Die Unschuld im Ausland
Voltaire: Candide ou l'optimisme
(Candide oder der Optimismus)
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"Il est certain qu'il faut voyager!"*
*"Ganz gewiß muß man reisen!"
(Candide XVIII, Eldorado)


[Voltaire - Ölgemälde von F. Largillière]

Ein Kapitel aus Dikigoros' Webseite
LÄSTERMAUL  AUF  REISEN
Große Satiren der Weltliteratur

Nein, liebe Leser - so sah Fränzchen Arouet natürlich nicht mehr aus, als er "Candide oder der Optimismus" schrieb; da war er schon der 65 Jahre alte, verknitterte Pessimist und Schwarzmaler, als den Ihr ihn wahrscheinlich von den allgemein verbreiteten Bildern kennt. Dennoch hat Euch Dikigoros bewußt dieses weniger bekannte Gemälde seines Namensvetters Largillière heraus gesucht, das ihn in einem Alter zeigt, in dem er "Candide" in die Welt hinaus ziehen läßt. Eigentlich ist das ein Buch, das nicht so recht in diese Reihe paßt, denn es beschreibt - vom Titelhelden und seinen immer wieder auftauchenden Begleitern mal abgesehen - gar keine erfundenen Reisen, sondern Begebenheiten, wie sie jedem Weltenbummler in der Mitte des 18. Jahrhunderts tatsächlich hätten widerfahren können (und wohl auch widerfahren sind). Deshalb hat Dikigoros lange geschwankt, ob er Euch nicht statt dessen den "Micromégas" hätte vorstellen sollen, jenen Roman einer fiktiven Reise in den Weltraum, den Science-Fiction-Fans heute als Vorläufer der Bücher von Jules Verne wieder entdeckt haben. Aber da es sich dabei um eine Nachahmung von Swift's "Gulliver" handelt und es davon schon ein besseres Remake aus dem 20. Jahrhundert gibt, wollte Dikigoros diese "Reise durch die Vergangenheit" nicht durch noch mehr Wiederholungen belasten.

Weshalb rechtfertigt sich die Aufnahme des "Candide" gleichwohl? Nun, zum einen kann man auch tatsächliche Begebenheiten satirisch darstellen, indem man die Absurdität ihres "normalen" Verständnisses aufzeigt, zum anderen sind das gerade solche Ereignisse, die der normale Sterbliche damals nie selber zu Gesicht bekam - und wenn doch, dann überlebte er sie meist nicht, geschweige denn, daß er Muße gehabt hätte, darüber Bücher zu schreiben. Man hat - so viel hat Dikigoros aus dem Französisch-Schulunterricht behalten - diesen Aspekt des "Candide" bis heute viel zu wenig gewürdigt; statt dessen kehrt man ständig Voltaires Streit mit Leibniz hervor (genauer gesagt den Streit mit dessen Nachfolger Wolff, denn Leibniz war schon gestorben, als Voltaire 22 Jahre jung war und alles andere als ein ernst zu nehmender Filosof, der es mit ihm hätte aufnehmen können), um die Frage, ob auf dieser unserer Welt nun wirklich alles zum besten bestellt sei oder nicht. Eigentlich ist dieser Streit hochmodern, denn Leibniz hat nicht mehr und nicht weniger getan, als die Ideen der Neo-Darwinisten (zu denen eigentlich auch schon Voltaires Landsmann Jacques Monod mit seinem bahnbrechenden Werk "Le hazard et la nécessité [Zufall und Notwendigkeit]" zählt) vorweg zu nehmen, nämlich daß die am besten angepaßten Zeitgenossen durchkommen und die daraus entstehenden Verhältnisse folglich im biologischen Sinne die besten sein müssen. Die Versuchung ist groß, den "Candide" einmal gerade darauf abzuklopfen, ob etwa das Erdbeben von Lissabon anno 1755 nicht tatsächlich dazu geführt hat, daß die Stadt so schön wie möglich wieder aufgebaut wurde, oder ob es Europa nicht tatsächlich egal (oder sogar recht :-) sein konnte, wenn sich unten auf dem Balkan die Türken und Bulgaren in die Haare bekamen - sonst hätten die vielleicht schon zwei Jahrhunderte früher ihren Bevölkerungs-Überschuß zu uns einwandern lassen, usw. Aber wenn wir die Satire solchermaßen ernst nehmen würden, kämen wir wohl doch etwas zu weit vom Thema ab; deshalb will Dikigoros das lieber dahin stehen lassen und nur anmerken, daß Voltaire ursprünglich wohl selber ein Anhänger jener Theorie von Leibniz und Wolff war, und zwar nicht nur als sehr junger Mensch, sondern noch 1747, also zwölf Jahre bevor er Candide schrieb. Da verfaßte er nämlich ein Werk, das nach seinem Titelhelden ursprünglich "Memnon" heißen sollte. (Erst später benennt ihn Voltaire in "Zadig" um, und Dikigoros hat noch in keiner Literaturgeschichte einen Hinweis darauf gefunden, was das bedeutet - woher auch: Die Nicht-Juden wissen es nicht, und die Juden wissen es ohnehin, so daß es für sie keiner Erklärung bedarf: Es ist die Bezeichnung für "Gerechte", jener Ehrentitel, den die Juden normalerweise nur an sich selber verleihen - erst Oskar Schindler wurde diese zweifelhafte Ehre postcyn, pardon postcin[éastisch], nämlich nach Spielbergs listigem Film, als erstem Nicht-Juden zuteil. Voltaire nennt ihn so, weil er trotz aller Ungerechtigkeiten, die er sieht, "gerecht" bleibt, so wie Candide trotz aller Schuld, die er auf sich lädt, doch auf seine Art immer "unschuldig" bleibt.) Auch Memnon bzw. Zadig reist durch die Welt und macht allerlei unschöne Erfahrungen; doch am Ende gelangt er zu der weisen Einsicht, daß all jene Ungerechtigkeiten und Fehler notwendige Bestandteile des Menschseins und als solche zu akzeptierten sind. Damit kommt Voltaire den Lehren von Leibniz und Wolff zumindest sehr nahe; und man sollte meinen, daß dies das literarische Verhächtnis eines weise gewordenen alten Mannes wäre - doch zwölf Jahre später warf er das alles noch einmal über den Haufen und kehrte wieder zu jener infantilen Auffassung zurück, wie sie sich im Candide offenbart, wonach in dieser Welt so ungefähr alles zum schlechtesten bestellt sei. Warum? Dikigoros weiß es nicht; er weiß nur, daß Voltaire als bahnbrechender Vorläufer der Darwinisten in die Geschichte hätte eingehen können, wenn er vor 1759 gestorben wäre.

