TRIUMFALE REISE IN DIE PROVINZ
JULES ROMAINS
(LOUIS FARIGOULE)
(1885 - 1972)
"Les gens bien portants sont
des malades qui s'ignorent."*
*Gesunde Leute sind Kranke,
die es noch nicht wissen.

[Jules Romains]

Ein Kapitel aus Dikigoros' Webseite
LÄSTERMAUL  AUF  REISEN
Große Satiren der Weltliteratur

Als Dikigoros 30 Jahre alt war, verließ er seine Heimat und den See seiner Heimat und ging in das Gebirge. Hier... Halt - alles zurück, da sind ihm doch die Anfangszeilen eines anderen Textes in die Tastatur gerutscht. Also nochmal von vorne: Als Dikigoros 30 Jahre alt war, kehrte er in seine Heimat zurück, wo es keinen See gab und kein Gebirge, das diesen Namen verdiente, und ging... zum Arzt, denn er fühlte sich krank und schlapp. Doktor K., ein unerfahrener junger Mann - nicht viel älter als Dikigoros selber -, der gerade erst die Praxis vom langjährigen Hausarzt der Familie übernommen hatte, meinte nach gründlicher Untersuchung nur: "Eine richtige Krankheit im medizinischen Sinne haben Sie nicht; aber... rauchen Sie nicht, trinken Sie nicht, essen Sie nicht so viel und treiben Sie mehr Sport." Das war, jedenfalls aus ärztlicher Sicht, ein schlechter Ratschlag; denn Dikigoros nahm ihn ernst; und der gute Doktor hat bis heute keinen Pfennig mehr an ihm verdient - was nun nicht heißen soll, daß er verhungert wäre, denn andere Familienangehörige nahmen seinen Rat weniger Ernst. Dikigoros' Vater zum Beispiel aß und trank gerne gut, denn Dikigoros' Mutter war eine gute Köchin, die zu einer Zeit aufgewachsen war, als in Mitteleuropa noch Menschen an Hunger starben, und als "gut essen" gleich bedeutend war mit "fett und süß und möglichst viel essen". Wie war das: "Essen und trinken hält Leib und Seele zusammen!" Und sie gönnte es ihm von Herzen: Warum sollte ein stattlicher Mann von fast zwei Meter nicht zwei Zentner wiegen? Das war Normalgewicht! Nach der Pensionierung ging Urs nicht mehr jeden Tag eine Stunde zu Fuß ins Büro (als Schwerkriegsversehrter mit einem kaputten Knie konnte er nur noch langsam gehen, aber er verzichtete eisern darauf, das Auto oder die Straßenbahn zu nehmen), sondern nur noch zweimal pro Woche um die Ecke in den Supermarkt einkaufen. Bald bald paßte ihm keiner seiner schönen Maßanzüge (der einzige kostspielige Spleen, den er im Leben hatte) mehr, und er wog zweieinhalb Zentner - na und? Das war Wohlfühlgewicht, und wozu sich noch in enge Anzüge zwängen, wenn er nicht mehr ins Büro mußte! Noch ein paar Jahre später wog er drei Zentner; dann kam der erste Schlaganfall, und Doktor K. (nein, nicht Knock, nur die ersten drei Buchstaben stimmen überein, die letzten beiden sind anders :-) verbot ihm kategorisch "all die guten Sachen, die ich so gerne esse", wie er seinem Sohn klagte - und er aß und trank munter weiter. Reha-Klinik? Schlankheitskur? So ein Blödsinn, da konnte er ja nur lachen! Nach dem zweiten Schlaganfall war Schluß mit lustig; aber nun konnte Urs gar nicht mehr aus dem Haus gehen, sondern sich nur noch vom Sessel zum Fernseher schleppen und zurück - aber inzwischen gab es ja Fernbedienungen, da erübrigte sich selbst das -, und er kam nicht mehr von seinem Gewicht 'runter. Dann kam der dritte Schlaganfall.

