VOM GORDISCHEN KNOTEN
BIS ANS ENDE DER WELT?
DIE ALEXANDER-SAGEN

[Alexander vs. Dareios in der Schlacht von Gavgámäla - oder von Issós -, Mosaik von Pompeii, knapp 300 Jahre später]

EIN KAPITEL AUS DIKIGOROS' WEBSEITE
REISEN, DIE GESCHICHTE[N] MACHTEN

von sagenhaften Reisen und märchenhaften Reiseberichten

"Wie kannst du nur die Geschichte Alexanders des Großen als eine Sage abtun?" fragt Frau Dikigoros, die Geschichte studiert hat und Alexander im Examen hatte, bei einem Professor, der sogar ein Buch über den großen Makedonen geschrieben und seinen Studenten beigebracht hat, daß das ein ganz ähnlicher Typ wie Hitler gewesen sein müsse, denn "beide strebten nach der Weltherrschaft". - "So so," meint ihr Mann spöttisch (und fragt sich insgeheim, wie seine Frau ein Einser-Examen in Geschichte machen konnte - na ja, bei solchen Deppen als Professoren... :-) "dann haben die beiden ja schon wieder etwas gemeinsam, denn wie jüngste Umfragen ergeben haben, halten viele junge Briten Hitler für eine Erfindung der britischen Greuel-Propaganda, um die Deutschen schlecht zu machen - ist ja auch kein Wunder, wer soll so etwas für bare Münze nehmen?" - "Was für Greuel-Propaganda soll es denn gegen Alexander den Großen geben?" - "Gar keine," sagt Dikigoros trocken, "wenn ich etwas an der ganzen Geschichte glaube, dann sind es die Greuel, z.B. daß er alle griechischen Kriegsgefangenen, die auf Seiten der Perser gekämpft hatten, ermorden ließ - der hat doch die griechischen Städte in Kleinasien etwa so von der persischen Diktatur 'befreit' wie die Alliierten Deutschland von der national-sozialistischen. Aber der Rest, all die Heldentaten und insbesondere seine Welteroberungspläne halte ich für ebenso erfunden wie bei Hitler. Ich glaube nicht, daß der jemals am Indus war, geschweige denn in Indien." - "Aber die Quellen..." entgegnet Frau Dikigoros (die sie alle mal brav auswendig gelernt hat). "Oh ja," höhnt ihr Mann, "Auguste Lechner zum Beispiel. Und die Sammelbilderalben. So wie Franz Beckenbauer nur Dank der Knorr-Suppen Fußball spielen gelernt hat, so hat Aléxandros von Makedonía nur Dank Liebig's Fleisch-Extract reiten gelernt - und sogar den Boukefálas gezähmt, das ochsenköpfige Einhorn -, und den Gordischen Knoten durchhauen. Und wenn die ihn zeigen, wie er am Indus steht und den Elefantenreitern die Vorzüge von Liebig's Fleisch-Extract anpreist, dann ist das wohl der unwiderlegbare Beweis dafür, daß er wirklich in Indien war."

[Alexander zähmt den Bukefálas] [Alexander durchschlägt den Gordischen Knoten] [Alexander hält den Indern eine Lobrede auf Liebig's Fleisch-Extract]

"Sei nicht albern," sagt Frau Dikigoros, "ich spreche von Plutarch, Arrian, Curtius Rufus, Diodor; und Nearchos soll sogar einen Bericht aus erster Hand über die Rückfahrt vom Indus zum Persischen Golf verfaßt haben." - "Das behauptet Arrian; aber der Bericht ist verschollen. Und die anderen sind um keinen Deut besser als Auguste Lechner und die Werbefritzen von Liebig, im Gegenteil. Lies doch mal, was Plutárchos für einen Schwachsinn verzapft hat: Alexander hat den Hyrkaniern die Ehe beigebracht und den Arachosiern die Landwirtschaft. Er hat den Sogodiern die Euthanasie abgewöhnt, den persischen Männern, ihre Mütter zu heiraten, und den Skythen den Kannibalismus... Und überhaupt: Alexander soll im 4. Jahrhundert v.C. gelebt haben. Plutárchos lebte im 1., Arrian im 2. Jahrhundert n.C., d.h. sie waren 400-500 Jahre auseinander. Das ist, als wollte jemand im 20. Jahrhundert die Lebensgeschichte irgend eines Balkanesen aus dem 15. Jahrhundert aufzeichnen. Fällt dir da überhaupt einer ein? Nein? Aber mir: Dracula. Über den ist ja auch 400-500 Jahre nach seinem Tode jede Menge geschrieben worden; und wie hoch würdest du den historischen Wert jener Schriften veranschlagen?" - "Aber die Münzen mit seinem Portrait..." - "Die gab es schon Jahrhunderte früher, da stellten sie Zevs oder Diónysos dar. Überhaupt besteht die halbe Lebensgeschichte des Aléxandros aus alten Sagen über Diónysos, Heraklés und sonstwen." - "Aber die vielen Städte, die nach ihm benannt wurden." - "Ja ja, eine in Südafrika, eine in Sibirien, in den USA sogar zwei, und die gibt es wirklich. Von den meisten anderen, die er gegründet haben soll, vor allem in Asien, ist dagegen nichts Nachprüfbares auf uns gekommen. Zu glauben, daß Kandāhar, Samarkand und Ķhodshend von einem Makedonenkönig namens Alexander gegründet oder erobert wurden, ist ebenso lächerlich wie zu glauben, daß letzteres von Lenin gegründet oder auch nur einmal besucht wurde, bloß weil es die Kommunisten in 'Leninabad' umbenannt haben; und 'Boukéfala' gilt heute selbst unter so genannten Fach-Historikern als Hirngespinst." - "Heldentaten in der Wiege hin oder her, dir geht es doch um den Feldzug nach Indien, und der ist historisch, dafür gibt es einwandfreie Quellen aus aller Herren Länder." Dikigoros lächelt, greift ins Bücherregal und holt einen Band mit dem Titel Sejarah Melayu heraus. "Ja, diese hier gilt zum Beispiel in Malaysia als durchaus seriöse Chronik. Darf ich dir nur mal den Anfang vorlesen?" - "Bitte." - "Es lebte einst ein König namens Iskandar [Das "Al" wird, da Alexander als Araber gilt, als Artikel bzw. Anrede betrachtet und in der reinen Namensform weg gelassen; das kurze "e" wird im Malaiischen wie "i" gesprochen, Anm. Dikigoros], Sohn des Königs D'Arab, vom Stamme Rom, im Lande Makadunia. [Diese Verballhornung von Makedonien macht im Malaiischen durchaus Sinn, denn sie bedeutet "Verschlingdiewelt", Anm. Dikigoros] Er führte den Beinamen 'Der Gehörnte'. [Das - genauer gesagt "Der Doppelt-Gehörnte (Dhul-karnain)" - war ein Ehrentitel, den auch Diónysos führte, Anm. Dikigoros] Er zog einst aus um den Osten zu sehen und gelangte zu den Strömen Indiens. Dort regierte ein gewaltiger Fürst, der halb Indien beherrschte, mit Namen Raja Kida Hindi (...) Iskandar befahl ihm, den wahren Glauben anzunehmen, und Raja Kida Hindi bekehrte sich zum Islam, zum Glauben des Profeten Ibrahim (...) In sein Reich zurück gekehrt, faßte Raja Kida Hindi den Plan, dem Raja Iskandar seine schöne Tochter als Gemahlin anzutragen. (...) Inzwischen ließ er schon den Namen Raja Iskandars auf seine Münzen prägen und auf seine Fahnen schreiben..."

Exkurs. Dikigoros wird Euch hier nichts von den mutmaßlichen persischen Quellen der Sejarah Melayu erzählen, aus denen die Araber schöpften, die sie nach Südostasien brachten, denn er ist des Mittel-Persischen nicht mächtig und hat sie daher nicht gelesen. Zum Trost: Auch diejenigen, die des Mittel-Persischen mächtig sind - oder vorgeben es zu sein - können uns keinen genauen Aufschluß über die Überlieferungs-Geschichte geben. Es gibt Leute, die meinen, die Geschichte von Alexander gehe schon auf den Qur'an zurück, der sie wiederum aus dem Alten Testament habe; aber diese Auffassung teilt Dikigoros nicht - obwohl sie natürlich sehr schön in seine These passen würde, daß diese Geschichte von anderen Geschichten abgeschrieben wurde, die viel älter sind als der historische Aléxandros III von Makedonien -; aber sowohl die 18. Sure des Qur'an als auch das Buch Daniel geben objektiv einfach zu wenig her, um daran so weit gehende Theorien seriös fest zu machen. Und die moderne Herleitung des neu-testamentarischen Harmagedóon (Luthers "Armageddon") von "Har Maqdôn" [Berg des Makedonen - mit dem Alexander gemeint sein soll] hält er schlicht für das Hirngespinst eines Ignoranten, der noch nie etwas von "Har Megiddô" gehört oder gelesen hat, jenem Berg im Süden des Karmelgebirges, an dessen Fuße die alten Hebräer, als sie ins "Gelobte Land" kamen, ihre Feinde ausrotteten, wie es ihnen Jahwe gebot. Es bleiben das berühmte Shāh-nāme des Firdausī (wonach Alexander der Sohn von Daraios II war, der eigens nach Makedonien reiste, um dessen Mutter zu schwängern :-) - das Dikigoros indes für nicht weiter hält als ein dickes Märchenbuch mit ein paar kleinen historischen Kernen -, das Sharaf-nāme und das Iqbāl-nāme (beide von Nizāmī) sowie das Ķhirad-nāme-Iskandarī von Ģāmī - allesamt in vielen, z.T. stark voneinander abweichenden Manuskripten überliefert. Exkurs Ende.

"So ein Schwachsinn," unterbricht Frau Dikigoros ihren Mann. "Aber nein. Da hast du deine Münzen mit dem Alexander-Kopf, und wenn du weiter liest, wirst du erfahren, daß Iskandar noch viel weiter nach Osten gezogen ist, weil Allah ihm die ganze Welt zugedacht hatte; und da er ein guter Muslim war, hat er gleich ganz Süd- und Südostasien zum Islam bekehrt. Schließlich heißt es in irgend einer deiner 'Quellen', daß er auch am Jakartes eine Stadt gegründet habe. Dann erklär mal einem Malaien, daß damit nicht Jakarta gemeint war, das heute noch steht, sondern irgend ein obskurer Ort am Aral-See, den noch niemand gefunden hat." - "Damit war sicher ein viel späterer Alexander gemeint, der nach Mohammed lebte. Der König, den er am Indus besiegte, hieß doch Poros." - "Nein, die haben die Chronologie ziemlich genau aufgedröselt und kommen irgendwann in der Gegenwart an, nicht sehr glaubhaft, aber immerhin reicht es, um irgendwie bis ins 4. Jahrhundert v.C. zurück zu rechnen. Aber ein indischer König hätte nie so einen komischen Namen getragen, weder damals noch später - póros ist einfach das griechische Wort für Flußübergang -, und welcher spätere König von Makedonien sollte denn gemeint sein?" - "Keine Ahnung. Aber es gibt doch z.B. auch Geschichten, daß Karl der Große auf einem fliegenden Teppich nach Bagdad gereist ist, um Harun Al-Raschid zu treffen. Zweifelt deshalb irgend ein ernst zu nehmender Historiker an seiner Existenz?" - "Illig tut es." - "Heribert Illig ist ein Spinner, das hat Professor R. schon immer gesagt." - "Mag ja sein, daß sich Illig mit dem erfundenen Mittelalter in etwas verrannt hat; aber was Karl den Großen betrifft, wäre ich mir da nicht so sicher. Du hast selber gesagt, daß auch Professor R. nicht unfehlbar ist." - "Was soll's, schieb endlich das Hähnchen in den Ofen, Gutfriß sitzt schon seit einer Stunde in der Küche und schaut erwartungsvoll in die Röhre."