Werfen wir einen kurzen Blick auf die Schauplätze des Candide: Westfalen können wir außen vor lassen - dort passiert ja weiter nichts. Bulgarien - dort, auf dem Balkan (das Balkan-Gebirge, nach dem der benannt ist, liebe Leser, liegt nicht im früheren Jugo-Slawien, sondern im heutigen Bulgarien!) herrscht Krieg gegen die Awaren, das scheint tiefstes Mittelalter zu sein; aber vergessen wir nicht, daß Voltaire "Candide" während des Siebenjährigen Krieges schrieb, den sowohl die Preußen als auch die Österreicher mit Söldnertruppen vom Balkan führten - Panduren, Hajdú[c]ken, Hu[s]saren und wie sie alle hießen. Lissabon - dort gab es anno 1755 tatsächlich ein großes Erdbeben (und die Inquisition mit ihren schönen Autodafés war auch noch nicht abgeschafft); in Paraguay saßen die Jesuiten; im Amazonas-Dschungel gab es langohrige Wilde, die man schon mal für Halbaffen halten konnte; in "Eldorado" (das die Franzosen übrigens auf der letzten Silbe betonen) suchten einige Unverbesserliche noch immer nach dem sagenhaften Schatz des mit Goldstaub bedeckten Indio-Königs; und Surinam war damals noch ein wichtiger Zucker-Exporteur. [Andreas Marggraf hatte zwar 1747 heraus gefunden, daß auch die Runkelrübe Zucker enthält; aber bevor Franz Achard - ein preußischer Hugenotte - daraus die Zuckerrübe gezüchtet hatte (übrigens in der erklärten Absicht, der Plackerei der Negersklaven auf den karibischen Zuckerrohr-Plantagen ein Ende zu machen, also ganz auf Voltaires Linie!) war Voltaire längst gestorben; und erst im 19. Jahrhundert sollten Liebig und Schubarth die Voraussetzungen für eine nennenswerte Massenproduktion schaffen.] Über Portsmouth in England - damals ein wichtiger Überseehafen - und Venedig - nicht mehr ganz so wichtig, aber immerhin mit einer großen Vergangenheit, von der es noch ein wenig zehren konnte - gelangen Candide und seine Mitreisenden schließlich nach Konstantinopel, wo inzwischen die Türken sitzen. [Das Osmanische Reich war damals noch nicht "der kranke Mann am Bosporus", sondern bis zum Siebenjährigen Krieg ein wichtiger Verbündeter der Franzosen gegen die Habsburger - 11 Jahre vor Voltaires Geburt hatten die Türken noch Wien belagert, und 20 Jahre vor Erscheinen von "Candide" hatten sie im 6. (nach anderer Zählung im 4.) der so genannten "Türkenkriege" den Österreichern die westliche Walachei und das nördliche Serbien wieder abgenommen.]

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Als Dikigoros - der damals noch Tarzan genannt wurde - die Obersekunda (Anm. für jüngere Leser: die 11. Klasse oder, auf Neudeutsch, "Jahrgangsstufe", zur Vermeidung jeglicher Gedanken-Assoziation mit einer "Klassen-Gesellschaft :-) des neusprachlichen Zweiges eines altehrwürdigen Gymnasiums besuchte, begann der Unterricht mit einer unangenehmen Überraschung: "Je vous présente Monsieur Kümmel", begrüßte sie ihr Französischlehrer (der von den Türken - nicht nur denen vor Wien - stets nur als "Kümmeltürken" sprach und seine häufigen Flüche stets mit einem kräftigen "Kruzitürken..." einzuleiten pflegte - aber auf die kommen wir später zurück :-) und stellte ihnen einen kleinen, dicken Endzwanziger mit verweichlichten Zügen vor, der etwas unbeholfen zu lächeln versuchte - eine Karikatur des Lehrers im allgemeinen und des Sprachenlehrers im besonderen; wer Augen hatte zu sehen und Ohren hatte zu hören, dem mußte schon damals grauen vor dem, was künftige Schüler-Generationen erwartete, wenn solche Flaschen auf sie losgelassen würden - PISA war nicht weit. Tarzan war nie ein großer Freund von Referendaren: Seine alten Lehrer kannte er, und sie kannten ihn, da hatte er seine Noten mehr oder weniger sicher, aber diese jungen Spunde wollten sich meist profilieren, indem sie das Notengefüge und damit die Hackordnung der Klasse durcheinander brachten, etwa wie es heutzutage junge, unerfahrene Fußballtrainer versuchen, wenn sie ein Team übernehmen und sich dann wundern, wenn die Resultate schlecht sind. Auch in der Auswahl des Unterrichtsstoffes waren sie meist schlecht beraten (dabei boten die Lehrpläne durchaus auch interessantere Lektüre zur Auswahl). Dr. Kümmel versteifte sich gegen den ausdrücklichen Rat seines Ausbilders (wie der Tarzan später in einer stillen Stunde verriet) auf ein Buch, das sprachlich und inhaltlich wohl zu den schwierigsten zählte, die überhaupt zur Auswahl standen, nämlich - Voltaires "Candide", in der gekürzten Fassung ad usum Delphini von Larousse, deren Cover das folgende Bild zierte.

Die Oberstufenklassen waren damals, als Schüler, die nicht mitkamen, noch nicht auf Kosten der anderen, d.h. des allgemeinen Unterrrichts-Niveaus, mit durchgeschleppt wurden, sondern sitzen blieben (und im Wiederholungsfall vom Gymnasium abgehen mußten) relativ klein. Nein, Tarzans Klasse war noch nicht auf die Zahl einer Fußballmannschaft geschrumpft, aber immerhin auf die eines Rugby-teams. (Damals hätte man seinen Lesern auch noch nicht zu sagen brauchen, daß es sich somit um 15 handelte, denn Rugby war selbst in Deutschland noch ein halbwegs verbreiteter Sport, dessen Spitzenspiele sogar ab und zu in der "ARD-Sportschau" übertragen wurden. In Frankreich war es der Nationalsport schlechthin, weit vor Radfahren und noch weiter vor Fußball - Paris St. Germain kickte irgendwo in der 2. Liga, und auch die 1. Liga interessierte niemanden sonderlich :-) Von diesen waren nur zwei schon mal im Ausland gewesen, aber mit einer Ausnahme in keinem der Länder, die Candide bereiste. Die eine Ausnahme war natürlich Frankreich: Tarzan hatte dort gerade einen vierwöchigen Ferien-Sprachkurs absolviert, und Fidi - der sich damals noch "Jean" nannte - sogar ein ganzes Schuljahr in einem vornehmen Internat als Austauschschüler. Beide schauten mit Verachtung auf den stotternden Dr. Kümmel, der selber kaum Französisch konnte (vermutlich hatte er sich im Romanistik-Studium, wie das damals so üblich war - und wohl auch heute noch ist - hauptsächlich mit schönen linguistischen Theorien, dem Rolandslied auf Altfranzösisch und den großen französischen Dramatikern des 17. Jahrhunderts beschäftigt, deren Sprache auch noch keine allzu große Ähnlichkeit mit dem Französischen des 20. Jahrhunderts hatte), vielmehr schauten sie ganz woanders hin, sie verbrachten nämlich die Unterrichtsstunden lieber mit Schachspielen. Wenn Dr. Kümmel sie in seinem holperigen Französisch ansprach, fuhren sie ihm kurz und frech, aber präzise in bestem Französisch über's Maul und spielten weiter. (Andere Schüler spielten während des Unterrichts Skat oder Schiffe versenken - nur für Candide wollte sich niemand so recht interessieren :-)