Nach einem Vierteljahrhundert stehen sich Dr. K. und Dikigoros wieder gegenüber, am Krankenbett seines Vaters. Beide sind sie alt und graubärtig geworden, aber noch gut in Schuß - Dikigoros trainiert gerade wieder auf eine Seniorenmeisterschaft (um Rückfragen vorzubeugen: Ja, er hat sie gewonnen, obwohl ihm ganz andere Dinge im Kopf herum gingen), und auch der Doktor war bis vor ein paar Jahren, als er sich bei einem schweren Sturz vom Pferd das Becken brach, noch aktiver Leistungssportler; jetzt entwickelt er langsam selber ein kleines Bäuchlein. Aber Urs ist nun völlig abgemagert, weil er nicht mehr richtig essen und trinken kann, und deshalb will er auch nicht mehr weiter leben. Als versierter Anwalt hat Dikigoros seinen Vater zwar rechtzeitig eine Patientenverfügung unterschreiben lassen comme il faut - aber wer garantiert ihm, daß die auch respektiert wird? Als Urs zuletzt in der Klinik war, hatte er bereits eine Auseinandersetzung mit dem Chefarzt, der ihm klipp und klar ins Gesicht sagte: "An sowas halte ich mich nicht, das kann ich nicht mit meinem ärztlichen Gewissen und meinem hypokratischen Eid vereinbaren." Natürlich war Dikigoros klar, daß diese Einstellung weniger hypokratisch als hypokrit war und daß den guten Doktor weniger sein ärztliches Gewissen als vielmehr sein Geldbeutel zwickte; denn so ein gut zahlender Privatpatient macht schon was her, wenn man ihn noch ein paar Jahre künstlich am Leben hält und nur langsam zu Tode quält... Aber Dikigoros - und vor allem Urs - hat Glück: Dr. K. ist immer noch kein Knock, zumal gerade ein Jahr zuvor sein eigener Vater nach traurigem Aufenthalt im Pflegeheim jämmerlich verreckt ist und er weiß, daß davon niemand etwas hätte (außer dem Krankenhausträger und den behandelnden Ärzten, versteht sich - aber so weit geht die Kollegialität doch nicht bei allen). Er verzichtet also auf eine Einweisung in die Notklinik zwecks künstlicher Ernährung und unterzeichnet ein paar Tage später anstandslos den Totenschein.

* * * * *

Als Louis Farigoule - wie Jules Romains damals noch genannt wurde - 30 Jahre alt war, war Krieg, und da auch er nicht gerade vor Gesundheit strotzte, saß er als Zivildienstleistender in Paris, wo es auch weder Seen noch Gebirge gab, nur Berge von Papierkram auf seinem Schreibtisch. Da las er zum Beispiel, daß Kaiser Wilhelm, der böse Hunne, ziemlich krank war - oder sich das zumindest einbildete -, ebenso General Pétain, der Held von Verdun, und so reifte in Louis - der sich bald "Jules Romains" nennen sollte, der Plan, ein Theaterstück zu schreiben, der sich in guter alter Molière-Tradition dieses Sujets annahm.

Als Knock (seinen Vornamen erfahren wir nicht) 30 Jahre alt war, verließ er seine Heimat - wir wissen nicht, ob es dort auch einen See gab - und ging nicht ins Gebirge, sondern... fuhr zur See, als Schiffsarzt, obwohl er keinerlei medizinische Vorbildung hatte. Dabei lernte er so viel über Menschen und ihre Krankheiten, daß er beschloß, Arzt zu werden. Er schmierte eine 32 Seiten kurze Dissertation zusammen (deren Titel Dikigoros Euch als Eingangszitat ausgesucht hat), wurde promoviert und ging in das Gebirge, genauer gesagt in ein abgelegenes Gebirgskaff namens Saint-Maurice (in dem man unschwer Romains eigenen Geburtsort Saint-Julien-Chapteuil wieder erkennt). Hier übernahm er die Praxis von Dr. Parpalaid und machte binnen kürzester Zeit aus einer notleidenden Klitsche eine Goldgrube. Wie das?