[Alexander, Detail aus dem Pompeii-Mosaik] [Dareios, Detail aus dem Pompeii-Mosaik]

Während das Hähnchen brutzelt, überlegt Dikigoros, wann und wie er selber zum ersten Mal von Alexander "dem Großen" gehört oder gelesen hat. Vielleicht tatsächlich von Auguste Lechner oder einem Liebig-Sammelalbum - oder erst in der Schule? "Dreidreidrei war bei Issos Keilerei" hieß es im Geschichts-Unterricht (wobei Issós natürlich falsch betont wurde, nämlich auf der ersten Silbe), und die Geschichte vom Gordischen Knoten stand vielleicht im Lateinbuch. Aber wie ist dieser Stoff überhaupt zum ersten Mal nach Deutschland gekommen? Nun, vermutlich im griechischen oder lateinischen Original irgendwelcher dubioser "Quellen", aber davon hatten die meisten Leute ja nichts, weil sie nicht nur nicht lesen und schreiben konnten, sondern sich die Texte mangels Fremdsprachen-Kenntnissen auch nicht einfach vorlesen lassen konnten. (Sonst wüßten die Deutschen heute vielleicht, daß sich Alexander richtig auf der zweiten Silbe betont, nicht auf der dritten :-) Irgendwann im 12. Jahrhundert kam ein Mönch namens Lamprecht (oder Lambret oder Lambert) auf die Idee, die Geschichte in deutsche Verse zu übertragen. Er bezeichnete sein opus als 'Lied': "... und saget uns zur Märe, wer Alexander wäre. Alexander war ein listig' Mann, viel mannig' Reiche er gewann. Er zerstörte mannig' Lant, Philippus [richtig 'Filhippos', Pferdefreund, Anm. Dikigoros] ward sein Vater genannt..." Das war nett, denn nun erfuhren endlich auch die Deutschen etwas von jenem großartigen Helden. Und wir erfahren überdies, woher Lamprecht seine Weisheit bezog: von einem gewissen Alberich von Bisenz [Albéric de Besançon], der die welsche (französische) Fassung gedichtet hatte; und dann kreïerte Lamprecht die Urform eines Spruches, den man seit einem denkwürdigen Fehlurteil des Landgerichts Hamburg so ähnlich auf vielen Webseiten lesen kann, wenn es um Links zu fremden Seiten geht: "Niemand beschuldige mich, wie das Buch [Alberichs, Anm. Dikigoros] sagt, so sag auch ich." (In einer anderen Fassung heißt es: "Log er, so lüg auch ich.")

Wollen wir ihm das glauben, liebe Leser? Dikigoros fragt das nicht von ungefähr, sondern durchaus mit Hintergedanken. Es ist doch so, daß es zu fast allen deutschen Sagen des Mittelalters ein französisches Vorbild gibt - selbst zu denen, die historisch wahrscheinlich mehr Glaubwürdigkeit beanspruchen können als diese "Vorbilder", wie die des größten mittelalterlichen Schriftstellers überhaupt, Wolfram von Eschenbach, der ja selber schreibt, daß ihn erst die Lektüre der französischen Kollegen auf die Idee gebracht habe, es besser zu machen. Fast alle - mit einer Ausnahme, und das ist just die Geschichte von Alexander. Von der famosen Vorlage jenes Alberich hat man nämlich so gut wie nichts gefunden (ja ja, ein Fragment, d.h. gerade mal 105 kurze Zeilen); die Franzosen wissen erst von einem "Roman d'Alexandre" vom Ende des 12. Jahrhunderts; und das ist eine Kompilation, deren einziger interessanter Teil, nämlich der dritte (der die angebliche Indienfahrt Alexanders behandelt), einem gewissen Lambert zugeschrieben wird (war das so ein häufiger Name?), der zu allem Überfluß auch noch von seinen Zeitgenossen mit dem Beinamen "Le Tort [der Unrecht hat]" beehrt wurde. Wer da zuerst von wem abgeschrieben hat oder auch nicht, erscheint Dikigoros daher ganz und gar nicht sicher. Aber im Grunde genommen ist das ohnehin müßig, denn wer auch immer von den Franzosen und/oder Deutschen es war, er wird wohl auf ältere Vorbilder zurück gegriffen haben: Vielleicht auf den "Pseudo-Kallisthenes" aus dem 3. Jahrhundert, oder auf die so genannten "Epitome Julii Velrii" aus dem 9. Jahrhundert, oder auf die "Historia de preliis" des Leo von Neapel aus dem 10. Jahrhundert? Nun, das sind alles schöne, klangvolle Titel, mit denen die Literatur-"Wissenschaftler" um sich werfen; aber Tatsache ist, daß keine dieser "seriösen Quellen" eine dauerhafte Tradition begründet hat, die den Stoff bei der breiten Masse - und sei es nur bei der Mehrheit der wenigen literarisch Gebildeten - wirklich populär gemacht hätte.

Exkurs. Die "Gelehrten" nehmen heute mehrheitlich an, daß die mittelalterlichen Autoren sich vor allem auf den "Pseudo-Kallisthenes" stützten, deshalb hat Dikigoros auch ein paar Überlegungen angestellt, wer im 3. Jahrhundert n.C. einem Autoren Anlaß gegeben haben könnte, Parallelen zur Geschichte "Alexanders des Großen" zu ziehen und diese wieder auszugraben und neu zu bearbeiten. Viel ist dabei nicht heraus gekommen, nur ein paar Puzzleteile, die aber auch zusammen gesetzt die Grenze vom bloßen Zufall zur brauchbaren Hypothese nicht zwingend überschreiten, zumal es gleich zwei mögliche Kandidaten gibt. Der erste ist leicht zu erkennen: Es ist Alexius Severus, der den Herrschernamen Severus Alexander annahm. Er war so jung wie - oder noch jünger als - Alexander von Makedonien, als er Kaiser wurde, er führte einen zweijährigen Feldzug gegen das Perserreich - das seit einigen Jahren wieder annähernd einen Umfang hatte wie im 4. Jahrhundert v.C. -, und er starb jung. (Irgendwo las Dikigoros auch noch, daß er ein Heer "nach dem Vorbild Alexanders des Großen" aufstellte; aber das scheint ihm doch etwas weit hergeholt.) Der zweite Kandidat ist sein Nach-nachfolger Gordian III. Auch er war so jung wie - oder noch jünger als - Alexander von Makedonien, als er Kaiser wurde, auch er führte einen zweijährigen Feldzug gegen das Perserreich, und auch er starb jung. Und während sein Name für den ersteren spricht, spricht ein anderer Name für den letzteren: Gordian führte nämlich Krieg gegen einen Perserkönig, den Ihr in Euren Geschichtsbüchern (wenn überhaupt :-) meist als "Schapur" oder "Sapor" wieder findet. Nun ist der erste Teil dieses Namens natürlich nichts weiter als der Titel "Schah", der eigentlich Name lautete also "Por" oder "Pur", je nachdem ob Ihr die griechische oder lateinische Version wählt. Wollt Ihr noch die Endungen dran hängen? Schau mal an - so trifft man alte Bekannte wieder, nämlich den guten "Poros" bzw. "Purus", den Alexander von Makedonien an der persisch-indischen Grenze getroffen haben soll, die damals am Indus verlief - wie im 3. Jahrhundert n.C. auch. Und wie Alexander, so besiegte auch Gordian seinen Widersacher in einer großen Schlacht, aber ebenso wenig endgültig. Wie gesagt, das mögen alles zufällige Parallelen sein; aber dem Pseudo-Kallisthenes (wer immer das war - vielleicht Plotinos von Lykopolis, der Gordians Ostfeldzug mitgemacht haben soll, oder sein Schüler Porfyrios von Tyros?) könnten sie ausgereicht haben, um sich an die Arbeit zu machen.

Nach dem Essen schleppt Frau Dikigoros einen dicken historischen Atlas an: "Hier sind Alexanders Fahrten nach Indien genau eingezeichnet, bis zum Indus, sogar mit Jahreszahlen." - "Ja, ja," sagt ihr Mann und denkt an die Schilderungen seines seligen Reisefreundes Melone, "aber ein Heer von angeblich über 50.000 Mann plus Troß bekämst du selbst heute nur mit Mühe durch die Wüsten von Ķhorasan oder Kirman, geschweige denn durch Afģānistān - das haben nicht mal die Engländer, Russen oder Amerikaner auf dem Höhepunkt ihrer militärischen Macht geschafft. Um von Kafiristan nach Samarkand [auf der Karte oben als "Marakanda" eingezeichnet, Anm. Dikigoros] zu gelangen, hätte er über den Khawak-Paß gemußt; das würde heutzutage auf einmal vielleicht ein Regiment Gebirgsjäger mit modernster Ausrüstung schaffen, d.h. ca. 1.500 Mann - aber 50.000 zusammen gewürfelte Spatenpaulis aus Makedonien, Kleinasien, Medien und Persien? Völlig ausgeschlossen!

Gar nicht zu reden davon, noch weiter vorzustoßen, etwa bis nach China, wie es in Firdausīs berühmtem Shāh-nāme steht, und das, obwohl ihm ein sprechender Baum geweissagt hat, daß er nicht heil zurück kommen wird. Ich glaube ja eine ganze Menge; aber irgendwo ist Schluß." - "Und wo soll bei Alexander Schluß sein?" - "Na, schaun wir mal: Daß er in Babylon war, will ich gerne glauben - obwohl einige mittelalterliche Autoren behaupten, daß er das nicht eroberte, dann wäre also nicht erst am Indus, sondern schon am Evfrátis Schluß gewesen; aber der Kommandant soll es ja angeblich kampflos übergeben haben, als er den guten Fleischextract von Liebig roch, soit.