Dr. Kümmel rächte sich: Bei der nächsten Klassenarbeit fand er bei Fidi und Tarzan jeweils ein Haar in der Suppe und gab ihnen daraufhin nur eine "2(+)" - und nun gingen die beiden die Wände hoch, zumal als sie erfuhren, daß auch Aki und Gerry eine "2(-)" bekommen hatten und sogar für Melone statt seiner traditionellen "5" (die er bis zum Abitur mit sich herum schleppen sollte) eine "4(-)" heraus gesprungen war. Jean beschwerte sich bei ihrem Französischlehrer - der zugleich ihr Klassenlehrer und Fachleiter Französisch an der Schule war: "Es kann doch nicht sein, daß ich mit einem einzigen vergessenen Akzent die gleiche Note bekomme wie Spiel und Schal mit 13 bzw. 14 z.T. schweren Grammatik-Fehlern!" Aber Monsieur Thomé, ein alter Hugenotte, zuckte nur bedauernd die Schultern: "Er glaubt, daß er damit seine Examens-Lehrprobe auf eine breitere Basis stellen kann." - "So ein Narr," versetzte Tarzan, "Spiel ist doch mündlich eine völlige Niete, und Schal fällt im Unterricht nur deshalb nie unangenehm auf, weil er sich nichtmal die Regeln für die einfachsten Kartenspiele merken kann und lieber Astérix-Hefte liest oder vor sich hin schläft. Sie wissen genau, daß Pangloss seine Lehrprobe mit uns beiden allein glänzend über die Bühne bringen könnte, obwohl oder gerade weil wir seinem schauderhaften Unterricht nicht zuhören; aber gegen uns kann er einpacken." - "Bitte tun Sie mir das nicht an," sagte Thomé, wenn Kümmel durchfällt, muß ich ihn noch ein halbes Jahr als Ausbilder ertragen. Sie bekommen selbstverständlich beide Ihre 1 auf dem Zeugnis, aber schaffen Sie mir um Himmels Willen diesen Kerl vom Hals!" - "Das muß doch auch anders gehen," knurrte Tarzan, "wenn er nicht nur knapp durchfällt, sondern so richtig mit Pauken und Trompeten, läßt er sich vielleicht an eine andere Schule versetzen."

Es kam, wie es kommen mußte: In der Examens-Lehrprobe stieß Dr. Kümmel vor der versammelten Prüfungskommission - die mit den höchsten Erwartungen gekommen waren, da Monsieur Thomé ihnen stolz erzählt hatte, daß zwei seiner Schüler fast fließend Französisch sprächen - auf eine eisige Mauer des Schweigens: Aki Spiel und Gerry Schal bekamen den Mund nicht auf, weil sie nichts Falsches sagen wollten, Fidi und Tarzan, weil sie nichts Richtiges sagen wollten, und die übrigen, weil sie weder etwas Falsches noch etwas Richtiges auf Französisch sagen konnten. [Berücksichtigt bitte, liebe Leser, daß das ihre dritte Fremdsprache war, die sie erst etwas länger als zwei Jahre erlernten; der "neusprachliche Zweig" war einem "humanistischen" Gymnasium aufgepropft worden, wo man in Sexta mit Latein begann und in Quarta Englisch dazu bekam; Französisch-Unterricht gab es erst ab Obertertia, und der Schwerpunkt lag mehr auf Lesen und Schreiben als auf Sprechen.] Und als Dr. Kümmel die Unvorsichtigkeit beging, Tarzan gezielt anzusprechen, meinte der nur flapsig: "Aucune idée - nehmen Sie doch mal Melone dran, Monsieur Pangloss." Nun wollte der Genannte durchaus nicht undankbar sein, sondern bemühte sich tapfer, seinem Wohltäter nach Kräften beizustehen; aber Dikigoros hat nie wieder jemanden kennen gelernt, der ein derart greulich falsches Französisch gesprochen hätte wie sein später bester Reisefreund, der selige Melone. Die Prüfungskommission aber gewann an jenem Tage den Eindruck, daß Melone wohl noch der beste Schüler in dieser unmöglichen Klasse sein müsse, denn er bestritt ja den Unterricht als Alleinunterhalter... Monsieur Thomé war in den nächsten Tagen und Wochen nicht besonders gut auf Fidi und Tarzan zu sprechen; aber Dr. Kümmel alias "Pangloss" ward an der Schule nie wieder gesehen - was wollte ihr Klassenlehrer denn mehr? Auftrag ausgeführt, und zwar weit über das erwartete Maß hinaus: Der Klasse sollte nie wieder ein Referendar zugeteilt werden; und wenn Dikigoros den guten Dr. Kümmel im folgenden noch ein paar Mal erwähnt, dann bezieht sich das auf die Zeit vor jener denkwürdigen Examens-Lehrprobe. [Ja, liebe Leser, heute im Rückblick tut das alles Dikigoros irgendwie leid; aber damals wußte er noch nicht, daß die armen Referendare ja auch nichts dafür konnten, sondern einfach ein Produkt der katastrofalen Bildungspolitik in deutschen Landen waren, an deren Universitäten nur Blödsinn und Mülltonnen geleert wurden; er dachte vielmehr, daß das Schulamt ihm und seinen Mitschülern aus purer Bosheit besonders unfähige Exemplare der Referendarszunft schickte, und immer ausgerechnet in solchen Fächern, in denen sie sonst noch einigermaßen gute Lehrer hatten.]

