AUCH DIE OPFER DES DISTOMO-MASSAKERS MÜSSEN ENTSCHÄDIGT WERDEN
Aus der taz Nr. 7094 vom 3.7.2003

Gegen die Logik des Alles oder nichts

Journalistische Provokationen sind nützlich, vor allem, wenn sie stereotype Haltungen und eingeschliffene Reaktionen bloßstellen. Der Historiker und Publizist Götz Aly wollte offenbar derart provozieren, als er am Montag in der Berliner Zeitung ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) verteidigte. Der BGH hatte die Schadenersatzansprüche zweier griechischer Kläger abgelehnt, deren Eltern Opfer des Distomo-Massakers wurden. Aly wollte insbesondere einem von ihm gemutmaßten Sturmlauf der Linken gegen das Urteil entgegentreten. Aber seine Provokation läuft ins Leere. Er verkennt den politischen Einsatz, um den es bei der Behandlung des Distomo-Massakers geht. Und er lässt praktische Lösungsmöglichkeiten zugunsten der Opfer und ihrer Nachkommen außer Betracht.

Götz Aly ruft die deutsche Staatsräson auf, um zu zeigen, dass die Anerkennung von Schadenersatzforderungen der Distomo-Kläger zu einer endlosen Kette weiterer ziviler Forderungen führen würde. Die Bundesrepublik als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reichs sähe sich dann mit einer Prozessflut konfrontiert, die, falls erfolgreich, eine unerträgliche, über Generationen sich auswirkende Schuldenlast zur Folge hätte. Aber auch andere Regierungen, darunter auch die griechische selbst, müssten, wenn man Zivilklagen gegen fremde Staaten für völkerrechtlich erlaubt hält, für frühere Kriegsverbrechen finanziell einstehen. Damit wäre das Gegenteil von Gerechtigkeit und Rechtsfrieden erreicht.

Alys Argumentation folgt dem bekannten Schema von "Alles oder nichts". Überträgt man seine Logik auf die Verhandlungen zur Entschädigung der Zwangsarbeiter, so hätte es niemals die Einigung auf die 10-Milliarden-Bundesstiftung geben dürfen. Realistisch gerechnet hätten sie mit 180 Milliarden Mark für entgangene Löhne entschädigt werden müssen, was seinerzeit der Wirtschaftshistoriker Thomas Kuczynski ausgerechnet hat.

Nur: In den Entschädigungsverfahren stellte sich bis auf wenige Ausnahmen heraus, dass trotz gravierender Ungerechtigkeiten die Kläger bereit waren, ihre Klage zurückzuziehen und damit die Stiftung auf den Weg zu bringen. Nicht umsonst ist das Modell der Bundesstiftung auch in Griechenland in aller Munde.

Der praktische Lösungsweg für den Fall Distomo müsste so aussehen: die Zwangsanleihe, die das Deutsche Reich 1941 Griechenland abgepresst hat und nie zurückgezahlt wurde, jetzt zu begleichen und in einen Fonds zu überführen. Dieser Fonds sollte dann den Opfern der deutschen Verbrechen in Griechenland sowie deren Nachkommen zugute kommen.

Der Errichtung dieses Fonds stünde nicht die Zahlung von 115 Millionen Mark seitens der Bundesrepublik in den 60er-Jahren im Wege, denn dieser Fonds beinhaltete, anders als von Aly suggeriert, keine Wiedergutmachung des Unrechts, das den Griechen von der deutschen Besatzung zugefügt wurde. Auch dem Bedenken, ein solcher Fonds würde eine Kettenreaktion weiterer Fonds nach sich ziehen, ist durch diese Lösung Rechnung getragen. Lediglich Griechenland wurde zu einer solchen Zwangsanleihe genötigt.

Es war der Bundesgerichtshof selbst, der in seinem Urteil ausführte, der Fall Distomo "müsse mit den beschränkten Mitteln des Rechts gelöst werden". Andere Wege "seien dem Richter versperrt". Diesen Wink mit dem Zaunpfahl hat Götz Aly geflissentlich übersehen. Es wäre seine Aufgabe gewesen, die Möglichkeiten zu prüfen, die jenseits des jetzt abgeschlossenen Rechtsstreits liegen. Zur Staatsräson gehört es eben nicht nur, die Bundesrepublik vor finanziellem Schaden zu bewahren, sondern auch, sich darüber hinaus um das politische Ansehen Deutschlands zu sorgen, selbst wenn diese Sorge "nur" einem Staat wie Griechenland gelten muss, dessen politische und ökonomische Machtmittel begrenzt sind.

Götz Aly wendet sich gegen einen geschichtsfernen Antifaschismus, der "namentlich in der einstigen DDR" das Urteil des BGH als Skandal anprangere. Mag sein, dass es solche Stimmen gibt. Aufseiten der griechischen wie der deutschen Linken, die sich um eine Lösung des Jahrzehnte währenden Distomo-Skandals mühen, wird ein anderer, ein konstruktiver Ton angeschlagen. Ihn hat Aly bei seiner Urteils-Laudatio ignoriert.

