Zur historischen Datierung der in der
Thidreksaga geschilderten Ereignisse

von Willi Bücher

Heinz Ritter-Schaumburg hat erstmals in seinem bahnbrechenden Buch "Die Nibelungen zogen nordwärts" die These aufgestellt - und sie später in "Thidrek, König zu Bonn" vertieft -, daß der sagenhafte Dietrich von Bern nicht, wie bis dahin alle Welt glaubte, Theoderich der Große war, sondern Thidrek von Bern (Bonn), ein... die Römer sagten "subregulus Francorum" (fränkische Kleinkönig), die Historiker sagen "Gaugraf" (außer 1933-1945, da sagten sie "Gauleiter" :-), die Franken sagten "Jarl" (Graf, dem englischen "Earl" entsprechend). Er stützte sich dabei auf eine schwedische Fassung ("Svava") der Thidreksaga und fand deren Schilderungen vor Ort überall bestätigt, so die Spuren des Nibelungenuntergangs in Soest ("Susat"), das "Königsgrab" in Enzen, die vorübergehende Bezeichnung Bonns als "Verona", die Bezeichnung Triers, der vorübergehenden Hauptstadt des Römischen Reiches, als "Romaburg" und sogar "Attilas Schatzkammer".

[Schauplätze der Thidreksaga nach Ritter-Schaumburg]

Für zwei Punkte fand Ritter-Schaumburg allerdings keine befriedigende Erklärung, und daran klammern sich all diejenigen, die seiner Meinung nicht folgen wollen: Wann soll jener famose Thidrek regiert haben, und wenn schon er infolge seines langjährigen Exils nicht ganz so famos war, daß er in den anderen historischen Quellen erwähnt wird, was ist dann mit seinen großen Gegenspielern, und wo saßen die? (Attila können wir ausnehmen, denn der war nur ein kleiner Gaukönig in Ostfriesland und Westfalen, und so weit reichte die römische Geschichtsschreibung halt nicht.) Wer aber war Ermanrich, den die Thidreksaga als "Kaiser" bezeichnet, und wo lag "Babilonia", das Ritter-Schaumburg in Köln vermutet (wegen der Steinbrücke über den Rhein), für das hingegen - anders als im Falle von Bonn und Trier - kein anderer Name überliefert ist? Ritter datiert Thidreks Lebenszeit vage auf ca. 470-535, d.h. er wäre ein direkter Zeitgenosse des Gotenkönigs Theoderich gewesen. Das glaube ich nicht; ich glaube vielmehr, daß Thidrek etwa eine Generation älter gewesen sein muß.

Beginnen wir mit den Angaben der Thidreksaga. In der Einleitung lesen wir, daß die in ihr geschilderten Ereignisse in der Zeit nach dem Tode Konstantins des Großen (337) spielen. Das heißt aber nur, daß sie nicht vorher statt fanden, nicht, daß sie unmittelbar darauf einsetzten. Außerdem habe ich große Zweifel, daß mit Konstantin wirklich der Kaiser gemeint ist, den wir "den Großen" nennen. Diese Beinamen sind oft erst Jahrhunderte später erfunden worden, als es notwendig wurde, sie von ihren späteren Namensvettern zu unterscheiden. Auch paßt auf ihn nicht die Aussage gleich des folgenden Satzes: "Der machte fast die ganze Welt christlich, aber bald nach seinem Hinscheiden verkam das Christentum." Unser "Konstantin der Große" soll sich erst auf dem Totenbett zum Christentum "bekannt" haben (und selbst das halte ich für ein nachträglich erfundenes Märchen), noch lange danach war gar nicht daran zu denken, daß "die ganze Welt" christlich würde. Sein Sohn Konstantin II regierte bis 350, und er war in den Augen der Germanen vielleicht der größere Kaiser, denn er war schon längst vor dem Tode seines Vaters Mitregent und residierte außerdem in Trier - dem "Romaburg" der Thidreksaga -; mit ihm hatten die Germanen also direkten Kontakt. Vielleicht wurde Thidreks Großvater Samson - mit dem die Thidreksaga ja beginnt - kurz nach seinem Tode geboren.

