Das Interesse an ethnologischen und kulturellen Fragestellungen erlebt in Deutschland seit den späten 1970er Jahren einen Boom. Die Öffentlichkeitswirkung des Faches Ethnologie bzw. Kulturanthropologie ist dagegen extrem gering. Vertreter unserer Disziplin drängen weder in Schulbuchkomissionen, noch propagieren sie die Einrichtung der Ethnologie als Schulfach - eine Forderung, der sich im Rahmen des Zusammenwachsens Europas und der zunehmenden Multikulturalisierung unserer Gesellschaft geradezu aufdrängt. Sie sitzen auch nicht in TV-Talkshows, in denen Experten unterschiedlicher Disziplinen Fragen über die Kultur und 'die menschliche Natur' diskutieren. Sie sitzen schließlich auch nicht in Kommissionen wie der
Forschungsarbeitsgemeinschaft Bioethik in Nordrhein-Westfalen, aus der zu Beginn des Jahres 1994 das Bonner Institut für Wissenschaft und Ethik hervorging, und das die Aufgabe hat, die Genforschung mit einem ethischen Kodex zu begleiten. Schule, Medien und Kommissionen sind nur Beispiele für öffentlichkeitswirksame Aktionsfelder, in denen Vertreter unserer Disziplin tätig werden müssen; denn KulturanthropologInnen sind ExpertInnen für viele gesellschaftlich relevante Fragestellungen unserer Zeit, sie haben etwas zu sagen.
Wenn wir die Rolle von Kulturanthropologie und Ethnologie in der Gegenwart diskutieren, dann bietet sich exemplarisch die Auseinandersetzung mit denjenigen Bereichen von Wissenschaft und Gesellschaft an, die ureigene kulturanthropologische Themen und oft sogar unsere Terminologie mit Inhalten besetzen, die sich diametral von kulturanthropologischen Ansätzen unterscheiden. Drei dieser Bereiche werde ich im vorliegenden Artikel diskutieren: die Humangenetik, die Soziobiologie und schließlich die Kulturalisierung des politisch-öffentlichen Diskurses.
In seinem Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen bezeichnet Thomas Kuhn 1 die modellhafte Lösung für ein wissenschaftliches Problem, die zur Ausbildung einer kollektiven Forschungstradition führt, als Paradigma. Paradigmen sind nicht nur Erklärungen, sie drücken auch Überzeugungen darüber aus, wie die Wissenschaftler ihren Forschungsgegenstand wahrnehmen. Paradigmen identifizieren die jeweils relevanten Ausschnitte aus der Realität, die mit einer Theorie in
Übereinstimmung gebracht werden. Die ungelösten Probleme eines Paradigmas lösen eine Suche nach neuen Antworten aus, neue Lösungsmodelle und Weltsichten werden entwickelt. Hat dieser Wandel grundlegenden Charakter, so spricht man von
Paradigmenwechsel.
In der Geschichte der Wissenschaften hat man schon öfters derartige Paradigmenwechsel erlebt, und zwar auf unterschiedlischen
Ebenen.
Zum einen kann es sich um Paradigmenwechsel innerhalb einer Disziplin handeln. So wurde in den Humanwissenschaften wurde etwa das evolutionistische Paradigma, das nach den historischen Ursachen der menschlichen Entwicklung in der Entstehung komplexer Formen aus einfachen Formen fragte, durch den Kulturrelativismus abgelöst, in dem jede kulturelle Äußerung einer
Gruppe von Menschen als Ergebnis einer eigenständigen Entwicklung formuliert wurde.
Zum anderen kann ein Paradigmenwechsel allgemeinwissenschaftlichen Charakter haben und parallel in verschiedenen Disziplinen stattfinden.
Die postmoderne Kulturanthropologie [...] steht innerhalb des Paradigmas von Pluralität und verschiedenenen Interpretationsmöglichkeiten.2 Sie stellt Postulate über ihren Forschungsgegenstand (die psychische Einheit der Menschheit; die Gleichwertigkeit jeder kulturellen Erscheinungsform; die kulturelle Ausprägung und Bewertung universell menschlicher Bedürfnisse; die Fähigkeit von Individuen, sich zu wandeln; der synkretistische und der dynamische Charakter jeder Kultur und jeder Ethnie), sowie über Wissenschaftstheorie und Methodologie (die situationale und ethnozentrische Bedingtheit von Erkenntnis; die Pluralität gleichberechtigter Forschungsansätze; die Bekämpfung von Hegemonie-Streben; die bewußte Anwendung diskursanalytischer und dekonstruktivistischer Ansätze; die Betrachtung des Auftretens eines Sachverhaltes unter den Aspekten von Macht und Repräsentation) auf.
Die Postmoderne formuliert also nicht nur, daß - besonders in die Humanwissenschaften - allgemeine weltanschauliche Überzeugungen des Forschers und seiner Herkunftskultur über die Grundlagen gesellschaftlicher Organisation und der sinnvollen Ziele gesellschaftlichen Fortschritts eingehen. Sie schließt darüberhinaus sogar aus, daß der relevante Realitätsausschnitt
nicht zwischen Forscher und Erforschtem konstruiert sei. Jede Art von Erkenntnis und Erkenntnissuche ist demnach nicht nur ethnozentrisch, sondern auch Produkt einer Interaktion, in der sich Status- und Machtverhältnisse spiegeln. Aufgabe
einer postmodernen Kulturanthropologie ist es, Status- und Machtverhältnisse und ihre Strategien nachzuzeichnen. Meine Ausführungen zu Humangenetik, Soziobiologie und Kulturalisierung stehen innerhalb des interpretativen
Paradigmas und stellen die Frage nach
Postmoderne Kulturanthropologen erheben mit ihren wissenschaftlichen Texten nicht mehr den Anspruch, die Realität
der Kultur darzustellen, sie bieten vielmehr Deutungen von Sachverhalten an; dies hat zur Folge, daß bisher gültige Erklärungsmodelle dekonstruiert werden - so werden Kultur und Ethnie nicht mehr als abgeschlossene Systeme
betrachtet, sondern als offen, dynamisch und vom Betrachter abhängig.3
Dieses in den Geistes- und Sozialwissenschaften vorherrschende Paradigma der Interpretation wird durch die allgemeinwissenschaftliche und die politische Hinwendung zur Biologisierung herausgefordert und in Frage gestellt:
die Humangenetik formuliert starre und abgeschlossene Systeme, die sich auf die menschlichen Erbanlagen beziehen. Die Soziobiologie verbindet humangenetische Erkenntnisse mit menschlichem Verhalten und stellt Universalien auf. Diese
Erkenntnisse unterfüttern den politischen und öffentlichen Diskurs, etwa durch die Diskussion gesellschaftlicher Probleme in biologischen statt in politischen Termini. Dabei bezieht sich ein Politiker selten so explizit auf 'Erkenntnisse
der Verhaltensforschung' wie der ehemalige Ministerpräsident von Niedersachsen, Ernst Albrecht in seinen Äußerungen vom 17.02.1989 zur Frage der Einwanderung: "Schon die Verhaltensforscher sagen uns, daß die Angst vor dem Fremden dem Menschen wie fast allen Lebewesen seit Millionen Jahren genetisch mitgegeben ist [...] Wir sind deshalb gut beraten, den Zuzug von Ausländern [...] auf das Maß zu begrenzen, das unser Volk seelisch verkraftet."4 (Anm. Dikigoros: Der gute E.A. würde sich im Grabe umdrehen, wüßte er, welche diametral entgegen gesetzten Ansichten seine Tocher Uschi mach kein' Quatsch von der Levy zu diesem Thema vertritt - die würde ihren eigenen Vater ob solch "rassischter", "fascistoïder" und "neo-nazistischer" Aussagen lebenslang ins QZ stecken - allein der Gebrauch des Unwortes "Volk" würde in ihren Augen eine solche Strafe rechtfertigen!)
