ZIONISMUS

Kratzen am Mythos

von Carsten Dippel

(Rheinischer Merkur, 20.05.2010)

Der israelische Historiker Shlomo Sand zweifelt an der Idee eines jüdischen Volkes mit gemeinsamen Wurzeln im Heiligen Land. Damit stellt er Grundfesten seines Staates infrage.

Theodor Herzl entwarf Ende des 19. Jahrhunderts die kühne Vision eines jüdischen Staates in Palästina. In einer Zeit, in der das Judentum vor allem in Osteuropa von Pogromen bedrängt wurde und die Idee der Nation en vogue war. Nach Jahrzehnten eines bitteren Kampfes zwischen Juden und Arabern um Palästina, erst recht aber nach der Schoah erschien die Verwirklichung von Herzls Traum als eine moralische Notwendigkeit. Die frisch gegründete Uno schlug 1947 die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat vor. Doch das Wunder war von blutigen Geburtswehen begleitet: Im Unabhängigkeitskrieg von 1948/49 kam es zur Vertreibung von einer Dreiviertelmillion palästinensischer Araber.

Schon in den 1990er-Jahren rüttelten israelische Historiker in der sogenannten Postzionismusdebatte am Gründungsmythos des Staates. Für weiteren Zündstoff sorgte zuletzt ein jetzt auf Deutsch erschienenes Buch des israelischen Historikers Shlomo Sand, der an der Universität Tel Aviv lehrt. Schon der Titel „Die Erfindung des jüdischen Volkes“ wirkt wie eine unerhörte Provokation. Es greift die Grundfesten der zionistischen Idee an, laut der die Juden nach Jahrhunderten des Irrens durch die Welt ins „angestammte“ Land ihrer Väter zurück kehrten. Und es wirft zugleich unbequeme Fragen nach der jüdischen Identität auf.

Es waren persönliche Begegnungen, die bei Sand im Laufe seines Lebens Zweifel an der Idee des jüdischen Volkes aufkommen ließen. Etwa die mit jener Studentin in Paris, die erst spät erfährt, dass sie gar nicht jüdisch empfinden darf, da nur ihr Vater jüdisch ist. Und als Jude gilt der Halacha gemäß nur, wer eine jüdische Mutter vorweisen kann. Mit den sich daraus ergebenden Fragen an die jüdische Identität bricht Sand in die „Regionen des Schweigens“ auf, jene Gegenden, die die zionistische Geschichtsschreibung bewusst ausblende, um den eigenen Gründungsmythos nicht zu gefährden.

Da ist das jüdische Königreich Himjar auf der Arabischen Halbinseloder das Reich der sagenhaften Königin Kahina, einer vermutlich zum Judentum konvertierten Berberin aus dem heutigen Algerien. Den Vergleich etwa mit der vielgepriesenen biblischen Hasmonäer-Dynastie bräuchten diese jüdischen Reiche nicht zu scheuen, so Sand. Nur passten sie schlecht in die Meistererzählung des Volkes Israel, bestanden diese doch zum übergroßen Teil aus Proselyten, also Neubekehrten, und das auch noch weitab des geheiligten Landes. Es gebe ernst zu nehmende Hinweise, dass sich das iberische Judentum eben aus jenen nordafrikanischen Quellen speise, die wenige „originäre“ Juden aus „Erez Israel“ aufwiesen.

Sand zeigt ein äußerst missionsfreudiges Judentum, das eine erstaunliche Fähigkeit zur Integration von Nichtjuden bewies. Das gilt auch für das legendenumwobene mächtige Reich der Chasaren weit im Osten zwischen Dnjepr und Wolga. Bevor es von den Mongolen hinweggefegt wurde, stand es nicht nur in kultureller Blüte, sondern war auch eine geopolitische Größe. Bei den Chasaren handelte es sich vermutlich um ein mehr oder minder nomadisches Turkvolk. Die Entscheidung der Herrscher für die jüdische Religion fiel wohl auch aus politischen Gründen. Man wollte, so Sands Vermutung, Unabhängigkeit wahren zwischen dem christlichen Byzanz und dem erstarkenden Islam im Süden. Liegen die Ursprünge des in der Schoah vernichteten osteuropäischen Judentums vielleicht eher bei den Chasaren als, wie landläufig angenommen, weiter im Westen?

Wenn sich auch viele Spuren im Treibsand der Geschichte verloren und die erwähnten Reiche nur vage zu rekonstruieren sind, beweisen sie laut Sand doch, dass sich die jüdische Geschichte längst nicht auf die bekannten Wegmarken beschränkt. Hart geht er mit der eigenen Zunft in Israel ins Gericht, die diesen für die jüdische Geschichte so wichtigen Spuren aus geschichtspolitischen Motiven gar nicht erst folge. Das Judentum sei nie das wandernde und fremde Volk gewesen, als das es immer dargestellt werde – eine aus Erez Israel in die Diaspora verschlagene Gemeinschaft des Blutes, die als „auserwähltes Volk“ des einen Gottes durch alle Unbilden der Zeit an die Rückkehr nach Zion glaubte.

Für Sand ist diese Sicht kaum mehr als eine in die Geschichte hineinprojizierte Idee, nach der es ein aus der Antike ererbtes Judentum gebe, das sich nahezu genetisch „rein“ erhalten habe – allen dramatischen Wechselfällen der Geschichte zum Trotz. Im religiösen Diskurs habe die hebräische Bibel lange Zeit eine eher unbedeutende Rolle gespielt. Viel wichtiger waren Talmud und Midrasch, der „mündliche“ Teil der Tora. Dank des Zionismus sei die Bibel jedoch zum „säkularen Allerheiligsten“ geworden: ein Buch mit vermeintlich historischen Wahrheiten, aus denen sich die Legitimation für den Staat Israel speist.

Wenn sich wichtige Teile der jüdischen Geschichte überhaupt nicht auf Erez Israel beziehen, mit welchem Recht leite dann der Zionismus seinen Anspruch auf das Land ab? Und kann man überhaupt von einem genuin jüdischen Volk sprechen? Scharfzüngig und pointiert nimmt Sand den zionistischen Gründungsmythos ins Visier, ohne dabei in Polemik abzugleiten. Dafür ist das aufregend zu lesende Buch viel zu nachdenklich und klug geschrieben.

Politisch brisant sind seine Schlussfolgerungen gleichwohl. Wie ein Fluch schwebe die Verfasstheit des Staates als „liberale Ethnokratie“ über dem Land. Die „jüdische Demokratie“ verstehe sich als Staat für die Juden, selbst für diejenigen, die in New York, Amsterdam oder Moskau lebten. Einem großen Teil seiner eigenen Bürger enthalte Israel hingegen elementare Grundrechte vor. Denn als gleichberechtigte Glieder dieses Staates gelten die nichtjüdischen Israelis, darunter 750 000 israelische Araber, nicht. Brooklyn läge damit näher an Jerusalem als Nazareth.

Sand beklagt aber auch die Haltung jenen Israelis gegenüber, die per Gesetz nicht als Juden angesehen werden, weil sie den „falschen“ jüdischen Elternteil haben. „Ihr gehört nicht dazu“ – diese Stimmung schlage ihnen immer wieder entgegen. Wenn Israel eine Zukunft haben wolle, so Sands Mahnung, müsse es sich endlich von den lieb gewonnenen Mythen verabschieden und als Staat begreifen, der für alle seine Bürger gleichermaßen da ist.

Shlomo Sand: Die Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand. Propyläen Verlag, Berlin 2010. 506 Seiten, 24,95 Euro.


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