391 wurde das Christentum erstmals zur Staatsreligion erhoben; ein Jahr später putschte das Militär, und der germanische General, der den Staatsstreich anführte, Arbogast - nicht zu verwechseln mit seinem Namenvetter, der zwei Generationen später in Trier residierte - verbot es wieder. Arbogast hält sich nur zwei Jahre, dann wird er von Stilicho geschlagen und begeht Selbstmord; danach werden die "heidnischen" Kulte - u.a. die Olympischen Spiele - wieder verboten. Aber mit "verkommen" meint der Autor der Thidreksaga wohl etwas anderes, nämlich das Aufkommen des Arianismus: In einem der letzten Kapitel schreibt er: "In König Thidreks Tagen ward die Irrlehre des Arius von den Christen verdammt, und alle, die der Irrlehre angehangen hatten, wandten sich dem rechten Glauben zu. Auch König Thidrek, Meister Hildebrand, das ganze Römerreich und Langobardien bekehrten sich von neuem zum Christentum." Gemeint ist das "athanasische" Christentum, das wir heute "katholisch" nennen. Bis dahin war es aber noch weit hin. Bis Ende des 5. Jahrhunderts waren die meisten germanischen Stämme, so sie denn schon überhaupt schon christianisiert waren - also vor allem Ostgoten, Westgoten und Wandalen - Arianer. Erst der Frankenkönig Chlodwig ließ sich 496, nach seinem Sieg über die Alemannen und Westgoten, "katholisch" taufen - und dieses Vorbild war dann wohl auch ausschlaggebend für die Gegend, in der die Thidreksaga spielt. Die Zeitspanne von 337 bis 496 ist aber deutlich zu lang. Zwar zitiert der Autor der Thidreksaga Quellen, die behaupten, Hildebrand sei 150 oder sogar 200 "Winter" alt geworden; aber Ritter-Schaumburg hat überzeugend dargelegt, daß damit Halbjahre, also Sommer und Winter gemeint sind, so daß man sein Lebensalter also auf 75-100 Jahre ansetzen darf - wobei bereits das erstere für damalige Verhältnisse ganz außergewöhnlich hoch wäre.

Rechnen wir weiter zurück: Nach langen Jahren des Exils in Soest kehrt Thidrek nach Bonn zurück, nimmt es kampflos, zieht weiter nach Süden, schlägt Sifka, nimmt dann Trier ebenfalls kampflos. Wenn man das liest, denkt man zuerst an die vier germanischen Eroberungen Triers in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts - 406, 411, 428 und 440 -; aber da wurde jedesmal erbittert gekämpft, und die Römer konnten Teile der Stadt halten oder zurück erobern. Von solchen Teilerfolgen der Germanen berichtet die Thidreksaga nur einmal, nämlich als der noch junge Ermanrik gen Romaburg zieht und dessen "beste Teile" erobert. Das mag irgendwann um 440 gewesen sein; Thidreks Vater Thetmar war damals gerade schwertmündig geworden, also ca. 12 Jahre alt, d.h. um 428 geboren; im selben Jahr bekam er Odilia, die Erbtochter des geschlagenen Jarl Elsung von Bern, zur Frau. Schauen wir genauer hin, ins 11. Kapitel der Thidreksaga, dort wird gesagt daß er sie zur Nebenfrau haben soll. Hat Thetmar also schon eine (Haupt-)Frau? Offenbar, und ich habe auch einen Verdacht, was aus ihr geworden ist. Thidreks Großvater Samsung wird als "dunkel" (vom Teint), mit "pechschwarzem Haar und Bart" beschrieben; und auch von Thidreks Vater Thetmar heißt es: "Er war groß und stark, schwarz und männlich wie sein Vater." Nun aber Thidrek: Der hatte helle Haut, und sein Haar "fiel in langen Locken herab, glänzend wie geschlagenes Gold." Merkwürdig, nicht wahr? Und nun nehmen wir noch die Beschreibung Hildebrands dazu: "Er hatte helle Haut, Haar und Bart glänzten ihm wie gelbe Seide und waren kraus wie Hobelspäne." Für mich ist es ziemlich offensichtlich, daß Thidrek ein Sohn Hildebrands war, und daß das nur deshalb verschwiegen wurde, weil Thetmar und Odilia offenbar keine Kinder bekamen; nirgends wird gesagt, daß er einen Knaben gezeugt oder sie einen zur Welt gebracht hätte. Plötzlich "hatten (nicht: bekamen!) sie einen Sohn namens Thidrek." Offenbar war das die Frucht eines Seitensprunges der ersten Frau Thetmars mit Hildebrand, mit dem sie dann später, als Thetmar Odilia bekam, auch verheiratet wurde - Jahre lang ist es die einzige Frau, deren Hof Thidrek immer wieder besucht. Und wieso kommt ein "Herzogssohn" wie Hildebrand an einen benachbarten Hof wie den von Bern, um ein wildfremdes Kind aufzuziehen? Das war schlicht unüblich; der Grund war offenbar, daß es sein leiblicher Sohn war. (Dagegen kennen Hildebrand und sein anderer Sohn Alibrand einander offenbar kaum - sonst hätten sie sich doch bei der Rückkehr des ersteren ohne weiteres wiedererkennen müssen!)