[Alexander der Grosse zieht im Triumph in Babylon ein]

Daß Aléxandros die Hauptstadt der Perser eroberte [von der wir nicht einmal wissen, wie sie richtig hieß - die Griechen nannten sie einfach "Persépolis", Perserstadt, Anm. Dikigoros] war logisch, das nehme ich ihm ab - zumal die Plünderung und Zerstörung glaubhaft ist. Dein Prof. scheint dagegen gewisse Zweifel zu haben, daß Aléxandros dort war. Wie schreibt er gleich: 'Der Marsch von Babylon nach dem über 500 km weiter östlich gelegenen Persepolis durch die schwierigen Passagen des elamitischen Berglandes gibt noch heute Rätsel auf.' (Und wenn du mal zwischen den Zeilen liest, glaubt er im Grunde genommen nicht einmal so recht an die Schlacht von Gavgámäla.) Aber da bin ich großzügig, denn ich glaube, daß die berühmte 'Königsstraße' weiter führte als sie in unseren historischen Atlanten eingezeichnet ist, eben bis zur Hauptstadt. Und ich glaube Aléxandros sogar den Abstecher nach Pasargádai, um das Grab von Kýros zu besuchen - schließlich hat auch Napoléon das Grab Friedrichs des Großen besucht und Hitler das Grab Heinrichs des Löwen; aber dann ist er doch unstreitig umgekehrt nach Ekbátana und hat die meisten seiner Soldaten entlassen. Und selbst wenn ich noch glauben würde, daß er von dort aus Dareios bzw. dessen Nachfolger Artaxérxäs bis ans Kaspische Meer verfolgt hat, meinetwegen bis nach Zadrakarta, dann wäre spätestens dort Ende der Fahnenstange."

Kurzer Exkurs - nur für filologisch interessierte Leser. Natürlich hießen die persischen Gegenspieler des Aléxandros weder Dareios noch Artaxérxäs - das waren lediglich griechische Verballhornungen ihrer echten Namen, wie so viele andere auch. "Dareios" hieß richtig Dāryavau, "Artaxérxäs" Artakashtra; "Pasargádai" hieß richtig Parsagatu und "Súsa" wohl Susan (das ist nicht persisch, sondern assyrisch, und soll "Stadt der Lilien" bedeuten; die Juden machten daraus "Shushan", und das wiederum sollten die Gojim zu "Susan[na] verballhornen. Exkurs Ende.

"Dann müßte der Zug nach Indien ja völlig frei erfunden sein," meint Frau Dikigoros, "was sollte Alexander denn deiner Meinung nach in den fünf Jahren getrieben haben, bis er wieder in Hormuz auftauchte?" - "Der ist fleißig zwischen Ekbatana, Gabai, Persépolis und Súsa hin und her gereist, um Persien zu befrieden, damit hatte er genug zu tun. Und der Indienzug war ja nicht völlig frei erfunden, sondern abgeschrieben, wie die Heldentaten in der Wiege." - "Und wo?" - "Sagte ich doch schon: in den Sagen über Diónysos; der soll nämlich auch einen famosen Zug nach Indien unternommen haben, und just auf der selben Route." - "Vermutlich gab es keine andere." - "Sagen wir mal so: den griechischen Märchenonkeln war keine andere bekannt." - "Und Nearchos?" - "Der wird von Hormuz aus nach Basrā, pardon, das hieß ja damals angeblich auch Alexandría, zurück gesegelt sein, das war schwierig genug. Oder glaubst du im Ernst, die Griechen hätten, einmal am Indus, eine Flotte von tausend Schiffen gebaut, nur um flußabwärts zur Mündung zu schippern und von dort wieder nach Hause zu gurken? Wer wirklich bis zur Mündung des Indus vorgedrungen wäre, der hätte doch alles vor sich gehabt: Kāthiāwār, die Malābār-Küste mit ihren märchenhaften Reichtümern, zum Greifen nah; zurück nach Makedonien wäre es fast fünfmal so weit gewesen. Nein, die Heimkehr war nur dann eine Alternative, wenn man irgendwo in Persien herum saß und davon die Nase voll hatte."

Nachtrag: Inzwischen glaubt Dikigoros, daß auch der Bericht des Néarchos nicht völlig frei erfunden, sondern abgekupfert ist, nämlich vom Bericht des Skýlax, der einst im Auftrag des Dareios (I.) die gleiche Route nahm. Dessen Bericht war damals noch nicht verschollen, sondern gerade am makedonischen Königshof bestens bekannt. Woher wir das wissen? Weil er uns hauptsächlich durch die "Politaia" des Aristotéläs überliefert ist, und der war... der Hauslehrer des Aéxandros! Nachtrag Ende.

"Aber was hätte Alexander denn anfangen sollen mit den Reichtümern der Malabar-Küste? [Frau Dikigoros betont das, sehr zum Unwillen ihres Mannes, auf der einzigen Silbe, die in Wirklichkeit unbetont ist, nämlich der ersten; aber sie ist der Meinung, man solle sich doch nicht immer von den Ausländern vorschreiben lassen, wie man ihre Namen auszusprechen habe; die sagten ja auch nicht "Köln" und "München" - wobei sie übersieht, daß die Ausländer damit völlig Recht haben, da diese Städte ursprünglich nicht so hießen, sondern "Colonia" bzw. "Monaco".] Er hatte doch schon in Susa den persischen Staatsschatz erbeutet: 9.000 Goldstücke, 50.000 Talente Silber, in Persepolis weitere 120.000 Talente, und in Pasargadai immerhin noch einmal 6.000 Talente..." - "Pardon, davon glaube ich kein Wort." - "Was? Aber wieso denn nicht?" - "176.000 Tálante, das wären knapp 46 Tonnen Silber gewesen, daraus hätte man nach dem alten attischen Münzfuß gut 732 Millionen Drachmen prägen können, 1 Drachmä à 4,37 Gramm. [Das sieht nach heutigem Silberpreis nicht nach gar so viel aus, liebe Leser, ca. 80 Teuro-Cent; aber die Relation zwischen Gold- und Silberpreis lag damals nicht bei 1:60, wie heute, sondern bei 1:10, und die Kaufkraft einer Tetradrachmä entsprach in etwa der von 5 Goldmark, also von 50 Teuro heutiger Kaufschwäche; 1 Drachmä war somit ca. 12,50 Teuro wert!] Was aber tat Aléxandros, kaum daß er angeblich all diese Schätze erobert hatte? Er setzte den Silbergehalt der Drachmä um fast 20% herab, auf 3,64 Gramm, und rief mit dieser Geldentwertung eine galoppierende Inflation hervor. So etwas tut man doch nicht, wenn man in Sachen Edelmetalle aus dem Vollen schöpfen kann, zumal seine Truppen das äußerst schlecht aufnahmen. Was glaubst du denn, warum die ständig gemeutert haben, obwohl sie nach übereinstimmender Ansicht aller Historiker Weiber und Wein satt hatten? Doch bestimmt nicht aus Heimweh?!? Nein, der viel zitierte Schatz des Aléxandros ist ein Märchen - nicht umsonst hat man ihn nie gefunden."

[Nachtrag: Natürlich ist es Purus', pardon purer Zufall, daß die Griechen knapp zweieinhalb Jahrtausende später auf ihre letzten Drachmen-Münzen (Silbergehalt 0,0 Gramm) - bevor sie dem viel gelobten Euro-Verbund beitraten, der ja ach-so-stabil war und sie künftig vor allen Inflationen oder sonstigen finanziellen Problemen schützen sollte - das Konterfei Alexanders setzten. (Doch so mancher faule Hund räudige Köter arme Grieche wünscht sie sich inzwischen zurück - Alexander und die Drachmen :-)]

[Hellas mit der Euro-Wurst vor der Nase] [... und den Millionen Euros am Arsch]