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Da Dikigoros den Namen "Pangloss [Allsprach]" schon mal erwähnt hat, beginnen wir am besten mit diesem immer wieder wie ein Deus ex machina auftauchenden Hauslehrer des Barons Thunder-ten-tronckh, der dort die Métaphysico-théologo-cosmolo-nigologie lehrt. Wer braucht die? Nun ja, liebe Leser, wer braucht das Zeug, das den Kindern heute an den Schulen und Universitäten eingetrichtert wird (oder auch nicht :-)? Eben. Candide interessiert sich denn auch viel mehr für Kunigunde ("Cunégonde"), die zusammen mit ihm unterrichtete Tochter des Herrn Baron, 17 Jahre jung, frisch, appetitlich und... "Was soll denn das sein?" fragte Aki, "im Wörterbuch steht 'fett' für 'grasse', aber das kann doch wohl nicht gemeint sein, oder?!" Dr. Kümmel machte nur ein betrübtes Gesicht, sei es nun, daß er das selber nicht auf Französisch erklären konnte oder ahnte, daß jedenfalls Akis Sprachkenntnisse nicht ausgereicht hätten, um das zu verstehen. "Ja Kruzitürken," ließ sich da aus der letzten Reihe Monsieur Thomé auf Deutsch vernehmen, "wieso soll denn das nicht gemeint sein können? Steht Ihr denn alle auf Bohnenstangen?" Ja, das war noch eine Generation, die den Krieg und die Nachkriegszeit mitgemacht hatte, als etwas Fleisch auf den Rippen nicht nur als Zeichen von Wohlstand, sondern von Schönheit galt, als noch niemand ahnte, daß einmal der Schlankheitsfimmel à la Twiggy ausbrechen würde und daß breite Teile der Bevölkerung Mitteleuropas ein Problem mit ihrem Übergewicht haben würden - das es im 18. Jahrhundert, als der Roman spielte, nirgendwo auf der Welt gegeben haben dürfte, weder in Frankreich noch in Westfalen, auch wenn Voltaire sich schon über die Vorliebe der Deutschen für walkürenähnliche Matschtrampel mokieren wollte - so steht es jedenfalls in den Erläuterungen für französische Schüler (aber die hatte natürlich niemand gelesen :-). [Als Voltaires Zeitgenosse Friedrich II von Preußen anno 1763 aus dem "Siebenjährigen Krieg" heim kehrte, begrüßte er seine Frau - die er sechs Jahre lang nicht gesehen hatte -, mit dem Satz: "Madame est devenue belle grasse [Madame sind schön fett geworden]!" Ein döseliger Biograph aus dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts - ein fetter, vollgefressener Politbonze aus einer mitteleuropäischen BananenAlpen-Republik - führte das auf "mangelnde Sensibilität" des Königs zurück; aber das war mit Sicherheit als Kompliment gedacht und wurde auch als solches verstanden; denn von den 2,5 Millionen Preußen, die den Krieg überlebt hatten, standen mehr als 2 Millionen am Rande des Hungertodes.]

Es kommt, wie es kommen muß: Als der Herr Baron die Romanze zwischen den beiden Pangloss-Schülern entdeckt, jagt er Candide mit einigen kräftigen Tritten in den Allerwertesten vom Hof - und damit ist ja wirklich alles zum besten bestellt, sonst hätte unser Held wahrscheinlich nie die Welt kennen gelernt und uns an seinen Abenteuerreisen teilnehmen lassen. Held? Na klar - schon im nächsten Kapitel wird Candide zum Helden in spe, denn er fällt bulgarischen Häschern in die Hände; im Regiment wird er ordentlich geschliffen und, als er abhauen will, zum Tode durch Spießrutenlaufen verurteilt, aber vom König der Bulgaren höchstpersönlich begnadigt. Erst am Ende einer blutigen Schlacht zwischen Bulgaren und Awaren, die 30.000 Tote kostet, gelingt ihm die Flucht nach Holland. Unterwegs sieht er zerstörte Dörfer, in denen die Soldateska beider Seiten gehaust hat; aber er glaubt weiter fest daran, daß es für alles einen hinreichenden Grund gibt und daß in der Welt letztlich alles zum Besten bestellt ist, wie es ihn Pangloss gelehrt hat. Der Ärger ist nur: Im reichen Holland mit seiner protestantischen Arbeitsethik ist Betteln verboten, und als sich Candide gar verplappert, daß er den Papst nicht für den Antichristen hält, wie jeder ordentliche Protestant, ist er auch bei den Holländern unten durch. Zum Glück gewährt ihm ein mitleidiger Anabaptist Unterschlupf, und auch seinem Lehrer Pangloss, den es - wie es der Zufall und die Notwendigkeit, pardon Voltaire wollen - auch gerade als Bettler nach Holland verschlagen hat, und der berichtet, wie es unterdessen in Westfalen zugegangen ist: Der Krieg zwischen Bulgaren und Awaren hat auch das Schloß des Barons Thunder-den-Tronckh zerstört und seine Familie ausgelöscht - was Candide vor allem wegen Fräulein Kunigunde betrübt, und er fragt sich, wie so etwas in der besten aller möglichen Welten geschehen konnte. Sie haben ausgiebig Gelegenheit, diese Frage zu diskutieren, da sie ihr Wohltäter, der Anabaptist, mit auf eine Geschäftsreise nach Lissabon nimmt. Der letzte hält Pangloss' Argument, daß die Natur notwendigerweise alles auf das Beste eingerichtet haben müsse, entgegen, daß die Menschen der Natur wohl doch etwas ins Handwerk gepfuscht haben müssen, denn sie seien von Natur aus nicht zu Wölfen geboren, seien aber dennoch zu solchen geworden; die Natur habe ihnen auch keine 24-Pfünder-Kanonen und keine Bajonette mitgegeben; dennoch hätten sie sich welche erfunden.

