Die Vergangenheit ist anders . . .

Erna Pinner und Kasimir Edschmid - das
literarische Traumpaar der 1920er Jahre

von Karen Fuchs (Die WELT, 01.10.2003)

Die Künstlerin Erna Pinner ist in Deutschland vergessen. Kasimir Edschmid kennen nur noch literaturhistorisch Interessierte als Vorreiter der expressionistischen Bewegung. Wenn die Geschichte, die die Zeichnerin und den Schriftsteller verband, trotzdem für ein breites Publikum von Interesse ist, hat das Gründe unabhängig von ihren Werken. Der Verlauf und das Ende ihrer Liebe repräsentieren ein deutsches Intellektuellenschicksal, den deutschen Verlust einer modernen und weltgewandten Elite durch den Nationalsozialismus und auch das Unvermögen, mit diesem Verlust umzugehen. Der Briefwechsel, den Pinner und Edschmid nach dem Zweiten Weltkrieg führten, dokumentiert diesen Bruch eindringlich und fesselnd. Getroffen haben sich Pinner und Edschmid, beide Jahrgang 1890, erstmals 1916. Die Künstlerin begann zu dieser Zeit mit dem Entwurf lebensgroßer Puppen, die später durch die Tänzerin Niddy Impekoven berühmt wurden - Edschmid hatte ein Jahr zuvor den Novellenband "Sechs Mündungen" veröffentlicht. Der Schriftsteller warb unverblümt: "Heinrich Simon hat mir erzählt, sie seien schön, Künstlerin und Jüdin - wann kann ich sie treffen?" Die kühne Art muß der emanzipierten Chirurgentochter gefallen haben. Die beiden wurden ein Paar, das demonstrativ gegen die Konventionen der Zeit lebte. Über 20 Jahre hinweg behielten sie unabhängig voneinander Arbeits- und Wohnräume in den Häusern ihrer Eltern, sie in Frankfurt, er in Darmstadt. Eine Familie kam nicht in Frage. Ehrgeizig und unermüdlich leben sie vor allem für ihre Arbeit, pflegen zahlreiche Freundschaften mit Kollegen und Intellektuellen und unternehmen gemeinsam spektakuläre Reisen in wenig erschlossene Gebiete Afrikas und Südamerikas. Edschmid hält die Eindrücke in einer Reihe von Reisebüchern fest. Die Pinner illustriert und beginnt auch selbst zu schreiben.

In Lebensgefühl und Stilfragen müssen sie ein perfektes Paar gebildet haben. Die wenigen erhaltenen Fotos zeigen zwei schöne, strahlende Menschen. Die Pinner repräsentiert die exotische Variante der "neuen Frau": mit naturdunklem Teint, Kurzhaarfrisur, großen, leicht schräggestellten Augen. Ihre Haltung drückt Selbstbewußtsein und Eigenwillen aus. Den Gehstock, seit einer Polio-Erkrankung 1919 ihr ständiger Begleiter, trägt sie als kokettes Accessoire in Silber. Edschmid, kräftig, stets elegant gekleidet, gibt an ihrer Seite den Sportsmann. Eine Reihe solcher Schnappschüsse hat die Herausgeberin Ulrike Edschmid, Schwiegertochter des Schriftstellers, dem Briefwechsel voran gestellt. Sie gehören neben drei Briefen aus den 1930er Jahren zu den wenigen persönlichen Zeugnissen einer Zeit, in der beide dem Ideal "freier, seelischer und gedanklicher Berührung" anhingen. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten sind sie bedroht. Edschmids Bücher wurden verbrannt, die Pinner erhält als Jüdin keine Aufträge mehr. Als sie 1935 nach London emigriert, folgt er nicht nach. Die Briefe nach der Abreise Pinners bezeugen beidseitigen Schmerz, aber auch eine erste Desillusionierung. Die Pinner: "Du hast die Wahl, entweder Feuer und Asche speien - oder abseits eine Welt im Geiste bauen, in der es immer Wege gibt."

Edschmid sucht sich diese Welt abseits und vollzieht damit die Wendung ins Private. 1941 heiratete er die 20 Jahre jüngere Elisabeth von Harnier. Gemeinsam mit ihren beiden kleinen Kindern zieht sich das Paar auf einen Berghof in Ruhpolding zurück. Erna Pinner dagegen engagiert sich mit Freunden wie Anna Mahler in der Flüchtlingshilfe und baut sich mühsam, aber schließlich überaus erfolgreich eine Karriere als naturwissenschaftliche Zeichnerin und Autorin auf.