Aber so schnell gibt sich Frau Dikigoros nicht geschlagen: "Das mit Dionysos überzeugt mich nicht," sagt sie, "Nonnos' Dionysiaka stammt doch aus dem 4. Jahrhundert n.C., d.h. also, wenn da jemand etwas abgeschrieben hat, dann die Dionysos-Biografen von denen des Alexander, und nicht umgekehrt." - "Pardon, aber erstens weiß niemand genau, wann dieser Nonnos gelebt hat, und zweitens hat er die alten Diónysos-Sagen bestenfalls zusammen gefaßt, die sind mindestens ein Jahrtausend älter; schon Hómäros hat ein Gedicht über Diónysos geschrieben." - "Aber da steht nichts von Indien drin, das hat erst Nonnos geschrieben." - "Natürlich nicht, zu Hómäros' Zeiten wußten die Griechen vermutlich noch gar nichts von Indien. Es hieß ja auch noch nicht so - 'Indía' ist eine vergleichsweise junge Vokabel. Diónysos war, wie schon der Name sagt, der Gott aus Nýsä. Das hat man erst in Boiotien gesucht, dann in Thrakien, dann in Frygien, und schließlich in Äthiopien, d.h. an den Quellen des Nils, oder in Indien, d.h. jenseits des Indus. Alles pure Spekulation." - "Aber wer soll sich das alles ausgedacht haben und wozu? Alexander selber hätte das doch gar nicht nötig gehabt, bei allem, was er erreicht hatte." - "Aléxandros nicht, aber vielleicht seine Nachfolger. Schon mal von den Diádochen-Kämpfen gehört?" - "Natürlich; schließlich hatte ich im Examen..." - Ja, ja, und welche hältst du für die wichtigsten?" - "Natürlich Ptolemaeus und Seleukus." - "Richtig. Und die haben ihre Kriege eben nicht nur auf den Schlachtfeldern geführt, sondern auch mit den Mitteln der Propaganda. Die Ptolemaier und ihre Verbündeten saßen in Ägypten und Makedonien, deshalb legte Ptolemaios die Bibliothek von Alexandría an und beauftragte seinen Bibliothekar Manethon mit der Erfindung der ägyptischen Königslisten und seinen Bibliothekar Apollonios von Rhodos mit der Abfassung einer Argonávtika, mit der er beweisen konnte, daß schon Iáson & Co. auf dem Balkan und in Nordafrika waren. Und Selévkos, der in Kleinasien saß, ließ statt dessen das Märchen verbreiten, daß schon Aléxandros in Indien war, und er selber auch, weshalb er sein legitimer Nachfolger sei. Und weil Selévkos sich auf das Töten von Stieren besonders gut verstand - er war Hobby-Matador - und deshalb gerne mit Stierhörnern am Helm herum lief, ließ er auch den Aléxandros so darstellen. Und weil Selévkos ein Pferd hatte, das er besonders liebte, dem er in der Schlacht ebenfalls ein goldenes Horn aufs Haupt binden und nach seinem Tode ein Denkmal errichten ließ, erfand er das Märchen vom Boukefálas. Und weil er selber uralte Städte wie Ώpis und Súsa [da seht Ihr mal, liebe Leser, wie unterschiedlich sich solche Orte entwickeln können: aus der ersteren wurde die Metropole Baģdād, aus der letzteren das Kuhdorf Shūsh in Luristan, Anm. Dikigoros] in 'Selevkía' umbenannt hatte, mußten einige andere Städte eben in 'Alexandría' umbenannt werden." - "Aber zumindest der Feldzug des Seleukus nach Indien ist doch eine historische Tatsache - könnte es nicht umgekehrt so gewesen sein, daß Seleukus um die Taten Alexanders wußte und sie nachzuahmen versuchte? Ist das nicht sogar viel wahrscheinlicher?" - "Ach was. Die indischen Quellen, insbesondere die kafirischen Überlieferungen, wissen nichts von den Zügen des Aléxandros oder des Selévkos bis zum Indus. [Mit dem "Aliksudar" vom viel zitierten Felsenedikt Nr. 13 des famosen "Āshok[a]" kann allenfalls Aléxandros von Epeiros gemeint sein, der Sohn des berühmt-berüchtigten Pýrrhos, von dem wir unseren Ausdruck "Pyrrhus-Sieg" ableiten; und auch von dem wird nicht berichtet, daß er etwa in Indien gewesen wäre, sondern nur, daß er 600 Yojanen [1 Yojan soll ca. 8 englischen Meilen entsprechen, also knapp 13 km] weit weg gesessen habe, Anm. Dikigoros.] Die Gleichsetzung von 'Sandrokottos' und 'Chandr[a]gupt[a]' ist ebenfalls pure Spekulation, von der die alten Griechen und Inder noch nichts wußten; die hat sich erst vor rund 200 Jahren ein versponnener englischer Jurist ausgedacht, Sir William aus Fort William, der auch glaubte, die Briten seien die eigentlichen Gründer von Kalkattā, und Amitrochádäs wäre gleichzusetzen mit Bindusār[a]. Und warum hätte Selévkos erst Baktrien erobern sollen, um es dann mitsamt seiner Tochter gegen ein paar Kriegselefanten einzutauschen?" - "Aber die Gesandschaft des Megasthenes und seine 'Indika'?" - "Das ist es ja gerade, was mich so stutzig macht. Wozu hätte die gut sein sollen, wenn schon Aléxandros und Selévkos selber in Indien waren und es wieder aufgegeben hatten? Umgekehrt wird ein Schuh draus: Als Selévkos' Propaganda-Minister damit ankam, daß er in Indien gewesen sei, erntete er wahrscheinlich nur ein müdes Lächeln - und die Frage, wie es dort denn aussehe, er müsse es ja nun wissen. Also schickte er jemanden hin, der das feststellen sollte; und mit dessen Wissen konnte er sich dann schmücken." - "Aber warum sollte Megasthenes in Indien gewesen sein und die beiden anderen nicht?" - "Wie gesagt, Melone ist auch alleine über Land bis nach Indien gekommen, sogar fast bis nach Patna, wie Megasthénäs. Als einzelner oder mit einer kleinen Gruppe mag das gehen und auch damals gegangen sein; aber mit riesigen Heeren, wie sie Aléxandros und Selévkos angeführt haben sollen, mitsamt Troß etc., wäre das ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Und noch etwas: Warum schickte Selévkos 20 Jahre, nachdem er angeblich Baktrien erobert und gegen Sandrokottos' Elefanten eingetauscht hatte, seine Generäle Patrokäs und Demodamas genau dorthin auf eine Art Forschungs-Expedition? An deren Reisen glaube ich nämlich ohne weiteres - und die schließen nach den Gesetzen der Logik die vorherige von Aléxandros und Selévkos aus." - "Du zerstörst mein ganzes antikes Weltbild." - "Ach was, das ist immer viel zu hoch gehängt worden. Damals konnte man sich nicht einfach in ein Flugzeug setzen und in ein paar Stunden nach Indien fliegen; all diese großartigen Theorien sind von Leuten am Schreibtisch entwickelt worden, die noch nie selber dort waren."

"Aber im heutigen Afghanistan gibt es doch bis heute blonde, blauäugige Menschen mit griechisch anmutenden Namen; und die gab es ausweislich Megasthenes, Patrokes und Demodamas - an denen du ja nicht zweifelst - schon zur Zeit der Seleukiden. Wie sollen die denn dort hingekommen sein, wenn nicht unter Alexander dem Großen? Danach gab es doch keine griechischen Züge mehr dorthin - oder fällt dir einer ein?" - "Nein, aber du erliegst einem Denkfehler: Bloß weil später keine griechischen Siedler mehr nach Afģānistān gekommen sind, heißt das ja nicht, daß nicht schon früher welche dorthin gekommen sind." - "Eine kühne Behauptung; wann sollte das gewesen sein, und welche Quellen gibt es dafür?" - "Heródotos, IV. Buch, die letzten Kapitel. Das Perserreich hatte unter Dareios - dem I., nicht der Flasche, die später dem Aléxandros unterlag - Ende des 6. Jahrhunderts v.C. seine größte Ausdehnung erreicht, d.h. im Südwesten bis Ägypten. Sein Statthalter in Ägypten bzw. nach dessen Tod seine Witwe stieß auch in die Cyrenaika vor und eroberte dort mit List und Tücke Barkä, eine rein griechische Stadt - damals waren Kolonien noch echte Pflanzstädte, die man mit eigenen Leuten besiedelte, nicht solche, die man fremden Völkern raubte, die man dann versklavte. Die Überlebenden siedelte Dareios im heutigen Afģānistān an, am östlichsten Rand seines Machtbereichs. Sie nannten ihre neue Hauptstadt ebenfalls Barkä, und das Land hieß bis vor kurzem noch Baktrien, voilà." Frau Dikigoros geht zum Bücherschrank, holt die "Historien" heraus und beginnt zu lesen. "Entschuldige mal," sagt sie nach 10 Minuten, "du willst mir doch nicht erzählen, daß mit den Überlebenden einer einzigen Stadt ganz Baktrien besidelt werden konnte?!?" - "1. war Barkä die größte Stadt der Cyrenaika, 2. hatten die Nachkommen ja ein paar Jahrhunderte Zeit, Baktrien zu bevölkern, und 3. waren die Einwohner von Bakrä wohl nicht die einzigen Griechen, die von den Persern dorthin zwangsumgesiedelt wurden, sondern das wurde noch bis zum Ionischen Aufstand praktiziert. Lies mal weiter, V. Buch. Allein die Bewohner von Milet, der größten Stadt nicht nur Kariens, sondern ganz Kleinasiens, wären nach ein paar Generationen für eine Besiedlung Baktriens ausreichend gewesen; und von den anderen griechischen Städten an der ionischen Küste hat Heródotos es vielleicht nur nicht ausdrücklich erwähnt."

Noch ein Exkurs: Warum glaubt Dikigoros, der doch sonst mit - nicht nur antiken - Geschichtsquellen so kritisch umgeht, ausgerechnet dem Herodot, den die meisten heutigen Berufs-Historiker eher für einen Märchenonkel halten? Pardon, wenn Dikigoros als Berufs-Jurist da streng unterscheidet zwischen Glaubwürdigkeit (der Person) und Glaubhaftigkeit (der Aussagen). Gewiß ist vieles von dem, was in den Historien steht, nicht glaubhaft. Aber das sind durchweg Aussagen aus dritter Hand, und Herodot schreibt das jedesmal ausdrücklich dazu - manchmal sogar, daß er sie selber nicht für ganz glaubhaft hält. [Daß er dabei manchem Informanten zu Unrecht den Glauben verweigert hat und anderen, die ihm Märchen erzählt haben, auf den Leim gegangen ist, mag sein, tut hier aber nichts zur Sache.] Dagegen haben alle Tatsachen, auf die er sich als Augen- und Ohrenzeuge beruft, auch strengsten Nachprüfungen stand gehalten - wobei einige langjährige und besonders hartnäckige Zweifel erst in jüngster Zeit ausgeräumt worden sind, und zwar glänzend zu seinen Gunsten. Aber für Dikigoros gibt es noch einen Grund, Herodot für glaubwürdig zu halten: Er beschreibt - als einziger griechischer Historiker überhaupt - den Ionischen Aufstand und die nachfolgenden Perserkriege nicht als patriotische Heldenstücke, sondern als großes Unglück für alle Beteiligten, entstanden aus einer Verkettung unglücklicher Umstände, verursacht durch persönliche Intrigen einzelner. [Ihr meint, das seien Kriege doch immer? Ihr irrt. Keine noch so geschickt eingefädelten Intrigen einzelner hätten anno 1914 bei Millionen Idioten in allen europäischen Ländern eine derartige Kriegsbegeisterung hervorrufen können wie sie tatsächlich bestand. Daß dieselben Idioten später, als der Krieg nicht so lief, wie sie sich das in ihrem patriotischen Überschwang vorgestellt hatten, dennoch einzelnen Herrschern die Schuld dafür in die Schuhe schoben und sich an ihnen rächten, steht auf einem anderen Blatt - an den Tatsachen ändert es nichts.] So ein Mann lügt nicht! Warum er dann heute bei uns so eine schlechte Presse hat? Ganz einfach: Weil die heutige Presse - und die heutige Geschichts-"Wissenschaft" - zumindest in Nordamerika und seit 1945 auch in West- und Mitteleuropa fest in jüdischer Hand ist; und Herodot hat das unverzeihliche Verbrechen begangen, die Juden als das hinzustellen, was sie nicht sein wollen - wohlgemerkt in ganz nüchterner, sachlicher Art, nicht in Form irgendeines Anti-Semitismus, denn den gab es damals noch nicht. Es gab nicht einmal Semiten - die hießen vielmehr "Phoinikier". An und für sich kommen die bei Herodot gar nicht so schlecht weg: Tüchtige Seeleute und Händler, haben das Alfabet erfunden und sogar mit nach Hellas gebracht... Moment, da sind wir schon beim Thema, denn 1. haben es ja nicht "die" Phoinikier mitgebracht, sondern ganz bestimmte, und 2. brachten die nicht nur das Alfabet mit, sondern auch... nein, fangen wir vorne an.

