller Umstände ist zu prüfen, wer von den Eltern eher geeignet ist, das Kind angemessen zu fördern. Weiter ist von Bedeutung der Gesichtspunkt der Kontinuität und die Bindung des Kindes an die Eltern.

Es ist davon auszugehen, daß die Mutter eher geeignet ist, das Kind zu fördern, das heißt, essentiell wichtige Erziehungs- und Betreuungsaufgaben zu übernehmen. Ihr Erziehungs- und Betreuungsverhalten während des ehelichen Zusammenlebens gibt nach dem Ergebnis der Anhörung der Eltern durch den Senat keinen Anlaß zu Beanstandungen. Sie hat entsprechend der ehelichen Lebensplanung im wesentlichen keine Berufstätigkeit ausgeübt, um so imstande zu sein, die Verantwortung für die Betreuung und Versorgung des Kindes voll zu übernehmen. Demgegenüber ist der Antragsgegner seiner Erwerbsarbeit als Taxiunternehmer nachgegangen, um den Familienunterhalt sicherstellen zu können. Auch jetzt ist die Mutter nicht erwerbstätig und daher durchgängig in der Lage, den acht Jahre alten Sohn zu betreuen und zu versorgen. Der Antragsgegner seinerseits ist tagsüber berufsbedingt abwesend. Er ist darauf angewiesen, die Betreuung ... in der Zeit, in der er nicht die Schule besucht, mit Hilfe Dritter zu organisieren. Er hat sich insoweit schon darum bemüht, einen Platz in einem Kinderhort für die Zeit, in der R. nicht die Schule besucht, zu bekommen. Wenn jedoch sonst gegen einen Elternteil hinsichtlich seiner Erziehungseignung keine Bedenken bestehen, dann gebührt demjenigen der Vorrang, der sich dazu nicht der Hilfe Dritter bedienen muß (Johannsen/- Henrich/Jaeger, Eherecht, 2. Auflage, §1671 Rdnr. 25). Ein häufiger Wechsel der Bezugspersonen und eine Trennung von der Hauptbezugsperson während des Tages ist der Entwicklung des Kindes eher abträglich.

Die Zugehörigkeit der Mutter zu der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas allein beeinträchtigt ihre Erziehungseignung nicht. Es ist mit dem Grundrecht der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit unvereinbar, einem Elternteil allein wegen seiner Glaubenszugehörigkeit die Eignung zur Ausübung der elterlichen Sorge abzusprechen (BayObLG NJW 1976 S. 2017; OLG Düsseldorf FamRZ 1995 S. 1511 f). Soweit die Religionslehre der Zeugen Jehovas, deren überzeugte Anhängerin die Mutter ist, Einfluß auf die Entwicklung der Persönlichkeit des Kindes nimmt, was durch das Zusammenleben mit der Mutter nicht zu verhindern ist, kann im vorliegenden Fall eine konkrete Gefährdung des Kindeswohls nicht festgestellt werden. Die von dem Antragsgegner vorgetragene allgemeine Befürchtung, daß ... in eine Außenseiterrolle gedrängt werden konnte, reicht nicht aus, um eine Beeinträchtigung des Kindes anzunehmen. Die Mutter gehört der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas schon seit 1992 an, ohne daß hieraus bisher eine ernsthafte Gefährdung für das Kindeswohl erwachsen ist. Eine solche kann nach dem Verhalten der Antragstellerin in der Vergangenheit auch für die Zukunft nicht angenommen werden, wobei es für die Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit des Kindes nicht entscheidend ist, ob es an einzelnen Festen oder Veranstaltungen aus religiöser Überzeugung teilnehmen kann oder nicht.

Der Gesichtspunkt der Kontinuität spricht ebenfalls für die Mutter. Sie hat ... seit seiner Geburt betreut und versorgt. Er ist auch nach der Trennung im September 1992, also seit etwa dreieinhalb Jahren, bei ihr und in ihren Haushalt integriert. In diesem Zusammenhang ist auch von Bedeutung, daß bei der Mutter die jetzt zwölf Jahre alte Halbschwester B. lebt, zu der eine enge Beziehung besteht und mit der zusammen aufwächst.

