HISTORIKERSTREIT IN ISRAEL

"Wir haben kein Recht auf dieses Land"

von Ulrike Putz (DER SPIEGEL, 30.05.2010)

Existiert das jüdische Volk überhaupt? Ist die Diaspora bloß eine Legende, die den Anspruch auf das historische Palästina begründen soll? Mit gewagten Thesen stellt der israelische Historiker Schlomo Sand das Selbstverständnis vieler Juden in Frage - seine Kollegen protestieren empört.

Da ist dieses deutsche Sprichwort, das Schlomo Sand fasziniert: viel Feind, viel Ehr. "Manchmal wünschte ich mir ja weniger Feinde, auch wenn das weniger Ehre bedeuten würde" sinniert der israelische Historiker in seinem Arbeitszimmer an der Universität Tel Aviv. "Trotzdem, die Sache ist es wert gewesen", sagt der 63-Jährige.

Die Sache, das ist ein Buch, mit dem Sand vor zwei Jahren in seiner israelischen Heimat einen erbitterten Streit losgetreten hat: "Die Erfindung des jüdischen Volkes" heißt das Werk, das damals auf Hebräisch erschien und seit einigen Wochen nun auch auf Deutsch zu haben ist.

Die darin vertretene These ist gewagt, für viele gar unerhört: Es gebe keine wissenschaftlichen Beweise für die Vertreibung des jüdischen Volkes aus dem Heiligen Land im Jahre 70 nach Christus, schreibt Sand. Daraus folge, meint er:

In einem Land, in dem schon jedes Kleinkind lernt, dass Juden aus Deutschland und Marokko, Äthiopien und dem Irak dasselbe kulturelle und genetische Erbe haben, grenzt das an Hochverrat.

"Ich habe eine Menge Freunde verloren"

"Ich habe den Gründungsmythos der jüdisch-israelischen Gesellschaft in Frage gestellt", erklärt Sand den Sturm der Entrüstung, der losbrach, als er sein Buch veröffentlichte. Die Legitimation des Staates Israel werde aus dem Exil abgeleitet, in dem die Juden 20 Jahrhunderte lang gelebt hätten. "Dieses Exil hat es nie gegeben, und damit erübrigt sich auch der Zionismus", sagt Sand. "Wie will man die 'Heimkehr' der Juden in ihre alte Heimat legitimieren, wenn die Juden dieses Land doch nie verlassen haben?" Seine Forschungsarbeit habe denn auch "die Grundfesten des modernen Israels" erschüttert, so Sand selbstbewusst.

Auch wenn man soweit nicht gehen muss: Sands Arbeit hat für enormes Aufsehen gesorgt. 19 Wochen lang stand Sands Buch auf den israelischen Bestsellerlisten, war in Frankreich ein Verkaufsschlager. Inzwischen ist "Die Erfindung" in sechs Sprachen übersetzt, weitere elf fremdsprachige Ausgaben sind in Vorbereitung. Doch in Sands Stolz mischt sich Wehmut: Nicht nur, dass er Tausende hasserfüllte Briefe, diverse Todesdrohungen bekommen habe. "Ich habe eine Menge Freunde verloren", sagt Sand.

Ein Grund für den Aufruhr: Sand bezichtigt seine israelischen Historikerkollegen, sich in der Mehrheit der Konstruktion eines Mythos verschrieben zu haben. Entsprechend scharf fiel deren Reaktion aus. Sand hätte sich doch lieber weiter mit französischer Geschichte beschäftigen sollen, als in anderer Leute Spezialgebiet herumzupfuschen. Sands Unterstellung, es gebe eine Art Verschwörung unter jüdischen Wissenschaftlern, Geschichtsklitterung zu betreiben, sei "reine Phantasie", schrieb Israel Bartal von der Hebräischen Universität in Jerusalem in der Tageszeitung "Haaretz".