* * * * *

Dikigoros hat lange geschwankt, wo er Jules Romains einordnen sollte: Gewiß war er ein großer Dramatiker - aber seine Theaterstücke behandelten keine historischen Stoffe, haben also auf seiner Seite über die Bretter, die die Welt [be]deuten, nichts verloren. Gewiß war er auch ein großer Romancier; und eigentlich hätte er in das Kapitel über die großen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts gehört; aber zum einen gibt es dort schon genügend andere Franzosen - Dikigoros will sich doch keine Einseitigkeit nachsagen lassen -, und zum anderen ist er schlicht und ergreifend ein Opfer von Dikigoros' mangelhafter Schulbildung, die dazu geführt hat, daß er einige interessante französische Schriftsteller lange Zeit nur sehr eingeschränkt gekannt hat, z.B. Voltaire nur als den Verfasser des Candide, Giraudoux nur als Verfasser von Der Troianische Krieg wird nicht statt finden und Romains halt nur als Verfasser von Knox oder der Triumf der Medizin. Und während er etwa Honoré de Balzac, den großen Chronisten des 19. Jahrhunderts, schon in jungen Jahren fast komplett gelesen hatte (allerdings nur in deutscher Übersetzung - der Goldmann-Taschenbuch-Verlag verramschte Die menschliche Komödie damals als "Remittenden" um 1.- DM pro Band), hat er Jules Romains große Chronik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Die Menschen guten Willens, bis heute nicht ganz gelesen. Zum anderen gibt es keinen anderen großen Satiriker, der das Themas des Knock derart prägnant behandelt hat, und dieses Thema ist heute noch zehnmal aktueller als zum Zeitpunkt seiner Entstehung oder als zu dem Zeitpunkt, als Tarzan - wie Dikigoros damals noch genannt wurde - ihn zum ersten Mal lesen mußte.

Ein greuliches Schuljahr lag hinter den Oberprimanern des altehrwürdigen Gymnasiums, das Tarzan damals besuchte. Das galt besonders für den Französisch-Unterricht - wie Dikigoros' treue Leser bereits aus einem anderen Kapitel dieser "Reise durch die Vergangenheit" wissen -, der nicht dazu angetan war, die Begeisterung für französische Satiren zu wecken. Und nun stand schon wieder eine auf dem Stundenplan: "Knock ou le triomphe de la médecine". Abgesehen davon, daß einige noch immer nicht wußten, wie und wo man beim letzten Wort den Akzent richtig setzte, drohte vielen beim Abitur der Knock-out, denn Herr J. war der einzige Lehrer, der gnadenlos nicht nur reihenweise "mangelhaft", sondern im Bedarfsfall auch "ungenügend" aufs Zeugnis schrieb, und das bedeutete damals, daß man allein deshalb durchs Abitur fallen konnte, egal wie gut alle anderen Noten war. (Dikigoros' Mitschüler und späterer Reisefreund Melone schaffte es erst in der Nachprüfung, sich von "ungenügend" auf "mangelhaft" hoch zu arbeiten; er stand mit dem Französischen zeitlebens auf Kriegsfuß.) Da war es mühsam genug, sich durch Vokabeln und Grammatik zu quälen - auf den Inhalt achtete kaum noch jemand, und das war jammerschade.

