Berliner Zeitung, 28.6.03, S.9
Unbezahlbare Rechnungen
Warum für das SS-Massaker im griechischen Distomo keine Entschädigung geleistet werden soll
Götz Aly
Am Donnerstag hat der Bundesgerichtshof die Schadenersatzklage von vier Klägern aus dem griechischen Dorf Distomo kompromisslos abgewiesen. Es geht in dem Rechtsstreit um ein Massaker in Mittelgriechenland, das Angehörige der 4. SS-Panzergrenadierdivision am 10. Juli 1944 begingen. Zuvor hatten Partisanen 18 Soldaten dieser Einheit aus einem Hinterhalt heraus erschossen. Die Deutschen reagierten mit so genannter Vergeltung und machten wahllos 218 Einwohner in dem nicht ganz nahen Distomo nieder, vom 85 Jahre alten Greis bis zum acht Wochen alten Säugling. Die Kläger von heute machten sie zu Waisen. Nach damaligem Kriegsrecht galt die Aktion der Freischärler wie die Reaktion der Waffen-SS-Soldaten als Mord. Das Gemetzel der Deutschen ist allerdings durch gesteigerte Grausamkeit gekennzeichnet, es richtete sich gegen Wehrlose, während die griechischen Partisanen aus historischer Sicht das - kriegsrechtlich unerhebliche - Argument der gerechten Sache auf ihrer Seite wissen durften. 
Ohne Frage liegt im Fall Distomo einer der zahllosen von Deutschen während des Zweiten Weltkriegs verübten Massenmorde vor. Dennoch ist die Entscheidung des Bundesgerichtshofs richtig, den Antrag der griechischen Kläger zurückzuweisen. Die Richter folgen damit dem Begehren der verklagten Bundesregierung, die wegen der "immensen Konsequenzen" jede Entschädigung ablehnte. Gleichzeitig verwies sie auf die Staatenimmunität und auf ältere zwischenstaatliche Verträge mit Griechenland. 

Die Bundesregierung leitet die für die Opfer schwer begreifliche Unnachgiebigkeit aus ihrer gesetzlichen Pflicht ab, die Interessen aller Deutschen zu wahren. Das konnte sie nur so erreichen, weil nach ihrer Ansicht das Unrecht, das Deutsche im Zweiten Weltkrieg anrichteten, das Ausmaß an Zerstörung und menschlichem Leid so unvorstellbar groß waren, dass es nicht bezahlt werden kann. Die Westalliierten, insbesondere die USA, haben das früh gesehen und in verschiedenen Rechtsakten bewusst auf Reparationen verzichtet. Sollten die heutigen Deutschen nur die materiellen Folgen des Großunrechts ihrer Väter, Großväter und Urgroßväter - seit 1945 verzinst - begleichen, mül;ssten sie sofort die Staatsbürgerschaft wechseln. Denn neben den Folgen der direkten Ausplünderung, der Massenverschleppung und -vernichtung wären auch die Mittel der Gegenwehr reparationsfähig - einschließlich der Kosten fü;r die Bomben auf Dresden. 

Wer es sich leicht macht, verlangt nun von den vermeintlichen Großprofiteuren Banken und Industrie entsprechende Zahlungen. Doch führt die Behauptung, in Deutschland hätte nur eine bestimmte Gruppe aus dem Zweiten Weltkrieg Gewinn gezogen, in die Irre. Der NS-Staat kann nur als nationalsozialer Wohlfahrtsstaat verstanden werden, in dessen Mittelpunkt der (deutsche) Mensch stand. 

Einem Führererlass von 1943 verdankt sich zum Beispiel, dass die Krankenversicherung bis heute je zur Hälfte zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer aufgeteilt wird; bis dahin trugen die Arbeitgeber nur 25 Prozent bei. Hitler führte 1941 die gesetzliche Krankenversicherung für alle deutschen Rentner ein, die bis dahin weitgehend auf die Fürsorge angewiesen waren. Er erhöhte gleichzeitig die Renten um mehr als 15 Prozent, die Kleinrenten stark überproportional. Und seit dem Oktober 1940 werden den Deutschen keine Steuern mehr für die Lohnzuschläge auf Feiertags- und Nachtschichten abgezogen. 

