Luc
Vendramin
Begehren und Bedürfnis
Vorläufiger
Bericht über Stand und Möglichkeiten der Vermittlung
¾ aus dem
Französischen übertragen von Jean-Pierre Baudet ¾
Vorbemerkung des Übersetzers
Der
Terminus « désir » wurde vorwiegend als „das Begehren“ übersetzt, wie
es nun allgemein üblich ist. Ursprünglich handelt es sich allerdings, in der
Terminologie Freuds, um den Wunsch (eine andere Übersetzung, die
zuweilen unumgänglich erschien). Bei Freud trat der Wunsch auf als
Gedankenbildung, als rein psychische Regung, z. B. im Traum. Von seinem
psychophysischen Substrat, der Libido, ward er ursprünglich gesondert, und
etabliert als eine Art von Hoffnung, die sich als solche verewigt. Der Wunsch
blieb somit ein vorsexueller Begriff, ein Überbleibsel aus der Zeit vor Freud,
mittels dessen Freud versuchte, die verdrängte Sexualität zurück auf die Bühne
zu bringen. In der französischsprachigen Psychoanalyse, vornehmlich bei Lacan,
wird le désir zwar ebenfalls als psychische Regung gefasst, aber mit
einem viel stärkeren Hang zur handfesten Genussbezogenheit und zu dem
verpönten, offen sexuellen Aspekt des Begehrens, den deutsch-protestantischer
Moralismus mit scheelem Blick als „Begierde“ dereinst abkanzelte, um ihm das
erstbeste Kruzifix schützend entgegenzuhalten. Im Rahmen der
Hegelinterpretation durch Alexandre Kojève, Jean Hyppolite und Georges
Bataille, aber auch bei den Surrealisten (André Breton, Antonin Artaud, Maurice
Blanchot) und später in der radikalen Gesellschaftskritik der Situationisten
(Guy Debord, Raoul Vaneigem) tritt eine uneingeschränkte Befürwortung des
Begehrens immer zwingender in den Vordergrund französischer Theorie, als
Maβstab aller anderen Lebensverhältnisse. Weit entfernt von irgendwelcher
begrifflichen Konfusion erscheint daher « le désir » vielmehr als eine
gedanklich konsequente Weiterentwicklung, sodass in der deutschen Sprache beide
Übersetzungsmöglichkeiten einander ablösen müssen, um dem gesamten inhaltlichen
Spektrum gerecht zu werden.
Der
Autor des vorliegenden Textes hat es sich offensichtlich nicht nehmen lassen,
den Begriff des Begehrens weiter offensiv zu verwenden, ohne Rücksicht auf die
hedonistische Scheinheiligkeit der herrschenden Konsumstrategie und auf den
Diskredit, den diese auf das Begehren wirft. Daran anknüpfend lieβe sich
in der Tat festhalten, dass Begriffe dem Feinde nur von solchen überlassen
werden, die ohnehin mit ihnen nichts mehr anzufangen wussten.
Zwei
theoretische Betrachtungsweisen des Begehrens lassen sich allgemein
unterscheiden, und schlieβen einander aus: die Ontogenetische, die sich
auf den Einzelnen konzentriert, und die Phylogenetische, die sich mit dem
Begehren befasst als mit einem aller Unbeständigkeit der Kollektivgeschichte
ausgesetztem Element. In beiden Fällen rührt die Überlegung unzweifelhaft an
Wahrheitsmomente, doch die Hauptschwäche beider Strömungen besteht darin, sich
gegenseitig zu ignorieren, und sich daher der Möglichkeit zu verschlieβen,
dass eine Dialektik erscheine, die doch mit gröβter Wahrscheinlichkeit
beide Dimensionen verbindet. Auβerdem setzen beide ein „Diesseits“ des
Begehrens voraus, nämlich das Bedürfnis: als handle es sich dabei um eine
stabile Grundlage die sich je nach Geschmack als unabänderliches Maβ alles
Begehrens betrachten lieβe (das Begehren wird insofern zu einer von
Willkür beherrschten Wechselhaftigkeit erniedrigt), oder, genau umgekehrt, als
elendes Ursprungsstadium der Menschwerdung (womit folgerichtig die unbegrenzte
Inflation der Warensüchtigkeit gerechtfertigt wird). Letztlich gründen sich
sämtliche theoretische Tendenzen trotz ihrer Verschiedenheit in diesem Rekurs
auf das Bedürfnis, seien sie bloβ reformistischer Art oder gar dem Elend
der Gegenwart noch untertäniger gesinnt: durch die Armseligkeit dieses Rekurses
charakterisieren sie sich jedenfalls alle als moralistisch, und somit als
von Grund auf widerlegt.
In der
Anfangszeit der bürgerlichen Gesellschaft reproduzierte jene begriffliche Dichotomie
zwischen Bedürfnis und Begehren passiv auf theoretischer Ebene die
Klassenspaltung der Gesellschaft: sodass das Bedürfnis für proletarisches
Leben, und das Begehren für das Luxusdasein der Bourgeois stand. Infolge der
Konzentration der bürgerlichen Klasse, und der Auflösung bürgerlicher Kultur
und Lebensweise durch das Kapital selbst, handelt es sich nunmehr um einen
anderen Gegensatz: um den zwischen Warenpropaganda und einer gegen sie aber
auch von ihr programmierten Reaktion (einer Art Wiederbelebung der Stoa, die im
Westen arbeitsfetischistische oder heimatsfetischistische Züge annimmt, und
anderswo direkt religiöse Formen). So lässt sich allerdings der Begriff des
Bedürfnisses keinesfalls klären, wie wir feststellen werden. Und daher ebenso wenig
der des Begehrens.
Beginnen
wir mit der ontogenetischen Auffassung des Begehrens.
Zeigt sich
das Bedürfnis als allgemeine Eigenschaft aller Lebewesen, als Bestimmung des
Mangels und als Antizipation eines äuβeren Gegenstandes, der sich als
notwendig für den Stoffwechsel des Lebens erweist, so liegt das am Bestehen
einer unmittelbaren und einfachen Beziehung zwischen Subjekt und Objekt des
Bedürfnisses: so etwa zwischen Tier und Nahrung, oder in der pflanzlichen
Fotosynthese. Das Bedürfnis tritt in Erscheinung als eine stetige
Beziehungsweise, durch welche das lebende Subjekt sich in seine Umwelt bettet,
und die sich in unveränderter Art verewigt, durch genetische Programmierung
einer Wechselbeziehung. Beginnend mit den Einzellenwesen, deren einfache
Morphologie sich auf eine einzige Öffnung auf die Welt bescheidet, die
gleichermaβen Mund und After ist, ist das Lebewesen nichts anderes als
jene gegensätzliche Synthese zwischen Absorbieren, sich Aneignen und wieder
Ausstößen. Es ist daher kaum möglich sich die Entstehung der primitiven,
animalischen Formen psychischen Lebens anders vorzustellen als eine Einheit
bildend mit der Wahrnehmung des Mangels, mit der Wahrnehmung der
Unvollständigkeit des Subjektes, und mit der Suche nach dem Objekt in dessen
Macht es steht, die Bresche des Bedürfnisses wieder zu schlieβen ¾ kurz, mit
einer negativen Bestimmung der Öffnung zur Welt. Der Mangel an Sein kann nicht
vom Sein selbst unterschieden, geschweige denn diesem entgegengestellt werden:
vielmehr sind beide identisch, und eher noch als den Mangel aufgrund des Seins
zu definieren erschiene es gerecht, das Sein aufgrund des Mangels zu begreifen.