Ein politisches Statement

Problematisch an Sands Arbeit sei, dass er aus seiner historischen Forschungsarbeit politische Forderungen ableite, schreiben selbst wohlmeinende Kommentatoren. Sand schlussfolgert, dass Israel ein rassistisches und undemokratisches Land sei, in dem Nicht-Juden systematisch diskriminiert würden. Wie könne sich Israel eine Demokratie nennen, wenn es 2,5 Millionen Palästinenser in den besetzten Gebieten kein Mitspracherecht einräume? "Natürlich ist das ein politisches Statement", sagt Sand, der sich als sendungsbewusster Historiker in bester Gesellschaft sieht. "Geschichtswissenschaftler erstellen den ideologischen Kanon, über den sich die Gemeinschaft definiert, unsere Profession ist natürlich politisch."

Schützenhilfe erhielt seine These, das Judentum sei bloß Religion, keine Ethnie, von diversen sogenannten Neuen Historikern die sich seit den Achtzigern bemühen, die offizielle israelische Geschichtsschreibung zu korrigieren. Tom Segev, der wohl bekannteste israelische Historiker, lobte das Buch als fundiert und politisch relevant: "Es will die Idee verbreiten, dass Israel ein Land für alle seine Einwohner sei muss - im Gegensatz zu seiner erklärten Identität als ,jüdischer und demokratischer' Staat".

Dass Sand einmal an einer Universität lehren, kurz vor seiner Emeritierung gar einen handfesten Skandal auslösen würde, hätte er selbst nicht geglaubt. Als Sohn von Holocaust-Überlebenden im österreichischen Linz geboren, kam er im Jahr der israelischen Staatsgründung in den arabisch geprägten Küstenort Jaffa unweit Tel Aviv. Mit 16 flog er von der Schule, ging zur Armee, kämpfte 1967 im Sechs-Tage-Krieg, später malochte er in Fabriken. Erst mit 25 machte er sein Abitur nach, studierte Geschichte und ging dann nach Frankreich, wo er zum französischen Nationalismus forschte. 1982 kehrte er nach Israel zurück und lehrt seitdem in Tel Aviv.

Juden seien kein Volk, sondern eine Religionsgemeinschaft

Sands Arbeit fußt auf Grundgedanken der modernen Nationalismusforschung, wie sie der US-amerikanische Politikwissenschaftler Benedict Anderson formuliert hat: Danach sind Nationen "erfundene Gemeinschaften". Für Sand entsteht der jüdische Nationalgedanke zeitgleich mit den Identitäten anderer europäischer Völker um 1850. Im Gegensatz zu Europa, in dem die Idee des ethnischen Nationalstaats langsam verbleiche, sei sie in Israel jedoch nach wie vor tragender Pfeiler des Staates.

Sand und seine Anhänger vertreten die Position, in der Geschichte müssten Schlussstriche gezogen werden. "Man sieht ja, was dabei herauskommt, wenn uralte Ansprüche ausgegraben und angemeldet werden", sagt Sand mit Bezug auf die "Heimkehr" der Juden nach Palästina. Demnach müsse auch der israelische Staat weiter existieren, die vertriebenen Palästinenser bleiben, wo sie sind. "Aber der israelische Staat muss anerkennen, dass er die Verantwortung für die Katastrophe der Palästinenser trägt", sagt Sand.

Mit seinem Buch wollte Sand seiner Aussage nach einen ersten Schritt in Richtung Versöhnung, in Richtung Frieden gehen. "Ich hätte hier nicht weiter leben bleiben wollen, hätte ich nicht wenigstens versucht, den Diskurs zu ändern." Er hat genau vor Augen, wie er sich den idealen Geschichtsunterricht an israelischen Schulen vorstellt, erzählt er in seinem Büro, in dem sich bis zur Decke die Filmklassiker auf Video-Kassetten stapeln.

Danach würde der Lehrer vor die Schüler treten und folgende Ansprache halten: Wir alle wissen, dass Juden kein Volk sind, sondern eine Religionsgemeinschaft. Europa hat uns im Zuge des Zweiten Weltkriegs ausgespuckt. Weil wir sonst nirgends hin konnten, haben wir uns das Land anderer genommen, ohne zu fragen. Deshalb hassen uns die Araber.

"Wir sind kein Volk, wir hatten kein Recht auf dieses Land. Wenn das an israelischen Schulen gelehrt wird", sagt Sand, "wird es Frieden geben. Und ich brauche keine Bücher mehr zu schreiben."


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