Dazu könnte man eine Menge sagen, z.B. daß Wölfe nicht halb so schlimm sind wie Menschen, und daß die Natur den letzteren immerhin die Metalle gegeben hat und den Verstand, sich daraus Waffen zu fertigen; aber Voltaire, pardon Pangloss fällt darauf nichts weiter ein als der dümmliche Satz: "Das Unglück der einzelnen begründet das Glück der Allgemeinheit." (Ja ja, Gemeinnutz geht vor Eigennutz... :-) Aber vielleicht hat er auch nur keine Zeit, sich bessere Argumente zurecht zu legen, denn während er noch raisonniert, kommt ein Sturm auf, und unsere Helden erleiden kurz vor der Einfahrt nach Lissabon noch Schiffbruch, bei dem der gute Anabaptist das Leben verliert, während ein böser Matrose sich mit Candide und Pangloss ans Ufer rettet - so "ungerecht" ist das Leben! Ungerecht? Ja, das will uns Voltaire wieder einmal zeigen, denn er schildert den Matrosen als besonders verrucht: Nicht nur, daß er eigentlich den Tod des Anabaptisten verschuldet hat, sondern auch durch seine Vorgeschichte: Er ist in Batavia geboren, jener blühenden Stadt, welche die holländischen Kolonisten aus dem Sumpfloch Jayakarta auf Jawa geschaffen hatten, und um das sie die ganze Welt - insbesondere die französische und angelsächsische - beneidet (aber das ist eine andere Geschichte), und die auch als einzige Europäer noch von den Japanern in Nagasaki als Handelspartner geduldet werden - freilich um den Preis, daß sie das christliche Kreuz verleugnen und sogar mit Füßen treten. (Was wiederum die Amerikaner nie verziehen haben, weder den Japanern, deren Hafenstadt Nagasaki sie 1945 durch eine Atombombe zerstörten, noch den Holländern, deren Jahrhunderte lange segensreiche Kolonisationsarbeit in Insul-Inde sie 1949 zerstören halfen - und so den Grundstein für den verarmten islamischen Kanakenstaat "Indonesien" legten; aber auch das ist eine andere Geschichte.) Und so ein böser Mensch kann in der vermeintlich besten aller möglichen Welten überleben - o tempora, o mores!

A propos tempora: Wir wissen sogar genau, wann das war, nämlich am 1. November 1755, denn kaum ist unser Terzett gelandet, als auch schon das berühmte Erdbeben (das wohl eher ein Seebeben war) losbricht, das die - angeblich - schönste Stadt Südeuropas weitgehend zerstört und wiederum 30.000 Todesopfer fordert. Candide fragt Pangloss nach der notwendigen Ursache dieses schrecklichen Ereignisses, und der meint ganz nüchtern, daß Lissabon eben am Rande einer atlantischen Erdbebenzone liege, so daß man damit notwendigerweise hätte rechnen müssen. Da hat er Recht - was Voltaire freilich (anders als einige seiner intelligenteren Zeitgenossen) noch nicht wußte; er gibt diese Ansicht als offenbar völlig absurd wieder, ebenso wie die anschließende Diskussion zwischen Pangloss und einem Vertreter der heiligen Inquisition. Von letzterem nach seiner Meinung über den "freien Willen" befragt, sagt Pangloss: "Die Freiheit [des Willens] kann zusammen mit der absoluten Notwendigkeit bestehen; denn es war notwendig, daß wir frei seien; denn der vorbestimmte Wille..." Weiter kommt er nicht, denn das reicht, um ihn zu verhaften, als Ketzer anzuklagen und einem schönen Autodafé zu unterwerfen. Aber wir sollten uns wenigstens kurz klar machen, wie hochmodern dieser Satz ist: Er findet sich so oder ähnlich bei Nietzsche, bei Freud, bei Monod und bei den Psycho-Biologen, die glänzend bestätigt haben, was Leibniz, Wolff und ihre geistigen Erben nur erahnen konnten; als der große Dummkopf steht aus heutiger Sicht niemand anders da als - Voltaire.

[zeitgenössische Illustration des Lissaboner Erdbebens von 1755]

Exkurs. Die moderne Geschichtsschreibung hat die Zahl der Todesopfer des Erdbebens von Lissabon 1755 mehr und mehr herunter gerechnet, so wie sie die Zahl der Todesopfer der Terrorbombardements auf Dresden, Hiroshima und Nagasaki herunter gerechnet hat (während sie andere Todeszahlen in geradezu abenteuerlicher Art und Weise hoch gerechnet hat) - aber das ist weder Zufall noch Notwendigkeit, sondern hat als hinreichende Ursache die Neigung der Geschichtsschreiber, den Siegern nach dem Mund zu schreiben und ihre Verbrechen zu verharmlosen und statt dessen die der Verlierer maßlos zu übertreiben - und wenn es nichts zu übertreiben gibt, etwas zu erfinden. Und dennoch - in diesem Fall gab es keine Sieger und Verlierer, denn Lissabon wurde ja nicht im Krieg zerstört; und deshalb ist Dikigoros nicht nur geneigt, den modernen Herunterrechnern ausnahmesweise mal zu glauben, sondern er geht noch einen Schritt weiter: Er hält das ganze Erdbeben von Lissabon - zumindest in diesen Ausmaßen - für eine der ersten großen internationalen Zeitungsenten der Neuzeit, vielleicht die größte überhaupt seit der angeblichen Brandstiftung in Rom durch Nero (aber das ist eine andere Geschichte). Warum? Nun, er hat in seinem Leben schon von vielen "schweren" Erdbeben gehört und gelesen, und eigentlich entpuppten die sich bei näherem Hinsehen immer als ein großes Drücken auf die Tränendrüsen der freigiebig spendenden Medien-Konsumenten, besonders der tumpen Eingeborenen Mitteleuropas. Ja, er gesteht, daß er zwar kein "Event-Tourist" ist, wohl aber ein "Nach-event-Tourist", und er bevorzugt Erdbeben: Er war 1980 in Saloniki, 1986 in Mexiko City und nach verschiedenen Erdbeben-"Katastrofen" in Süditalien. Der Tatbestand war jedes Mal der gleiche: Die Schäden und Opfer waren maßlos übertrieben; die Spenden-Milliarden kamen nie vor Ort an, sondern versickerten in den Taschen korrupter Politiker, Redakteure und anderer Gangster; hätten die Spender das Geld doch lieber in eine Reise vor Ort investiert, statt sich da blauen Dunst vormachen zu lassen! So ähnlich dürfte es auch damals in Lissabon gewesen sein, das sich Dikigoros vor 1755 in etwa vorstellt wie eine der verkommenen brasilianischen Favelas von heute, insbesondere die Baixa (Downtown) und die benachbarte Alfama (das Araberviertel). Erst danach ließ es der portugiesische Premier-Minister von seinem Lieblings-Architekten Eugenio dos Santos neu aufbauen; und erst dabei wurde Lissabon zur weithin ge- und berühmten "Rosa Stadt". (Das Erdbeben war also im Rückblick die beste aller Möglichkeiten für Lissabon. Aber das wollt Ihr bitte nicht auf die Gegenwart übertragen, liebe Leser, denn die Bausubstanz alleine macht es nicht. Es wäre müßig, wollte man etwa New Orleans nach der Flutkatastrofe von 2005 noch so schön wieder aufbauen, denn anders als 1755 in Lissabon haben ja 99,9% der Bevölkerung überlebt; und solange man die nicht austauschen kann - was aus politischen Gründen nicht geht - würde es dort in wenigen Jahren wieder so aussehen wie vor der Flut, halt wie vor 1755 in Lissabon oder wie in den Slums von Rio.)