Habt Ihr schon mal von den Gephyraiern gehört? Wohl eher nicht, denn die Mainstream-Historiker gehen gerne über sie hinweg oder repetieren das, was Herodot eingangs über sie schreibt: Sie waren nach eigenem Bekunden ein alteingesessener Stamm aus Erétria, einer Stadt auf der Boiotien und Attika vorgelagerten Insel Evboia. Was er sonst noch über sie schreibt, tun sie dagegen als "Irrtum" oder "Verwechslung" ab - Verwechslung mit wem oder was? Nun, wir "wissen" doch aus einer alten, völlig glaubwürdigen Sage, wie das Alfabet nach Hellas kam, nicht wahr? Es war einmal ein griechischer "König" Agenor, der lebte irgendwo in Phoinikien (wo genau - Tyros? Sidon? - ist streitig) und hatte dort das Alfabet kennen gelernt. Eines unschönen Tages raubte ihm ein griechischer "Gott" namens Zevs seine Tochter Evrópä und entführte sie nach Kreta. Agenor schickte seine Söhne, allen voran Kádmos, zur Verfolgung aus; der brachte das Alfabet nach Kreta mit, von wo es später auch aufs griechische Festland gelangte. Wie? Das bleibt irgendwie unklar; aber jedenfalls waren sie gute Griechen, denn sie stifteten ja unterwegs den griechischen Göttern Poseidon und Athene Tempel und fragten auch das griechische Orakel von Delphí um Rat. So weit die herrschende Lehre. Aber Herodot füllt die Lücke; er füllt sie sogar ziemlich genau: Nach ihm waren nämlich Kádmos und seine Brüder keine Griechen, sondern Phoinikier, und sie zogen auch nicht als Einzelreisende aus, um ihre Schwester zu suchen, sondern mit entsprechendem Gefolge. [Ja, die "Zerstreuung" der Juden unter die Völker der Erde begann entgegen besonders unter Gojim verbreitetem Irrglauben nicht erst im 1. Jhdt n.C., als die Römer Jerusalem zerstört hatten. Schon mal etwas von den "verlorenen" Stämmen Israels - immerhin 10 von 12 - gehört? Wenn man der Bibel glaubt, geschah das schon im 8. Jhdt v.C.!] Als sie auf Kreta nicht fündig wurden, sahen sie sich im übrigen Griechenland um, u.a. auch auf Evboia, wo einige von ihnen "hängen blieben" und Erétria gründeten - und die phoinikische Schrift einführten. Nach Herodot waren das die "Gephyraier"; aber die herrschende Lehre hält sich lieber an Strábon, der gut 400 Jahre später lebte, also viel näher dran war und es deshalb besser wissen mußte; der bezeichnet die Leute, die Kádmos nach Erétria brachte, als "Araber". Nach Herodot wurden die Gephyraier später von den Boiotern vertrieben und gingen ins Exil nach Athen. Dort erhielten sie eine Art Bürgerrecht 2. Klasse, denn es stellte sich heraus, daß sie keine Hellenen waren und nicht die griechischen Götter verehrten, sondern ihren eigenen Kult mitbrachten und ihre eigenen Tempel bauten. Na und? Wenn sie nichts Schlimmeres angestellt haben... Haben sie aber, wenn man Herodot glaubt - und Dikigoros sieht keinen Grund, ihm nicht zu glauben. Aber kommen wir erst nochmal auf die Sage zurück. Kádmos, war das nicht der mit den Drachenzähnen? Genau: Wo immer er die ausstreute - und er kam ja weit herum -, da säte er bei seinen Wirtsvölkern Zank und Streit, der dazu führte, daß sie sich untereinander zerfleischten, während Kádmos & Co. die lachenden Dritten waren. Die "Drachenzähne" waren natürlich nur ein Symbol - wofür wohl? Zurück zu Herodot: Nach ihm waren es Gephyraier - nein, nicht "die" Gephyraier, aber halt zwei von ihnen -, die 514 v.C. den Hypparchos ermordeten und damit den Grundstein legten für den tödlichen Zwist zwischen athenischer Ober- und Unterschicht, den "Tyrannen" und den "Demokraten". Damit aber nicht genug, waren es auch Gephyraier, welche die Pythia Delphí bestachen, damit sie in ihren Orakelsprüchen die Athener und Spartaner immer wieder gegen einander aufhetzte, was schließlich in den "Peloponnesischen Krieg" mündete, der das alte Hellas nachhaltig ruinierte und letztendlich die Herrschaft der Makedonen über ganz Griechenland ermöglichte. Aber nein, das wollen die Juden nicht gewesen sein... sonst könnten andere Völker doch mal darüber nachdenken, ob man aus der griechischen Geschichte nicht etwas über sie lernen kann. Viele haben darüber nachgedacht, und viele haben etwas daraus gelernt und sind entsprechend mit den Juden verfahren, die meisten rechtzeitig, andere später, und einige zu spät - denn dem Volk, das sie am längsten in Schutz genommen und ihren Angehörigen Asyl geboten hat vor allen Verfolgungen durch andere, haben sie es am übelsten gedankt; aber das ist eine andere Geschichte. Exkurs Ende.

Nachtrag. Inzwischen ist Dikigoros doch noch etwas eingefallen - auch er war nämlich einem Denkfehler erlegen: dem, daß es großer "Züge" von Griechenland nach Baktrien bedurft hätte, um dort blonde Menschen hin zu bringen. Wer sagt denn, daß die freiwillig kommen mußten? Und unfreiwillige Ansiedlungen gab es durchaus auch noch später, viel später sogar und in viel größeren Massen. Eine in unseren Geschichts- und Märchenbüchern nur stiefmütterlich - wenn überhaupt - behandelte Episode ist die größte militärische Niederlage der alten Römer zwischen der, die General Paulus Konsul Paullus bei Cannae gegen Hannibal erlitt und der, die Varus im Teutoburger Wald - oder sonstwo - gegen Arminius erlitt, eigentlich noch schlimmer als die letzere, bei der ja "nur" drei Legionen [in etwa unseren heutigen Regimentern entsprechend] verloren gingen. Aber als der Triumvir Crassus 53 n.C. versuchte, mit dem Gros der römischen Streitkräfte Armenien zu erobern, wurde er nach stümperhaft geführter Schlacht - irgendwo bei Carrhae [dem heutigen Harran] - gegen die Parther unter Surenas von seinen eigenen Soldaten zu Kapitulationsverhandlungen gezwungen, in deren Verlauf er erschlagen wurde. Geschah ihm recht: 20.000 Römer und HiWis (hauptsächlich Gallier - die Legionen bestanden damals fifty-fifty aus Römern und Hilfstruppen ["Auxiliares"]) waren schon gefallen; 10.000 gerieten in Gefangenschaft. Der Partherkönig war milde: Statt sie zu töten - was damals durchaus keine Seltenheit war - siedelte er sie im äußersten Osten seines Herrschaftsbereichs an: in Baktrien, genauer gesagt im Regierungsbezirk Merv, durch den seit Urzeiten die später so genannte "Seiden"-Straße verlief - allmähliche Weiterverbreitung jener neuen Bevölkerung gen Osten war also gewährleistet -, und dessen gleichnamige Hauptstadt angeblich auch mal "Alexandropolis" genannt wurde (und dessen Ruinen die UNESCO 1999 zum "Weltkulturerbe" erklärt hat). Dabei - auch das gilt es noch nachzutragen - ist die herrschende Meinung der Geschichtswissenschaft, vor allem in den angelsächsischen Ländern, und damit wie üblich etwas später auch in der BRDDR, inzwischen zu der Auffassung gelangt, die Dikigoros schon seit Jahrzehnten vertritt, nämlich daß Alexander nie dort war (geschwiege denn darüber hinaus :-) und daß er diese Stadt ebensowenig gegründet hat wie fast alle anderen "seines" Namens. Und der von Frau Dikigoros erwähnte Curtius Rufus - dessen mehrbändige "Historiae Alexandri Magni Macedonis" lange Zeit die lateinische Hauptquelle für unser "Wissen" um Alexander darstellten - gilt inzwischen entweder als Märchenonkel oder - mangels jeglicher Anhaltspunkte für seine historische Existenz - als Fantasieprodukt mittelalterlicher Fälscher. Aber selbst wenn er existiert haben sollte: Diejenigen, die immer noch daran glauben, ordnen die Entstehungzeit seines Hauptwerks just in die Jahre 53ff n.C. ein. Sollte das wirklich ein Zufall sein? Denkt mal drüber nach! Nachtrag Ende.