Zurück zum Inhalt und zu der Frage, wie der gute Dr. Knock es fertig bringt, seine Praxis auf die Beine zu bringen, in einem Dorf, wo die meisten Leute gesund sind, und wenn nicht, dann doch nicht zum Arzt gehen, denn wenn sie nicht arm sind, dann sind sie geizig, denn es gibt noch keine Zwangsversicherung in Allgemeinen Ortskrankenkassen, die auch Gesunde dazu animieren, ab und zu mal zum Arzt zu gehen, weil man erstens etwas haben will für die Beiträge, die man unfreiwillig zahlt, und weil man zweitens vom Arbeitgeber Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erhält - bei Landwirten mit eigenem Bauernhof bleibt ja die eigene Arbeit liegen, und den Verlust hat man selber... Aber Knock bietet erstmal kostenlose Konsultationen an, und da riskiert denn doch schon mal der eine oder andere einen Arztbesuch. Knock nimmt die Patienten und ihre Wehwehchen ernst - das ist denen viel wichtiger als der 08/15-Arzt für gemeinhin glaubt! - und redet ihnen nach und nach ein, daß sie allesamt krank seien. Auf diese Weise - und mit Hilfe des Dorfschullehrers, der die Leute ebenfalls über Krankheiten "aufklärt", und des Apothekers - gewinnt er eine immer größere Klientele; und als sein Vorgänger Parpalaid nach einiger Zeit auftaucht, um die letzte Rate des - bescheidenen - Kaufpreises für die Praxis einzustreichen, fällt der aus allen Wolken. Und die Moral von der Geschicht'? Die steht doch schon in der Überschrift.

* * * * *

Was sagt uns diese alte Satire denn heute noch? Hat sie überhaupt noch eine Grundlage? Haben wir nicht in Mitteleuropa das weltweit beste - oder jedenfalls teuerste - Gesundheits-System aller Zeiten? Und die höchste Lebenserwartung aller Zeiten? Und vollbringen nicht unsere Spitzensportler die höchsten Leistungen aller Zeiten? Wohl wahr, liebe Leser, wohl wahr; aber leider ist es ebenso wahr, daß es um unsere Volksgesundheit noch nie so schlecht stand wie heute und daß wir unser Leben nicht um gesunde Jahre verlängert haben, sondern um Jahre des Leidens und der Krankheit. Und unsere "Spitzensportler" haben ihre "Spitzenleistungen" einzig und allein einer ungesunden Lebensweise, einschließlich Dopings zu verdanken; was sie tun ist kein Ausdruck von Gesundheit, sondern sie sind meist schwer krank und zu einem frühen, qualvollen Tod verurteilt. Wer ist schuld? Vielleicht Die geistigen Enkel von Dr. Knock?

Nun, liebe Leser, auch Dikigoros ist kein Freund der Ärzte; aber daß die nun allen Gesunden einredeten, sie seien krank und bedürften dringend ihrer Hilfe, davon kann wohl kaum die Rede sein; vielmehr sind die Leute heute wirklich krank und bekommen von ihren Ärzten eben nicht die Hilfe, die sie eigentlich benötigten, nämlich den simplen Rat, den Dikigoros vor vielen vielen Jahren von seinem Hausarzt bekam: "Leben Sie gesund, dann haben Sie auch keine Probleme." Daß es um die Volksgesundheit - nicht nur in Frankreich in Deutschland - heute wesentlich schlechter bestellt ist als im Jahre 1923, als Jules Romains seine Satire schrieb, liegt eben nicht an mangelhafter ärztlicher Behandlung ihrer Krankheiten, sondern daran, daß die Leute nicht rechtzeitig dazu angehalten werden, solche Krankheiten zu vermeiden, indem sie schon auf die ersten Symptome achten. Im Grunde genommen tut Dr. Knock nämlich nichts anderes, und das ist - wenn man von kleineren Übertreibungen mal absieht - keine Geldschneiderei, sondern vielmehr die sparsamste Methode, die Gesundheit zu erhalten. Deshalb ist Romains Motto eigentlich gar keine Satire, sondern bittere Wahrheit: Die so genannten Gesunden wissen meist gar nicht, daß sie die Wurzeln aller möglichen Krankheiten schon in sich tragen, und daß diese ausbrechen werden wenn sie nichts dagegen tun. Allerdings konnte Romains damals wohl noch nicht ahnen, daß die Menschen einmal nicht so sehr an Unterernährung und dadurch hervor gerufene Mangelkrankheiten leiden sollten, sondern vielmehr am Gegenteil an Überernährung, Übergewicht und dadurch hervorgerufene Krankheiten der inneren Organe, ganz zu schweigen von Raucherlungen und -beinen und Säuferlebern als Volkskrankheit. Für ihn war ein Arzt noch jemand, der nur bereits ausgebrochene Krankheiten heilen durfte; alles andere war unseriös. Vorbeuten statt heilen? Ja, aber das ging doch die Ärzte nichts an! Das meinen auch heute noch viele - sowohl die Vertreiber von allerlei Mittelchen, die angeblich die Gesundheit erhalten und fördern sollen bis zu den Ärzten selber, die an der Behandlung eines bereits Erkrankten viel mehr verdienen können als an der Erhaltung der Gesundheit durch gute Ratschläge (denen dann ja eh kaum jemand folgt :-).