Und da Dikigoros gerade bei einem Exkurs ist, muß er auch jenem Premier-Minister ein paar Zeilen widmen. Sein bürgerlicher Name - Sebastian Joseph de Carvalho e Mello - sagt Euch mit Sicherheit nichts, und sein späterer Titel - Marquis de Pombal - wohl auch nicht allzu viel. Wahrscheinlich habt Ihr, liebe deutsche Leser, auch noch nie ein Bild von ihm gesehen, denn auf dem bekanntesten, einem Werk von Joaquim Carneiro da Silva, das im Lissaboner Nationalmuseum für alte Kunst hängt, trägt er um den Hals einen Gegenstand, der bei ungenauem Hinsehen mit einem Hakenkreuz verwechselt werden könnte. Tatsächlich handelt es um den Ordem de Cristo - das war und ist bis heute der höchste Orden Portugals, der sowohl den Sturz der Monarchie 1910 (der von ausgemachten Atheïsten getragen wurde) als auch die kommunistische "Nelken"-Revolution von 1974 überlebte. In seiner auf vier gleich lange Seiten verkürzten Form zierte er noch bis Ende des 19. Jahrhunderts die portugiesischen Münzen, in Verbindung mit dem lateinischen Spruch "in hoc signo vinces [in diesem Zeichen siegst du]".

Nun ist aber auch und gerade diese verkürzte Form verwechslungsfähig, nämlich mit dem "Kruckenkreuz"; und in diesem Zeichen regierte doch der böse austro-fascistische Diktator Dollfuß - ein Landsmann (und Todfeind :-) des noch böseren national-sozialistischen Diktators Hitler.

[Dollfuß unter dem Kruckenkreuz]

Also handelt es sich beim Christus-Orden um ein verwerfliches Symbol, das als solches nicht mehr dargestellt werden darf. Denn wie schrieb mal ein deutscher Historiker - der das Kaiserreich, die Weimarer Republik, das Dritte Reich und die Bundesrepublik miterlebt hatte -, als er alt und weise geworden war: "Die Menschen sind schwach, dem Nachdenken abhold und daher äußerst anfällig für Symbole. Wenn heute die Tyrannei wiederhergestellt würde, so würde die Menge es kaum bemerken, aber ein Symbol, ein Abzeichen, eine Fahne, selbst ein Lied können großen Schaden anrichten..." Ihr glaubt das nicht, liebe Leser? Dann seid Ihr der beste Beweis für die Richtigkeit dieser Aussage, denn dann habt Ihr auch nicht bemerkt, daß die Tyrannei der heutigen Mehrparteien-Demokratie - schon infolge des technischen "Fortschritts" - um ein vielfaches totalitärer ist, als es die der Einparteien-Diktatur im Dritten Reich je sein konnte. Und das ist beileibe nicht die einzige Parallele zur jüngsten deutschen Geschichte. Pombal war einer der genialsten und radikalsten Revolutionäre und Diktatoren der portugiesischen, ja der europäischen Geschichte. Er war im 18. Jahrhundert das, was im 17. Cromwell, im 19. Napoleon und im 20. Jahrhundert Hitler war: Nicht gerade aus der Gosse, aber doch aus relativ "kleinen" Verhältnissen stammend, gelangten sie formal legal zunächst an die Regierung ihres Landes und schließlich durch mehr oder weniger offene Usurpation an die Spitze des Staates. Ihre Taten waren ungeheuer und ungeheuerlich; und Pombals Zeitgenossen im In- und Ausland sahen in ihm durchaus nicht nur den "Wohltäter", der Lissabon wieder aufbaute. (Er nahm das Programm zwar gleich 1755, als er an die Regierung kam, in Angriff; es hatte jedoch keine Priorität, 20 Jahre sollten bis zu seinem Abschluß vergehen.) Pombal entmachtete die Krone und den Adel - dessen Widerstand er mit offener Gewalt brach (ganz ähnlich wie das gut 100 Jahre zuvor Kardinal Mazzarin in Frankreich getan hatte - Voltaire enthält sich indes jeglicher Anspielung oder Parallele, ja er erwähnt den Marquis Pombal überhaupt nicht); er errichtete einen Handelsrat und subventionierte zahlreiche Manufakturen, mit denen er Portugal wirtschaftlich autark machen wollte - vor allem unabhängig von den Briten, die versuchten, den Welthandel zu monopolisieren; er sorgte im Inneren für Ruhe und Ordnung, indem er eine Geheime Staatspolizei einrichtete; er schuf eine neue Wehrmacht; er wies die Jesuïten aus; er förderte die Erschließung der Kolonie Brasilien durch Gründung der "Pernambuco-Gesellschaft" (wobei er freilich auch verhängnisvolle Fehler beging, nicht minder als die vorgenannten Diktatoren, aber das ist eine andere Geschichte); er richtete eine Reform-Kommission ein, um den Wissenschaftsbetrieb an der Universität Coimbra (der einzigen des Landes), der sich bis dahin auf theologisch-filosofisches Geschwafel beschränkt hatte, auf eine rationale Basis zu stellen; er schuf eine Art Propaganda-Ministerium, das die Presse zensierte und wahrscheinlich der Urheber der genialen Zeitungs-Ente vom ach-so-katastrofalen Lissaboner Erdbeben war. Nachdem Pombal 20 Jahre lang regiert hatte - zwei Jahrzehnte, in denen Portugal fast wieder den Anschluß an die europäischen Großmächte geschafft hatte -, starb sein Marionetten-König Joseph I. Der Marquis de Pombal wurde gestürzt und starb bald darauf; die Erinnerung an ihn wurde systematisch ausgelöscht (sogar sein Name von den Denkmälern in Lissabon entfernt), und Portugal verfiel wieder in seinen alten Dornröschenschlaf. Pombals letzter Biograf, Kenneth Maxwell, seines Zeichens Professor für Geschichte in Cambridge, sollte ihn 1995 ein "Paradox" nennen. Exkurs Ende.