Doch jener
Mangel, der das Sein mit Schwere belastet, wird ihm auch ermöglichen sich zu
unterscheiden, sich zu verfeinern, und schlieβlich die Tendenz umzukehren,
er wird dem Sein jene solare Fähigkeit verleihen, unbegrenzt zu scheinen und um
sich zu strahlen, und zu einer niemals versiegenden Quelle der Verausgabung zu
werden. Die einfache Wirklichkeit des Bedürfnisses tendiert in der Tat dazu
sich zu verändern sobald sie unternimmt, sich zu vermitteln. Je mehr das
Lebewesen zwischen sich und dem Gegenstand seiner Bedürfnisse Vermittlungen
einschiebt, egal ob organischer und natürlicher, oder äuβerlicher und
instrumentaler Art, desto mehr bricht die unmittelbare Verbindung ab und
transformiert sich durch Einverleibung der Vermittlung bis zum Ersatz des Endobjektes
durch die Vermittlung selbst, wie bereits zuweilen schon in der animalischen
Sexualität. Was dergestalt auf fetischistische Formationen münden kann weist
seit seinen Prämissen die Eigenschaft auf, dem Bedürfnis die veränderte Form
des Begehrens zu verleihen. Somit erscheinen als miteinander verbundene
Folgen der Öffnung zur Welt die Chance und die Gefahr, weil in ihrer stets
erweiterten Spirale die Reproduktion der Vermittlung immer gröβere
konzentrische Zirkeln bildet, die bis zur Einverleibung der Gesamtheit aller
Lebensformen fortschreitet. Nicht zum Gegenstand des streng begrenzten
Bedürfnisses kann die weite Welt werden, sondern offenbar nur zu dem des
Begehrens, weil dieses ihrer Dimension erst durch seine eigene, potentielle
Unendlichkeit entspricht.
Auch die
zeitliche Dimension wird tief greifend von der Entwicklung des Bedürfnisses zum
Begehren verändert. Das Bedürfnis ist bloβ ein vorübergehender und
zyklischer Zustand des Seins, dessen alternierendes Auftreten ein Erwachen ins
Leben ruft, eine Spannung, eine Weltoffenheit, die sich bestenfalls als schlieβende
Öffnung bezeichnen lieβen, weil sie in der Welt lediglich das ganz
bestimmte Fragment suchen, das ihr Leiden beendet und ihnen die Rückkehr zum
existentiellen Schlummer erlaubt. Wenn in gewissen neurotischen Zuständen das
Begehren sich so äuβert als sei es bloβes Bedürfnis, und zur
bornierten Eklipse der Subjektivität zurückschrumpft, so bleibt es nie aus,
dass der Mitmensch einem dauerhaften Gefühl der Entmenschlichung erliegt.
Umgekehrt erstreckt Begehren das Moment der Entfaltung von Subjektivität auf
eine ununterbrochene Zeitdauer. Das Bedürfnis lässt sich befriedigen, nicht so
das Begehren. Das Begehren kennt keine Momente der Verschlieβung, sondern
bloβ qualitative Stufen. Post coïtum animal triste: gewiss, doch
konnte man noch nie einem Bedürfnis begegnen, das als gesättigter Zustand
traurig wurde. Nur Begehren verfällt der Traurigkeit, wenn und weil es an die
Grenzen seiner Aktivität stöβt, und diese es auf die Seinsart des Bedürfnisses
zurückwirft: von Natur aus ist das Begehren nur auf Verwirklichung aus, das
heiβt auf Verewigung. Endlos lieβe sich darüber spekulieren, nicht
nur durch Überlegung sondern auch durch experimentelle Tätigkeit, befände man
sich bereits in einer emanzipierten Zeit. Doch wie dem auch sei, das Motto des
Begehrens und der das Begehren nährenden Vermittlung bleibt: „alle Lust will
Ewigkeit“ (Nietzsche, Also sprach Zarathustra).
Sobald man
die Sphäre des Begehrens betritt, verlässt man die Unmittelbarkeit der
gegebenen Notwendigkeiten und wird man mit einer ungewohnten Spanne zwischen
Extremen konfrontiert, da das Begehren bald als zufällig und nichtig erscheint,
bald als stärker als das Bedürfnis und als fähig, das gesamte Sein aufs Spiel
zu setzen. Durch solche Zwitternatur und Instabilität bezeugt das Begehren von
vorn herein, dass es aus der natürlichen, rein materiellen Sphäre getreten ist,
auf die Eröffnung einer symbolischen Dimension gebaut hat, welche dem Bedürfnis
fremd ist, und sich anstellt, des Bedürfnisses Herr zu werden. Das Begehren
steigt in Potenz wenn Sein sich mit Vermittlung identifiziert, und solche
Identifikation ist dem Dasein und der Entfaltung der Vermittlung in der Tat
innewohnend. Womit auch ausgedrückt wird, dass die Vermittlung sich ihren Raum
schafft, einen eigenen Zwischenraum der fähig scheint, sich bis ins Unendliche
zu erweitern, und wo das Subjekt den veränderbaren Platz seiner wirklichen
Identität antrifft: man ist, was man liebt, und sonst nichts. Während die
Vermittlung sich vervielfacht und als autonomes System artikuliert (egal ob
anhand sprachlicher, technischer, lebender oder bildlicher Instrumente), werden
der Gegenstand des Bedürfnisses und letztlich das Bedürfnis selbst annexiert,
bzw. vernichtet, ausradiert, von der Vermittlung getilgt, wo sie doch
anfänglich bloβ deren Code war, deren Abbild, aber letztendlich deren
Ersatz. Seit Anbeginn der Menschwerdung reduzierte sich die Vermittlung nicht
auf die Mitte zwischen Bedürfnis und materiellem Gegenstand des
Bedürfnisses, sondern war bereits Mitte zwischen dem Subjekt und dessen Lust,
war bereits Träger des Begehrens. Trotz des armseligen Charakters des
materiellen Lebens waren Begehren und Lust immer schon, mehr als Suche nach dem
Objekt, Suche nach Anerkennung und nach Teilnahme an der Kommunikation zwischen
Menschen (und auch mit den Göttern, was aufs Gleiche hinauskam). Die Morgenröte
des individuellen Lebens bedeutet Abschied vom Dasein in der Gebärmutter, doch
von letzterer behält das Leben ein untilgbares Muttermal, von Reminiszenzen
mütterlicher Abhängigkeit stets aufgefrischt, deren Dauerhaftigkeit nicht
unterschätzt werden darf: Vermittlung wächst auf Kosten der ursprünglichen
Matrix, doch reproduziert sie auch deren logische Position, da Fantasien einer
Rückkehr in den Mutterschoss das Subjekt sowohl beruhigen als auch weiter
entfremden, und zwar bis zur dem Punkt an dem solch imaginäre Wahrnehmung
unmittelbare Identität zwischen Trost und Entfremdung suggeriert. Sprachliche
Wirklichkeit und das von ihr geprägte Verhalten liefern sodann die Ausstattung
von der erhofft wird, dass sie es vermag, sowohl die Angst des Selbstverlustes
als auch den Pathos der Fusion von uns fernzuhalten, aber sie vollbringt es nur
gegen den Preis einer neuen Knechtschaft. Die der Sprache innewohnende
Dialektik erschlieβt sich hier ein weites Feld: eine zwar in sich
geschlossene Welt, wo alles sich im Kreise dreht und sich selbst die Antwort
gibt, fähig, das Subjekt zu einem Dasein zu zwingen das schlimmer ist als eine
tierische Existenz, aber deren freie Entfaltung auch dem Geist und der Tat noch
die entferntesten Gefilden der Wirklichkeit feilbietet, einer Wirklichkeit die
wie unter dem Einfluss einer solchen Vermittlung erst entsteht.
