»Winnetou« · Ein Name und seine Quellen

von Werner Poppe (Uni Bielefeld)

Adalbert Stütz hat die Theorie aufgestellt, daß May den Namen seines Helden nicht der Apatschen-Sprache entnommen, sondern dem Digger-Wort »vintu« nachgebildet habe. (1) Dieses Wort sei ihm in den Verzeichnissen des Werkes von Gatschet (2) begegnet. Denn, so lautete die Begründung, da »vintu« im Digger »der Indianer« bedeute und May in Winnetou die Idealgestalt des Indianers schlechthin habe verkörpern wollen, »konnte er seinem Hauptvertreter der indianischen Rasse gar keinen glücklicher gewählten Namen geben als denjenigen, der die Bedeutung ›der Indianer‹ einschloß.« (3) In letzter Zeit ist diese Deutung von Plischke (4) ebenso übernommen worden wie von Pinnow (5), und beide weisen auch auf Lokotsch (6) hin.

Es ist verständlich, daß die Stützsche Ansicht allgemein überzeugte, zumal sie dem »symbolischen« Charakter, den May im Alter auch seinen frühen Erzählungen zusprach, so einleuchtend gerecht wurde. Zweifel wecken könnte allerdings der Umstand, daß er diese Deutung, die mit seinen späten Absichten so günstig übereinstimmte, selbst nie vorgetragen hat, wie er auch die Erklärung »Brennendes Wasser« nur einmal in mündlichem Gespräch geäußert hat. (7) Einen Anlaß, die Frage nochmals zu überprüfen, ergab jedoch vor allem das Erscheinungsjahr der ersten Winnetou-Erzählung »Old Firehand« 1875, das in den früheren Werkslisten des Bandes 34 »Ich« falsch angegeben war. (8) Diese Überprüfung erbrachte nun das Ergebnis, daß die Stützsche Ansicht in der Tat nicht mehr aufrechterhalten werden kann.

Stütz ging von zwei grundlegenden Voraussetzungen aus. Zum ersten müßte May den im Alter formulierten Plan, in Winnetou die Idealgestalt des Indianers zu verkörpern, bereits bei der Niederschrift des »Old Firehand« gehabt haben; und zweitens müßte ihm das Wort »vintu« schon bei dieser Erzählung bekannt gewesen sein. Beide Voraussetzungen sind nicht gegeben.

Schon im ersten Punkt ergeben sich gewichtige Einwendungen. In »Old Firehand« wird der Ur-Winnetou gezeichnet, »der sich aber in mehr als einer Hinsicht von der späteren Heldengestalt scharf abhebt« (9): er ist eindeutig ein Wilder und weist keine der späteren Idealzüge auf. Auch in den folgenden Erzählungen um Winnetou, nämlich »Deadly Dust« (1880) »Im Wilden Westen Nordamerikas« (1882) und »Der Scout« (1888), hat May eine wesentlich andere Zeichnung nicht gegeben; vielleicht bestanden damals nicht einmal Pläne zu weiteren Winnetou-Erzählungen. Bis zu der idealisierten Gestalt des Indianers von »Winnetou I« (1883) war noch ein weiter Weg. Stütz hat bei seinen Überlegungen diesen Weg übersprungen und seine Deutung ganz auf die spätere Gestalt des Winnetou gegründet.

In seiner Selbstbiographie führt May aus, daß er sich schon in der Strafanstalt Osterstein fest umrissene Gedanken über seine spätere schriftstellerische Tätigkeit gemacht habe, und da wurde auch der Gedanke »Winnetou« geboren. (10) Bei dieser Mitteilung ist jedoch die Zeit zu berücksichtigen, in der sie geschrieben wurde, und eine Erinnerungstäuschung ist nicht unwahrscheinlich. (11) Die tatsächliche Entwicklung der Dinge war jedenfalls eine andere. Als May 1875 durch die Arbeit für Münchmeyer leidliche materielle Sicherheit fand, konnte er gewiß noch nicht überblicken, ob er einmal einen großen schriftstellerischen Erfolg haben und einen bestimmten Plan würde durchführen können. Die ersten Erzählungen sprechen nicht für eine Absicht, die Gestalt des Apatschen-Häuptlings in einer Reihe von Reiseerzählungen weiter zu entwickeln, sondern weisen eher darauf hin, daß es sich um lose Episoden ohne einen Gesamtplan gehandelt hat.