An dieser Stelle wird Ritter-Schaumburg inkonsequent: Obwohl er wie gesagt glänzend dargelegt hat, daß mit den "Jahren" der Thidreksaga" Halbjahre gemeint sind, nimmt er die folgenden Angaben wörtlich: Hildebrand kam als "Erzieher" nach Bern, als er im 30. Lebensjahr stand und Thidrek im 6. So so, und da muß er als fast 30-jähriger vorher noch seinen Vater um Erlaubnis fragen? Es war halt damals so, daß die Kinder verheiratet wurden, sobald sie geschlechtsreif waren und ihrerseits alsbald Kinder in die Welt setzten; und die Menschen waren damals relativ früh geschlechtsreif, weil sie nicht annähernd so groß wurden wie heute; mit 11-12 Jahren waren sie ausgewachsen. Thidrek dürfte also knapp 3 Jahre, Hildebrand knapp 15 Jahre alt gewesen sein - das kommt ohne weiteres hin. Lassen wir Thidrek 440 geboren sein, dann sind wir jetzt also im Jahre 443, und Hildebrand ist - wie Thetmar - Jahrgang 428. Dann wäre er zur Zeit von Chlodwigs Taufe (496) 78 Jahre alt gewesen und hätte "kurz darauf", wie die Thidreksaga berichtet, das Zeitliche gesegnet.

Rechnen wir weiter. Als Thidrek 25 Winter, also ca. 12 Jahre zählt, um das Jahr 452, wird er von seinem Onkel Ermanrich aus Bonn vertrieben und geht ins Exil nach Soest zu Attila, dem er in den Kriegen gegen die Wilzen und die Rus hilft, die ihn bis ans Baltische Meer (die Ostsee) führen. Auch das paßt, denn Mitte des 5. Jahrhunderts tauchen im Rahmen der Völkerwanderung die Slawen an der Elbe auf, also in unmittelbarer Nachbarschaft von Attilas "Hunenland" (dem heutigen Westfalen+Niedersachsen). Danach versucht Thidrek, in der Schlacht von Gräntzport (nach Ritter-Schaumburg bei Koblenz) sein Reich von Ermanrich zurück zu gewinnen. Warum das letztlich mißlingt, obwohl die Schlacht angeblich gewonnen wird, bleibt unklar - der Kummer um den Verlust der von Ermanrichs Heerführer Sifka erschlagenen Königssöhne kann nicht der allein ausschlaggebende Grund gewesen sein. An dieser Stelle ist Ritter-Schaumburg wieder etwas aufgefallen, das ihm ein Rätsel bleibt, das indes durch meine These von der Vaterschaft Hildebrands zu Thidrek gelöst wird, die dadurch zugleich erhärtet wird: Der in der Schlacht gefallene junge Thidrek ist, so Ritter-Schaumburg, offenbar nicht der jüngere Bruder Thidreks, sondern sein Sohn.