Die
Weiterbildung des Bedürfnisses zum Begehren, die mit der Einführung in die
Sprache anhebt, ist ebenso Identifikation mit dem Begehren des Anderen, mit
dessen Verweigerung, Akzeptanz oder Umbildung. Indem es sich als sprechendes
Subjekt darstellt betritt das Individuum die Arena, in der sich die potentielle
Veränderung der Welt abspielt: alles lässt sich diskutieren (was sich
aber nur in einer freieren Zeit als heute angemessen begreifen lässt). So sehr
lässt sich nämlich alles diskutieren, dass es heute kaum noch etwas gibt, was
überhaupt noch diskutabel wäre, gerade weil Diskussion ausblieb. In der
Ökonomie des Subjektes bleibt der Erfolg einer Veränderung des Bedürfnisses zum
Begehren eng davon abhängig, dass das Begehren die Umwelt anerkennt, aber
ebenso dass die Umwelt die Wahrheit des Begehrens anerkennt; denn der
erstgenannten Bedingung alleine, auf die sich alle Besserwisser stützen,
gelingt es nur, Elend noch zu vergröβern. Soll sich der Einzelne an seine
Gattung richten können, muss ihm die Gesellschaft ein offenes Feld dafür
bieten, muss sie damit aufhören, Kommunikation auf ein bereits bestehendes
semantisches Elend zu reduzieren, oder gar auf bare Abschaffung des Sinns, die
heutzutage mit der Zerstörung des Gebrauchswertes einhergeht. Die Verdammung
des Begehrens zum Unbewussten, also auf imaginäre und infantile Formen, eine
Verdammung, die beinahe den gesamten Inhalt der Existenz des Einzelnen heute
ausmacht, ist genau das Gegenteil eines solchen Erfolges, und somit auch das
verlässliche Messgerät, an dem sich das Fiasko des zivilisatorischen Prozesses
darstellt: Fiasko des einzigen Prozesses, auf den es letztlich ankommt.
Wie dem
auch sei: indem es sich mit dem Begehren des Anderen vermischt begibt sich das
Subjekt auf eine Ebene, wo die Quelle der Befriedigung in der Anerkennung
liegt, d. h. auf die Ebene, die von der griechischen Polis zunächst als agonistisch,
später als politisch verstanden wurde. Zunächst müssen wir uns damit
zufrieden geben festzustellen, dass es gar nicht möglich ist, die Bildung des
Begehrens auf individueller Ebene zu verstehen ohne in der Tat sofort auf eine
historische und kollektive, wennselbst unerwartete Dimension zu stoβen:
der Unvollkommenheit und dem Fiasko bleibt individuelle Geschichte
ausgeliefert, solange sie sich in der allzu langen Zeitspanne abspielt, welche
die Abkehr vom bloβen Bedürfnis von wirklicher Aneignung des Begehrens
trennt, eine Zeitspanne also, die über mehrere tausend Jahre reicht, und die
man, in Analogie mit Marx, als Vorgeschichte bezeichnen könnte.
Wenden wir
uns nun der zweiten, phylogenetischen Auffassung zu: der kollektiven
Geschichte. Diese kann als Ganzes keineswegs mittels empirischer Bestätigungen
bekräftigt werden wie es mit individuellem, der Endlichkeit preisgegebenen
Dasein möglich ist. Im Unterschied zum Einzelnen ist die Gattung nicht ein sich
der Beobachtung anbietender Zyklus, den wir als solchen überblicken können, mit
regelmäβig einsetzendem Ende und Neuanfang. Der Gattung stehen wir nicht
als auβenstehender Beobachter gegenüber (auβenstehend sind wir in
Wahrheit nie, aber uns mutet an dass wir es sind, wenn wir einem
regelmäβigen Gesetz gegenüberstehen, deren Zeitlichkeit wir überblicken, wie
z. B. der individuellen Existenz), auβerdem kann es uns nicht einfallen,
der historischen Entwicklung das derzeitig erreichte Stadium als axiomatisches
Ziel anzuweisen (oder als faktisches Ende, was sich gleichkommt): durch nichts
lieβe sich dies rechtfertigen, denn anders als das Individuum ist die
Gattung eben kein von uns übersehbarer Zyklus. Keinerlei Ende zwingt sich auf
als Resultat der kollektiven Geschichte, aufgrund dessen man das eindeutig
bewerten oder beurteilen könnte, was ihm vorausging. Leider verfügen wir eben
über keine Anatomie des Übermenschen, die wir als Wahrheit der menschlichen
Anatomie anführen könnten. Überlegung ist daher dazu genötigt, niemals die
dialektische Schwebe zu verlassen, in die sie die herrschenden Widersprüche
einschlieβen; ebenso aber ist sie genötigt, an diesen Widersprüchen
niemals aus den Augen zu verlieren, welche Möglichkeiten sich in ihnen
anbahnen.
Historisch
weist alles in die Richtung, dass die Menschheit zu keinem Zeitpunkt
Bedürfnisse im absoluten Sinn gekannt hat, sondern dass die menschliche
Geschichte von vorn herein mit der Geschichte des Begehrens und dessen
Verallgemeinerung identisch war (sei’s wie bisjetzt in entfremdeter Form). Vom
Begehren kennt das animalische Leben nur skizzierte Bruchstücke ¾
Verhaltensformen, in denen Symbolisches und Imaginäres in einer noch
unbestimmten, ethologischen Einheit fusionieren, wobei das Imaginäre stets
übergreifendes Moment bleibt. In der menschlichen Geschichte hingegen, infolge
der symbolischen Dimension der Vermittlung, erscheint das Bedürfnis eher als
eine von Umständen abhängige und auferzwungene Reduktion des Begehrens.
Bleibt das Bedürfnis unzweifelbar der Rohstoff des Begehrens auf
chronologischer Ebene, so verkehrt sich diese Beziehung auf logischer Ebene
sobald es sich um Menschen handelt, um jenes Tier, für welches Begehren zum
herrschenden und übergreifenden Moment wird. Es trifft eben nicht zu, dass
Begehren sich auf variable, beliebige Darstellungsformen eines objektiven
Substrats beschränkt, wie etwa der Tauschwert im Verhältnis zum Gebrauchswert.