CHRISTIAN SEMLER


 

Leserbriefe Berliner Zeitung vom Samstag, 05. Juli 2003

Es gab mehrer Leserbreife zum Artikel von Götz Aly

Argyrius Sfountouris Stellungnahme wurde am 10. Juli in der Berliner Zeitung als Replik im Feuilleton abgedruckt
 

Realsatire zum neuen deutschen Selbstbewusstsein 

Feuilleton: "Unbezahlbare Rechnungen" von Götz Aly (28./29. Juni): Das ist Realsatire zum neuen deutschen Selbstbewusstsein. Wir sind schon lange wieder wer, und reich sind wir auch. Aber wenn es um Naziverbrechen geht, dann können wir plötzlich keinen Cent bezahlen. Wenn jeder Deutsche nur einen Euro für die Opfer des Massakers in Distomo bezahlte, käme eine ordentliche Summe zusammen. Richtig ist aber, dass dies zum Präzedenzfall werden könnte und dann vielleicht doch mehr als die Kugel Eis auf dem Spiel stünde, die uns dieser Euro kostet. Aly hat aber auch Recht: Wir können das geschehene Unrecht gar nicht wieder gutmachen. 

MartinSiefkes, Berlin 


Schnell wäre man bei Adam und Eva 

Danke, dass Sie die Folgen eines Gerichtsurteils sehr wohl erkennen. Recht ist eben nicht teilbar und schnell wären wir mit der gegenseitigen Aufrechnung bei Adam und Eva angelangt. Und wer anklagt, wird sich schnell als Angeklagter wiederfinden. Leider hat hier das amerikanische Rechtssystem einen unheilvollen Einfluss genommen. Es nährt den Glauben, alles Unrecht dieser Welt ließe sich in Dollar ausdrücken. Wir sollten uns damit abfinden, dass das Leben sehr ungerecht ist. Eine Absicherung dagegen gibt es nicht. Ihre Artikel, Herr Aly, lese ich immer mit Gewinn. Helmut Richter, Berlin 
 
 

Ein mutiger Artikel 

Bravo, Götz Aly! Sie haben Mut. Es ist wichtig zu erfahren, dass das NS-Regime nicht nur aus Roland Freisler, Heinrich Himmler, den Nürnberger Gesetzen und Adolf Eichmann bestand. Hansjoachim Katsch, per E-Mail 
 
 

Ursache und Wirkung verkehrt 

Abgesehen von dem das Nazi-Regime verharmlosenden Vergleich "Wohlfühldiktatur" ist es schon einigermaßen ungeheuerlich, die einstigen sudetendeutschen Vertreiber tschechischer Bürger aus ihrer Heimat mitden von ihnen Vertriebenen gleichzusetzen. Überhaupt werden mit den weiteren "Beispielen" Ursache und Wirkung verkehrt. Täter werden zu Opfern, die eigentlichen Opfer verhöhnt. Peter Lind, per E-Mail 
 
 

Deutsche Truppen haben in Distomo gemordet 

Ich habe selten einen so zynischen Kommentar gelesen. Danach kann man jeder Diktatur nur raten, so brutal vorzugehen, dass eine Entschädigung nicht zu zahlen ist. In Distomo haben deutsche Truppen gemordet - nicht alle Deutschen. Alle Deutschen zu Tätern zu machen, ist genauso unhistorisch und für die Täter entlastend, wie bis vor einiger Zeit abzustreiten, dass die Wehrmacht oder Waffen-SS Verbrechen begangen hätten. Thomas Lutz, Hohen Neuendorf 



Frust über staatlichen Antifaschismus der DDR 

Wie ist es möglich, den NS-Staat als "nationalsozialen Wohlfahrtsstaat" zu bezeichnen angesichts der Tatsache, dass der Lohnraub ab 1933 eskalierte, die Sozialausgaben zusammengestrichen wurden und einzig die Gewinne der Unternehmer anstiegen? Der offensichtliche Frust über den staatlichen Antifaschismus der DDR sollte nicht in derartigen Kapriolen enden. Robert Schmidt, Berlin 
 

Unzulässige Aufrechnung der Geschichte 

Aly weist die Wiedergutmachungsforderungen von griechischen Opfern mit dem Hinweis auf "ungeheure Massaker" ab, die Griechen 1912 bis 1922 begangen haben sollen. Will Herr Aly Schuld so verrechnen? Wie steht es dann mit den Ansprüchen osmanischer Staatsbürger griechischer Nationalität, deren Vorfahren im selben Zeitraum Opfer türkischer Staatsverbrechen - Genozid und Demozid - geworden sind, an die Republik Türrkei? Wenn es so leicht wäre, die Aggressoren des Zweiten Weltkrieges von ihren Verpflichtungen zu befreien, dann hätten wir heute eine Welt, die von Barbaren beherrscht wäre. Dipl.-Ing. LamprosSavvidis, Vorsitzender des Vereins der Griechen aus Pontos "I Ipsilantides" e.V., Berlin

http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/leserbriefe/index.html

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