[Pombal mit Christusorden] [Der Marquis de Pombal vor der Kulisse Lissabons, Gemälde von van Loo]

Zurück zu "Candide". Im Original folgen nun einige Kapitel, die in der Ausgabe ad usum Delphini fehlen. Warum? Nun, liebe deutsche Leser, die Ihr vielleicht glaubt, so etwas sei nur in Deutschland möglich, seid beruhigt: Auch in Frankreich ist es nicht opportun, Texte abzudrucken, in denen ein Jude den Bösewicht darstellt (und sei es nur einen Bösewicht unter vielen). Lieber läßt man solche Passagen ganz weg und wundert sich dann, daß zum einen die Juden selber glauben, sie könnten sich ungestraft alles erlauben (Pinkel "Pinkas" Friedman - jenes Musterbeispiel deutsch-französisch-jüdischer Völkerfreundschaft - läßt grüßen), und daß zum anderen auch die Nicht-Juden glauben, die Juden könnten sich ungestraft alles erlauben. Die Zensoren sehen nicht, daß sie so nicht etwa dem Anti-Semitismus vorbeugen, sondern ihn im Gegenteil erst schaffen! Dabei ist es wirklich nichts Weltbewegendes, was wir in jenen Kapiteln zu lesen bekommen: Candide wird von einer alten Frau vor dem Autodafé gerettet, die sich als Dienerin der schönen Kunigunde entpuppt, die gar nicht getötet wurde, wie Pangloss meinte, sondern nur vergewaltigt und verschleppt - natürlich von bulgarischen Soldaten. Ein bulgarischer Hauptmann verkaufte sie, als er ihrer überdrüssig (und außerdem pleite) war, an einen reichen jüdischen Kaufmann namens Issaschar, "den zorneswütigsten Hebräer, den es in ganz Israël seit der Babylonischen Gefangenschaft je gegeben hat." Worin dessen Zorneswütigkeit bestanden haben soll, verrät uns Voltaire freilich nicht, denn er tut Kunigunde eigentlich nichts, als daß er ihr einen Hausstand in Lissabon einrichtet, wo auch der christliche Großinquisitor ein Auge auf sie geworfen hat. Candide verliert seine Unschuld, indem er beide mit dem Degen ersticht - den Juden in Notwehr, den Großinquisitor aus Rache für die Prügel, die er beim Autodafé bekommen hat. Anschließend macht er sich mit Kunigunde und der alten Dienerin auf und davon. Unterwegs lassen sie sich von einem Franziskanerpater die Klunker stehlen, mit denen sie ihre Weiterreise finanzieren wollten, und so bleibt Candide denn nichts anderes übrig, als sich wieder beim Militär zu verdingen (diesmal freilich gleich als Hauptmann) und sich in Cádiz nach Spanisch-Amerika einzuschiffen, in der Überzeugung, jenseits des Atlantiks endlich die "beste aller Welten" zu finden, die er in Europa bislang vergeblich gesucht hat.

Unterwegs erzählt die alte Dienerin ihr Leben: Auch sie war einst ein Edelfräulein, uneheliche Tochter eines Papstes und einer italienischen Fürstin. Kurz bevor sie mit einem Fürsten verehelicht werden sollte, fiel sie marokkanichen Seeräubern in die Hände, wurde von einem abscheulichen Mohren ihrer Jungfräulichkeit beraubt, weiter nach Algier verkauft, wo sie die Pest erlebte - gegen die das Erdbeben von Lissabon ein Kinderspiel war -, von dort nach Tunis, nach Tripolis, nach Alexandria, nach Smyrna, nach Konstantinopel und schließlich ins belagerte Asow. (Hier befinden wir uns wieder auf dem Boden gesicherter historischer Daten: Im Juni 1736 belagerten die Don-Kosaken Asow, das sie schließlich den Türken entrissen.) Da das Essen bei den belagerten Janitscharen knapp wird, verspeisen sie erst ihre Eunuchen und berauben dann ihre weiblichen Gefangenen jeweils eines Hinterschinkens - wobei die noch von Glück sagen können, daß sie nicht gleich ganz verspeist werden. (Was, Ihr findet das unappetitlich, liebe Leser? Dabei fressen die meisten von Euch - so sie nicht gerade Vegetarier oder Muslime sind - doch wahrscheinlich regelmäßig von den Arschbacken toter Schweine. Glaubt Ihr im Ernst, daß das besser oder gesünder wäre?)

Weiter geht die Reise, erst als Gefangene nach Moskau, dann auf der Flucht nach Riga, Rostock, Wismar, Leipzig, Kassel, Utrecht, Leiden, Den Haag und Rotterdam, wo sie schließlich alt und verbraucht als Bedienstete im Haushalt des "zorneswütigen" Juden Issaschar landet. Auch diese Kapitel fehlen noch in der Ausgabe ad usum Delphini - warum? Schwer zu sagen. Wegen der Grausamkeiten? Wohl kaum, sonst dürfte man den "Candide" ja überhaupt nicht mehr auflegen. Dikigoros ist sich nicht ganz sicher; deshalb will er Euch hier drei Punkte zur Auswahl anbieten: Da ist zunächst einmal die Passage, als die Papsttochter berichtet, wie die Piraten sie nach ihrer Gefangennahme behandelten, denen sie "allen den Finger in einen gewissen Ort bohrten, wo wir Weiber uns sonst nur Kanülen hinein stecken lassen." Aber dann habe sie erfahren, daß das seit unvordenklichen Zeiten bei allen zivilisierten Völkern üblich sei; das sei gewissermaßen ein "völkerrechtliches Gesetz", von dem sie nie um ein Jota abgegangen seien. Das scheint Euch, liebe Kinder des 20. Jahrhunderts, ein merkwürdiges Verständnis vom "Völkerrecht" unter "zivilisierten" Nationen zu sein? Dann lest mal bei Gelegenheit, wie die Alliierten 1945 die Mitglieder der deutschen Reichsregierung bei ihrer Gefangennahme behandelt haben, und Ihr werdet Voltaire in diesem Punkt voll und ganz bestätigt finden. Dann war da der Italiener, der sie auch gerne vergewaltigt hätte, das aber nicht tun kann, da er ein Kastrat ist. Wie schrecklich, findet die Papsttochter zunächst; aber auch da muß sie erfahren, daß das alles ganz normal und auch unter "zivilisierten" Völkern durchaus üblich ist: Allein in Neapel kastriere man alljährlich zwei- bis dreitausend Knaben, die dann später als Sänger in Fürstenkapellen oder gar als Politiker (Voltaire schreibt "Staatsmänner") Verwendung finden. Ihr glaubt das nicht, liebe Leser? Aber das war tatsächlich üblich, nicht nur in Neapel (woher Carlo Broschi alias "Farinelli" stammte, den reißerische Filmemacher Ende des 20. Jahrhunderts zum "Popstar des Barock" hoch jubeln sollten) oder sonst in Italien, sondern ebenso in Mitteleuropa. Auch Mozart sollte kastriert werden, um seine schöne Sopran-Stimme zu erhalten; er entging diesem Schicksal nur knapp. (Es war damals noch nicht üblich, daß auch Mädchen in Chören mitsangen, die öffentliche Auftritte - und sei es nur in der Kirche - hatten, das wäre "unanständig" gewesen.) Und was die Politiker anging: Ihr glaubt, das sei nur im Orient vorgekommen, bei den Türken und Chinesen? Weit gefehlt; auch die allerkatholischten Könige von Spanien hatten ihre Hofeunuchen! Und dafür gab es einen guten Grund: Früher hatten die Herrscher sich ihre Kanzler und Minister aus dem Stand der Geistlichen gewählt, weil die dem Zölibat unterlagen, also nicht in Versuchung geraten konnten, ihre Könige oder Fürsten zu stürzen und an deren Stelle eine eigene Dynastie zu setzen, denn sie hatten ja keine Nachkommen. Doch seitdem selbst die Päpste der katholischen Kirche ganz offiziell Kinder in die Welt setzten (was ja keine Erfindung Voltaires ist) und die Protestanten das Zölibat ganz abgeschafft hatten, gab es nur noch eine Gruppe, bei denen man vor solchen Gelüsten sicher sein konnte: eben die Kastraten. Heute kastriert man nicht mehr; aber es gibt eine Analogie: Die politischen Parteien bringen verstärkt Homosexuelle in leitende Positionen, die ebenfalls keine "Familien-Dynastien" gründen können. Das wäre wiederum zu Voltaires Zeiten undenkbar gewesen: Besser ein Kastrat als ein Schwuler - letztere wurden denn auch, wenn sie erwischt wurden, kastriert. Und dann war da noch die Frage, warum... oder genauer gesagt die Feststellung, daß selbst die Menschen, die ihr Unglück beklagten und ihr Schicksal verfluchten, nur äußerst selten Selbstmord begehen. Voltaire läßt die Papsttochter die wenigen Fälle aufzählen, von denen sie gehört hat: drei Neger, vier Engländer, vier Genfer und ein deutscher Professor (der einzige, den sie beim Namen nennt: Robeck, den Verfasser einer Anleitung zum Selbstmord, bevor er sich 1735 in der Weser ertränkte :-). Merkwürdige Zusammenstellung, nicht wahr? Heute wären das keine Abgrenzungskriterien mehr, da könnten elf Neger mit britischem Paß in Genf leben, und jeder von ihnen könnte in Deutschland Professor werden, auch wenn er kaum lesen und schreiben könnte, geschweige denn ein Buch über den Selbstmord. (Aber in der Weser ertränken könnte er sich allemal :-)