Die Zeiten haben sich also geändert; aber was Jules Romains damals beschrieb - ein Thema, das man einst nur in Form eines satirischen Theaterstücks an die Öffentlichkeit bringen konnte, das heute aber ganz offen und ernsthaft diskutier wird - ist ja nur eine Seite der Medaille, und eigentlich die viel harmlosere: Es stimmt schon, daß Ärzte an gesunden Patienten nicht viel verdienen können - von ein paar "Vorsorge-Untersuchungen" mal abgesehen; aber an toten Patienten verdienen sie noch viel weniger, also gar nichts. Aus kommerzieller Sicht muß ihr Ziel also ein kranker Mensch sein, der aber nicht so krank sein darf, daß er vorzeitig stirbt. Vorzeitig? Darf er denn überhaupt noch zeitig sterben? Nein, liebe Leser, aus dieser Sicht darf er auch das nicht mehr; denn wenn es noch so früher wäre, daß die Menschen 60-70 Jahre mehr oder weniger gesund leben und dann eines Abends friedlich ins Bett gehen und am nächsten Morgen nicht mehr aufwachen, dann würden viele Krankenhäuser und Arztpraxen schlicht Pleite machen, dazu noch viele Pflegeheime, Apotheken und farmazeutische Betriebe. Denn nicht die "normalen" Erkrankungen im Laufe unseres aktiven Lebens machen ihre Haupt-Einkommensquelle aus, sondern die letzten Jahre und Jahrzehnte, um die unser Leben - das oft nur noch aus Leiden besteht - künstlich und gegen unseren Willen verlängert wird: Ein pflegebedürftiger 100-jähriger kostet im einem Jahr mehr als in den ersten 50 Jahren seines Lebens zusammen. Und die treibende Kraft dahinter sind - die Ärzte. Regt das irgend jemanden auf von all denen, die über die hohen Krankenkassen-Beiträge jammern oder von denen, die dortselbst sitzen und über leere Kassen klagen? Aber nein, ganz im Gegenteil: Da wird allerlei Unsinn instrumentalisiert, z.B. die Angst vor der "Euthanasie" - womit wohlgemerkt nicht ein "schöner Tod" gemeint ist, wie es das griechische Wort eigentlich bedeutet, nämlich der natürliche Tod nach Ablauf eines gesunden Lebens, sondern der Mißbrauch dieser Idee durch die bösen Nazis. [Und fast alle anderen Regierenden in den 1930er und 1940er Jahren, was meist verschwiegen wird. Wie schrieb Romains Landsmann Jean Giraudoux im Jahre 1943? "Wer seinen Körper nicht trainiert, schadet der Gesundheit seines Landes... Bei Racine gibt es keinen Helden, der nicht sportlich wäre... Die Völker mit dem höchsten Anteil von Kunstmagazinen haben auch den höchsten Anteil von Sportlern: Deutschland und Finnland." Das durfte nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr sein; denn alles, was die Nazis gemacht und propagiert hatten, war auf einmal falsch und schlecht, also auch das Ideal eines gesunden, sportlichen Körpers.] Mißbrauch? Nun, man kann in der Tat trefflich streiten, ob es sich lohnt, jemanden, der von Geburt an unheilbar krank ist, zwecks Generierung ärztlichen Einkommens noch ein paar Jahre (oder inzwischen sogar Jahrzehnte) zu quälen und am "Leben" zu halten, während jedes Jahr Millionen gesunder Kinder noch vor ihrer Geburt aus Kostengründen ("wir können uns das Kind nicht leisten") abgetrieben werden - übrigens beides nur in den "zivilisierten" Wohlstands-Staaten verbreitet, deren Erbmasse sich darob mit ebenso rasanter Geschwindigkeit verschlechtert wie ihre Bevölkerungszahl sinkt - wenn man mal von den fremden Zuwanderern aus weniger "zivilisierten" Gegenden der Erde absieht.

