Die Zeit - Macht Reisen muffig, Paul Theroux?

E R K E N N T N I S

Macht Reisen muffig, Paul Theroux?

Seine Bücher haben mich in alle Welt begleitet. Sie schenken Trost in schwierigen Momenten und geben das Gefühl, nicht allein zu sein. Bis ich den amerikanischen Autoren eines Tages wirklich kennen lernte

Faller

Der Reiseschriftsteller Paul Theroux reist mit dem Zug oder mit dem Faltboot und immer allein. Das ist unkomfortabel und einsam. Theroux hat deshalb meistens schlechte Laune, und er nimmt die Welt durch diesen Filter wahr. Er ist keiner, der sich auf Leute »einlässt«, meistens nerven sie ihn, er macht da keinen Unterschied zwischen Touristen und Eingeborenen. Das wirkt gemein und bisweilen sogar rassistisch, aber es ist genau diese Verstocktheit, die einen unterwegs so trösten kann. Denn Paul Theroux - und deshalb ist er der berühmteste lebende Reiseschriftsteller - schreibt die Wahrheit: die Südsee so stinkig, die Tropen so traurig, die anderen Touristen so blöd, die Einheimischen auch blöd und potenzielle Diebe außerdem. Und zu Hause schwelt eine Beziehungskrise. In solchen Momenten ist es gut, ihn dabeizuhaben. Theroux gehört in jede Reiseapotheke.

Ich hatte ihn zum ersten Mal mitgenommen, als ich in die Südsee fuhr, ins Paradies, nach Tonga. Dort hatten selbst alte Mütterchen von ihm gehört, von diesem weißen Amerikaner, der schlecht über ihr Land geschrieben hatte: »Bollterou«. Sie spuckten seinen Namen aus, weil er geschrieben hatte, dass sie unfreundlich waren und gern Katzen aßen (außer in der Hauptstadt Nuku'alofa). Er hatte sich über ihren Akzent lustig gemacht und den Gegensatz zwischen den dicken Menschen und den fragilen Häusern bemerkt.

Die Happy Isles of Oceania (Die glücklichen Inseln Ozeaniens) waren mein Lieblingsbuch, vielleicht weil die Ausgangssituation so herzzerreißend ist. Er verlässt London und weiß, dass er nicht mehr dorthin zurückkehren wird, weil seine 20-jährige Ehe gescheitert ist. »There was no good word for this hopeless farewell«, lautet der erste Satz, und er setzt den Ton. Theroux hat ein Melanom auf seinem Arm, von dem er nicht weiß, ob es bösartig ist, und im Lauf seiner einsamen Reise hat man das Gefühl, dass er die dunkle Insel auf seiner Haut mit den Inselns des Pazifiks verwechselt.

Bei meiner Einreise nach Tonga zog ein Zöllner dieses Buch aus der Tasche und fing an, mit seinen Kollegen zu flüstern. Überempfindliche Analphabeten, dachte ich. Verstehen sie nicht, dass Theroux in Wirklichkeit nicht über die Außenwelt, sondern über seinen eigenen Seelenzustand schreibt?

Ein paar Jahre später las ich sein Buch Mein anderes Leben, das gerade erschienen ist. Es ist eine Art fiktiver Autobiografie, das heißt, das Leben des Erzählers hat erkennbar mit dem von Bollterou zu tun (Lehrtätigkeit in Afrika und Singapur, Ehe in London, Reisen, Erfolg als Schriftsteller, Scheidung, zweites Leben in seiner Heimat in Massachusetts). Aber irgendwie dann auch wieder doch nicht. »Dies ist die Geschichte eines Lebens, das ich gelebt haben könnte, wenn einiges anders gewesen wäre ...«, schreibt er im Vorwort. Das ist wahrscheinlich schick und postmodern.

Einige amüsante Geschichten finden sich darin, aber, wie die New York Times schrieb: Sie enthüllen nichts, sie verbergen mehr. Oder, nur so eine Vermutung, vielleicht stimmen die Geschichten einfach, und er wollte es (Sexszenen, Affären) nicht zugeben. Oder sein Rechtsanwalt hat ihm dazu geraten. In einer Geschichte erzählt er von einer Party in London, auf der auch die Queen und Prinz Philip eingeladen sind, und beschreibt, wie Philip vergisst, dass er Präsident des World Wildlife Fund ist. »Durch den WWF lernen Sie sicher die schönsten Orte der Erde kennen.« - »Noch nie davon gehört.« - »Sie sind der Präsident des WWF, Sir.« - »Was sagen Sie da?«

Wegen solcher Dialoge mag ich P. T., und deshalb freute ich mich zunächst, als ich die Einladung bekam, ihn zu interviewen, diesen Autor, der auf manchen meiner Reisen so präsent war, dass ich danach nicht sagen konnte, ob sich eine bestimmte Sache tatsächlich ereignet hatte oder ob ich bei ihm davon gelesen hatte ...