Der paradigmatische Wechsel zur Biologisierung des öffentlichen Diskurses vollzieht sich dabei in der Regel subtiler und wird durch einem zunehmenden Gebrauch ethnologischer Termini in Politik und Medien angezeigt: Ethnizität, Kultur, Multikulturalismus, ethnische Säuberung - noch nie waren ethnisch/kulturelle Begriffe im öffentlichen Diskurs in Deutschland nach 1945 so präsent. Die Kulturalisierung des politischen Diskurses transportiert jedoch soziobiologische Inhalte und untergräbt damit den alten humanistischen Anspruch der Kulturanthropologie auf Gleichwertigkeit, dynamische Entwicklung und
Vielfalt menschlichen Lebens: Menschen, die eine andere Kultur oder/und eine andere Hautfarbe haben, sind essentiell (d.h. als Mensch) anders, weil die Biologie es so will. Die Befürchtung wächst, daß die Entsozialisierung des Menschen durch die Besetzung seines Lebens mit ethnisch/kulturellen Termini und biologischen Inhalten einerseits den Verlust sozialen und politischen Bewußtseins riskiert und andererseits die physische Existenz des Individuums als Angehörigen der menschlichen Spezies nicht mehr garantiert.5
Der Paradigmenwechsel drückt eine Sehnsucht nach einfachen und handhabbaren Antworten aus. Die postmoderne Beliebigkeit breitet einen Raum der Freiheit aus, dem viele Individuen nicht gewachsen scheinen. Die Postmoderne hat
die Zeit als wesentlichen Faktor des Diskurses entdeckt. Sie liefert Antworten auf das Zusammenrücken der Menschheit und jene Vernetzung durch Medien, Verkehr, Migration und multinationale Konzerne, die unter dem Schlagwort Globalisierung
in die Kultur-, Wirtschafts-, Sozial-, Politik- und Geisteswissenschaften Eingang gefunden hat. Das Individuum droht sich in der Unübersichtlichkeit des Chaos zu verlieren, Ordnung läßt sich vermeintlich beliebig konstruieren; es scheint, als gebe es keine Verbindlichkeiten und kein Koordinatensystem, in dem es sich festhalten kann. Demgegenüber stellt die Anti- oder Gegenmoderne auf vorgeblich verl´ßliche und 'handfeste' Sicherheiten ab: die Konzepte von Blut, Volk und Boden sind in modernem terminologischem Gewande - gen, Bio und Geo - dabei, Kultur, Psyche und Macht abzulösen.
Ich werde in diesem Aufsatz die Herausforderungen des biopolitischen Paradigmenwechsels behandeln. Das neue Paradigma ist anti-modern, da es die zentralen Merkmale sowohl der Moderne als auch der Postmoderne nicht berücksichtigt. Der Paradigmenwechsel findet gegenwärtig innerhalb der Kulturanthropologie selbst (noch) geringe Gefolgschaft.6 Es handelt sich vielmehr um einen allgemeinwissenschaftlichen Paradigmenwechsel, der allerdings die Rahmenbedingungen verändert, in denen wissenschaftliche Forschung und die Einbindung der Wissenschaften in den politischen und sozialen Diskurs
stattfindet.
Zu Beginn des Paradigmenwechsels, mit dem wir uns hier beschäftigen, stand das Erscheinen von Edward Wilsons Buch Sociobiology 1975, das nicht nur in den Geisteswissenschaften, sondern auch bei Biologen die Debatte um nature vs nurture - was ist angeboren, was erlernt? - neu entfachte. In einem Brief an die New York Review of Books im November 1975, den 16 Wissenschaftler unterschrieben, wurde davor gewarnt, daß die Übertragung von Erkenntnissen über das Verhalten von Tieren auf den Menschen rassistische und sexistische Politik bestärken könne. Die Unterzeichner wandten
sich vor allem gegen das Kapitel 26, in dem Wilson über die Existenz von Genen für eine Reihe menschlicher Verhaltensweisen wie Aggression, Konformität, Unterschiede zwischen Frau und Mann, Erfolg, Xenophobie und Homosexualität spekulierte. In der Geschichte, so die Unterzeichner, hätten mächtige Gruppen und Länder die Biologie als Legitimationsbasis für die Rechtfertigung ihrer Privilegien bereits herangezogen: die Sterilisierungsgesetzgebung und die restriktive Einwanderungspolitik in den USA zwischen 1910 und 1930, sowie die Eugenik im Dritten Reich.7
Michel Foucault war es, der die Grundlage politschen Handelns durch biologisch abgesicherte Erkenntnisse als Biopolitik bezeichnete. Danach wird Gesellschaft als biologische Formation definiert, die durch heterogene Elemente bedroht sind: den Fremden von außen, den Abweichenden von innen. Der Staat wird zum Schützer der Integrität, Überlegenheit und der Reinheit der
Rasse.8 Im Human Genome Diversity Project (HGDP) untersucht ein internationales Team von Wissenschaftlern Haar-, Blut- und Gewebeproben von je 25 Angehörigen von 722 vom Aussterben bedrohten Ethnien. Ableger dieser Proben können sollen in einer zentralen Genbank in Maryland/USA gelagert und Wissenschaftlern und Unternehmern zur Untersuchung und Weiterentwicklung zugänglich gemacht werden. Bis 1994 gibt es in der Europäischen Union noch keine verbindliche rechtl. Regelung zur Patentierbarkeit menschlicher Substanzen, anders als in den USA, wo bis Ende 1993 bereits 322 Patentanträge gestellt worden waren. Die genetischen Erforschung der Erbsubstanz ethnischer Gruppen ethnonationalistischen Ideologien
die Grundlage für die Umsetzung eugenischer Techniken an die Hand zu liefern, um die eigene 'Reinheit' zu erhalten.