In den ersten Briefen nach dem Krieg geht es viel um den Verbleib von Freunden und Bekannten, aber auch um die schlechte Versorgungslage. Beide bemühen sich, an Gemeinsames anzuknüpfen. Trennung und unterschiedliche Lebenssituation haben jedoch eine deutliche Distanz geschaffen. Weniger als persönliche Kränkungen spielen dabei die unterschiedlichen Perspektiven der Emigrantin Pinner und des inneren Emigranten Edschmid eine Rolle. Edschmid beklagt die alltäglichen Härten und leidet sehr darunter, als Schriftsteller nicht sofort wieder die Anerkennung zu erfahren, die er aus der Zeit von 1933 gewohnt ist. Die Pinner schlägt einen vergleichsweise pragmatischen und optimistischen Ton an: "Ich lebe nun schon elf Jahre allein und habe gelernt, aus diesem Alleinsein die Kraft zur Arbeit zu ziehen. Das ist wohl das wichtigste, was ich über mich sagen kann." (20.7.1946)

Es gelingt den Briefpartnern nicht, sich über Vergangenes auseinanderzusetzen - weder im privaten noch im politischen Bereich. Die seltenen Versuche, das Verhalten der Deutschen und damit indirekt auch der im Land Gebliebenen zu diskutieren, scheitern an Empfindlichkeiten vor allem bei Edschmid. Wenn die Pinner fragt, wie sie die Morde in den Konzentrationslagern vergessen soll, wittert Edschmid sofort eine pauschale Verurteilung aller Deutschen.

Umgekehrt reagiert Erna Pinner befremdet auf seinen 1947 veröffentlichten autobiographischen Roman "Das gute Recht", der die Kriegsjahre einer Künstlerfamilie in einem abgelegenen Bergdorf schildert. Im Kleinkrieg mit einigen überzeugten Nationalsozialisten, die im Haus zwangseinquartiert sind, beweisen die Eheleute aufrechte moralische Gesinnung. Nicht nur aus heutiger Sicht liest sich der Roman wie eine ungeschickte Rechtfertigung. Edschmids Versuch, aus einem relativ harmlosen Privatschicksal auf einen moralischen Zwiespalt der Deutschen zu schließen, ist gründlich mißlungen.

Aber ihre Unstimmigkeiten werden schnell beiseite geschoben mit Formeln wie "reden wir nicht mehr darüber" oder "glissons". Zentrales Anliegen war, den Kontakt aufrechtzuerhalten, für beide eine zentrale Verbindung zur "Welt von gestern". Ab Mitte der 1950er Jahre werden die Briefe dann kürzer.

Das war zum einen sicher der hohen Arbeitsbelastung beider Briefpartner geschuldet - Edschmid übernimmt unzählige Ämter in Verbänden und Akademien, entwickelt sich zum Schriftsteller-Funktionär, die Pinner arbeitet unabläßig -; zum anderen verschlechtert sich mit zunehmendem Alter auch beider Gesundheit. Insgesamt jedoch wird das Leben leichter. Im Sommer reist man wieder nach Italien und in die Schweiz. Ein Auto und eine Hausangestellte künden vor allem in Darmstadt, in das die Edschmids 1949 zurückgekehrt sind, von neuem Wohlstand.

Merkwürdig unberührt bleibt in den Briefen das einzige Wiedersehen im Jahr 1955, als Erna Pinner auf dem Rückweg vom jährlichen Italien-Aufenthalt Station in Frankfurt macht. Die Herausgeberin erwähnt diese Begegnung weder im Vorwort noch in dem ansonsten ausführlichen und angesichts der Fülle von Namen und Anspielungen notwendigen Anhang. Das ist um so eigenartiger, als Ulrike Edschmid einen anderen Briefwechsel Erna Pinners, nämlich mit Gottfried Benn, sehr wohl kennt. Dort schildert die Pinner, mittlerweile britische Staatsbürgerin, das "gespenstige Abenteuer", nach 21 Jahren erstmals in die völlig veränderte Heimatstadt zu rückzukommen.

Offenbar soll der Mythos des glamourösen und extravaganten Paars Pinner/Edschmid vor dem Krieg nicht beschädigt werden. Die Chance, mehr Aufklärung zu den Brüchen, der Entfremdung und Sprachlosigkeit zu liefern, hat die Herausgeberin nicht genutzt. Das wäre wünschenswert gewesen. Dennoch spricht der Briefwechsel in vielem für sich und ist ein traurig-schönes Dokument verlorener deutscher Kultur.

Ulrike Edschmid (Hrsg.):
Wir wollen nicht mehr darüber reden.
Erna Pinner und Kasimir Edschmid. Eine Geschichte in Briefen.
Luchterhand, München 1999. 302 S. 39,80 Mark.


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