Setzt man dergestalt das Bedürfnis als vorrangig voraus, reduziert man
Phylogenese auf ein bereits gefälschtes Bild von Ontogenese. In der Tat knüpft
die Menschheit bei jeder Neugeburt nicht nur mit ihrem Anfang an, sondern mit
dem was dieser vorausgeht, was sich damit erweist, dass erst eine gewisse Zeit
verstreichen muss, bis sich das Antlitz des Neugeborenen vermenschlicht, wenn
sich sein Dasein plötzlich an der mütterlichen Vermittlung zu artikulieren
beginnt, und diese Vermittlung vom eigenen Leib unterscheidet. Doch, um sich am
Bild von Merleau-Ponty zu orientieren, demzufolge der Gang nichts ist als ein
stets wieder aufgefangenes Fallen, dauert der Rückfall der Menschheit ins
Animalische kaum mehr als eine Eklipse, und bleibt sozusagen virtuell (d.h.
reproduziert sich nicht als solcher, und verschwindet in dem, was ihm folgt),
womit sich zeigt dass „das menschliche Wesen keine dem einzelnen Individuum
inwohnendes Abstraktum ist. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der
gesellschaftlichen Verhältnisse“ (Marx, Thesen über Feuerbach).
Spielt
sich die gesamte Geschichte der Menschheit jenseits des Bedürfnisses ab, so
lässt sich nicht leugnen dass es auch Epochen gibt, die einer konsequenten, in
Lebensgröβe und auf offener Straβe geführten Forschung nach dem
Bedürfnis ähneln. Es handelt sich dabei um despotische Regimes, vorzugsweise in
ihren kriminellsten und ungeheuerlichsten Ausschreitungen. Einen Menschen
einkerkern, ihm das Leben unmöglich machen, ihn von allem Besitz
entblöβen, ihn foltern, ihn zunichte machen, wie es in den zahlreichen
Konzentrations- und Todeslagern der Fall war, wie sie die Geschichte des
letzten Jahrhunderts groβzügig darbietet, dies alles entspricht einem
durch gewaltsame Abstraktion des menschlichen Daseins erbrachten Beweis, auf
welche „wirklichen“ Bedürfnisse sich ein Mensch letztendlich reduzieren lässt.
Man erbringt den Nachweis, was der Mensch alles entbehren kann, nicht um als
Mensch zu leben, sondern um eine gewisse Zeit biologisch zu überleben. Jener
Typ uniformierter Wissenschaftler darf sich brüsten, durch seine Versuche
erwiesen zu haben, dass Bedürfnisse von extremer Armseligkeit sind, so
armselig, dass sie beinahe jeder Wirklichkeit entbehren. Bedürfnis ist was
einem bleibt, wenn man alles verloren hat: ein Stadium das nicht einmal in der
Lage ist, sich zu reproduzieren, oder nur unter dem gewaltsamsten Zwang, und
von diesem eng eingegrenzt. Das Bedürfnis erscheint dann als was es ist, als
eine künstliche und gewaltsame Begrenzung des menschlichen Daseins, als
unnatürlicher Träger des einfachen Überlebens, als sich ergebend aus einer
konzentrierten und absolut konsequenten politischen Verarmung. Obschon
sie alle Aufmerksamkeit auf sich selbst richtet, drückt die Härte der
materiellen Überlebensbedingungen eigentlich nur diese Verarmung anderen
Inhalts aus.
Die
ältesten Gesellschaftsformen waren umgekehrt jene, in denen die Allgemeinheit
des Begehrens sich am ausdrücklichsten offenbarte, was nicht wenig zur
kontroversen Hypothese eines Urkommunismus beigetragen hat. In ihnen kommt
nichts zustande, in keinem Bereich, ohne dem Drang zu folgen, der Absicht der
Götter zu lauschen, den Ahnen ebenbürtig zu sein, die Kräfte der Natur zu
würdigen, die Verwandtschaftsregeln zu berücksichtigen, den Erfordernissen des
Gabentauschs gerecht zu werden. Was dem modernen Beobachter als formelle Zwänge
und einengende Regeln anmutet, erscheint ihm deshalb als dem Begehren
entgegengesetzt; doch dieser Eindruck zeugt eher von der eigenen,
beeindruckenden Kurzsichtigkeit. Auf die Darstellung seiner Selbst abzielend
(Stolz, Ehre) bestimmte „primitives“ Begehren die Handlungen, von denen dies
Eigenbild abhängig war. Dass jenes Begehren kodifiziert war, somit entfremdet,
minderte keineswegs seine Realität als Begehren, ganz im Gegenteil. Jene, die
ihm kurzer Hand das moderne Begehren entgegensetzen (obwohl sich in diesem eher
ein warenfetischistisch gewordenes Über-Ich ausdrückt als ein freies Es),
sollten vor ihrer eigenen Leichtigkeit zögern.
Die Ethnographie zeigt vielerlei Beispiele davon, wie ein „primitives“
Subjekt daran zugrunde geht, dass es seinen Anforderungen der Ehrbarkeit nicht
genügen kann, oder, einmal der Knechtschaft verfallen, deshalb einen Tod
stirbt, den man damals als groβartig empfand. Das archaisch kodifizierte
Begehren fand vor sich ausgebreitet eine weite Ebene allgemeiner Anerkennung
mit der es kommunizierte, egal ob es sich ihm unterwarf oder es abwies; wogegen
der besondere, anscheinend freie Inhalt des Begehrens in der modernen Warenwelt
rettungslos einer radikalen Sinnlosigkeit ausgeliefert ist, einer
gesellschaftlichen Stummheit die damit begründet ist, dass sein Sinn woanders
liegt (im Handelserfolg, zu dem es ungewollt beiträgt).
Am
wichtigsten breitete sich wohl diese symbolische Welt zur Zeit des Nomadentums
aus, da in Ermangelung einer festen Behausung die Menschen sich selbst bewohnen
mussten, oder frei dazu waren es zu tun, wie man will; auf jeden Fall behausten
sie ihre Vorstellungen. Sesshaft gewordenes Leben und die Entstehung der Arbeit
bedeuteten wahrscheinlich ein erstes tendenzielles Senken der Begehrensrate,
und eine erstmalige, historische Geburt des Bedürfnisses (darin liegt
zweifelsohne ein rationeller Kern der primitivistischen Utopien). Mit dem
Neolithikum betrat die Auffassung von Reichtum als Anhäufung zum ersten Mal die
Bühne der Geschichte, und mit ihr die Prämissen einer Reduktion des Begehrens
auf das Bedürfnis: auf ökonomischer sowie auf psychologischer Ebene ging der
materielle Mangel einher mit der Produktion eines Mehrwertes, und entstand die
bis heute nicht verheilte Wunde einer staatlichen oder privaten Verwaltung des
Mehrproduktes.