Bis ich (nichts ahnend, auf einem Sofa liegend) in das Kapitel stolperte, in dem mein eigener Stamm beschrieben wurde, das Volk der Journalisten. Es war eine treffende Beschreibung: »'Bestimmt hat man Ihnen diese Fragen schon oft gestellt', sagen die Interviewer irgendwann, und ich widerspreche ihnen immer: Nein, nein, Ihre Fragen sind sehr interessant! (...) und ich beantworte die Fragen, die man mir seit zwanzig Jahren immer wieder stellt: Warum bin ich nach Afrika gegangen? Was ist an Zügen so besonders? (...) Immer gibt es einen Kassettenrekorder, der nicht funktioniert, und immer heißt es dann: 'Ich wußte, dass das irgendwann mal passieren würde.'«

Er war nett. Er war ein Onkel in Opaschuhen

Bollterou nahm seine Interviewer so gnadenlos wahr wie die Südseebewohner, und ich fing an, die überempfindlichen Tonganer zu verstehen.

Mit ihm genau darüber reden? »Man hat Ihnen das bestimmt schon oft gesagt - aber es ist wirklich schwierig, Sie zu interviewen. Sie haben da diese Geschichte über Journalisten geschrieben ...« Er würde höflich lächeln, was für eine interessante Frage, aber er würde es durchschauen, und in Gedanken würde er schon an einer Fortsetzung dieser gemeinen Geschichte schreiben ...

Ich dachte daran abzusagen.

Ich rechnete aus, dass P. T., 1941 geboren, also schon fast 60 war, ein älterer Herr. Vielleicht war er in den letzten Jahren milde geworden.

Vielleicht hatte ihn die Scheidung noch bitterer gemacht.

Also absagen.

Das Treffen sollte in der Villa der American Academy am Wannsee stattfinden. Es war ein nebliger Herbstnachmittag, die Wiesen dampften. Alles war genauso feierlich, wie es sein muss, wenn man jemanden kennen lernt, von dem man seit Jahren das Gefühl hat, ihn zu kennen. Beim Lesen seiner Bücher hatte ich tausend Fragen an ihn gehabt, aber als ich an diesem Samstagmorgen in der S-Bahn zum Wannsee saß, stand in meinem Notizblock: Was ist Ihr Lieblingsort von allen Orten, die Sie bereist haben? Machen Sie auch Urlaub? Mit welchem Rucksack reisen Sie? (Fehlte nur noch: Was ist an Zügen so besonders?)

Ich überprüfte meinen Kassettenrekorder. (Ich wusste, dass es eines Tages passieren würde).

»Ist der digital?«, fragte P. T., als ich ihm eine Stunde später meinen Mini-Disc-Recorder auf den Tisch stellte.

»Ja.«

»Ah, das ist gut, oder?«

»Viel, viel besser.«

Er war nett. Er war ein Onkel, professoral mit seiner Hornbrille, seinem Tweedjackett. Er hatte die gewandten Bewegungen eines Mannes, der viel an der frischen Luft war. (Später in diesem Interview würde er ein paar Schritte um den Tisch herumlaufen, sich vor mich hinstellen und mit einem Griff den Schuh ausziehen, weil ich nach seiner Reiseausrüstung gefragt hatte. Es waren Opaschuhe von Mephisto, Modell Slacker, las er auf der Innensohle. »Dummer Name«, und das war die einzige kritische Bemerkung, die er während des ganzen Interviews machte.)

Ich überprüfte, ob das Gerät aufnahm.

»Ist die Batterie in Ordnung?«, fragte er teilnahmsvoll.

Wir sprachen ein bisschen über Berlin. Der Mann, der durch seine schlecht gelaunten Reisereportagen berühmt geworden war, dem es selbst in der Südsee nicht gefallen hatte, hatte für Berlin nur Komplimente übrig.

»Ich bin ins ethnografische Museum gefahren. Es ist fantastisch. Ich sage Ihnen, es ist vielleicht das beste ethnografische Museum der Welt.«

Gemäldegalerie: »Fantastisch! Fantastisch. Rembrandts, die ich noch nie zuvor gesehen habe.«

Das neue Berlin: »Mit einem Mal ist es eine ganz andere Stadt. Das ist unglaublich aufregend.«

Letzter Versuch: Die Neonazis? »Wissen Sie, wie viele Morde es in den USA in einem Jahr gibt? 11 000! Viele davon haben einen rassistischen Hintergrund. Aber weil es so viele sind, ist es keine Nachricht.«

Er war wie einer dieser höflichen Amerikaner, die man in den Hackeschen Höfen trifft und die einem erzählen, what a great city this is.