Die Bindungen des Kindes zu den Eltern dürften etwa gleich eng sein. Wenn ... bei seiner Anhörung zu dem Senat zum Ausdruck gebracht hat, daß er bei der Mutter bleiben wolle, dann bedeutet das nur, daß er keine Veränderung der gegenwärtigen Situation wünscht. Dies stellt jedoch seine enge emotionale Beziehung zum Vater nicht in Frage.

Eine Aufspaltung des Sorgerechts in der Form, daß die Entscheidungen über die Religionsausübung und die religiöse Erziehung auf den Vater zu übertragen sind, ist letztlich mit dem Kindeswohl nicht vereinbar. Es entspricht nicht dem Kindeswohl, dem Elternteil, der im übrigen nicht Inhaber der elterlichen Sorge ist, in einem Punkt, in dem tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten zwischen den Eltern bestehen, eine Entscheidungsbefugnis zu übertragen. Dadurch wird das Kind, das beiden Elternteilen in Liebe verbunden ist und das an beiden hängt, in ständige Loyalitätskonflikte gestürzt, die es nicht verkraften kann. wäre überfordert, wenn er aufgrund von Entscheidungen des Vaters Handlungen ausführen soll und an Veranstaltungen teilnehmen soll, von denen er weiß, daß die Mutter diese nicht billigt. Ihm muß die Sicherheit gegeben werden, daß für alle ihn betreffenden Entscheidungen nur ein Elternteil - hier die Mutter - zuständig ist. Es bestünde auch die Gefahr, daß die Eltern die Frage der Religionserziehung des Kindes dazu benutzen, um eigene Konflikte auszutragen, und so ständig neuer Streitstoff auf Kosten des Kindes entsteht.

Gericht: OLG Hamm 12. Senat für FamiliensachenOLG, Datum: Datum: 3. Mai 1996, Az: 12 UF 41/96
Fundstelle: NJWE-FER 1997, 54 (red. Leitsatz und Gründe

 

Ein weiteres Urteil, das zwar nichts mit der Sorgerechtsproblematik zu tun hat, aber aufzeigt, welche rechtlichen und finanziellen Konsequenzen eine verweigerte Bluttransfusion für den Betroffenen und/oder seine Angehörigen haben kann:

Hinterbliebenenrente - Arbeitsunfall - haftungsausfüllende Kausalität - mittelbare Unfallfolge - Ablehnung einer BLUTTRANSFUSION - religiöse Überzeugung

Leitsatz:

1. Ist der Tod des Versicherten allein wesentlich durch die Ablehnung einer BLUTTRANSFUSION seitens des Versicherten verursacht worden, so haben die Hinterbliebenen keinen Anspruch auf Hinterbliebenenleistungen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um Hinterbliebenen-Leistungen.

Die Klägerin war die Ehefrau des 1957 geborenen, an Diabetes mellitus mit einer dialysepflichtigen Niereninsuffizienz und an einer HIV-Infektion erkrankten der der Glaubensgemeinschaft der Zeugen JEHOVAS angehörte und bei der Beklagten als Arbeitnehmer versichert war. Am 10.03.1994 fuhr der Versicherte auf dem Nachhauseweg von der Arbeit mit seinem Pkw schon auf seinem üblichen Weg in Schlangenlinien, dabei über seine sonst übliche Schnellstraßen-Abfahrt hinaus und stieß dann frontal mit einem anderen Pkw zusammen, dessen Fahrer noch an der Unfallstelle verstarb.

In dem erstaufnehmenden Kreiskrankenhaus W wurden zahlreiche Verletzungen und Brüche u.a. im Bereich der linken Hüfte beim Versicherten diagnostiziert, eine Operation jedoch nicht durchgeführt, da dieser BLUTTRANSFUSIONEN aus religiösen Gründen ablehnte. Im Rahmen der anschließenden Weiterbehandlung in der Universitäts-Klinik B wurde bei dem Versicherten am 15.09.1994 eine erste Implantation einer Hüftgelenks-Prothese links mit nachfolgender Revisions-Operation am 27.09.1994, jeweils ohne FREMDBLUT, vorgenommen.

Durch Urteil des Amtsgerichts Wetzlar vom 13.12.1994 (Az.: 4 Ls 23 Js 1302/94) wurde der Versicherte wegen fahrlässiger Tötung usw. verwarnt, wobei aufgrund eines rechtsmedizinischen Gutachtens davon ausgegangen wurde, daß er zum Unfallzeitpunkt wegen eines Zuckerschocks fahruntüchtig war.