Neolithische
Gesellschaftsformen hatten nicht mit der umfassenden Sphäre der Symbolik
gebrochen, sondern konzentrierten das magische Denken und Handeln zu einer
religiösen Spezialität, in den Händen einer mit dieser besonderen Aktivität
vertrauten Gesellschaftsklasse (je nach Breitengrad: Brahmanen, Priester,
Magier, Propheten). Konzentration und Akkumulation der heiligen Kenntnisse
spiegelte die Konzentration und Akkumulation der materiellen Güter wieder
(gesammelte Ernte, erste Formen der Steuer, Bildung des staatlichen Tresors im
Rahmen der „asiatischen“ oder „hydraulischen“ Despotismen), und sie zeugten von
dem zunehmenden Gewicht einer akkumulierenden Auffassung des Wohlseins, die
einer Minderheit profitierte.
Gewiss
mutet es paradox an, wenn wir auf der einen Seite behaupten, das Begehren
entstamme der Vermittlung, und auf der anderen, das Bedürfnis entstehe historisch,
also im gleichen Schritt wie die Vermittlung sich verstärkt; doch dieser
Widerspruch entspricht wie wir glauben mehr dem Schein als dem Sein. In der
Vermittlung wird das Begehren von Ursprung an impliziert, d. h. im symbolischen
Vergesellschaftungsmodus des Lebens, weil durch Vermittlung das Subjekt sich an
etwas richtet, das als Zeichen der Menschheit ganz allgemein gilt: in ihr
blickt das Subjekt seiner eigenen Allgemeinheit entgegen. Indem er sich mit
Vermittlung befasst übergibt sich der Mensch der Menschheit überhaupt, und ihr
gegenüber bestimmt er sich, und sei’s in der Einsamkeit. Die tiefe Identität
zwischen Natur und übersinnlicher Welt, welche alle „primitiven“ Gesellschaften
kennzeichnet, Gesellschaften in denen behauptet wird, dass der Geist selbst
Natur ist, drückt mit groβer Klarheit aus, dass nichts der Welt des
Geistes fremd bleibt, selbst wildeste Natur. Zwillingsgleich stellen sich
Begehren und Vermittlung ein. Nur aus dem Verlust dieses Gleichgewichtes
entsteht das Bedürfnis, und der Verlust lässt sich zurückführen auf die
Spaltung der alten Gemeinschaft in Kasten, auf die Entwendung der materiellen
Gegenstände aus ihrer symbolischen Bedeutung und ihre Verwandlung in
materielle, ökonomische, akkumulationsfähige Güter, während die symbolische
Handlungen zum Besitz einer spezialisierten Gruppe werden, von der sie sich
konfiszieren lassen weil diese Gruppe sich zum unumgänglichen Vermittler zu den
Göttern gemausert hat. Die Bildung der Religion und der Einsatz einer
Priesterkaste sind bloβer Gegenpart zur ökonomischen Sphäre. Bedürfnis
(das Bedürfnis des Staates, der die Ernte aller einsammelt um eigene
Großspurigkeiten zu finanzieren; oder das Bedürfnis des Bauern der eben danach
trachtet, der Habgier des Staates zu entkommen und sein nacktes Überleben zu
sichern; oder noch das Bedürfnis all derer, die nackt und verlassen es nicht
mehr vermögen, selbst mit den Göttern zu sprechen) entsteht nicht mit der
Vermittlung, sondern mit der Entfremdung der Vermittlung. Wer spricht, es gebe
kein natürliches Elend, hat noch viel mehr Recht als er selber glaubt. Wir
bleiben davon überzeugt, dass Bedürfnis (sowohl das handelnde Bedürfnis,
der aktiv gewordene Mangel, wie auch Bedürftigkeit, als passiver Zustand
der Not und des Entbehrens) untrennbar ist von einer apriorischen,
gesellschaftlich getrennten Aneignung, welche dem unentwegten Fluss der
ursprünglichen und allgemeinen symbolischen Aktivität ein Ende bereitet hat.
Der im
Verhältnis zum Bedürfnis apriorische Charakter des Begehrens hat sich in der
menschlichen Geschichte verewigt unter der gespaltenen Form des der jeweiligen
Produktionsweise eigenen Algorithmus. Über die längste Zeitspanne produzierte
die Menschheit durch symbolische oder magische Funktion artikulierte, obschon
zumindest teilweise nützliche Gegenstände (man denke beispielsweise an die
Schmuckstücke, die man in den ältesten Grabstätten der Vorgeschichte vorfindet,
älter jedenfalls als beinahe sämtliche nützliche Gegenstände primitivster
Zeiten). Verschiedene von Ethnographen rezensierte Begriffe wie mana, hau,
usw. bezeichnen unmissverständlich eine den Gegenständen anerkannte Macht sowie
die Fähigkeit zur Kommunikation mit den Geistern, die materieller Vermittlung
innewohnen. Gängiges Übereinkommen zwischen symbolischem Wert und Gebrauchswert
ward anlässlich spezifischer Rituale gesprengt, die Mauss als Gabentausch
definierte, bevor sie Bataille als Verausgabung interpretierte: die
Gröβe dieser Momente bestand in der Offenbarung eines nur auf sich selbst
angewiesenen und in seiner ganzen Pracht emporsteigenden symbolischen Sturms,
entledigt jeder anderen Betrachtung und sich nunmehr der Nützlichkeit in
vollendeter Klarheit gegenüberstellend. Der Nützlichkeit harrte nur noch
unabwendbare Zerstörung; Gegenständliches ward im Opfergang vernichtet, um der
Bedeutung freie Bahn zu schenken.
Vermutlich
hat sich nie eine andere Lebensweise eingestellt, die den wesentlichen
Erfordernissen des Gesellschaftslebens derart angemessen war wie die Struktur
des Gabentauschs (im Sinn von Mauss), sodass man meinen könnte, für dies eine
Mal konnte die Psyche sinngetreu in gesellschaftliche Formen übersetzt werden.
Gegenstände entsprachen klarer als sonst wo der Vermittlung zwischen Einzelnen
und Gruppen, und deren Kommunikation. Im Gegensatz zum ökonomischen Gegenstand
aus der Zeit von Tausch und Geld, der ein bloβ toter, der Migration des
Wertes geopferte Gegenstand ist, war das Objekt der Gabe lebendig, da es in
sich Zirkulation der persönlichen Substanz aufnahm und sie einem Dritten zur Einverleibung
anbot ¾ eine Praxis, die
allein Kunst im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft fähig gewesen war,
vorübergehend weiterzuführen. Der „Wert“ des primitiven Gegenstandes wurde
unter den Mitgliedern des Gemeinwesens aufgeteilt (sowohl übertragen wir aufbewahrt
im Hau, ein unsehbarer Hort von Übereinkunft und Einheitsbildung),
während ökonomischer Wert nur Profit aus- und absondert, ihn beiseite schafft
und allein demjenigen aufspart, der den Produzenten ausbeutet.