Auch von Pharmakonzernen droht ethnischen Gruppen Gefahr. Die Guaymi-Indianer Panamas wurden genetischen Untersuchungen unterworfen, da bestimmte seltene Krankheiten bei ihnen häufig vorkommen. Andererseits besitzen sie jedoch auch besondere Widerstandskräfte. Die entschlüsselte Sequenz wurde in den USA unter der Nummer US-9108455 patentiert,9 ein Antrag an das europäische Patentamt wurde ebenfalls gestellt. Falls aus der Analyse dieser Gensequenz Medikamente hergestellt werden können, so liegt es nahe, Konkurrenzunternehmen den Zugang zu diesen Sequenzen zu verbauen; dies bedeutet eine Gefährung der Ethnie durch Genozid.
Humangenetik und Soziobiologie gehen heute davon aus, daß die die Reproduktion der eigenen Gene - die fitness - Ziel eines jeden Organismus sei.10 Eine solche Formulierung läßt alle nichtreproduktiven Organismen suspekt erscheinen. Als Grundlage der Politik kann diese Formulierung verheerende Folgen für Menschen haben, die sich nicht fortpflanzen können oder sich nicht fortpflanzen wollen, oder die ihre Nachkommen durch einen frühen Todesfall verlieren. Die Umsetzung
soziobiologischer und humangenetischer Erkenntnis in politisches Handeln verläuft auf verschiedenen Ebenen, von der die Rückbeziehung der Politischen Rechten auf biologische Erkenntnisse nur der offensichtlichste Beleg ist.11
So fordert etwa John H. Beckstrom, Professor für Recht an der Northwestern University in Evanston/Illinois, die Einbeziehung humangenetischer Erkenntnisse in das Erbrecht. Beckstrom legt nahe, das Erbe von Verstorbenen, die kein Testament hinterließen, an diejenigen Nachkommen zu vergeben, die sich selbst am erfolgreichsten fortpflanzen und damit zur Weitergabe der Gene des Verstorbenen sorgen.12
Die Verknüpfung von humangenetischen und soziobiologischen Inhalten mit politischen Motivationen und kulturellen Termini (Kulturalisierung)13 ist unheilvoll, da sie aus den biologischen Grundlagen moralische Handlungsanweisungen ableitet. Zwischen 'Körper' und 'Kultur' wird eine Identität hergestellt. Jost Müller [1990] schrieb:
Der Schamane (von tungusisch shaman) ist Spezialist für Ekstasetechniken. Eliade, der bedeutendste Kenner des Schamanismus, bezeichnet den Schamanen als "Spezialist einer Trance, in der seine Seele den Körper zu Himmel- und Unterweltfahrten verläßt"21. Der Schamane tritt mit diesen Wesen und verschiedenen Dämonen, Toten und Naturgeistern in Kontakt, indem er entlang der Weltachse hinauf oder hinab reist. Im Gegensatz zum bloßen Besessenen wird er jedoch nicht von den Geistern beherrscht, er lernt, mit ihnen umzugehen. Die Reisen des Schamanen dienen dazu, Kranke durch Trancen zu heilen, die Toten ins Schattenreich zu geleiten und als Mittler zwischen Ober-, Menschen- und Unterwelt zu dienen. Novizen werden über ein ekstatisches Erlebnis (Traum oder Trance) durch den Kontakt mit einem der Geister berufen. Trance bezeichnet einen veränderten Bewußtseinszustand, der von dissoziiertem motorischem Verhalten begleitet wird. In der Trance wird die alltägliche und normale Persönlichkeit außer Kraft gesetzt. In 437 von 488 untersuchten Kulturen finden sich institutionalisierte Formen von Trance.22 Die Berufung wird häufig von krankhaften Erscheinungen (Schamanenkrankheit) begleitet.
Zustände veränderten Bewußtseins werden von der modernen Psychologie im Bewußtsein selbst lokalisiert. Viele Kulturen verstehen sie dagegen als Ausdruck unterschiedlicher Realitäten oder 'Welten' und stellen sie damit in Verbindung mit religiösem Glauben. Vor allem bei Eskimos und nordamerikanischen Indianern spielt die vision quest (Suche nach Visionen) als Kontext veränderter Bewußtseinszustände eine bedeutende Rolle bei der Persönlichkeitsentwicklung. Durch den individuellen und persönlichen Kontakt mit dem Übernatürlichen versuchen die Suchenden, sich deren Macht, Kraft, Schutz oder Hilfe anzueignen.
Auch wenn die Erkenntnisse der Genforschung - 'das schwule Gen ist endlich entdeckt' - einer genaueren Analyse nicht standhalten: das über die Medien in die Öffentlichkeit transportierte Erklärungsmodell 'Verhalten ist angeboren' zeigt sich erstaunlich persistent, spricht es doch tiefe Bedürfnisse nach stabilen Erklärungsmodellen an. Die Frage, die uns beschäftigt ist denn auch diese: warum gerade jetzt der Erfolg der Genetik?
Die Antwort könnte heißen: weil sie in konfusen Zeiten simple Antworten liefert. Die sozialistische Utopie? Gestorben. Das sozialdemokratische Reformmodell Schweden? im Niedergang. Die Hoffnung auf eine ökologische Wende? Längst widerlegt. Restauration überall. Ein bekanntes deutsches Wochenmagazin malt eine düstere Vision und konstatiert: "die Anzeichen mehren sich, daß die momentanen Zeiten politischer Monokultur - das Gegenmodell ist ja weg - eine neue Gesellschaftsordnung hervorbringen könnte: die Genokratie".23
Die Hoffnung - oder die Furcht, je nachdem - wächst, daß Phänomene, die als problematisch erkannt werden, sich jedoch gesellschaftlich nicht beseitigen lassen, technisch gelöst werden könnten.
Sekundiert und popularisiert wird die Humagenetik von der Soziobiologie. Während Soziobiologie das Studium des Verhaltens von Tieren und Menschen "aus der Perspektive der Evolution und der natürlichen Auslese" umfasst, untersucht die Human-Ethologie speziell menschliches Sozialverhalten aufgrund ihrer genetisch-biologischen Basis. Die Soziobiologie und
Humanethologie haben, anders als die Genforschung, eine Geschichte, die ihre akademische Verwurzelung im XIX. Jahrhundert hat. Disziplingeschichtlich haben Kulturanthropologie und Soziobiologie gemeinsame Wurzeln. Beide entwickelten
sich als Universitätsfach aus der damals einfach Anthropologie genannten Disziplin. 1855 wurde in Paris der erste Lehrstuhl für Anthropologie von dem Mediziner Paul Broca gegründet, in Deutschland fand 1861 ein erstes Anthropologentreffen statt. Das Fach spaltete sich in eine geisteswissenschaftlich-humanistische und ein biologische Anthropologie.