Bald nach der Schlacht von Gräntzport stirbt die Hunenkönigin Erka aus Kummer über den Tod ihrer Söhne, und Attila heiratet in zweiter Ehe die berühmt-berüchtigte Witwe Sigurds, Grimhild aus dem Niflungenland. Und erneut erliegt Ritter-Schaumburg seinem Rechenfehler, indem er die Halbjahre als ganze Jahre zählt und so die Exildauer von insgesamt 32 Jahren für bare Münze nimmt. Halbieren wir das tunlichst, dann befinden wir uns jetzt ungefähr im Jahre 468. Es ist das Jahr, in dem die Nibelungen in Susat untergehen und die meisten von Thidreks Männern im Kampf gegen sie fallen. Thidrek beschließt, Susat zu verlassen und mit den wenigen im verbliebenen Getreuen heimzukehren nach Bonn. Das tut er denn auch, und es fällt kampflos an ihn, denn inzwischen haben die Römer (und auch die mit ihnen verbündeten Germanen) andere Sorgen: Die Hunnen (die echten - nicht die Hunen der Thidreksaga!) haben Pannonien und Oberitalien besetzt und geplündert, die Westgoten Frankreich und Spanien, die Wandalen Sizilien und Nordafrika erobert, Angeln und Sachsen Britannien, die Rheingrenze ist längst aufgegeben. Köln wurde 456 geräumt; leider besitzen wir keine römische Quellen über das Jahr der Räumung Bonns, wo Thidrek im Jahre 469 angekommen sein dürfte. Im nächsten Jahr - "9 Winter", also viereinhalb Jahre, nach der Schlacht von Gräntzport - schlägt er Sifkas Truppen bei Ran, zieht weiter nach Trier und besetzt auch das kampflos. Und siehe da: Just für das Jahr 470 (oder 475) meldet uns auch die römische Geschichtsschreibung den endgültigen Fall Triers an die Germanen. Da war Thidrek um die 30 - ein Mann in den besten Jahren. (Wenn wir 16 Jahre mehr annehmen, kommen wir schon in die Zeit des Frankenherrschers Chlodwig, und der hätte keinen anderen größeren Herrscher mehr neben sich geduldet in Trier und Umgebung.) Und Hildebrand wäre dann Anfang-Mitte 40 gewesen, also für damalige Verhältnisse schon ein reifer Mann, aber immer noch in der Lage, das Schwert zu schwingen und Feldzüge mitzumachen. Er schlägt sich auch noch mit seinem (zweiten) Sohn Alibrand, der im folgenden zum eigentlichen Helden der Geschichte wird, jedenfalls wenn man es objektiv betrachtet: Er nimmt Bonn im Handstreich, indem er den Torwächter erschlägt und anschließend die Bewohner überredet, Thidrek zu huldigen; er tötet in der Schlacht bei Gregenborg Ermanrichs Nachfolger Sifka, rächt damit den Tod der Königskinder und ermöglicht es Thidrek, Trier kampflos zu nehmen. Freilich war das damals nicht mehr der Nabel der Welt - die Römer hatten ihre westliche Hauptstadt schon 390 zurück nach Italien verlegt (nach Ravenna). Dem bei den Germanen üblichen Namen tat das zunächst keinen Abbruch - für die hieß Trier weiterhin "Romaburg". 476 wird Romulus, der letzte Kaiser Roms, von Odoaker in Zwangspension geschickt; kurz zuvor ist auch Attila gestorben, von der Hand Aldrians des Sohnes Hagens. Daraufhin nimmt Thidrek auch das Hunenland kampflos in Besitz, und den Rest seines Lebens führt er keine Kriege mehr - angeblich weil niemand es wagt, gegen ihn zu kämpfen - deshalb suchen wir auch vergebens nach weiteren Anhaltspunkten für eine Datierung seiner Heldentaten.

Bleibt das Rätsel "Babilonia". Köln fiel wie gesagt 456 endgültig an die Franken, aber offenbar nicht an Thidrek, denn wir erfahren nichts davon, daß er es erobert hätte. (Auch am Anfang der Thidreksaga, bei den Kämpfen zwischen Thidreks Großvater Samson und Jarl Elsung, wurde Köln offenbar nicht erobert - sonst wären Thidreks Vater Thetmar und sein Onkel Aki sicher nicht auf das kleinere und unbedeutendere Bonn bzw. Fritilaburg verwiesen worden. Dennoch saßen in Köln bereits Germanen - eben die Leute des Jarl (Gaugraf) Elsung und seiner Nachfolger. Wer aber hat die Stadt als "Babylon" bezeichnet, und wann? Da gab es einen Salvianus, der durch die Geschichtsbücher als "Salvian von Marseille" geistert, weil er seinen Lebensabend in Marsilia verbrachte. Tatsächlich stammte er aus Köln und lebte wohl auch eine Zeitlang in Trier. Der schrieb, wohl um 440, also etwa im Geburtsjahr Thidreks, ein heute nur noch wenig gelesenes Buch mit dem Titel "De gubernatione Dei" (von der Herrschaft Gottes). Darin steht über Köln, daß es "voll von Feinden", also Nicht-Römern war - folgt eine bitterböse Abrechnung mit den damligen Zuständen. Nun wurde aber das, was wir heute als "Sodom und Gomorrha" bezeichnen, damals als "Babylon" bezeichnet (früher sagte man auch bei uns noch "Sündenbabel"), und genau das meint Salvian, Unmoral: Habgier der Beamten, Korruption, Trunkenheit, Ehebruch, sexuelle Ausschweifungen, Vermischung von Römern mit Nicht-Römern, usw.