Statt dessen regt man sich ein wenig Abzocke auf, die meist darin besteht, eine Dienstleistung zuviel abzurechnen oder etwas billigeres Material aus Rotchina einzusetzen und nach Westtarifen abzurechnen... Das mag auch verwerflich sein, aber macht, gemessen an den zuvor geschilderten Mißständen, nur "Peanuts" aus - sowohl finanziell als auch gesundheitlich. Statt dessen wird auf beinahe satirische Art und Weise an den Problemen vorbei diskutiert. Was las Dikigoros da kürzlich: In unserem kriminellen Gesundheitswesen sei "heilen verboten, töten erlaubt". So ein Unfug! Töten ist ja gerade nicht erlaubt, nicht einmal Töten auf Verlangen, und noch nicht einmal das in-Ruhe-Sterben-Lassen! Wie pervers muß eine Gesellschaft sein, die den Sachverhalt, an dem sie leidet, derart auf den Kopf stellt?! Nun lassen sich freilich nicht alle Menschen derart verdummen; und einige achten hartnäckig - und allem Spott zum Trotz - weiterhin darauf, gesund zu leben. Manche treiben sogar Sport - und das nicht nur passiv vor dem Fernseher, obwohl das längst out ist: Als Dikigoros jung war, durften Kinder noch Sport treiben, und sei es nur Fußballspielen auf der Straße - das ist längst aus Gründen der Straßenverkehrs-Ordnung verboten; und auf Parkwiesen u.a. öffentlichen Grünflächen war es schon damals nicht erlaubt (auch wenn das nicht immer so streng verfolgt wurde :-). Man konnte sogar noch in Flüssen wie dem Rhein schwimmen (noch in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts!), weil sie noch nicht ganz so verseucht waren wie heute; und es gab in fast jeder Stadt - und in vielen Dörfern - Sportplätze, die der Allgemeinheit zugänglich waren, und nicht nur hoch bezahlten Profis, die aus dem Ausland, vor allem der "Dritten Welt", importiert werden, um doch "Höchstleistungen" zu vollbringen - an denen die Mediziner und Farmazeuten übrigens wieder ganz ausgezeichnet verdienen, denn sie lassen sich ohne "unterstützende Mittel" nicht erzielen. Noch in Dikigoros' Jugendzeit war Leichtathletik die populärste Sportart, schon weil Laufen, Springen und Werfen nichts kostete und man auch nicht erst 22 Leute zusammen suchen mußte, um ein Fußballmatch zu organisieren - aber zur Not ging es ja auch mit ein paar Spielern weniger auf beiden Seiten. Wenn Dikigoros heute auf den Sportplatz geht, sieht er dort - außer ein paar unverbesserlichen Senioren wie ihm selber - nur noch Ausländer. [Und wenn jene Senioren mal ihre eigenen Kinder mitbringen (solange sie noch nicht alt genug sind, um sich dagegen zu wehren), dann können die meist keine 50 m ordentlich laufen, keinen Schlagball geradeaus werfen und keinen Sprung machen, ohne überzutreten.] Nein, es gilt als "unfein", sich auf dem Sportplatz schmutzig zu machen, und sei es nur, weil man von körperlicher Anstrengung schwitzt - dabei wäre das umso wichtiger, als uns die Maschinen körperliche Alltagsarbeit weitgehend abgenommen haben. Als "fein" gelten nur noch Sportarten, bei denen man nicht ins Schwitzen kommt, wie Golf oder "Im-Schwimmbad-am-Rand-Stehen-und-zuschauen-wie-ein-paar-Unverbesserliche-schwimmen".