An anderer Stelle der Selbstbiographie heißt es: Ich bestimmte das »Deutsche Familienblatt« für die Indianer und die »Feierstunden« für den Orient Im ersteren Blatte begann ich sofort mit »Winnetou« nannte ihn aber einem anderen Indianerdialekt gemäß einstweilen noch Inn-nu-woh. (12) Hiernach will May die beiden Worte als echte indianische Namen verstanden wissen. Es fällt jedoch auf, daß er weder für »Winnetou« noch für »Inn-nu-woh« die indianische Bedeutung angibt, was er sonst bei Verwendung indianischer Worte stets getan hat. Ferner spricht er merkwürdigerweise von einem anderen Indianerdialekt, statt »Dakota-Dialekt« zu sagen, denn in seiner Erzählung stellt er Inn-nu-woh ja als Sioux-Häuptling vor. Tatsächlich ist der Name aber als Dakota-Wort nirgends nachzuweisen. Stütz hat allerdings darzulegen versucht, der Name sei »zweifellos« aus dem in einem Wörterverzeichnis bei Catlin zu findenden Tuscarora-Wort »Yegowanuh« (»großer Häuptling«) gebildet worden. (13) Diese Überlegung wirkt aber allzu konstruiert. Es ist nicht einzusehen, warum May - falls er Catlin damals überhaupt schon benutzte - sich die Mühe gemacht haben sollte, ein Wort der Tuscarora-Sprache für den Namen eines Sioux zu verwenden, wo Catlin doch genügend Namen aus dem Dakota bot. Schließlich aber kann auch die in Mays Erklärung liegende Behauptung, Inn-nu-woh und Winnetou seien imgrunde identisch, nicht zutreffen. Es ist anzunehmen, daß beide Erzählungen unmittelbar nacheinander entstanden; »Inn-nu-woh« erschien in Heft 1, »Old Firehand« begann in Heft 7 des »Deutschen Familienblattes«. Ein Grund, die gerade erst eingeführte Gestalt so rasch wieder zu verändern, ist nicht zu sehen; vielmehr muß man zu dem Schluß kommen, daß Inn-nu-woh in Mays Vorstellung damals noch nichts mit Winnetou zu tun hatte.

Das Werk Gatschets trägt das Erscheinungsjahr 1876. Stütz glaubte daher, daß May es beim »Old Firehand« bereits habe benutzen können, doch war dies ein Irrtum, der auf die falsche Entstehungsangabe der Erzählung in Band 34 »Ich« zurückging. Tatsächlich begann sie im »Deutschen Familienblatt« Ende Oktober 1875. Als May den Namen Winnetou einführte, war also der Gatschet noch gar nicht erschienen. Selbst wenn es möglich sein sollte - was sich heute kaum noch klären läßt -, daß das Werk bereits Ende 1875 ausgeliefert wurde (das Vorwort entstand im August 1875 in New York), ist eine Benutzung durch May ausgeschlossen, da er es in so kurzer Zeit unmöglich hätte auswerten können. Hierbei bliebe sogar noch unberücksichtigt, daß die Erzählung im Oktober 1875 sicherlich schon fertig vorlag, die Niederschrift also noch weiter zurückliegen dürfte.

Nun weist Gatschet darauf hin, daß er die Wörterliste der Digger-Sprache von O. Loew erhalten habe, der sie im Jahre 1874 anlegte. (14) Da Gatschet in seinem Literaturverzeichnis die in »Petermanns Mitteilungen« enthaltene Beschreibung der Expedition von O. Loew und Lieutenant Wheeler nach Neu Mexiko und Arizona zitiert (15), hätte es möglich sein können, auch Loews Wörterliste dort zu finden; »Petermanns Mitteilungen« standen in Mays Bibliothek. Das Suchen war jedoch vergeblich, denn die zitierte Stelle betraf nicht die Expedition zu den Digger-Indianern. May konnte daher weder aus dem Gatschet noch aus »Petermanns Mitteilungen« das Wort »vintu« kennen. Vielleicht ließe sich einwenden, May habe das Wort in irgendeinem anderen Werk gefunden. Dieser Einwand ist jedoch kaum berechtigt. Gatschet hat selbstverständlich für seine Abhandlung die gesamte damalige Literatur, insbesondere auch die amerikanische, berücksichtigt. Bis dahin war für das Digger lediglich ein Verzeichnis von 22 Worten bekannt, das aber die Bezeichnung »vintu« nicht enthielt. Auch das umfassende Werk von Bancroft gibt nur ein kurzes Wörterverzeichnis dieser von ihm »Wintoon« genannten Sprache, doch auch darin fehlt das Wort, obwohl der Stammesname von ihm abgeleitet zu sein scheint. (16) Bancroft hat ebenfalls die gesamte damals erreichbare Literatur verarbeitet.