Dann nahm das Gespräch eine unamerikanische Wendung: »Meine Frau war noch nie in Berlin und wollte etwas Interessantes sehen. Ich sagte, ich möchte dir eine andere Form der Ethnografie zeigen. Und so sind wir in einen Pornoladen gegangen. Die klassische Art, eine andere Kultur zu verstehen: sich ihre Pornografie anzuschauen. Deutsche Pornografie ist völlig anders als die amerikanische. Die Kultur, die Tabus, die Interessen sind andere.«

»Können Sie das etwas genauer erläutern?«

»Wird diese Zeitung nicht von Familien gelesen?«

»Egal ...«

»Ich weiß nicht ... Deutsche Pornografie hat einen ganz eigenen Stellenwert, vor allem im Bereich von Sadomasochismus. Amerikaner interessiert das tendenziell eher weniger. Denn vieles am Leben in Deutschland hängt mit Macht zusammen. Mächtige Männer! Was ist der Thrill für mächtige Männer? Sex. Was ist der größere Thrill? Sich als kleines Mädchen zu verkleiden und von einer Frau ausgepeitscht zu werden. (...) Oder Leder. Sehr populär in der deutschen Pornografie. Was glauben Sie, kommt Leder in der mexikanischen Pornografie vor? Nein. Leder ist dort Teil des Alltags. (...) Fetischismus. Frauenkleider. Frauen tragen eine Menge Kleider in dieser Kultur. Wie sich jemand anzieht, ist sehr wichtig. Anders als im Pazifik. Kleiderfetischismus existiert in Afrika oder im pazifischen Raum nicht.«

(Ist das wahr?)

»In der amerikanischen Pornografie sind die Frauen unersättlich: mehr, mehr, mehr. In der japanischen sagen sie: nein, nein, nein!«

Er hatte seine Stimme zu einem Fisteln erhoben, das wohl japanisch sein sollte.

»Das ist ein Gegensatz, nicht wahr? Aber in den jeweiligen Gesellschaften gilt es als aufregend.«

Mehr.

»Wissen Sie, ich meine das nicht frivol: Wenn Sie von einem anderen Planeten auf die Erde kommen würden, und Sie wollten das menschliche Verhalten verstehen, und Sie hätten nur einen einzigen Tag, einen Tag! Die schnellste Möglichkeit wäre, sich Pornografie anzuschauen, weil man auf diese Weise sieht, wie eine Gesellschaft funktioniert: die Fantasien, die frühkindlichen Prägungen, das geheime Leben der Menschen, was ja ihr wahres Leben ist.«

Mehr, mehr!

»Ich habe vor zwei Jahren eine Geschichte über eine Domina in Manhattan geschrieben. Ich dachte: Sie sieht, wie Männer wirklich sind.«

Mehr, mehr, mehr.

»Ein Mann wollte, dass sie ihm Kannibalismusgeschichten erzählt. Ein einflussreicher Rechtsanwalt, der 300 Dollar bezahlte, damit sie ihn an ein Hundehalsband legt und sich von ihm die Nägel lackieren lässt. Wie sind wir auf das Thema gekommen? Reisen. Pornografie ist jedenfalls eines der enthüllendsten Dinge. Man darf sich nicht davon schockieren lassen, aber man darf es auch nicht überbewerten.«

Das Interview war fast zu Ende. Die Pressefrau steckte den Kopf zur Tür herein. Allerletzte Frage: War es schwer, die Wahrheit über das Reisen zu schreiben? Nichts zu beschönigen, zuzugeben, überhaupt wahrzunehmen, dass Reisen oft langweilig und mühsam sind?

»Nein, ganz im Gegenteil. Ich dachte immer, ich will so wahrhaftig wie möglich sein. Ich dachte immer, es ist am besten, wahrhaftig zu sein, weil es am schockierendsten ist. Zum Beispiel England: Viele Leute fahren da hin und suchen grüne Wiesen und Menschen, die Tee trinken. Dabei ist es so nicht. Es gibt Skinheads und Graffiti, und die Leute sind wütend und frustriert, und das Essen ist eigenartig, und die Pornografie ist eigenartig.«

Wir lachten komplizenhaft.

Der Mann, der mir gegenübersaß, hatte nichts mit dem schlecht gelaunten Verfasser seiner Reisebücher zu tun. Er war ein zuvorkommender Onkel in Mephisto-Schuhen, der es den Journalisten leicht machte, indem er griffige Geschichten über Pornografie erzählte.

Was für ein angenehmes Interview, dachte ich, als ich die Stufen der American Academy hinunterstolperte.

»Je schneller ich ihre Frage beantwortet habe, desto schneller ist das Interview vorbei, und ich kann auf einer Bank in der Sonne sitzen, ein Sandwich essen und lesen«, hatte er in seinem Journalistenkapitel geschrieben.

Er war so nett gewesen, viel netter, als er sein müsste, und wahrscheinlich ist genau das der Trick: Paul Theroux läuft als höflicher amerikanischer Tourist durch die Welt, und Bollterou denkt sich seinen Teil. Und dann schreibt er es auf. Aus dieser Differenz sind ein paar Klassiker der Reiseliteratur entstanden, oberflächlich und scharfsichtig zugleich.

Vielleicht hätte ich ihm sagen sollen, wie gut sie mir gefielen. Wie sehr mir seine Beschreibung des Pazifiks in Erinnerung war, den er mit dem Himmel verglichen hatte, gesprenkelt mit »missgestalteten Sternen«. Wie mir in Tonga sein Buch in die Mehlkiste eines Bäckers gefallen war, der es mit spitzen Fingern herausholte, wütend wegen des Mehls oder wegen des Buchs, keine Ahnung. Das hätte ich ihm erzählen sollen. Stattdessen hatte ich ihn über Pornografie reden lassen. Poor Theroux.


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