* * * * *

Nun ist es ja nicht so, liebe Leser, daß Dikigoros auf dieser "Reise durch die Vergangenheit" großartige Forschungen darüber anstellen will, ob und wie weit gewisse Sagen die historische Wahrheit aus mehr oder weniger grauer Vorzeit wiedergeben oder nicht, sondern vielmehr, warum sie zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder ausgegraben wurden, ob und wie stark sie verändert wurden und warum, genauer gesagt mit Blick auf welches für den "Ausgräber" zeitgenössische Ereignis; und da müssen wir uns wieder dem 12. Jahrhundert zuwenden. "Die Kreuzzüge..." liest Dikigoros irgendwo. Ach du lieber Herakles, gingen die etwa nach Indien? Oder auch nur nach Persien oder Babylon? Nicht die Bohne - damals gingen sie noch nicht einmal bis nach Ägypten! Gab es vielleicht sonst irgend einen Alexander, und wenn ja, was hatte der mit "Indien" zu tun? Auf den ersten Blick lautet die Antwort "nein" - wenn es einen gäbe, hätte das sicher schon jemand vor Dikigoros bemerkt. Fangen wir also mal ganz trocken und historisch an: Wann wurden die Alexandersagen des 12. Jahrhunderts geschrieben? Die Literatur-"Wissenschaftler" sagen: die des Alberich von Besançon um 1120, die erste des Pfaffen Lamprecht (die aus der Stiftsbibliothek Vorau) ca. 30 Jahre später, also Mitte des 12. Jahrhunderts, seine zweite (die "Straßburger" Fassung) irgendwann zwischen 1170 und 1187. Und da diese Zahlen von Leute stammen, die sich z.T. ihr Lebtag mit nichts anderem beschäftigt haben als mit der Datierung hochmittelalterlicher Schriften, will Dikigoros ihnen das einfach mal glauben. Aber warum klafft zwischen der Entstehung der beiden deutschen Fassungen eine so lange Zeitlücke? Und warum ist die Straßburger Fassung fast fünfmal so lang wie die aus Vorau, obwohl die letztere offensichtlich kein Fragment ist, sondern in ihren letzten Zeilen ausdrücklich als abgeschlossen bezeichnet wird?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns dem Problem von einer anderen Seite nähern. Wie kam Lamprecht wohl an die Vorlage von Alberich? Es gab ja damals noch keinen Buchdruck, geschweige denn einen gut funktionierenden Büchermarkt, der seine Erzeugnisse über alle Lande verteilte, sondern oft nur ein einziges Exemplar am Entstehungsort. Lamprecht wird also den Alberich-Text in Besançon kennen gelernt haben. Wie mag er dorthin gekommen sein und warum? Nun, Mitte des 12. Jahrhunderts war Besançon nicht das Kaff, das es heute ist, sondern die wichtigste Stadt in der Freigrafschaft ("Franche-comté") Burgund, eine freie Reichsstadt inmitten einer wertvollen Provinz - so wertvoll, daß Kaiser Barbarossa, um sie zu erwerben, sich von seiner ersten Frau scheiden, pardon die Ehe annullieren ließ, um Beatrice, die Erbin Burgunds, zu heiraten. Sogar einen Reichstag ("Hoftag" nannte sich das damals noch) hielt er dort ab - anno 1157, also wenige Jahre nachdem die erste deutsche Fassung des Alexanderliedes mutmaßlich nieder geschrieben wurde. Um was ging es eigentlich auf jenem Reichstag? Dazu müssen wir wieder etwas weiter ausholen, ja eigentlich ganz von vorne anfangen. Um was ging es denn "Alexander dem Großen", wenn wir den antiken "Quellen" glauben dürfen? Nun, er soll der erste Herrscher der Geschichte sein, der von der "Weltherrschaft" träumte - weshalb sollte er sonst versucht haben, "bis ans Ende der Welt" zu ziehen? Wann taucht dieser Begriff wieder auf? Ihr werdet es nicht glauben, liebe Leser, aber nicht vor dem 12. Jahrhundert! Habt Ihr auch auf der Schule im Geschichts-Unterricht gelernt, die entscheidende Auseinandersetzung zwischen Papst und Kaiser um die "Welt[liche]-Herrschaft" habe schon im 11. Jahrhundert statt gefunden? Gregor VII, Heinrich IV, Gang nach Canossa usw.? Vergeßt es, das waren alles Kinkerlitzchen, bei denen es bloß um den Vorrang bei der Bestellung irgend welcher blöder Bischöfe ging, worüber man sich auch vernünftig hätte einigen können. Richtig ans Eingemachte ging es erst knapp 100 Jahre später, als zwei größenwahnsinnige Politiker an die Macht kamen: Der eine war Kanzler von Friedrich I ("Barbarossa") und hieß Rainald von Dassel, der andere war Kanzler von Papst Hadrian IV (der als Engländer überhaupt nicht wußte, was in Rom abging und ihn machen ließ, was er wollte) und hieß Orlando Bandinelli. Beide träumten von der "Weltherrschaft" - der eine für den Papst, der andere für den Kaiser. Und beide sagten das ganz offen und gossen es sogar in eine Art Doktrin. Der kaiserliche Kanzler verfaßte eine Kaiserhymne mit dem Titel "Salve mundi domine [Sei gegrüßt, Herr der Welt]" - eine unerhörte Anmaßung. Der päpstliche Kanzler schickte dem Kaiser 1157 einen Brief nach Besançon, in dem er ihn unverhüllt als einen Lehensmann und Almosenempfänger des Papstes bezeichnete - ein unerhörter Affront. 1159 starb Hadrian, und jener Kanzler Bandinelli wurde zum Nachfolger gewählt. Er nannte sich "Alexander" (III.), seine Anhänger nannten sich "Alexandriner", und die Festung, deren Bau anstelle des von Barbarossa zerstörten Mailands er finanzierte, nannte man "Alexandria [Alessandria]". Der Kaiser ließ einen Gegenpapst aufstellen, und von da an begann ein fast drei Jahrzehnte langes Schisma innerhalb der katholischen Kirche, das beiderseits einen ungeheuren Propagandakrieg entfachte. Das wußtet Ihr alles nicht, liebe Leser? Nun, das ist verzeihlich, denn es zählt - jedenfalls in Deutschland - weder zum Geschichts-Lehrplan der Schulen noch zu dem der Universitäten; statt dessen werdet Ihr ja mit jenem albernen Streit zwischen Barbarossa und Heinrich dem Löwen traktiert (oder, wenn Ihr Engländer seid, mit dem Streit zwischen Heinrich II. und Thomas Beckett), der im Vergleich dazu etwa so wichtig war wie es heutzutage der Streit zwischen dem Parteivorsitzenden einer Bundespartei mit einem seiner Landesvorsitzenden einerseits und der Entscheidung wäre, welchen von zwei in den USA gewählten feindlichen Präsidenten man anerkennen soll andererseits. (Nein, das ist nicht zum Lachen; was wäre denn gewesen, wenn jemand die Wahl von G. W. Bush wegen der Auszählungspanne in Florida nicht anerkannt hätte und sich vorübergehend zum Gegenpräsidenten ausgerufen hätte? Ihr meint, das sei doch ganz unwahrscheinlich gewesen? Nicht unwahrscheinlicher als daß zwei Päpste gewählt wurden!)

Wie kommt Dikigoros nun darauf, daß Alexander der Makedonier etwas mit Alexander dem Papst zu tun haben könnte, und sei es nur in der Propaganda irgendwelcher Mönche? Ganz einfach, nein, doch nicht ganz so einfach, vielmehr durch einen zweifachen Vergleich: zum einen der "historischen Quellen" mit den Sagen des 12. Jahrhunderts, zum anderen der beiden deutschen Fassungen untereinander. Was fällt uns da zuerst auf? Nun, die antiken Alexander-Autoren erzählen eine Erfolgsgeschichte: Der jugendliche Held siegt, wo immer er auch hin kommt, mit Glanz und Gloria - bis ans Ende der Welt. Was dagegen die Autoren des 12. Jahrhunderts erzählen, ist eine Geschichte des Scheiterns: "Vanitatum vanitas, et omnia vanitas", schreibt schon Alberich, "alles unter der Sonne ist eitel..." Warum er das schrieb, bleibt auch für Dikigoros im Dunkeln, denn aus den ersten 105 Kurzzeilen, die halt nur erhalten sind, können wir es nicht heraus lesen. Und angenommen, die deutsche Fassung aus Vorau ist tatsächlich nur eine mehr oder weniger wörtliche Übersetzung, bei der sich Lamprecht gar nicht viel gedacht hat? Durchaus möglich - aber warum hat er sich dann 20 oder noch mehr Jahre später noch einmal die Mühe gemacht, den Text neu zu schreiben und dabei auf beinahe den fünffachen Umfang zu erweitern? Schauen wir uns die Kapitel an, die der Fassung von Vorau fehlen bzw. die in der von Straßburg neu hinzu gekommen sind. Kein Zweifel, die wichtigste Erweiterung sind die Strofen 252 ff., welche die Geschichte vom gescheiterten Versuch des größenwahnsinnig gewordenen Alexanders erzählen, auch noch das Paradies zu erobern. Darf Dikigoros eine kühne Hypothese aufstellen? Er glaubt, daß der junge Lamprecht die Urfassung "seines" Alexanderliedes - die Version aus Vorau - tatsächlich nur mehr oder weniger gedankenlos abgeschrieben und übersetzt hat, als er mit Barbarossa zum Reichstag in Besançon war. Die politische Entwicklung der folgenden Jahre öffnete ihm jedoch Augen für die Parallelen zwischen den beiden Alexandern, und nun schrieb er das Lied so um, daß sie auch ein halbwegs informierter Zeitgenosse sehen konnte. (Nein, auf die Germanistik-Professoren des 19. und 20. Jahrhunderts konnte er dabei leider keine Rücksicht nehmen :-) Wo lag denn das Paradies? Bekanntlich irgendwo zwischen Evfrátis und Tigris; und just dorthin läßt die Straßburger Fassung Alexander nun reisen. Während jedoch der antike Alexander III von Makedonien Babylon ohne weiteres eingenommen haben soll (sogar kampflos, wie wir gesehen haben), muß der Alexander Lamprechts ergebnislos wieder umkehren - ähnlich wie der Papst Alexander III, als er in Rom einziehen will, wo man ihm schlicht des Himmels-, pardon Stadttors verweist. Ihr seht, plötzlich war die Geschichte von Alexander III von Makedonien für die Zeitgenossen des Papstes Alexander III hochaktuell geworden und forderte zur Ziehung einer Parallele geradezu heraus.

Können wir anhand einer solchen Parallele auch die Entstehungszeit der "Straßburger" Fassung noch etwas näher eingrenzen? Für 1187 spricht eigentlich gar nichts - da war Alexander schon sechs Jahre tot; und keine der beiden Versionen endet mit seinem Tod: Die von Vorau endet mit Alexanders Sieg bei Gaugamela gegen Dareios (was als antipäpstliche Propaganda keinen Sinn macht), die von Straßburg wie gesagt mit dem gescheiterten Versuch, das Paradies zu erobern. Aber 1170? Da hatte die Kaiserpartei doch schwerlich Grund zum Triumf: Zwar hatte Barbarossa 1167 Rom erobert und Alexander verjagt; aber nur zwei Monate später - in der kurzen Zeit konnte die "Straßburger" Fassung schwerlich geschrieben werden - war ein Großteil seines Heeres einschließlich des Kanzlers einer Seuche (Cholera? Malaria?) zum Opfer gefallen, und er mußte wieder abziehen, sehr zur Schadenfreude Alexanders. Was bietet uns die Geschichte denn sonst noch an? Nun, wenn man es recht betrachtet, hat die "Straßburger" Fassung doch fast so etwas wie einen versöhnlichen Schluß: Alexander ist zwar vor dem Paradies gescheitert; aber er hat irgendwie eingesehen, daß man nicht alles erobern muß und begnügt sich mit dem was er hat. Amen. Gehen wir mal ein paar Jahre weiter: Ende Mai 1176 wird Barbarossa auf seinem "fünften" Italienzug (eigentlich war es sogar schon der sechste) vom Lombardischen Städtebund bei Legnano geschlagen, und auch Alexander ist von den Römern noch immer nicht wieder in "seine" Stadt herein gelassen worden. So schließen die beiden Loser denn endlich einen Verzichtsfrieden, genauer gesagt einen Vorfrieden; der "endgültige" (was in der Geschichtsschreibung so "endgültig" genannt wird :-) Frieden soll im Juli 1177 in Venedig geschlossen und gleich zünftig gefeiert werden. Ein Jahr Zeit, um das Alexanderlied neu zu schreiben - und so wird es wohl auch geschehen sein. Letzlich haben beide Widersacher Rom verspielt, denn außer zu einem kurzen Konzil lassen die mißtrauischen Römer Alexander nicht mehr in die Stadt - gleich hinterher wird er wieder hinaus geworfen und verbringt seine letzten Tage, pardon Jahre im schönen Viterbo, während Barbarossa ein paar Jahre später, auf den Spuren des makedonischen Alexanders wandelnd, in Kleinasien jämmerlich ersäuft. Das Alexanderlied des Pfaffen Lamprecht hat den zweifelhaften Ruf beider Herrscher - so groß er vorübergehend auch war - überdauert.