Es ist gar
nicht so lange her, dass Warenproduktion sämtliche Bedeutungsarten durch den
alleinigen Tauschwert abschlieβend ersetzt hat, oder vielmehr durch das
irreführende Spiegelbild des „Wertes“, der weiter nichts ist als die als hehres
Heiligenbild sich schmückende Sublimation einer profan finanziellen
Spekulation. Luxus und Verschwendung bleiben im Warenzeitalter die einzige
Weise, wie der Überschwang aus alten Zeiten sich selbst überleben kann, nur ist
er diesmal einer winzigen Minderheit vorbehalten, und somit weit entfernt von
seinem eigentlichen Wesen als wirkliches Gesellschaftsband (nichts
beschlieβt besser gemeinsames Dasein als ein Aufzehren, das man gemeinsam
vornimmt). Trotz aller organisierter Maskerade seitens der Werbeindustrie
vermag es die allzu profane Wirklichkeit der Ware nicht zu verhehlen, dass das
Sakrale unserer Zeit woanders liegt, nämlich im Kapital als Macht über das
Überleben anderer. Wirklich leben lieβe sich nur in einer Welt in der alle
über die gleiche Qualität verfügen, während das Kapital einer Wette entspricht,
in der man auf das Gegenteil setzt: dass mein Leben sich aus dem Unleben
anderer nähren kann. Geld ist die allgemeine Vermittlung die eine Identität
postuliert zwischen dem Leben der einen und dem Unleben der anderen, als handle
es sich dabei nicht um wesentliche, sondern um bloβ stufenmäβige
Unterschiede. Streng genommen erreicht der Lohn nur Gegenstände des
Bedürfnisses, die man künstlich als Objekte des Begehrens aufputzt, während man
das Begehren wie ein Bedürfnis konzipiert. Das Kapital allein verwirklicht
Wünsche und Begehren, aber es sind nur Wünsche und Begehren bereits toter
Arbeit. Zuallerletzt unterwirft sich der Kapitalist selbst einer unpersönlichen
Instanz, um deren Wünsche zu erfüllen, und dazu muss er den Arbeiter aller
wahren Wünsche entledigen und ihn an die minderwertige Welt der Bedürfnisse
ketten. Einfache Dialektik zwischen Herrn und Knecht ward dadurch vereitelt,
dass aller Antagonismus nur einem abstrakten Dritten dient, das dem Lebendigen
umsonst nachstellt.
Versuchen
wir, gegenseitige Beziehungen zwischen Bedürfnis und Begehren einigermaβen
zu klären, werden wir mit einem Begriff konfrontiert, dessen mit mangelnder
Sorgfalt vorgenommener Einsatz zu Konfusion führt (ganz zu schweigen von den
Fällen, wo man diesen Begriff einfach umgeht): nämlich mit der Entfremdung.
Lässt sich
natürliches Sein mittels des Bedürfnisses definieren (des Bedürfnisses sowohl
im Sinn der Ermangelung eines externen Elements, das sich für das
homeostatische Gleichgewicht erforderlich zeigt, wie auch umgekehrt im Sinn der
Notwendigkeit, einer nach auβen orientierten Produktion freien Lauf zu
geben), so decken sich Sein und Seinsmangel nahezu perfekt, und erweisen sich
als untrennbar. In solchem Kontext von Aufhebung des Bedürfnisses, von
Entfremdung oder von Aufhebung der Entfremdung zu sprechen erwiese sich als bar
jeder logischen Begründung.
Doch die
Bedürfnissphäre, so sehr sie unüberwindbar scheint als materielle Verwurzelung
der lebenden Menschen im natürlichen Stoffwechsel, nimmt dennoch bloβ
bescheidene Ausmaβe an, misst man sie an der tatsächlichen, geschichtlichen
Entfaltung der menschlichen Tätigkeiten. In einer Welt wo das Begehren fast die
gesamte Fläche beherrscht, nicht nur als chronologische Folgeerscheinung,
sondern auch und vor allem als logisch-ontologische Voraussetzung, scheinen die
Menschen nur noch von ihrer eigenen Welt abhängig zu sein, einer Welt die der Mensch gleichermaβen
gelernt hat zu produzieren und zu begehren. Doch diese Welt, die sich nicht
mehr damit begnügt, ein bloβer Übergang zur Natur zu sein, sondern als Bau
sui generis dasteht, wird zudem in pseudonatürlicher Weise erbaut, d. h.
sie fällt auf den Menschen zurück als sei sie der Natur entsprungen, als sei
sie eben nicht sein Produkt. Dies Produkt kommt auf die Produzenten zurück ohne
dass letztere, weder vor noch während noch nach der Produktion die geringste
Entscheidung treffen könnten, sei’s über die eigene Entscheidungslosigkeit: und
hier wird es nicht nur zulässig, sondern sogar unerlässlich über Entfremdung zu
sprechen. Letztere erscheint als die Situation in der das was wir tun uns als
gegeben gegenübertritt, sodass niemand mehr nachvollzieht dass wir es
tun, und dass wir auch anders verfahren könnten.
Das
geringe Gewicht des Bedürfnisses im Vergleich zum Begehren, wie wir erwähnten,
findet aber hier seine Grenze: weil entfremdetes Begehren, wähnend vom
Bedürfnis unabhängig zu sein nur weil es einem anderen Herrn dient (namentlich
der Profitgier), produziert rückwirkend neue, wennschon im allgemeinen rein
negative Bedürfnisse. Die Zerstörung der natürlichen Lebensbedingungen auf dem
Planeten ist die Weise, in der die Natur und das Bedürfnis auf uns zurückwirken
als Rückkehr des Verdrängten. Wenn Luft, Wasser, Klima, Fleisch und Gemüse
verpestet werden entstehen allerorts neue Mängel, reich an gekreuzten
Folgeerscheinungen, und diese verewigen sich als neue Bedürfnisse: als
negatives Bedürfnis nämlich, sich diverser Gifte und Schäden zu entledigen.
Klar muss sein, dass es sich nicht um neue Begehren handelt, wie es die
Entfaltung einer freien Gesellschaft mit sich bringen würde, sondern um neue
Bedürfnisse, entstanden aus „umgekehrten Mängeln“ (gleichbedeutend mit
übertriebenen Dosen von dieser oder jener schädlichen Substanz). So
reproduziert und verewigt die entfremdete Menschheit jene knechtische Sphäre
von der sie seit Anbeginn der Zeiten unternommen hatte, sich zu befreien; so
überhäuft sie sich mit immer neuen Zwängen, unter denen allerdings der
wichtigste und dringendste Zwang darin besteht, der zur Zeit herrschenden
Gesellschaftsform ein rasches Ende zu bereiten.
Die Auferstehung
solcher zur Armseligkeit drängenden Zwänge vermag es freilich, vielerlei
Perspektiven zu verfälschen, und sich als wichtigster Aspekt zu behaupten, als
sei sie eine vollgültig Orientierung der Menschheit: Moral im allgemeinen und
Arbeitsmoral im besonderen stützen sich auf diese Misere, um wieder zu Kräften
zu kommen, wo sie doch seit jeher zu den Faktoren gehören, die den
Entfremdungsgrad der Menschheit steigerten, und es verdienen, mit entschiedener
Feindseligkeit bekämpft zu werden.
Von
Entfremdung lässt sich sagen, dass sie zwar aus der Sphäre der Vermittlung und
des Begehrens entsprang, aber auch so weit gediehen ist, dass sie es nun
vermag, die ursprüngliche Logik umzustülpen, und die Sphäre des Bedürfnisses
und der natürlichen Substanz in sich aufzunehmen.