Solche sozialen Wohltaten konnten mitten im Krieg nur bezahlt werden, weil dem besetzten Europa mehr als 80 Prozent der laufenden Kriegskosten auferlegt wurden. Der deutsche Prolet, der kleine Angestellte und Beamte zahlte im Zweiten Weltkrieg überhaupt keine direkten Kriegssteuern. Ihren Sold erhielten deutsche Soldaten in griechischer, französischer oder russischer Währung, und genauso "bezahlte" das Deutsche Reich die Lebensmittellieferungen für die Heimat aus den Besatzungskosten. Das war die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik im NS-Staat. 

Betrachtet man die Folgen realistisch, wird sofort klar, welches Ausmaß für eine ernsthafte materielle Wiedergutmachung der Massenverbrechen aufzubringen wäre. Um das zu bezahlen wäre über langjährige 30- bis 50-prozentige Lohn-, Gehalts- und Rentenminderungen für alle deutschen Staatsbürger zu reden, bei gleichzeitiger Verstärkung der Arbeitsleistung. 

Ein geschichtsferner Antifaschismus - namentlich in der einstigen DDR - trompetet, das Urteil des BGH sei ein Skandal, und nennt die 115 Millionen D-Mark, die die Bundesrepublik 1960 an Griechenland zahlte, lächerlich. Erstens war eine solche Summe vor 43 Jahren nicht lächerlich und zweitens fragt man sich doch, warum nicht die DDR dieser Lächerlichkeit sofort durch einen eigenen namhaften Betrag abhalf. Im Übrigen sperrte diese DDR bis zu ihrem Ende sämtliche Archivunterlagen über das in ganz Europa geraubte und nach Mitteldeutschland verlagerte Betriebsvermögen und die Namenslisten von Zwangsarbeitern. Die "Arisierung" betrachtete man dort als zwar unschöne, aber nicht wirklich falsche Vorbedingung des Sozialismus. Fragte der Westbesucher treuherzig: "Warum denn das?", erhielt er die Antwort: "Hier rangieren die ökonomische Notwendigkeiten vor der antifaschistischen Moral." 

Im Gegensatz zur DDR handelte es sich im Fall des Dritten Reichs um eine jederzeit mehrheitsfähige Wohlfühl-Diktatur. Deshalb trifft die historische Verantwortung für die NS-Verbrechen alle Deutschen, gleichgültig welcher politischen Meinung oder Partei sie anhängen. Das verlangt die Einsicht, dass Recht, Moral und individuelle politische Neigungen sich niemals decken und auch nicht decken können

Wer der Klage der von schwerem Unrecht getroffenen Griechen stattgibt und der Staatsräson keinen Raum einräumen möchte, der soll dieses Rechnung stellen: Es handelt sich um eine Schadenersatzklage. Würde ihr stattgegeben, dann könnte - weil Recht eben nicht teilbar ist - jede heimatvertriebene Familie ihr H&auuml;uschen in Hirschberg, Krumau oder Tilsit zurückklagen, dann stünden die Enteignungen in der sowjetischen Zone zur Debatte, dann könnten die Überlebenden des Todesmarsches von Brünn oder die Hinterbliebenen derjenigen Greise, Frauen und Kinder vor Gericht gehen, die zum Beispiel nach der kampflosen Übergabe von Allenstein durch Soldaten der Roten Armee zu Hunderten niedergeschossen wurden. 

Dann könnten Albanien und die Türkei gegen Griechenland Schadenersatz für ungeheure Massaker verlangen, begangen von Griechen in mehreren Angriffskriegen zwischen 1912 und 1922. Dann müssten am Ende hundert Jahre europäischer Bürgerkrieg vor den Zivilgerichten des Kontinents nachgestellt werden. Auch dem verweigern sich Bundesgerichtshof und Bundesregierung - mit guten Gründen. 
 

Leserbriefe aus der Berliner Zeitung

Kritische Stellungnahme von A. Sfountouris (Kläger vor dem BGH) und von uns 
 

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Ein weiterer Artikel von Götz Aly "HitlersVolksstaat" zur kritischen Kenntnisnahme zum Herunterladen

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