* * * * *

À propos Italien, und à propos Rom: An dieser Stelle muß Dikigoros einen längeren Exkurs einschieben, den einige seiner Leser vielleicht erst im Kapitel über das Nibelungenlied erwartet hätten. Es tobt nämlich gerade ein heftiger Kampf um die Thesen von Heinz Ritter-Schaumburg über die Zusammenhänge zwischen der Nibelungensage und der Thidrekssaga, die er in Büchern wie "Die Nibelungen zogen nordwärts", "Dietrich von Bern - König zu Bonn", "Siegfried ohne Tarnkappe" und "Der Schmied Weland" aufgestellt und verteidigt hat. Dikigoros vermag Ritters Schlußfolgerungen im Ergebnis nicht zu teilen, denn er hält es für ausgeschlossen, daß der Nibelungendichter ein Dummkopf war, der aus Unwissenheit die Nibelungen mit den Burgundern verwechselte, die Hünen mit den Hunnen, die Dhünn mit der Donau und Thidrek von Bonn mit Theoderich dem Großen; Dikigoros glaubt vielmehr, daß der Nibelungendichter da eine geniale Allegorie auf seine eigene Zeit geschrieben und sich dabei ganz bewußt der Thidrekssaga als "Steinbruch" bedient hat. (Aber das könnt Ihr dann alles im einzelnen im über-übernächsten Kapitel nachlesen.) Die Bedeutung der Ritter'schen Forschungen ist jedoch eine ganz andere, und die zugrunde liegende These verdient es durchaus, ernsthaft diskutiert und nicht arrogant als "Schaumschlägerei" abgetan zu werden, wie das manche so genannte "Wissenschaftler" von der luftigen Höhe ihrer Leerstühle herab tun. Sie lautet: Die Original-Fassung der Thidrekssaga (deren schwedische Übersetzung aus dem 13. Jahrhundert er "Svava" nennt, sehr zum Unmut der Germanistik-Professoren, die diese Bezeichnung schon anderweitig vergeben hatten :-) wurde im 12. Jahrhundert nieder geschrieben - kurz nach der baulichen Umgestaltung von Soest 1170, nach Berichten "deutscher Männer", die sich noch an die Zeit davor erinnerten, als man noch den "Nibelungengarten" sehen konnte, den "Schlangenturm" und "den Weg wo Irung fiel" - und ist entgegen der herrschenden Meinung der Universitätslehrer keine Märchen-Sammlung, sondern eine wertvolle historische Quelle, die über tatsächliche Ereignisse im Mitteleuropa des 5. Jahrhunderts berichtet; "Dietrich von Bern" war nicht Theoderich der Große, sondern Thidrek von Bonn.

Diese These Ritter-Schaumburgs steht und fällt, wie jeder der sie kennt weiß, mit der Lokalisierung dreier in der Thidrekssaga genannter Städte: "Romaburg", "Verona" und "Babilonia". [Susat[um]/Soest macht ihm niemand streitig - aber was besagt das schon? Eine nachträglich eingebaute Lokalsage halt... dort könnte ja jeder umgekommen sein!] Für die Gegner Ritters sind mit den beiden ersteren Rom und Verona in Italien gemeint, wo ja auch der Ostgote Theoderich wirkte. Für Ritter-Schaumburg dagegen versteckt sich hinter "Romaburg" die zeitweilige (übrigens nicht erst im 5., sondern auch schon im 3. und 4. Jahrhundert n.C.) Kaiserresidenz Trier (das "zweite Rom") und hinter "Verona" Bonn - das noch bis ins 16. Jahrhundert auf Lateinisch so genannt wurde. Die Lokalisierungen beider Parteien sind vertretbar und isoliert weder zu beweisen noch zu widerlegen. [Eine dritte Meinung will "Verona" in der Nähe von Aachen ansiedeln. Ihre Verfechter schließen das daraus, daß es in Bonn weder "ein Bad, das 'Thidreks Bad' heißt" noch eine "Steinbrücke" über irgend einen Fluß noch eine Reiterstatue von Thidrek gab, die er laut Thidressaga auf seine alten Tage in "Verona" hat erbauen lassen. Dieser These würde sich Dikigoros in dem Augenblick anschließen, in dem nachgewiesen würde, daß Karl der Große das Reiterstandbild Theoderichs des Großen, das in einem Gedicht Strabos erwähnt wird, gar nicht aus Italien nach Aachen holte, sondern daß es schon immer dort stand, nämlich als das bewußte Denkmal Thidreks, und erst nachträglich (Strabo war damals noch nicht geboren), aufgrund der Namensähnlichkeit, zu einem solchen Theoderichs umgedeutet wurde - damit ließe sich nämlich die Verwechslung bzw. Gleichsetzung jener beiden historischen Personen erklären. Allerdings steht ein solcher Beweis noch aus - er ist wohl auch schwierig zu führen.] Nun kommt aber die dritte Stadt ins Spiel: "Babilonia", das nur wenige Stunden zu Pferd von "Verona" entfernt sein soll. Alle sind sich einig, daß damit weder "Babylon" in Mesopotamien gemeint sein kann noch das heutige Kairo in Ägypten (das damals so hieß). Aber was dann? Die Universitäts-Professoren zucken die Schultern: Weiß der Geier, ist halt nur eine Sage; sie behaupten ja nicht, daß dahinter ein historischer Ort stecken müsse, und wenn sich keiner findet, ist das doch der beste Beweis dafür, daß Ritter-Schaumburg falsch lag. Der letztere war indes überzeugt, daß mit "Babilonia" Köln gemeint sein müsse, denn es hatte die richtige Entfernung von Bonn und außerdem eine Brücke über den Rhein. Der Ärger ist nur, daß wir - anders als bei Romaburg/Trier und Verona/Bonn - nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür haben, daß Colonia [Agrippina]/Köln irgendwann einmal "Babilonia/Babylon" genannt worden sein könnte. Wirklich nicht? "Doch doch", versichern die Anhänger Ritter-Schaumburgs, "auf dem Kölner Domvorplatz steht doch noch die Ruine des alten Nordtors, "und oben auf dem Torbogen sieht man noch die Reste einer Inschrift, nämlich ia, und das ist der Beweis: Da muß Babilonia gestanden haben." Gegenfrage: "Könnte das nicht auch Colonia geheißen haben, und wäre das nicht sogar wahrscheinlicher?" Antwort: "Nein, dann hätten die frommen Christen die Inschrift doch nicht unleserlich gemacht; das taten sie nur, weil die so peinlich an die Hure Babylon erinnerte."

[Das alte Nordtor von Köln]

Es wird Euch nicht allzu sehr wundern, liebe Leser, daß sich die Professoren ob solcher "Beweise" vor Lachen kringeln. Aber wie sagt schon das Sprichwort: "Wer zuletzt lacht, lacht am besten." Ritter-Schaumburg war durchaus auf dem richtigen Weg; er war eben bloß kein Kölner, sonst wäre ihm die Beweisführung sicher leichter gefallen. Und damit kommt Dikigoros zur Antwort auf die Frage, was denn das ganze nun mit Alexander dem Großen zu tun haben soll. Gegenfrage: Wenn Köln einmal als "die Hure Babylon" bezeichnet wurde, warum? Und warum galt Babylon überhaupt als "Hure", und vor allem: wann drang diese Idee in Europa ins allgemeine Bewußtsein ein - zumindest derer, die solche Sagen kannten? Fangen wir noch einmal bei Alexanders Geburt an: Seine Mutter war Priesterin in einem Diónysos-Heiligtum gewesen, also Edel-Prostituierte; als Philipp ihr auf die Schliche kam, brachte sie ihn um. (Nein, keine Räuber-Pistole, liebe Leser, sondern völlig herrschende Meinung; lediglich über die Mittäterschaft Alexanders streiten die Gelehrten.) Alexander selber machte nie einen Hehl daraus, daß er sich als "Sohn des Diónysos" oder sogar als dessen Reïnkarnation betrachtete. Ihm zog er gen Osten nach; ihm zu Ehren feierte er 331 v.C. in "seiner" Stadt Babylon eine fünfwöchige Orgie, über welche die meisten seiner Biografen mit ein paar kurzen Sätzen hinweg gehen (oder sie schamhaft gleich ganz verschweigen); dies war für ihn der Höhepunkt seines Ostfeldzugs, und dies ist auch einer der Gründe, aus denen Dikigoros nicht glaubt, daß Alexander wirklich noch wesentlich weiter nach Osten zog: Er hatte sein Ziel erreicht! Nun waren die Orgien des Diónysos aber keine einmalige, etwa auf Babylon beschränkte Angelegenheit: Dem Diónysos waren auch die "Bacchanalien" ("Bakkhos" war ein Beiname des Diónysos) und die "Saturnalien" im alten Rom geweiht. Jawohl, geweiht, denn die Freß-, Sauf- und Sexorgien zur Austreibung des Winters waren heilige Handlungen, und bloß weil sie nach der Christianisierung als "heidnisch" verboten wurden, ließen sie sich doch nie ganz unterdrücken, vor allem nicht in den Grenzregionen des Reiches, wohin der Arm der Kirche nicht immer reichte, und wo der Einfluß der heidnischen "Barbaren" umso stärker war.

Ihr meint, liebe Leser, der "Karneval" sei in Italien eine Erfindung des Mittelalters und in Deutschland der Epoche der Befreiungskriege gegen Napoleon? Bloß, weil die Jecken heute in Uniformen aus dem frühen 19. Jahrhundert herum laufen? Verlaßt Euch drauf, ursprünglich waren die nackt, und sie hatten auch etwas anderes zu tun als Kamelle zu werfen... Welches ist die Karnevals-Hochburg am Rhein? Pardon, liebe Mainzer, pardon, liebe Düsseldorfer, diesen Vorrang werdet Ihr wohl Köln einräumen müssen. War das schon immer so? Verlaßt Euch drauf - die mitteleuropäische Wiege des Karnevals, der Saturnalien und der Diónysos-Orgien stand im heutigen Köln. Und dort saß - nicht ganz sicher, aber nach herrschender Meinung, die sich auf seine kölsche Mundart stützt - rein zufällig auch der Pfaffe Lamprecht. [Die heutige Bezeichnungen für die Versionen seines Alexanderliedes beziehen sich nicht auf den Entstehungsort, sondern auf die Fund- bzw. Aufbewahrungsorte.] Wir dürfen also annehmen, daß er den Kölner Dom gut kannte. Nein, nicht das Ding, das man 1248 anfing zu bauen und bis 1880 nicht fertig bekam, sondern seinen Vorläufer, der bereits ein beliebtes Pilgerziel war. (Genauer gesagt seit 1162, als Kaiser Barbarossa nicht nur Mailand zerstört, sondern auch dessen berühmteste Reliquien, die Gebeine der "Heiligen Drei Könige" hatte mitgehen lassen, die er dann Rainald von Dassel - der nicht nur Kanzler, sondern zugleich Erzbischof von Köln war - überließ, der mit ihrer Hilfe einen kommerziellen Pilgerrummel in "seiner" Stadt entfachte, der dem in Santiago de Compostela - dem nach Rom zweitgrößten Anziehungspunkt für christliche Pilger-Touristen im mittelalterlichen Europa - kaum nachstand. Wer sich für die Einzelheiten interessiert, kann sie hier nachlesen.) 100 m weiter befand sich (und befindet sich noch heute, Ihr müßt nur mal ins Römisch-Germanische Musum gehen, wenn Ihr es nicht glaubt, liebe Leser) das berühmte Diónysos-Mosaïk, Abbild und Sinnbild jener wüsten Ausschweifungen an den "tollen Tagen" und die älteste erhaltene Darstellung dieser Größe überhaupt. [Die meisten "seriösen", d.h. politisch-korrekten "Historiker" dürfen es freilich offiziell nicht kennen, da es erst 1941 wieder entdeckt wurde und somit ein "Nazi-Mosaik" ist, wie ja auch jedes Buch, das 1933-45 geschrieben wurde, "Nazi-Literatur" ist, jeder Schlager, der 1933-45 komponiert wurde, "Nazi-Musik" und auch alles andere, was damals gedacht, gesagt, gesungen, gemalt, geschrieben oder geforscht wurde, mit dem Makel "faschistoïd" behaftet ist.]