Mehr als diese Wissenschaftler hätte auch May nicht ermitteln können; man muß im Gegenteil zu der Erkenntnis kommen, daß er sich um diese Zeit überhaupt noch nicht näher mit indianischen Sprachen befaßt hatte. Stellt man einen Vergleich an zwischen den Amerika-Erzählungen und den im Orient spielenden, so zeigt sich, daß nur die letzteren eine Beschäftigung mit den betreffenden Sprachen erkennen lassen. Schon in den »Geographischen Predigten« zeigt sich, daß May gewisse arabische Begriffe geläufig waren (17), während man seine Kenntnisse der indianischen Zusammenhänge oberflächlich nennen muß. Er spricht da zum Beispiel vom Jagdgebiet der Apachen, Navajos und Athabaskahs (18), hält letztere mithin für einen Stamm im Westen der USA, während die Wissenschaft schon damals darunter die große athabaskische Sprachfamilie verstand. Daß es sich dabei nicht um ein bloßes Versehen handelte, beweisen die Erzählungen »Old Firehand«, wo der Oglalla-Häuptling als Athabaska bezeichnet wird (19), und »Die Both Shatters«, wo es heißt, Winnetou sei von einem Stämmlein Athabaskas überfallen worden. (20) Sieht man sich, um den Vergleich weiter zu führen, die ersten Orient-Erzählungen an, nämlich »Leilet« (1876) und »Die Gum« (1877), so kann man eine gewisse Vertrautheit mit der arabischen Sprache feststellen, wobei es nicht darauf ankommt, ob May seine Sprachproben Wörterbüchern und Sprachführern entnommen hat und ob das fehlerfrei geschehen ist. Ein anderes Ergebnis bringt die Durchsicht der ersten Amerika-Erzählungen. Die auftretenden Indianer tragen bis zu »Deadly Dust« (1880) Phantasienamen; Sprachproben fehlen ganz. Erst im Lauf dieser Erzählung hat May den Catlin, der sich auch in seiner Bibliothek befand (21), benutzt und ihm einige wenige Personennamen entnommen. Den Gatschet hat May noch später, nämlich erst 1882 in dem Kolportageroman »Waldröschen«, verwendet. Hier werden außer Namen auch indianische Sprachproben, wenn auch nur spärlich, wiedergegeben. (22) May fand im Gatschet aber nur für das Apatsche einen ausreichenden Wortvorrat, nicht für Komantsche und Mixteca. So entnahm er die Worte, wie es ihm gefiel, den Verzeichnissen für Jemez, Tonto und Tonkawa, obwohl die Erläuterungen Gatschets deutlich machten, wie verschieden voneinander diese Sprachen waren.

Zusammenfassend muß gesagt werden, daß May, als er 1875 den »Old Firehand« veröffentlichte, weder einen Anlaß noch die Möglichkeit hatte, den Namen für seinen Helden aus dem Digger-Wort »vintu« zu bilden. Beantwortet ist so auch die Frage, ob er etwa den Namen eines Häuptlings der Blackfeet »Wun-nes-tou« (»weißer Büffel«), zum Vorbild genommen hat (23), der sich bei Catlin findet. (24) Da May den Catlin zu dieser Zeit noch nicht benutzt hat, ist sie zu verneinen. Es befindet sich auch in Mays Exemplar des Catlin an der betreffenden Stelle keinerlei Randanzeichnung.

Daß der Name »Winnetou« irgendeinem anderen Werk der Indianer-Literatur entnommen sein könnte, ist wohl auszuschließen. So bleibt als seine Quelle nur: die Phantasie.


1 Adalbert Stütz, Die Bedeutung des Wortes »Winnetou«, KMJB 1922, 255 ff.

2 Albert S. Gatschet, Zwölf Sprachen aus dem Südwesten Nordamerikas, Weimar 1876, 99

3 Stütz a. a. O. 262

4 Hans Plischke. Winnetou, Blätter für Volksliteratur, Graz, 1963 Nr. 3, 6, und Mitteilungen der KMG 1970 Nr. 4, 10

5 Pinnow, Kalumet 1964, 100

6 Lokotsch, Etymologisches Wörterbuch der Amerikanischen (Indianischen) Wörter, Heidelberg 1926

7 Stütz, a. a. O. 256; Plischke, a. a. O.

8 Ges. Werke Bd. 34, 1.-20. Auflage: »1876«; 21. - 26. Auflage: »1876 und früher«; ab 27. Auflage: »1875«

9 Franz Kandolf, Der werdende Winnetou, KMJB 1921, 339 ff.

10 Karl May. Mein Leben und Streben, Freiburg 1910, 136

11 vgl. Bd. 34 »Ich«, 27. Auflage. 316 f.

12 Karl May, Mein Leben und Streben 185

13 George Catlin, Die Indianer Nordamerikas, hg. Sommerfeld, Berlin 1924, 325

14 Gatschet. a. a. O. 76

15 Gatschet, a. a. O. 6

16 H. H. Bancroft. The Native Races of the Pacific States of North America, London 1875, 111, 641

17 Ges. Werke Band 72 »Schacht und Hütte«, 346 ff., 401 ff.

18 ebda. 350

19 Ges. Werke Band 71 »Old Firehand«, 57, 58, 60 und 147

20 ebda. 267

21 Catlin, Ausgabe Brüssel-Leipzig 1848; vgl. KMJB 1931, 231 (die dortige Jahreszahl 1884 ist ein Druckfehler)

22 Karl May, Das Waldröschen, Olms-Reprint, Hildesheim 1969, I, 377, 378, 397, 442 u. a.

23 Stütz, a. a. O. 261; Plischke, a. a. O. s; Pinnow, a. a. O.

24 Catlin, Sommerfeld-Ausgabe 1924, 24


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