Nachdem unsere Helden also hinreichend Gelegenheit hatten, über die Schlechtigkeit der Welt in beiderlei Hinsicht (le mal physique et le mal moral) zu klagen, kommen sie endlich in "Buénos Ayres" an (das die Franzosen "büenosääär" aussprechen, worüber sich echte Argentinier gar nicht genug moquieren können :-). Der arrogante Gouverneur von und zu und sonstwas (bei dem Voltaire angeblich Richelieu jun. als Vorbild gedient haben soll, der Gouverneur des - von Frankreich nach wie vor als Kolonie behandelten - Languedoc) wirft sogleich ein Auge auf Kunigunde; da trifft es sich gut, daß die Spanier ihnen ein Schiff nachgesandt haben, das Candide als Mörder des Herrn Großinquisitor verhaften soll. Der flieht also mitsamt seinem Diener Cacambo - den er irgendwo in Spanien aufgelesen hat - nach Paraguay, wo die Jesuiten herrschen. Wer beschreibt sein Erstaunen, als er in dem Obristen der dortigen Garnison keinen anderen wieder erkennt als den tot geglaubten Bruder seiner geliebten Kunigunde! Auch der ist ganz gerührt - bis ihm Candide erzählt, daß er seine Schwester zu ehelichen gedenke. Er, der keine 72 Ahnen aufzuweisen hat, also nicht ebenbürtig ist! Es kommt, wie es kommen muß: Candide ersticht auch seinen Schwager in spe - diesmal wieder in Notwehr - und flieht erneut, wobei er mitten in den Urwald gerät. Als er sich gerade mit Cacambo zum Abendessen nieder gelassen hat, kommen zwei nackte Mädchen angelaufen, die von zwei Affen verfolgt und in den Hintern gebissen werden. Hilfsbereit, wie Candide nun mal ist (und überdies geübt im Schießen) knallt er die beiden Affen ab, nur um zu erfahren, daß er die Liebhaber der beiden Mädchen getötet hat, mit denen sie gerade im stürmischen Liebenspiel befindlich waren. "Woher sollte ich das denn wissen?" fragt Candide. "Ja, wieso denn nicht?" fragt Cacambo zurück, "Affen sind doch auch zu einem Viertel Menschen, so wie ich zu einem Viertel Spanier bin." Zu einem Viertel? Da war Voltaire wohl noch nicht ganz auf der Höhe der heutigen wissenschaftlichen Erkenntnisse: Die Gene der Menschenaffen entsprechen im Durchschnitt zu 98% (Schimpansen und Bonobonos: 98,4%, Gorillas: 97,7%) denen der Menschen; und die genetischen Unterschiede zwischen den Menschenrassen (Cacambo ist Halb-Mestize) bewegen sich im Promille-Bereich. (Mit Ausnahme des Unterschiedes zwischen Negriden und Nicht-Negriden, der in Wahrheit kein Rassen-, sondern ein Arten-Unterschied ist, wie wir heute wissen - diese Erkenntnis ist freilich aus politischen Gründen für die breite Öffentlichkeit tabu; die Wissenschaft ist schließlich nicht dazu da, bei den Untertanen Wissen zu schaffen, sondern vielmehr so genanntes "Herrschafts-Wissen" bei den Regierenden, d.h. Wissen, wie sie ihre Untertanen am besten verblöden und dumm halten können.) Dann geraten sie in Gefangenschaft bei den Oreillonen (so heißt das Völkchen, dessen Frauen es mit Affen treiben), die sich als Kannibalen entpuppen. Der Suppenkessel steht schon auf dem Feuer, da gelingt es Cacambo, die Oreillonen mit dem Hinweis umzustimmen, daß Candide kürzlich ihren Feind, den Jesuiten-Oberst, umgebracht habe, weshalb sie doch gut Freund mit ihm sein müßten. Das rettet sie tatsächlich, und nun sieht selbst Candide, der gerade noch Gewissensbisse hatte, den Bruder seiner geliebten Kunigunde getötet zu haben, etwas Positives in dem Ganzen: "So haben sie, statt mich aufzufressen, mir tausend Artigkeiten erwiesen."


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