Die
Feststellung drängt sich auf, dass die Menschheit zu keinem Zeitpunkt reine Gebrauchswerte
produziert hat, noch einfachen Bedürfnissen gefolgt war. Ob sie es will oder
nicht, die Kritik der kapitalistischen Gesellschaft wird bestimmt durch die
Ermangelung eines derartigen Paradigmas, das bloβ reiner Fantasie
entspringt. Entweder abstrahiert Kritik von dieser Feststellung, um ihre
Illusion zu retten, und dann beabsichtigt sie völlig illusorisch eine
Gesellschaft des Pragmatismus zu errichten, die eigentlich nur bürgerlichen
Realismus beerbt, einer Religion der Nützlichkeit frönt, und Arbeit als
Produktion nützlicher Gegenstände beibehält (so lautete zumindest die
offizielle Absicht der bürokratischen Regimes, die sich aus der
Arbeiterbewegung entwickelt hatten, Sozialdemokratie, Sozialismus oder
Stalinismus); oder Kritik akzeptiert diese Feststellung, und der Sphäre der
Nützlichkeit gewährt sie sodann nur noch die untergestellte Funktion die ihr
von den wohlhabenden Klassen aller Zeiten verliehen wurde, diesmal allerdings
im Dienste der gesamten Bevölkerung: womit sich der Menschheit die Möglichkeit
öffnet als Herren ohne Knechte zu leben, Ambitionen aus der Antike zu
verwirklichen, die Arbeit abzuschaffen und jedermanns schöpferischer Energie
Tür und Tor zu öffnen. Den Erfordernissen des bloβen Überlebens ist dann
keiner mehr ausgesetzt, denn eine insbesondere durch Automatisierung auf ihr
Mindestmaβ reduzierte Produktionszeit ist gesichert. Zum ersten Mal
verliert der Algorithmus seine Existenzberechtigung, weil fortan beide ihn
gewöhnlich bildende Seiten jede über eine eigene Welt verfügen: die Aufhebung
der Warenökonomie kann nur in der Wiederherstellung vollster Autonomie des
symbolischen Wertes bestehen, was gleichbedeutend ist mit dessen Unabhängigkeit
von nützlichen Erfordernissen. Die Sphäre der Nützlichkeit bedarf nur noch immer
geringer werdende Anstrengungen. Doch die der spendefreudigen, nicht vom Nutzen
regierten Schöpfungen, die der reinen Lust und deren endlosen Variationen, die
kann sich nun einer grenzenlosen Entfaltung überlassen, die kann sogar die
nützliche Sphäre wieder in sich aufnehmen, jenseits aller werktätigen
Perspektive, um deren Ergebnisse nach Belieben frei zu verfeinern und zu
verschönern. Symbolische Aktivität verlässt sodann ihre Eingrenzung durch
„kulturelle“, „künstlerische“, „peripherische“ oder „dem Überbau zugehörige“
Sphären, um sich im Herzen selbst der gesellschaftlichen Tätigkeit zu
entfalten, um sich anhand der gesamten Wirklichkeit auszudrücken. Indem sie ihre
Lebensbedingungen produzieren produzieren die Menschen sich selbst, und es
kommt darauf an, dass die es endlich bewusst und mit Absicht vornehmen, ganz
uneingeschränkt: womit die äuβerste Form von dem erreicht wird, was Marx
als Vergesellschaftung bezeichnete.
Daraus
folgt, dass die alte Polemik über sogenannte „falsche Bedürfnisse“ völlig
gegenstandlos ist. Der Menschheit wie jedem ihrer Mitglieder wird überlassen zu
bestimmen, wo seine Begehren anfangen und aufhören. Egal wie stark die
Müdigkeit und der Ekel sind, die einem die unzähligen und klein karierten
Nebensächlichkeiten der Warenproduktion einflössen, egal wie stark die Empörung
ist vor den unbeschreiblichen Zerstörungen der Umwelt, kraft deren solche
Minderwertigkeit zustande kommt und am Ruder bleibt, man muss sich davor
bewahren, der Stimmung einer neuen Stoa zu verfallen, einer mehr oder minder
vorchristlichen Moralperspektive, der antike Philosophie zum Opfer gefallen war
sobald sie mit dem Tod des Aristoteles ihrer politischen Ambition entsagte.
Über eine normative Gröβe der Bedürfnisse zu polemisieren ist mindestens schon
aus zwei Gründen aussichtslos:
o
Es ziemt keiner autoritären
Definition, Bedürfnisse festzulegen, und deren „Definition“ kann höchstens von
einer langatmigen, gesellschaftlichen Kollektivpraxis erbracht werden, welche
über ihre Mittel und Entscheidungen vollends und stets aufs Neu frei verfügt,
o
Eine Menschheit die dazu frei wäre,
der Gesamtheit ihrer Wünsche nachzugehen, sich mit der Produktion zu
beschäftigen, die wir „symbolisch“ genannt haben, mit der Schöpfung von
Stimmungen, mit der Studie neuer Verhaltensweisen, mit der Verbesserung der
Umwelt zu diesem Zwecke, mit dem „Gabentausch“ überhaupt, wird kein Vergnügen
mehr daran finden, einfach zu konsumieren, oder gar „Bedürfnisse“ zu empfinden,
die zum Konsum führen. Machen zur Zeit die künstliche Seltenheit von
Konsumgütern (das stets „vermehrte Überleben“) und die Geldhürde, die man
nehmen muss um an sie zu gelangen, die Bedingung ihres Wertes noch aus, so
werden deren Überschwang und Unentgeltlichkeit deren fast augenblickliche
psychische Entwertung sicherstellen. Reproduktion nützlicher Gegenstände wird
einer banalen Selbstverständlichkeit gleichkommen, die aus der von Profit
emanzipierten weltweiten Kooperation der Produktionsmittel entsteht, während
das Sprieβen der „symbolischen“ oder „verschwenderischen“ Produktion zuvor
ungeahnte Dimensionen annehmen wird, sobald sich eine Welt von (je nach
Geschmack) vereinzelten oder assoziierten Individuen damit beschäftigt.
Es lässt
sich beobachten, dass unter dem Einfluss gegenwärtiger Warenproduktion das
Begehren des anderen, das jedermann auf individueller Stufe in der Lage
gewesen war zu nuancieren oder abzuweisen, durch das Begehren des Anderen
ersetzt wurde, wenn man darunter versteht, dass Ökonomie dem Subjekt das
Begehren des Objektes als Grundlage der eigenen Dynamik aufzwängt (nicht
nur als Begehren nach einem Objekt sondern auch und noch mehr als
Begehren das dem Objekt selbst entspringt); und dies Begehren kann nur
wieder von einer gesellschaftlichen Bewegung in Frage gestellt werden, die sich
nicht mehr mit Kompromissen abgäbe, und die auf Abschaffung der Ökonomie als
Produktionsweise und als Überlebensmodus aus wäre. Die Weise, wie das Warensystem
Gegenstände produziert die von anderen Gegenständen abhängig sind, die damit
auf eine Art von Pseudo-Leben unter sich Anspruch erheben, und die der
Konsument noch von auβen speisen muss als sei er eine Amme für alle Dinge,
verewigt die Logik des Bedürfnisses, nur umgemünzt auf Dinge. Die Preisstruktur
der Waren ist fortan eindeutig auf diese neue Erfordernis eingespielt: das Ding
selbst kann für Spottpreise feilgeboten werden, aber seine Wartung, seine
Speisung, seine Anpassung an den Tagesgeschmack kosten Unsummen. In dieser
Dingwelt als System inhärenter Bedürfnisse und im sich daraus ergebenden
Knechtdasein des Konsumenten zeichnet sich das Begehren des Kapitals ab, in
stets unveränderter Form: als Sicherung eines regelmäβigen und reproduzierbaren
Profits, an dessen Verwirklichung die Menschheit sich hat anketten lassen.