Kehren wir noch einmal zu Wilsons Sociobiology zurück. Seine Spekulation darüber, daß es ein Gen etwa für Aggression geben müsse, wurde schon damals stark kritisiert. Stephen Jay Gould führt an, daß alle die von Wilson angeführten Verhaltensweisen nur eine Subset allen menschenmöglichen Verhaltens sei: "peacefulness, equality and kindness are just as biological as violence, sexism, and general nastiness".24 (Anm. Dikigoros: Ja, aber ersteres doch nur in Bezug auf Angehörige des eigenen Genpools. Wie drückten es die Juden im Alten Testmant aus: "Liebe [nur] deinen Nächst[verwandt]en!" Ob man diesen Kreis so eng zieht, daß er nur die eigene Familie umfaßt, den Stamm, das Volk oder die ganze Rasse, ist halt die Frage!) Wäre ein Gen für Aggression verantwortlich, dann müßte das Individuum stets aggressiv sein bzw. grundlegend aggressiven Charakter besitzen; irgendeine Instanz muß existieren, die dafür sorgt, daß z.B. Aggression gerade in einer bestimmten Situation ausbricht, in einer anderen nicht. Für Gould ist es das menschliche Hirn, das sich aus einer Fülle von Gegebenheiten ein konkretes Verhalten auswählt. Verantwortlich für die mitunter heftige Reaktion, die
Sociobiology ausgelöst hat, ist für Gould nicht in der wie auch immer gearteten Motivation Wilsons zu suchen, sondern quasi im soziopolitischen Gepäck, im Mißbrauch, den Politik mit soziobiologischen Erkenntnissen treiben könne. Auch Wilson selbst weist 1978 in seinem Buch On Human Nature diesen Vorwurf zurück, es sei lediglich der pseudowissenschaftliche Gebrauch seiner Erkenntnisse, der zu einer vorurteilsbehafteten Politik führen könne, nicht jedoch die Grundhypothesen der Soziobiologie.25 Die Grundfrage, die eine moderne Kultur-Anthropologie hier stellen muß, ist widerum die Frage
nach der Abhängigkeit des wissenschaftlichen Forschens und Denkens im speziellen und des menschlichen Denkens im allgemeinen von Kultur, Geschichte und Macht. Wissenschaft besteht immer in einem historischen, kulturellen und politischen
Kontext, sie ist ethnozentrisch.
Ein Blick in die Geschichte der physischen Anthropologie oder Rassenkunde im Dritten Reich und in die Biographien führernder Anthropologen wie Erich von Eickstedt und Ilse Schwidetzky sollte da genügen. Mit diesem düsteren Kapitel der deutschen naturwissenschaftlich orientierten Anthropologie eines Erich von Eickstedt und einer Ilse Schwidetzky, die sich nicht nur in der Zeit von 1933-1945, sondern, wie z.B. Frau Schwidetzky, bis 1975 als renommierte Rassekundler betätigten,26 lohnte eine Auseinandersetzung nicht, prägten sie nicht einen rassisch begründeten festgeschriebenen Ansatz von Ethnizität, auf den sich der politische Diskurs in der Bundesrepublik heute beziehen kann.
Wenden wir uns nun dem herausragendsten Humanethologen, Irenäus Eibl-Eibesfeldt27 zu, einem Schüler des Graugansforschers Konrad Lorenz.28
Herausragend ist Eibl-Eibesfeldt vor allem deswegen, weil er durch eine Fülle von Publikationen und als Autor von TV-Sendungen einem Massenpublikum bekannt geworden ist und als Autorität in Sachen menschliches Verhalten gilt. In den 1980ern geriet er durch seine Verknüpfung der kleinkindlichen Phase des Fremdelns mit der Fremdenfurcht/Xenophobie Erwachsener in die öffentliche Diskussion.29 Wir beschäftigen uns hier mit den Fragestellungen und den methodologischen Grundlagen dieses Forschers, weil seine Arbeit in grundlegendem und, wie ich meine, gefährlichen Widerspruch zur Wissenschaft von der Kultur steht und weil er als profiliertester Vertreter einer 'Anthropologie' in der Öffentlichkeit -
fälschlicherweise, wie ich ausführen werde - auch als Fachmann für Kulturen gilt.
Eibl-Eibesfeldt sucht vor allem nach Phänomenen des menschlichen Verhaltens, die universell sind, und zwar begründet in der
menschlichen Biologie, oder dem durch die Biologie "vorgegebenen Programm".30 Dazu untersucht
Eibl-Eibesfeldt das menschliche Verhalten, indem er es filmt und in einzelne Sequenzen zerlegt, die er dann auszählt. Er untersucht Modellkulturen, die jeweils eine Stufe der menschlichen Evolution repräsentieren. Die Buschleute als
Vertreter altsteinzeitlicher Jäger und Sammler, die Yanomamö des Orinokogebietes als Jäger, Sammler und beginnende Pflanzer, die Eipo Neuguineas als neusteinzeitliche Pflanzer, die Himba des Kaokolandes als Rinderhirten, die Balinesen als Reisbauern und die Trobriander als seßhafte Gartenbauer und Fischer.31 Damit, so impliziert Eibl-Eibesfeldt, seien alle Entwicklungsstufen des Menschengeschlechtes in seinem Kulturvergleich vertreten. Jede Gruppe repräsentiert eine Stufe. Das scheint ihn zu berechtigen, ein bei all diesen Gruppen beobachtetes Phänomen als universell, d.h. für die ganze Menschheit, alle Kulturen und Zeiten menschlichen Daseins, zu postulieren.