Aber Dikigoros ist vom Thema abgekommen. Er hätte doch nichts über Romains altes Theaterstück geschrieben, wenn es nicht wieder hoch aktuell geworden wäre. Es gibt nämlich heute Leute, die ganz ernsthaft in Knocks Fußstapfen treten wollen, weil ihnen jeder einzelne der wenigen, die noch auf ihre Gesundheit achten, ein Dorn im Auge (und im Geldbeutel ;-) wäre: Da gibt es z.B. einen gewissen Manfred Lütz, seines Zeichens Krankenhaus-Chefarzt aus Köln, der dafür plädiert, nicht immer so sehr auf die Gesundheit zu achten, sondern dem Prinzip "Lebenslust" zu frönen, also nach Herzenslust zu fressen, zu saufen, zu rauchen und auch sonst alles zu tun, was manche Leute "lustig" zu finden scheinen. Oder ein gewisser Klaus Dörner - Medizinprofessor aus Hamburg - beklagt das "Leiden an der Gesundheit" - was hilft es, objektiv gesund zu sein, wenn man sich subjektiv krank fühlt? Viel weniger leidet man doch, wenn man ungesund ist und es gar nicht bemerkt, weil man eben nicht auf seine Gesundheit achtet! "Vitale Lebensführung" ist etwas Schlechtes - viel besser ist es, passiv vor dem Fernseher zu hocken! Das ist nur scheinbar das Gegenteil dessen, was Romains auf die Schippe nahm; denn im Endeffekt läuft beides darauf hinaus, daß alle Menschen potentielle Patienten sein sollen: Nieder mit dem Gesundheitswahn - wir (d.h. wir Ärzte :-) brauchen mehr Kranke! Ihr glaubt das nicht, liebe Leser, sondern haltet das für einen schlechten Scherz, eine Satire? Dann besorgt Euch mal die Bücher jener Charlatane, oder tut es besser nicht, sonst verdienen die auch noch daran, sondern sucht mal ein bißchen im Internet, dann werdet Ihr jene krausen Theorien noch viel ausführlicher dargestellt bekommen als Dikigoros es hier in Kürze tun will und kann.

Was ist "Lebenslust", was ist "Lebensqualität", liebe Leser? Nun, eigentlich ist es tatsächlich in erster Linie das Gefühl, gesund zu sein, vom "Wohlfühlgewicht", wie Dikigoros' Mutter das nannte, bis zum Lob der Faulheit. Das liegt so in unseren Genen; denn in 99,9% seiner Geschichte hatte der Mensch nur ein Problem, nämlich genügend zu Essen und zu Trinken zu bekommen und nicht zuviele Kalorien durch körperliche Anstrengungen zu verbrauchen. Unser Gefühl sagt uns, daß es schön ist, satt zu sein, womöglich übersatt, auch ein kleines Fettpolster als Reserve anzulegen und faul in der Ecke zu liegen, um es nicht wieder zu verlieren, statt herum zu laufen. Und die meisten Menschen wissen es ja nicht besser, denn sie kennen ja gar nicht das andere - fast ebenso schöne - Gefühl, schlank und fit zu sein; und da man nicht gleich an Herzverfettung, Säuferleber und Lungenkrebs stirbt, geht der Übergang schrittweise vor sich, d.h. man merkt gar nicht, wann das wohlige Gefühl der Sättigung überschlägt in die Atemnot, wenn man kaum noch einen Fuß flott vor den anderen sezten kann. Wozu auch? Zur Lebensqualität zählt es in den Augen der meisten "zivilisierten" Völker doch auch, sich in ein schönes, schnelles Auto setzen zu können, um die 200 m bis zum nächsten Briefkasten zu fahren, oder in ein schönes, schnelles Flugzeug, um an den 200 km entfernten Urlaubsort zu jetten.
(...)

Fortsetzungen folgen

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