Eine von
Ökonomie emanzipierte Produktion hätte sich demnach nicht nach der
begehrenswürdiger Gegenstände zu richten, wie der Vulgärmaterialismus der
Warengesellschaft behauptet, sondern nach der Produktion der Begehren selbst,
womit angeknüpft wäre an die antike Weisheit welche der Produktion von Gütern (Poiesis)
die Produktion seiner selbst, die Produktion des Subjektes (Praxis)
entgegensetzte: während auf das Objekt eingeschränkte Begehren, wie heute, zum
Bedürfnis zusammenschrumpft, soll sich die Beständigkeit des Subjektes aus der
Unbeständigkeit des Objektes nähren (aus seiner Aufzehrung, um mit Bataille zu
sprechen). Eine Gesellschaft besitzt nur Wert durch die Individuen, die sie
hervorbringt. Die übrige Produktion ist nebensächlich, denn reduzierbar auf
bloβe Ausstattung besagter Individuen: jedoch beweist unsere Zeit, dass
auch das Umgekehrte stimmen kann, wenn Einzelne immer mehr auf das reduzierbar
sind, was sie konsumieren. Die Situationisten hatten also an eine uralte
Weisheit angeknüpft (welche nur von Sklaven, die solche bleiben wollen, als
aristokratisch angesehen wird), obwohl sie diese Kontinuität nicht
hervorkehrten: neue Begehren wollten sie hervorbringen, durch die die
Menschheit für immer an das freie Ausüben ihrer Kräfte gebunden wäre, jenseits
der Herrschaft der Gewohnheit, denn Gewohnheit „ist der natürliche Prozess,
durch den das (erfüllte, realisierte) Begehren sich zum Bedürfnis erniedrigt.
Die herrschende Ökonomie gründet sich auf die Herstellung von Gewohnheiten, und
manipuliert Menschen ohne Begehren“ (Situationistische Internationale
Nr. 7, Seite 17).
Auch
Kritik der Kunst als einer getrennten Sphäre (eine Kritik die sich seit der
Romantik und bis zu den Situationisten mehr oder minder ihrer selbst bewusst
wurde) ist mit dieser Umkehrung verbunden. Vorübergehend zumindest hatte es
Kunst vermocht, sich als einziger Bestandteil gesellschaftlicher Tätigkeit zu
äuβern, der nicht von Utilitarismus beherrscht ward. Künstlerische
Produktion legte Gegenstände zutage, die keine Gegenstände waren, sondern eher
Sprache und Rede: der Musiker, der Maler, der Bildhauer, der Architekt wendeten
sich an ihre Mitmenschen und blieben als Individuen anwesend in ihren Werken.
Von diesen Werken konnte somit gemutmaβt werden, dass sie Elemente des
symbolischen Tausches waren, der Kommunikation, durchaus noble Taten also weil
in Opposition zur ökonomischen Funktion der übrigen Produktion. Doch die
Annäherung der Kunst an den Warentausch ruinierte mit der Zeit diese originäre
Dimension: beide Tauscharten sind einfach unkompatibel. Eine verkaufte Sprache
ist keine Sprache mehr. Echte Sprache erfolgt immer umsonst (was der Akademiker
Hénaff in seinem Buch Le prix de la vérité vorübergehend versteht, um es
gleich wieder zu vergessen, bzw. zu hintergehen). Wollte man dem künstlerischen
Vorhaben treu bleiben, konnte man nicht damit fortfahren, Künstler zu sein,
denn man würde zum Händler entarten. In dieser Konjunktur wurde
auβerdem offensichtlich, dass Warenproduktion selbst ganz und gar nicht
utilitaristisch ist, da Gebrauchswert ihr nur als Vorwand dient: indem Kunst in
ihrer getrennten Aktivität Nützlichkeit ignorierte oder verbannte war sie also
nichts als ein trügerischer Gegensatz zur Ökonomie, und keinesfalls eine
ernstzunehmende Opposition zur Welt des Interesses.
Aus diesen
Betrachtungen heraus lagen die Situationisten durchaus richtig, als sie als
zentrales Ziel einer Weltveränderung Abschaffung der getrennten Kunst und Überführung
der Kunst ins Alltagsleben bezeichneten. Keineswegs lieβ sich dieses
Programm auf die „Ursprünge der Lettristen-Gruppe im Künstlermilieu“
zurückführen, wie neuzeitige Kommentatoren frech behaupten. Indem sie derartige
Ambitionen zeigten, knüpften die Situationisten vielmehr an eine lange
Tradition an, die von der Arbeiterbewegung fast vollständig ignoriert worden
war. Solch unerwartetes Wiederauftauchen mutete an wie ein Donnerschlag im von
marxologischem Dunst überdeckten Himmel. Mit der Kritik von Kunst kündigte sich
Kritik der Passivität und der Enteignung an, also von Bedingungen, die unter
dem Einfluss von Ware und Spektakel bis aufs Äuβerste emporgestiegen
waren. Es bleibt schier unmöglich, sich eine Zerstörung der herrschenden
Ordnung vorzustellen ohne dass diese Zerstörung sich um besagten Themenkreis
drehte. In anderen Worten: soll radikale Perspektive ernst genommen werden, ist
es unmöglich, eine Reproduktion des Bedürfnisses der Verallgemeinerung des
Begehrens vorzuziehen. Der deutsche Philister ist freilich wieder in heilsamen
Schrecken geraten bei dem Wort: Verallgemeinerung des Begehrens. Nun gut, ihr
Herren, wollt ihr wissen, wie diese Verallgemeinerung aussieht? Seht euch die
Diktatur des Proletariats an. Das ist die Verallgemeinerung des Begehrens.
Diese
Zeilen sind nichts als eine fragmentarische Skizze, welche in keiner Weise eine
systematische Behandlung der Frage ersetzen könnte. Ihr einziger Zweck besteht
darin, die Fülle der Bereiche in den Raum zu stellen, die mit dieser Frage
verbunden sind, und sich an der Orientierung der Reflexion und Diskussion zu
beteiligen über ein Thema, dessen Inhalt von niemandem vernachlässigt werden
sollte, weil auch besagtes Thema niemanden, weder Individuum noch Kollektiv,
verschonen wird.
: Liste des titres en préparation
: Comptes-rendus de publications
: Tribune
: e-mail