Hier stellen sich nun dem Kultur-Anthropologen verschiedene Fragen:
Das Evolutionsmodell, auf das Eibl-Eibesfeldt zurückgreift, wurde von Charles Darwin entwickelt und von Herbert Spencer auf menschliche Gesellschaften übertragen. In der Kulturanthropologie des späten XIX. Jahrhunderts fand es großen Anklang, etwa bei dem US-Amerikaner Lewis Henry Morgan. In Ancient Society [1877] formuliert er das logische Aufeinanderfolgen dreier historischer Stufen, die er nach dem technologischen Entwicklungsstand unterteilt: Wildheit (mit drei Unterstufen), Barbarei (dreifach unterteilt) und Zivilisation. Jede Stufe dieses Modells stellt einen Fortschritt gegenüber der vorhergehenden dar. Nach diesem Modell verläuft biologische und gesellschaftliche Evolution unilinear und erklärt die Entstehung 'fortgeschrittener und entwickelter' Kulturen aus 'einfachen, älteren' Formen. Jede Kultur durchläuft unterschiedlich rasch diese Entwicklungsstadien, deren Abfolge zwangsläufigen Charakter hat. Als Krone der menschlichen Kultur galten den Evolutionisten fraglos europäische Gesellschaften, ihre Vorformen glaubte man in 'primitiveren' Kulturen zu finden. Die Entwicklung des Menschen wird als Fortschreiten zur Vervollkommnung begriffen. Kritik am Evolutionismus entzündete sich schon früh. Ab etwa 1910 setzte sich mit Emile Durkheims Soziologie, dem deutschen Diffusionismus und Franz Boas' relativistischer Cultural Anthropology Entwürfe durch, die jede Kultur auf derselben Stufe angesiedelt sahen.
Nicht nur Marx und Engels, auch Eibl-Eibesfeldt greift auf dieses Stufenschema zurück, das menschliche Entwicklung an ökonomischer und technologischer Komplexität mißt. Die Klassifikation von Kulturen gemäß ihrer Wirtschaftsweise bezieht "sich aber auf Idealtypen, die in der Realität nur selten anzutreffen sind".32 Ganz konsequent nach dem unilinearen Evolutionismus ist auch das augenfällige Fehlen von Daten aus der Moderne etwa der europäischen Großstadt. Diese, so läßt sich vermuten, gelten dem Autoren, der gerne von den 'Naturvölkern' spricht, als von der Natur zu weit entfernt. Der Begriff 'Naturvölker' impliziert daß es Gesellschaften gibt, die der Natur näher und von der Natur abhängiger sind als europäische Kulturen - eine Annahme, die durch Umweltkatastrophen (z.B. Ozonloch, Waldsterben) widerlegt scheint. Er impliziert ebenfalls die Vorstellung, daß es Kulturen gibt, die ein mehr an 'Kultur' besitzen als die Naturkinder. Eibl-Eibesfeldt vernachlässigt dabei die Tatsache, daß jede Kultur, die heute lebt, eine moderne Kultur ist, völlig. Der Maßstab, an dem Modernität gemessen wird, ist für die Kultur-Anthropologie nicht jener der technologischen Komplexität, sondern der der Gegenwärtigkeit.
Bestimmte Menschengruppen werden als Repräsentanten all jener Gruppen behandelt, die ähnliche Subsistenzweisen betreiben. Was für die Buschmänner gilt, weil sie Jäger und Sammler sind, muß - so der Analogieschluß - demnach auch für andere Jäger und Sammler (wie die Mbuti-Pygmäen, die australischen Aborigines und die Copper Eskimos) gelten.
Daneben stellt sich uns auch die Frage nach dem Ethniziäts- und dem Kulturkonzept, das sich implizit in Eibl-Eibesfeldts Arbeit verbirgt. Augenscheinlich handelt es sich um eine sehr starre, primordiale Angelegenheit, in der jedes Mitglied das Verhalten der Gesamtgruppe wiederzugeben scheint. Menschen sind ihrer Kultur auf Gedeih' und Verderb ausgeliefert,
verschiedene Kulturen sind nicht kompatibel, weshalb es am Besten ist, sich für getrennte Lebensräume der Ethnien und gegen eine Verschmelzung von Völkern und Rassen zu Mischpopulationen einzutreten.33 Daß die Furcht vor dem Vermischten, dem Unreinen, Movens von Eibl-Eibesfeldts Ethnizitätskonzeption ist, zeigt sich besonders dadurch, daß er zwar die "völlige Vereinheitlichung der Menschheit in einer Weltzivilisation mit einer Sprache und einer Mischrasse"34 als aufgeklärter Mensch für eine "Utopie" hält; daß er das Utopie-Argument im darauf folgenden Satz jedoch sofort wieder entkräftet, indem er sich voll und ganz hinter die Befürchtungen eines Kollegen stellt: Die "Menschheit (...) schmilzt derzeit mit steigender Geschwindigkeit erstmals zu einer einzigen, globalen Gesamtzivilisation zusammen, die von Pol zu Pol reicht und uns in der Massenhaftigkeit und Gleichförmigkeit ihrer Produkte eher erschreckt als lockt". Es folgt der in jeglicher Zivilisationskritik des XX. Jahrhunderts wohl obligatorische Bezug auf den "maschinell gleichförmig vorgekauten Fleischfladen" einer amerikanischen Fast-Food-Kette. Eibl-Eibesfeldt steht damit in der vor allem im deutschsprachigen Raum35 verbreiteten Tradition der (zivilisations)kritischen Ideologie. Diese Ideologie reproduziert elitäre Vorurteile, wonach der Geschmack 'des Massenmenschen' Kitsch, Vulgarität und Schmutz befördere, der Geschmack der Elite dagegen das Wahre, Gute und Schöne.36 Arthur Asa Berger37 nennt dieses Phänomen treffend unpopular popular culture [1993: 24].
Eibl-Eibesfeldts Eintreten für einen Ethnopluralismus ist denn auch die politisch logische Folgerung seines primodialen Ethnizitätskonzeptes. In Der Mensch - Das riskierte Wesen stellt Eibl-Eibesfeldt lapidar fest: "Die Menschheit als biologische Einheit gibt es nicht. Zwar können sich alle Menschen miteinander kreuzen, aber als natürliche Einheiten sind nun einmal verschiedene, sich voneinander abgrenzende Populationen gegeben".38 Worin die 'Natürlichkeit' besteht und was eine Population zur 'Einheit' macht, bedarf einer der vielen expliziten Antworten, die uns der Autor wohlweislich schuldig bleibt.
Wir wollen auf die Verkettung von Ethnizität mit Kultur einerseits und die Bindung beider an biologische Kategorien andererseits an dieser Stelle aber nicht weiter eingehen. Wir werden sie in Teil 3 ausführlich diskutieren und Konzepte dagegenhalten, die dem dynamischen und agenetischen Charakter von Ethnizität und Kultur gerecht werden.