Anfang 1995 wurde beim Versicherten eine Vereiterung der Hüftgelenks-Prothese festgestellt. Im Rahmen der neuerlichen Hüftgelenks-Operation am 17.02.1995 in der Endo-Klinik H verstarb der Versicherte. Als Ursache für den Tod wurde von dem Operateur Dr. S im ärztlichen Zeugnis vom 07.03.1995 die Ablehnung von BLUTTRANSFUSIONEN angegeben.

Im Laufe des Verwaltungsverfahrens zog die Beklagte das Vorerkrankungsverzeichnis, ärztliche Unterlagen der behandelnden Ärzte und Einrichtungen sowie die Strafakte bei und erklärte sich mit Schreiben vom 13.02.1995 - vorbehaltlich der Entscheidung des Rentenausschusses - bereit, den Unfall als Arbeitsunfall anzuerkennen.

Mit Bescheid vom 02.08.1995 lehnte sie die Gewährung von Entschädigungsleistungen aufgrund des Todes des Versicherten ab, weil dieser nicht durch die Unfallfolgen, sondern die Ablehnung von BLUTTRANSFUSIONEN verursacht worden sei.

Der am 16.08.1995 eingelegte Widerspruch wurde damit begründet, daß die Operation aufgrund der Unfallfolgen notwendig gewesen sei und die Ablehnung von FREMDBLUT im Ermessen des Versicherten gelegen hätte. Mit Widerspruchsbescheid vom 05.09.1995 wurde der Widerspruch zurückgewiesen und zur Begründung neben der Kausalität darauf hingewiesen, daß vorsätzlich herbeigeführte Selbsttötungen nicht zu entschädigen seien und aus der Glaubensfreiheit des Versicherten keine Entschädigungspflicht der Beklagten hergeleitet werden könne.

In der am 04.10.1995 erhobenen Klage wird ergänzend insbesondere ausgeführt, der Versicherte habe keine Selbsttötungsabsicht gehabt und es habe keine Pflicht zu einer BLUTTRANSFUSION gemäß §§ 63 ff. Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil (SGB I) bestanden.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines fachorthopädischen Gutachtens bei Prof. Dr. G, Universitäts-Klinik M, vom 30.07.1997 und eines Gutachtens gem. § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bei Prof. Dr. von B, St.- Johannes-Hospital, D, vom 20.11.1998 mit Stellungnahme von Dr. S, Endo-Klinik H, vom 10.09.1998.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 02.08.1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.09.1995 zu verurteilen, ihr aufgrund des Todes des bei der Beklagten versichert gewesenen Entschädigungsleistungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Verwaltungs- und die Gerichtsakte, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Entschädigungsleistung gegen die Beklagte aufgrund des Todes ihres Ehemannes.

Nach der zur Zeit des Unfalls und des Todes des Versicherten noch geltenden Reichsversicherungsordnung - RVO (vgl. das Übergangsrecht des am 01.01.1997 in Kraft getretenen Siebtes Buches Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung - SGB VII - in dessen §§ 212 ff.) ist bei Tod durch Arbeitsunfall Sterbegeld, Überführungskosten und Hinterbliebenenrente zu gewähren (§ 589 Abs. 1 RVO).

"Tod durch Arbeitsunfall" setzt voraus, daß der Tod durch den Arbeitsunfall verursacht wurde. Nach der im Sozialrecht geltenden Kausalitätstheorie der wesentlichen Bedingung genügt im Gegensatz zu der z.B. im Strafrecht geltenden naturwissenschaftlichen Bedingungs- oder Äquivalenztheorie ("conditio sine qua non") nicht jedes Glied in einer Ursachenkette, um die Verursachung zu bejahen. Als kausal und rechtserheblich werden vielmehr nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben (BSGE 1, 72, 76; 1, 150, 156 f.). Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, muß aus der Auffassung des praktischen Lebens abgeleitet werden (BSGE 1, 72, 76). Haben mehrere Ursachen zu einem Erfolg beigetragen, so sind sie rechtlich nur dann nebeneinander stehende (wesentliche) Mitursachen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolgs annähernd gleichwertig sind; kommt einer der Ursachen gegenüber der anderen eine überragende Bedeutung zu, so ist die überragende Ursache allein Ursache im Sinne des Sozialrechts (BSGE 1, 150, 156).