[faschistoides Mosaik]
[Das Diónysos-Mosaik in Köln] [Detail aus dem Kölner Diónysos-Mosaik]
[Detail aus dem Kölner Diónysos-Mosaik]

Seht Ihr, worauf Dikigoros hinaus will? Alexanders Diónysos-Orgien in Babilonia/Babylon waren just zur mutmaßlichen Entstehungszeit der "Svava" in aller Munde, nämlich durch Lamprechts kurz zuvor entstandenes Alexanderlied. Jeder Pilger, der nach Köln kam (und sie kamen nicht nur aus Soest, sondern auch aus Norwegen und Schweden - denn für die Leute dort waren Santiago de Compostela und Rom viel zu weit weg, von einer Fahrt ins Heilige Land ganz zu schweigen), erfuhr davon, und jeder Pilger sah, in Sichtweite des Domes, das für die Augen eines braven Christen, der nicht mit den Kölner Bräuchen vertraut war, doch recht anstößige Diónysos-Mosaïk. Welchen Schimpf- oder Spitznamen dürfte Köln also damals - und sei es nur für kurze Zeit, vielleicht im Karneval - gehabt haben? Eben - zumal als scherzhafte Bezeichnung in Karnevalszeiten drängte er sich doch geradezu auf, da "Babilonia" so schön auf "Colonia" reimt. Und die "[nord-]deutschen Männer", nach deren Berichten die "Svava" nieder geschrieben wurde, waren halt auch mal zur Pilgerfahrt (oder zum Karneval :-) in Köln, hatten den Namen "Babilonia" dort aufgeschnappt, und der skandinavische Mönch, der das ganze dann brav aufschrieb, konnte nicht wissen, daß es sich dabei um einen Karnevalsscherz handelte!

Nachtrag: Dikigoros hat diese Herleitung des Namens "Babilonia" gewählt, weil es ihm hier auf den Zusammenhang mit Alexander ankommt. Ritter-Schaumburg dagegen ging es ja "nur" um die Festmachung Kölns als einen der Schauplätze der Thidrekssaga; und da hätte er es sich leichter machen können, d.h. die Fach-Germanisten hätten es ihm leichter machen können, wenn sie weniger futterneidisch gewesen wären und ihm ein klein wenig mit ihrer Kenntnis anderer Quellen geholfen hätten. Wohlgemerkt, Ritter-Schaumburg war (anders als Dikigoros, der bloß ein paar Semester Germanistik nebenbei belegt hat, um ein wenig Mittelhochdeutsch zu lernen) kein Dilettant, sondern studierter, sogar promovierter Germanist, aber er hatte halt "nur" auf Lehramt studiert mit Schwerpunkt auf dem, was man damals "Germanistik II" nannte, nämlich neuere deutsche Sprache und Literatur. Hier ging es aber um "Germanistik I"; und es stieß ordentlichen Professoren der ältereren deutschen Sprache und Literatur halt übel auf, wenn da so ein "Amateur" ankam und es besser wissen wollte als sie selber. Der durfte keine Hilfe erwarten, da ging das Interesse am eigenen Ruf als Fachidiotmann über die Liebe zur Wissenschaft - die ja letztlich bloß ein Abstractum ist. (Das ist, um einen Vergleich aus Dikigoros' Metier zu bemühen, wie bei den Staatsanwälten, die ja laut Gesetz auch das ermitteln sollen, was für den Beschuldigten spricht, sich aber wohlweislich hüten, das zu tun - schließlich wollen sie "ihre" Fälle "gewinnen" und etwas für ihre Beförderung tun, nicht zur Beförderung des "Rechts", das ja letztlich auch bloß ein Abstractum ist.) Habt Ihr außerhalb der Thidrekssaga schon mal von Ecke gehört, jenem frühen Opfer des wenig ritterlich agierenden Thidrek? Wahrscheinlich nicht, wenn Ihr nicht gerade Fach-Germanisten [I] seid. Und doch war das "Eckenlied" aus dem 13. Jahrhundert lange Zeit populärer als Thidrekssaga und Nibelungenlied zusammen. Und in diesem Fall wird angesichts der z.T. wörtlichen Übereinstimmungen selbst von Germanistik-I-Professoren nicht bestritten, daß der (unbekannte) Verfasser - die Thidrekssaga als Steinbruch verwendet hat. Und dort wird die Stadt Eckes nicht "Babilonia" genannt, sondern einmal - gleich am Anfang - "Koeln" und einmal "Agrippa". Bingo! Und da Dikigoros gerade dabei ist: Auch Ritters nicht weniger bahnbrechende Re-Lokalisierung der Abenteuer des jungen Sîfrit/Siegfried im nördlichen Harz (statt im fernen Island :-) läßt sich aus der mittelalterlichen Literatur belegen, genauer gesagt aus dem Biterolf, wo als Produzent herausragender Schwerter ein "Smidemeister guot" genannt wird - "er hiez Mîme." Und wo saß der? Nun, der (ebenfalls unbekannte) Verfasser des Biterolf - wohl auch ein Kopist aus dem "Steinbruch" - konnte mit dem Harz nicht viel anfangen; er wußte nur, daß aus dem spanischen Toledo gute Schwerter kamen und daß es in der Nähe, in La Mancha, eine Stadt namens "Azaña" gab (die heute "Numantia de la Sagra" genannt wird); also verballhornte er den Harz zu etwas, das so ähnlich klang, und heraus kam: "Er [Mîme] saz in Azzarîâ, von Tolet zweinzic mile." Schade, daß Ritter-Schaumburg weder das Eckenlied noch den Biterolf kannte - und seine Anhänger und Epigonen offenbar auch nicht. Seine Gegner hüten sich jedenfalls, eines jener beiden Werke in die Diskussion einzubringen. (Es sind übrigens zwei der ganz wenigen mittelalterlichen Epen, die man bis heute nicht zum kostenlosen Download im Internet findet; wer das, was Dikigoros hier geschrieben hat, nachprüfen will, muß sie also käuflich in Buchform erwerben :-) Nachtrag und längerer Exkurs Ende.

[wie alexander und porus mit ain ander kämpfen - zeitgenössische Illustration zum Alexander-Roman von Hartlieb]

Und dann war da noch Hartliebs Alexander-Roman aus der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts - da besiegte Alexander den Poros sogar eigenhändig im ritterlichen Zweikampf. Was sollte das nun wieder? Da krähte doch kein längst Hahn mehr nach dem Landweg nach Indien, oder? War das nicht die Zeit, als helle Köpfe wie Kolumbus längst den Seeweg nach Indien suchten? Pardon, liebe Leser, aber das ist einer der großen Irrtümer der Geschichtsschreibung. Wer den Seeweg nach Indien damals Richtung Westen suchte, war ebenso ein Dummkopf wie der, der ihn Richtung Süden suchte, um Afrika herum, denn wer wußte schon, wie weit der war? [Die meisten Leute - so sie nicht gerade ausgebildete Geografen sind - wissen es heute noch nicht; der Schnitt unserer Landkarten ist nämlich immer noch so verzerrt, daß die West-Ost-Ausdehnung viel zu breit dargestellt wird, und die Nord-Süd-Ausdehnung viel zu kurz. Der Weg um Afrika herum nach Indien ist viel länger, als er sich bei einem Blick auf die meisten der heute verbreiteten Landkarten ausnimmt.] Aber nicht nur deshalb nennt Dikigoros jene Leute Dummköpfe, sondern auch, weil sie offenbar nicht mit den neuesten Erkenntnissen ihrer zeitgenössischen Reiseliteratur vertraut waren. Bald nachdem die Türken anno 1453 Konstantinopel erobert hatten, genauer gesagt, nachdem sie Galata erobert hatten, von wo aus die Italiener den Orient-Handel abgewickelt hatten, machten sich kluge Leute in Rußland Gedanken, wie man wohl sonst nach Indien gelangen könnte. So auch der Kaufmann Afanassij Nikitin aus dem schönen Twer (wenn Ihr das nicht findet, liebe Leser, weil Ihr noch Atlanten aus Sowjet-Zeiten habt, in denen es anders genannt wurde, dann kauft Euch endlich mal einen neuen :-), der nie im Leben auf die Schnapsidee gekommen wäre, tausende von Kilometern über die Weltenmeere zu schippern, wo es doch über Land und Fluß viel näher war - das war schließlich gute alte Waräger-Tradition seit Iáson und seinen Argonávten.

Nein, viel leichter war es nicht, denn die russische Eroberung Sibiriens durch Stroganow und seine Kosaken begann erst ein knappes Jahrhundert später; wer sich zuvor als Europäer auf diesen Weg machte, der mußte schon über die fysische und psychische Stärke verfügen, die man einem Alexander nachsagte. Nikitin hatte sie nicht; er starb im sechsten Jahr seiner großen Fahrt, aber er hatte alles wichtige in seinem Reisetagebuch aufgezeichnet, und daraus wissen wir, daß er zwischen den "drei Meeren" (dem Schwarzen Meer, dem Kaspischen Meer und dem Indischen Ozean) nach Indien gelangte, bis in die Gegend des heutigen Bãbaī (das damals freilich noch nicht gegründet war, seine Stelle nahm damals Surat ein), und daß Kolumbus & Co. sich und anderen ihre Fahrten nach Amerika und Afrika hätten ersparen können. (Und wer weiß, liebe Leser, ob es nicht für uns alle besser gewesen wäre, wenn man jene beiden Kontinente in Ruhe gelassen und in ihrem eigenen Saft hätte schmoren lassen und statt dessen der muslimischen Eroberung Indiens und Südost-Asiens zuvor gekommen wäre - aber von dieser Frage soll ein anderes Kapitel dieser "Reise durch die Vergangenheit" handeln.) Mit anderen Worten: Der Landweg nach Indien und damit auch die Geschichte von Alexander dem Großen waren damals hoch aktuell; und nur der berüchtigten russischen Ineffizienz ist es zuzuschreiben, daß sich damals nicht mehr daraus entwickelte. (Später auch nicht, wenngleich die Geschichte Nikitins rund 500 Jahre später, als die Sowjet-Union ihre Bündnispolitik in Asien von Rot-China auf Indien umstellte - also erneut aus aktuellem Anlaß -, wieder ausgekramt und aufwendig verfilmt werden sollte, mit Oleg Strishenow in der Titelrolle.) Und so wurde es zu einem Treppenwitz der Reiseliteratur, daß Nikitins Buch in Vergessenheit geriet, während der ungleich weniger wertvolle Reisebericht Marco Polos Geschichte machte; aber auch darüber schreibt Dikigoros in einem anderen Kapitel mehr.

weiter zu Roland und das Olifant

zurück zu Der lange Weg nach Alba Longa

heim zu Reisen, die Geschichte[n] machten