Bei Eibl-Eibesfeldt werden historische Abläufe außer acht gelassen. Heute lebende Ethnien werden so dargestellt, als seien sie direkte Repräsentanten einer früheren Epoche. Die Buschleute, die er als Vertreter der altsteinzeitlichen Jäger und Sammler präsentiert, leben aber erst seit ca. 200 Jahren im Wüstengebiet der Kalahari und benutzen auch erst seit dieser Zeit eine recht simple Technologie. Bevor sie von weißen Siedlern und Bantugruppen in diese recht unwirtliche Gegend abgedrängt wurden, lebten sie als Hirten und flanzer.39 Auch die Vorfahren vieler anderer rezenter Wildbeuter waren keine Wildbeuter, z.B. die Vorfahren der Rift Valley-Wildbeuter (Ostafrika), die Nemadi (Mauritanien), die OvaTjimba (Namibias), die Punan (Borneo) und die Moriori (Chatham Islands). Eibl-Eibesfeldt projiziert so eine Urtümlichkeit auf eine Ethnie, die erst seit kurzer Zeit, unter ärmlichen Bedingungen lebt.40
Die Aufgabe der Kulturanthropologie besteht darin, Menschenbilder als kulturelle Produkte zu entlarven und die Fraglosigkeit, mit der ein bestimmtes Modell als universell präsentiert wird, zu unterminieren. Schauen wir uns nun in einem weiteren Beispiel aus dem Werk des Humanethologen genauer an, was denn nun für ihn eine Universalie sei. Als Beispiel dient uns
die der israelische Kibbuz und die Rolle der Frau.
Der Kulturanthropologe Melford Spiro hatte 1954 festgestellt, daß die Kibbutzim der ersten Generation Mütter von der Kindererziehung entbanden und die Kinder der Gemeinschaft anvertrauten. Spiro verfolgte dabei einen milieutheoretischen Ansatz und kam zu dem Schluß, daß Familialität kein angeborenes Merkmal des Menschen sei. Eine zweite Erhebung, die Spiro 1979, also etwa eine Generation später durchführte, zwang ihn jedoch zur Revision dieser Aussage. Er fand nämlich,
Das - so Eibl-Eibesfeldt - zwang Spiro dazu, "präkulturelle Faktoren, wie er es nannte, zu postulieren, die die psychische Geschlechtsrolle mitbestimmten. Wir", so Eibl-Eibesfeldt "würden biologische Faktoren sagen".42
Was Eibl-Eibesfeldt hier über Weiblichkeit sagt, ist ganz klar folgendes: Frauen sind biologisch nicht nur dazu in der Lage, Kinder zu gebären, sondern darüberhinaus dazu bestimmt, ihre eigenen Kinder aufzuziehen, sich traditionell weiblichen Tätigkeiten zu widmen und die Politik den Männern zu überlassen.
Die Frage stellt sich: was sind klassisch weibliche Tätigkeiten? Für Eibl-Eibesfeldt doch wohl diejenigen, die sich in einem
bestimmten kulturellen Kontext,43 in einer bestimmten sozialen Schicht, als typisch weiblich herauskristallisiert haben: die bürgerliche Frau des späten 19. Jahrhunderts. Was ist dann aber mit der körperlichen Schwerstarbeit, die Frauen in Ackerbauergemeinschaften leisten, die sie z.B. unmittelbar nach der Geburt eines Kindes wieder aufnehmen? Was ist etwa mit dem europäischen Hochadel, der, wie Elizabeth Badinter eindrucksvoll in ihrem Buch Mutterliebe schreibt, ihre Kinder lieber der Erziehung der Gouvernante anvertrauen? Was ist mit manchen lesbischen Beziehungen oder den Dinks - den double income no kids - die auf die Geburt von Kindern verzichten? Was mit den westafrikanischen Marktfrauen, die nicht nur den Großteil des Familieneinkommens erwirtschaften, sondern auch politisch eine wichtige Rolle - und zwar traditionell - spielen?
Legt man Eibl-Eibesfeldts biologische Bestimmung 'der Frau' zugrunde, so kann das nur heißen: diese Frauen mißachten eine naturgegebene Universalie. Wir können unschwer erkennen, daß Eibl-Eibesfeldt hier eine unzulässige Analogie zwischen der anatomischen Fähigkeit, ein Kind zu gebären und einem mutmaßlich kulturellen Universalismus konstruiert.
Die Kulturanthropologie bekommt großes Bauchgrimmen, wenn jemand über 'die Natur des Menschen', 'die Natur der Frau, des Homosexuellen' oder wessen auch immer schwadroniert. Die Rhetorik über 'den Menschen-an-sich' bildet immer eine moralisch gefärbte ethnozentrische Sichtweise ab.
Wenden wir uns nun nach Humangenetik und Soziobiologie einem dritten Bereich zu: der zunehmenden Kulturalisierung und Ethnisierung sozialer, ökonomischer und politischer Zusammenhänge.
Im Zuge der Umwälzungen nach dem Ende des Kalten Krieges 1989 findet der Diskurs über soziale und politische Konflikte v.a. in Europa zunehmend in ethnischen und kulturellen Termini statt; mit diesen Termini werden jedoch soziobiologistische Konzepte transportiert. Konflikte werden kulturalisiert (z.B. im Golfkrieg: Feindbild Islam; Jugoslawien: alte kulturelle
Gegensätze werden reaktiviert; Los Angeles: soziale Unruhen werden zum Rassenkonflikt (Anm. Dikigoros: Umgekehrt wird ein Schuh draus: Rassenkonflikte werden zu "sozialen Unruhen" verniedlicht - übrigens nicht nur in L.A.!); Rostock/Mölln: Deutsche vs. Nichtdeutsche). In Osteuropa (Nationenbildung) und auch im Westen (Renaissance des Faschismus, Radikalisierung von Regionalisten, z.B. Lega Lombarda) ist ein Wiedererstarken ethnischer Nationalismen zu beobachten. In diesem Kontext muß auch die Rückkehr des nationalen Diskurses in Deutschland gestellt werden.
Wahrlich, das Zusammenleben verschiedener kultureller Gruppen scheint kein Rosengarten zu sein, oder besser: scheint mitunter kein Rosengarten zu sein. Denn multikulturelles und multi-ethnisches Zusammenleben führt beileibe nicht immer (Anm. Dikigoros: aber immer öfter!) zu blutigen Konflikten, manchmal sind die Spannungen zwischen Gruppen nur minimal. Gerade das seit 1992 vielfach geschundene Sarajevo war über Jahrhunderte hinweg ein Beispiel für die friedliche Koexistenz
ethnischer und kultureller Gruppen.