Nach diesen Voraussetzungen ist der Tod des Versicherten am 17.02.1995 nicht durch den zuvor erlittenen Unfall und die dadurch verursachten Gesundheitsstörungen insbesondere im Bereich der linken Hüfte verursacht worden. Die allein wesentliche Ursache für seinen Tod war vielmehr die aufgrund der eindeutigen Ablehnung des Versicherten nicht erfolgte BLUTTRANSFUSION. Denn die auf den Unfall zurückzuführende Hüftgelenks-Operation, in deren Verlauf der Versicherte letztlich VERBLUTETE, war abgesehen von den üblichen Operations-Risiken nicht lebensgefährlich.

Dies steht zur Überzeugung des Gerichts aufgrund der insofern übereinstimmenden Aussagen aller gehörten medizinischen Sachverständigen fest. Sie haben insbesondere ausgeführt

der behandelnde Arzt Dr. S auf die Frage nach der Ursache des Todes:

"extreme Anämie ... bei massivem BLUTVERLUST bei ausgeprägten Gerinnungsstörungen intra-/ postoperativ - der Patient war Zeuge JEHOVAS und hat präoperativ im Rahmen der Aufklärungsgespräche die Gabe homologen BLUTES bzw. homologer Produkte abgelehnt" (Bl. 359 VwA),

der Sachverständige Prof. G:

"Wesentlich für den Eintritt des Todes war die Ablehnung der BLUTTRANSFUSION durch den Versicherten" (S. 18 des Gutachtens = Bl. 62 SG-A),

aber auch der 109er-Gutachter Prof. von B:

"Der rechtzeitige Einsatz von zusätzlichen FREMDBLUTPRODUKTEN ... hätte den tödlichen Ausgang höchstwahrscheinlich abwenden können ..." (S. 20 des Gutachtens = Bl. 108 SG-A). Durch die teils anderen Aussagen von Prof. von B ("Der Tod des Versicherten ist mittelbare Folge des Arbeitsunfalls" - a.a.O. letzter Satz) wird dieses Ergebnis nicht erschüttert, weil der Sachverständige mit dieser letzten Aussage, die eine juristische Wertung über den Ursachenzusammenhang beinhaltet, sein Fachgebiet überschreitet, während die rein medizinische Aussage ganz klar ist.

Das Gericht folgt diesen Gutachten und Stellungnahmen, da sie in Auswertung der vorliegenden Unterlagen erstattet wurden, hinreichend wissenschaftlich begründet sind und im entscheidenden Punkt, der Beurteilung der medizinisch wesentlichen Ursache für den Tod des Versicherten, keine Widersprüche erkennen lassen, sondern vielmehr übereinstimmen.

Auf die von Seiten der Klägerin an dem Gutachten von Prof. G geäußerte Kritik hinsichtlich der Notwendigkeit der Operation und den Erfolgschancen ohne FREMDBLUT kommt es für die Beurteilung des Kausalzusammenhangs nicht an.

Die Ablehnung der BLUTTRANSFUSION als allein wesentliche Ursache für den Tod des Versicherten wird im übrigen bestätigt durch den Abschlußbericht, den Operationsbericht und den Arztbrief der behandelnden Ärzte der Endo-Klinik (Bl. 349 ff. VwA) sowie die Stellungnahme von Dr. S vom 10.09.1998 (Bl. 113 ff. SG-A), in denen die Gespräche mit dem Versicherten, der Klägerin usw. nachvollziehbar dokumentiert sind

An diesem auf den Grundlagen der im Sozialrecht geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung und eindeutigen medizinischen Feststellungen beruhenden Ergebnis ändert sich nichts durch die verschiedenen von den Beteiligten im Laufe des Verfahrens geäußerten Gesichtspunkten:

Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß § 553 RVO (Leistungsausschluß bei vorsätzlicher Verursachung des Arbeitsunfalls) nicht einschlägig ist, weil keinerlei Anhaltspunkte dafür zu erkennen sind, daß der Versicherte in Selbsttötungsabsicht oder gar die Klägerin in Tötungsabsicht handelten, als sie die BLUTTRANSFUSIONEN ablehnten. Sie gingen vielmehr davon aus, daß die Operation auch ohne eine solche BLUTTRANSFUSION erfolgreich verlaufen würde. Auf allgemeine Erkenntnisse über die Erfolgschancen von Hüftgelenks-Operationen ohne BLUTTRANSFUSION kommt es dementsprechend auch nicht an.
Neuere dogmatische Überlegungen zur Kausalität im Sozialrecht, in denen zunehmend eine Ablösung der Begriffe "Ursache" und "Kausalität" durch "Zusammenhang", "kausale Verknüpfung" oder "Zurechnung" zu beobachten ist, (vgl. schon BSGE 58, 76, 77; 61, 127, 128 oder Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 6. A. 1998, dessen Abschnitt 1.3.4 nicht mehr mit "Kausalzusammenhang" wie in der 5. A., sondern mit "Zurechnungslehre" S. 75 - überschrieben ist) führen ebenfalls zu keinem anderen Ergebnis. Denn diese begrifflichen Veränderungen zielen nicht auf eine inhaltliche Änderung ab. sondern bringen nur verstärkt zum Ausdruck, daß die Einengung des nahezu unbegrenzten naturwissenschaftlichen Ursachenbegriffs durch die Theorie der wesentlichen Bedingung letztlich eine Wertungsfrage ist, deren entscheidendes Kriterium der Schutzzweck der Norm, hier konkret der gesetzlichen Unfallversicherung ist (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 76; Erlenkämper/Fichte, Sozialrecht, 3. A. 1995, S. 76). Schutzzweck der gesetzlichen Unfallversicherung ist die Verhütung von Arbeitsunfällen usw. und die Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit der Versicherten oder, wenn dies nicht gelingt, die Erbringung von Geldleistungen (vgl. die mittlerweile erfolgte Kodifizierung in § 1 SGB VII). Wird allgemein auf diesen Schutzzweck der gesetzlichen Unfallversicherung mit seiner historischen Wurzel in der Ablösung der Unternehmer- Haftpflicht abgestellt, so liegt es auf der Hand, daß seitens der Beklagten keine Leistungen aufgrund des Todes des Versicherten zu erbringen sind, weil der Tod durch die Gabe von BLUTTRANSFUSIONEN hätte verhindert werden können, wenn der Versicherte dies nicht abgelehnt hätte.
Die §§ 60 ff. SGB I über die Mitwirkungspflichten des Leistungsberechtigten sind nicht einschlägig: Zu der Heilbehandlung zur Verbesserung seines Gesundheitszustandes (vgl. § 63 SGB I) als solcher in Gestalt der Hüftgelenks-Operation war der Versicherte grundsätzlich bereit. Fraglich könnte nur sein, inwieweit er dabei auch zu bestimmten einzelnen Behandlungsmaßnahmen bereit sein mußte. Entscheidend ist vorliegend jedoch, daß es gar nicht um einen Fall der Leistungsverweigerung oder -entziehung im Sinne des § 66 SGB I geht, weil die Mitwirkung nicht nachgeholt werden kann und der Versicherte, als derjenige, der seine Mitwirkung durch die Ablehnung der BLUTTRANSFUSION versagt hatte, nicht der Anspruchsteller ist. Die Erörterung der formellen Anforderungen (schriftliche Belehrung und Fristsetzung - § 66 Abs. 3 SGB I) an eine Leistungsentziehung oder - verweigerung ist damit entbehrlich. Aus der Religionsfreiheit in Artikel 4 Abs. 1 u. 2 Grundgesetz folgt nichts anderes, weil in diese gerade nicht eingegriffen wurde. Da es sich hierbei um ein typisches Abwehrrecht handelt, ist nicht zu erkennen, wie es bzw. seine Ausübung zu einer Bejahung anderenfalls nicht gegebener sozialrechtlicher Ansprüche führen sollte. Der Versicherte durfte als Zeuge JEHOVAS die BLUTTRANSFUSION ablehnen und, wenn er dies tat, so hatte er bzw. seine Angehörigen die Folgen zu tragen, ohne hieraus besondere, über den einfach-gesetzlichen Rahmen hinausgehende Ansprüche herleiten zu können.

Gericht: SG Gießen 1. Kammer, Datum: Datum: 13. April 1999, Az: S 1 U 1642/95
Fundstelle: NJWE-FER 1997, 54 (red. Leitsatz und Gründe


letzte Aktualisierung: 15. 4. 2001
Web-Adresse: http://www.geocities.com/athens/ithaca/6236/urteile.htm

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