Aber wer war nun dieser Thidrek? Erwähnen ihn die "herkömmlichen" Geschichtsquellen wirklich nicht? Ich meine doch. Schauen wir uns die Lücken der Überlieferung noch einmal genau an: Um 470 besetzten die Germanen kampflos Trier - es gab keine Plünderungen mehr wie bei den vier voraufgegangenen Eroberungen. (Vermutlich wäre auch nicht mehr gar so viel zu holen gewesen :-) Ihr Anführer war ein gewisser Arbogast - nicht der große Feldherr, der am Ende des 4. Jahrhunderts die Geschicke des Römischen Imperiums gelenkt hatte, sondern ein so genannter "comes", also nach herkömmlicher Übersetzung ein Graf. Aber wie kommt man von "Thidrek" auf "Arbogast"? Ganz einfach: Die alten Germanen (andere Völker übrigens auch) pflegten noch sinntragende Namen zu haben; und wenn die alten keinen Sinn mehr machten, dann nahmen sie neue an. Wir wissen, daß der Cherusker Arminius und der Gote Totila in Wirklichkeit ganz anders hießen; aber für die Römer - und ihre Geschichtsschreiber - nannten sie sich halt so. "Thidrek" bedeutet "der an Volk reiche" - aber das war er nach dem Untergang seiner Mannen im Kampf gegen die Nibelungen nun wirklich nicht mehr. Als er nach Bonn und Trier zurück kam, war er vielmehr ein Erbe, der aus der Fremde kam - und dafür gibt es einen Namen, den schon mal ein berühmter Germane vor ihm getragen hatte: Arbogast. Nun gibt es aber Mitte der 70er Jahre des 5. Jahrhunderts eine Quelle, nämlich einen Brief an den damaligen Herrscher in Trier, den die Historiker "comes Arbogast" nennen, und der als weiser Sohn der Kirche geschildert wird, der mit der Feder ebenso gut umzugehen wußte wie mit dem Schwert. (Wer hätte uns all die z.T. intimen Einzelheiten aus Thidreks Leben überliefern sollen, wenn nicht er selber wenigstens den Kern seiner Biografie zu Pergament gebracht hätte? Und wer hätte andererseits so ignorant all der Umwälzungen sein können, die damals westlich des Rheins statt fanden, als jemand, der weit vom Schuß im westfälischen Exil saß?)

Aber... Wie sollte ein kleiner "Graf" mit dem "großen König" der Sage identisch sein? Nun, diese Frage beantwortet sich ziemlich leicht, wenn man sich nicht durch die später angenommene Bedeutung des Titels "comes" den Blick auf die damaligen Verhältnisse verstellen läßt: Der comes des 5. Jahrhunderts war - im Gegensatz zum germanischen "Jarl" - gar kein "Graf", sondern viel mehr, nämlich eine Art Vizekönig; es gab einen comes von Britannien, einen von Afrika, und eben auch einen von Trier, der zwar nicht mehr ganz Gallien und Westgermanien, aber immerhin noch in etwa das Gebiet beherrschte, das auf der Karte unten grün markiert ist. (Diese Komitate bestanden erst einmal fort, auch nachdem die römischen Truppen zu Beginn des 5. Jahrhunderts die britischen Inseln und die Rheingrenze geräumt hatten.)

Leider liefern uns die gängischen Geschichtsbücher keine weiteren Informationen über jenen "comes Arbogast"; als 20 Jahre später die nächste "offizielle" Quelle antröpfelt, ist er schon nicht mehr; sondern in Trier herrschen irgendwelche anderen, unbedeutende Franken, die bald von Chlodwig "geschluckt" werden. Aber nun brauchen wir solche ja gar nicht mehr, denn wir haben, wie Ritter-Schaumburg treffend festgestellt hat, mit der vermeintlichen Sage eine historische Quelle allerersten Rangen: Die Thidreksaga ist die Lebensgeschichte des "Arbogast" und seiner Zeitgenossen; sie ergänzt unser Bild von den Geschehnissen des 5. Jahrhunderts um die Gegenden, die außerhalb des römischen Machtbereichs und damit außerhalb der römischen Geschichtsschreibung lagen, in einzigartiger Weise.


weiter zu Die Gründung Bonns