Ethnische Gruppe, Kultur und Territorium werden im soziobiologistischen Diskurs in eine Analogie zum Körperorganismus gebracht. Dieser Volkskörper hat klare Außengrenzen: Elemente, die im Inneren des Organismus stören, werden ausgeschieden, Fremdes von Außen bedroht prinzipiell die Integrität des Ganzen. Die ethnopluralistische Argumentation der deutschen Rechten in der Asyldebatte und teilweise der Linken in der Multikulturalismus-Dedatte44 wurde in Termini des Eindringens von Fremdkörpern in einen Organismus und der Abwehr des Organismus geführt. Der Asylkonflikt wurde auf ethnische und kulturelle Grundbestandteile reduziert, die sozialen, ökonomischen, politischen und ideologischen Bestandteile davon abgespalten. Damit sage ich nicht, wie Teile der Linken, daß etwa im Jugoslawienkonflikt und in der Asyldebatte Ethnizität und Kultur keine Rolle spielen; allerdings läßt sich feststellen, daß heute die Konflikte in vornehmlich ethnisch-kulturellen Termini ausgedrückt werden, d.h. sie werden kulturalisiert45.
Ethnie oder ethnische Gruppe hat im deutschen Sprachraum den Begriff des Volkes weitgehend abgelöst; im angelsächsischen Raum ersetzen ethnicity und ethnic die vom Kontext losgelösten Termini tribe, culture und cultural, weil mit diesen Termini vor allem Gruppen beschreiben wurden, die isoliert lebten wie die Inselbewohner Melanesiens, oder aber als holistische Einheit formuliert wurden, die die Deckungsgleichheit von Kultur und Personengruppe implizieren. Wer bestimmt, was eine Ethnie ausmacht? Frühere Feldforscher entschieden vor allem auf der Basis ihrer Ausbildung, ihrer theoretischen Fragestellungen und der Verteilung kultureller Merkmale in einer Region, wer etwa ein Dinka, ein Tiv, Nuer etc. war. Raoul Naroll46 z.B. entwickelt einen Katalog von Gemeinsamkeiten: politische Organisation, Sprache, ökologische Anpassung, territoriale Einheit und lokale Gemeinschaft müssen zusammenkommen, damit eine Ethnie entstehen kann. Aber Narrolls Katalog ist nur ein Beispiel dafür, wie man ethnische Gruppen festlegen könnte. Es lassen sich verschiedene Erklärungsansätze unterscheiden.
Der primordiale Ansatz geht davon aus, daß die Zugehörigkeit zu einer Ethnie quasi naturgegeben ist, daß das Individuum in familiäre Zusammenhänge, Nachbarschaften, religiöse Gemeinschaft, Sprachgemeinschaft und soziale Situation hineingeboren wird. Es kann seinem Geburtsschicksal nicht entrinnen. Der primordiale Ansatz geht noch davon aus, daß jede Ethnie ihre eigene Kultur besitze. Die Auffassung, daß jede ethnische Gruppe eine ihr ureigenste Kultur habe, verweist auf eine undynamische und holistische Kulturkonzeption und führt dazu, daß z.B. die Situation türkischer Migranten in Deutschland als 'zwischen zwei Kulturen' erklärt wird.47 Ein Gegenmodell hierzu bietet das Konzept der Kreolisierung oder des Synkretismus. Es bezieht sich auf die Kombination oder Verschmelzung verschiedener kultureller Traditionen und/oder Elementen. Die auch von Eibl-Eibesfeldt48 beschworene Reinheit von Populationen und Kulturen ist eine Chimäre:49 Jede Kultur ist synkretistisch, da laufend Elemente aus anderen Kulturen und Gesellschaften, mit denen sie in Kontakt ist, aufgenommen und integriert werden. Die Idee des Synkretismus erlaubt es uns, Arbeitsmigranten als Bastler, als bricoleur, zu verstehen, die in der Sinngebung ihrer Lebensführung auf verschiedene kulturelle Grundlagen zurückgreifen müssen/können und daraus Neues (und beileibe nichts wiederum Einheitliches) erschaffen.50 (Anm. Dikigoros: Fragt sich nur, welche Qualität dieses "Neue" hat. Die historische Erfahrung lehrt, daß bastardisierte "Ethnien" minderwertig sind - nicht nur im Tierreich!)
Frederik Barth betont in Ethnic Groups and Boundaries [1969] die Bedeutung der ethnischen Grenze. Nach Barth sind kulturelle Muster lediglich die Vehikel, um ethnische Grenzen auszudrücken und aufrecht zuerhalten. Dementsprechend muß bei einer diachronen Betrachtung eine Kultur nicht zu jedem Zeitpunkt mit ein und derselben Ethnie zusammenfallen. Die Ethnie bleibt bestehen, ihre Kultur kann sich ändern. Zentral ist für Barth nicht so sehr, welche kulturellen Muster und auch nicht, welches Personal zu einer Ethnie gehört, sondern die Beobachtung, daß Ethnien personellen und inhaltlichen Wandel persistent und stabil überstehen können, weil die Ingroup/Outgroup Mechanismen der Abgrenzung zu anderen Ethnien funktionieren. Nach Barth könnte man sagen: ganz egal, wie sich die Inhalte von Kultur wandeln: die ethnic boundaries werden aufrecht erhalten. Die Zugehörigkeit zu einer Ethnie erfolgt durch Identifikation des Einzelnen mit der Ethnie und/oder durch Labeling von Außen: du gehörst dazu, bist dieses oder jenes. Die Zugehörigkeit ist demnach nicht naturgegeben, sie beruht auf einem Prozess der subjektiven Zuordnung und der Benennung von außen.
Ronald Cohen51 entwickelt Barths Modell weiter und betont den situationalen Charakter von Ethnizität: Eine Ethnie kann in verschiedene Sub-Ethnien aufgespalten sein, und in verschiedenen Kontexten kann das Individuum entweder auf eine der verschiedenen Ethnizitätsebenen zurückgreifen. Damit wird Ethnien ein prinzipiell statischer Charakter aberkannt, die Identifikation des Einzelnen bekommt mehr Gewicht. Cohen greift dabei auf Ergebnisse seiner eigenen Feldforschung in Nordosten Nigerias zurück: die ethnische Zurechnung überschreitet dort Clan, Unterclan oder Lineagegrenzen - ein Individuum kann sich etwa - je nach urbanem, ruralem oder religiösem Kontext der einen oder anderen ethnischen Gruppierung zuordnen. Im Gegensatz zu Barth geht Cohen vom multiplen Charakter der sozialen Beziehungen des Individuums aus. Die Grenzen, die Barth erkannt hat, bleiben zwar bestehen, aber sie werden durchlässig.
Zentrale Elemente des situationalen Ansatzes von Ethnizität sind Identifikation und Labeling einer Gruppe von Menschen, sowie die expliziten und impliziten Unterschiede zwischen Gruppen.52 Es muß immer eine Wir/Sie Dichotomie geben. Entscheidend ist, daß Labeling, Identifikation und Unterscheidung dynamische Konzepte sind, da sie einer ständigen Re-Interpretation unterliegen. Kulturen und Ethnien werden als dynamische Einheiten betrachtet, die Integrieren, Ausscheiden, sich spalten oder mit anderen Einheiten zu etwas neuem Verschmelzen können.53 Das Studium der Ethnizität muß also in die Kontexte Eigenidentität, Stereotypisierung, sozialen Klassen, dem Wettbewerb um Ressourcen, politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnissen und Kulturwandel eingebettet sein.
Zum besseren Verständnis der Ethnisierungsprozesse müssen wir jedoch zwischen Ethnizität und ethnischer Identität unterscheiden: Denn Ethnizität - als die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe - führt nicht automatisch zu ethnischem Bewußtsein. Ethnizität ist quasi ein Potential, das brach liegt und geweckt und mobilisiert werden kann - jedoch nicht muß. Anthony Smith54 nennt sechs Voraussetzungen, die zur Ausbildung von ethnischer Identität führen können:
Ethnische Identität kann sich wandeln, wenn einige der grundsätzlich gemeinsamen Erfahrungen - welche die Gruppe von anderen unterscheidet - auseinanderbrechen. Das 'Gefühl der Ethnizität' ist damit auch Grundstock für eventuelle politische Manipulationen. Sie ist eine Ressource, die mobilisiert werden kann, jedoch nicht muß; als Ressource, die eine starke Grundlage darstellen kann, weil sie emotional stark besetzt ist.
In vormodernen Zeiten trugen hauptsächlich vier Faktoren dazu bei:
In der Moderne kommen eine Reihe von Faktoren hinzu, die mit dem Entstehen von Nationalstaaten zu tun haben. Zum Nationalstaat wird ein Staat erst, wenn er die Existenz einer Bevölkerung mit einer bestimmten Ethnizität,
die in seinem Territorium lebt, formuliert, und wenn diese Identität auf politischer Ebene artikuliert wird. Merkmal der Nationalstaaten ist es, die Bevölkerung zu homogenisieren (Bsp.: aus Neapolitanern, Lombarden, Toskanern usw. wurden 'Italiener') und also auch ethnische Unterschiede zu negieren. Dies wird über staatliche Institutionen (z.B. Wehrpflicht, Steuerrecht, Schulpflicht) vorangetrieben, auch durch die Entwicklung einer Standardsprache. Ein gemeinsamer Ursprung des homogenisierten Nationalvolkes, das damit zur Abstammungsgemeinschaft wird, wird in die Vergangenheit projiziert. Dies
legitimiert in der Gegenwart und in der Zukunft die Dominanz der Nationalvolkes. Andere ethn. Gruppen innerhalb desselben Nationalstaates werden damit zu ethn. Minderheiten.58
Besondere Fromen der Traditionalisierung werden von Nationalstaaten verfochten:
Ein Satz von Mythen, Ritualen und Symbolen (Mythomoteur)59 wird herangezogen, um die Homogenität der ethnischen Gruppe, aber auch territoriale Besitzstände und soziale Hierarchen zu legitimieren: Beispiele sind historisierte Autoritätsketten (wie die Traditionslinie der Nationalsozialisten von Hermann dem Cherusker über Luther,
Friedrich II,
Bismarck,
Hindenburg zu
Hitler,
und Bestrebungen der Afro-American Studies in den USA)60, oder das Pflegen von Nationalmythen, z.B. des Kosovomythos in Serbien, der Reconquista in Spanien, der Unabhängigkeitskriege in den USA und Lateinamerika.61
Im Mythos werden bestimmte Vorkommnisse zur Essenz gemacht und darum als ewiggültig formuliert. Mythomoteure mobilisieren emotionale, die Gruppe homogenisierende, identitätsstiftende und Kontinuität suggerierende Symbole, z.B. ethnische Superiorität, Dynastien, Ortsbezüge (etwa Altansässigkeit), spirituelle Auserwähltheit, historische Schlüsseldaten, gemeinsame Abstammung, ethnische Homogeneität und die Abwehr von Feinden. Nationalmythen berufen sich immer auf eine Urzeit.62
Der Umbauprozeß der ethnischen Kategorien in ethnische Identität vollzieht sich in drei Stufen:
Die Prozeßhaftigkeit der Entstehung ethnischer Identität stellt die Idee der ethnischen Gruppe als einer biologischen Abstammungsgemeinschaft natürlich wesentlich in Frage. Sie zeigt uns, daß alle Ethnien und Kulturen Synkretismen sind und daß es keine reinen Kulturen und keine reinen Ethnien gibt. Allerdings gibt es eine Ideologie der Reinheit. Diese Ideologie der Reinheit wird dazu benutzt werden, um als politische Handlungsstrategien zu legitimieren und treibt den Prozesse der Homogenisierung der Bevölkerung voran.
Wenn uns im politischen und öffentlichen Diskurs einfache Antworten auf vermeintlich einfache Fragen geboten werden, dann ist es Aufgabe der modernen Kultur-Anthropologie, als Mahnerin sowohl vor den vermeintlich absoluten Gewissheiten der Humangenetik als auch vor der Verführung durch den sogenannten gesunden Menschenverstand zu wirken. Die Kultur-Anthropologie liefert keine einfachen Antworten. Sie hat jedoch das Potential, einen Schutzwall gegen mechanistische Antworten auf fundamentale Fragen des menschlichen Daseins zu bieten.63 Dadurch, daß Konflikte in kultureller und ethnischer Terminologie ausgedrückt werden, diese Terminologie aber gleichzeitig essentialistische Inhalte verbreitet, besteht allerdings gerade heute die Gefahr, daß die Kulturanthropologie als Legitimationsgrundlage für rassistische
Erklärungskonzepte herangezogen wird.
Der moralische Impetus der modernen und mehr noch der postmodernen Kulturanthropologie muß es sein, Diskursstrategien aufzuzeigen, offensiv für Vielfalt einzutreten und allen alten und neuen Hegemonie-Anmaßungen entschieden entgegen zu treten.64
Deutlicher als sonst muß die Kultur-Anthropologie laut und vernehmlich ihre Grundlagen wie die Verteidigung des Pluralismus, das Aufdecken von Machtinteressen und der Abhängigkeit wissenschaftlichen Arbeitens von ethnozentrischen Vorannahmen verteidigen und die scheinbar universell gültigen Erkenntnisse hegemonialer Wissensbereiche hinterfragen. Fachvertreter und ihre Organisationen, z.B. die Deutsche Gesellschaft für Völkerkunde, sind daher dazu aufgerufen, sich in den öffentlich-politischen und ethischen Diskurs zu den Themen Humangenetik, Soziobiologie und Kulturalisierung einzumischen.
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