Die Herrschaft der Manipulation und
die Ohnmacht des Zuschauers

Am 22. August 2002 wird Leni
Riefenstahl hundert Jahre alt

von Gunnar Decker (ND, 17.8.2002)

(Links & Anmerkungen von N. Dikigoros)

LENI RIEFENSTAHL, 1902 geboren, gehört zu den umstrittensten Künstlern des 20. Jahrhunderts. Ihre Propagandafilme unter den Nazis führten zu einer moralischen Schuldbezichtigung, der sich die Filmemacherin selber jederzeit vehement entzog. Eine Debatte, die sich bis heute erstreckt, während die Riefenstahl in den USA als bahnbrechende Künstlerin verehrt wird. In der kommenden Woche begeht die Regisseurin, die als Schauspielerin begann, ihren 100. Geburtstag. Geniale Filmschaffende oder Inbegriff der durch Macht verführten Künstlerin? Diese Frage stellt auch die erste umfassende Biografie der Riefenstahl von Jürgen Trimborn, die im Aufbau-Verlag Berlin vorgelegt und die im folgenden Beitrag kommentiert wird.

Müssen wir das feiern, wenn Leni Riefenstahl am 22. August hundert Jahre alt wird? Die Süddeutsche Zeitung schrieb schon vorab: auf keinen Fall! Sie stellte ihren Text unter die Überschrift »Die Schmierfilmerin«. Das ist die moralische Lesart. Sie besitzt ihr Recht. Bloß weil jemand sehr alt wird, müssen wir nicht alle Kritik beiseite lassen. Über das moralische Versagen wird noch zu reden sein.
Also nicht feiern, aber zum Anlass nehmen, über die – allgegenwärtige – »Macht der Bilder« nachzudenken. Denn künstlerisch stimmt »Schmierfilmerin« eben nicht, auch nicht im Propagandafilm »Triumph des Willens« von 1935. Die Sache war schmierig, die Bilder aber glänzten klar und rein. In dieser Schizophrenie liegt ja gerade das Verhängnis. Eine kleine miese Sache wird uns als groß und schillernd gezeigt. (Es gab und gibt Sachen, die noch viel kleiner und viel mieser waren/sind, und die uns noch größer und noch schillernder gezeigt wurden/werden, Anm. Dikigoros) Das ist die Logik des Medienzeitalters. Die Bilder sind eine eigene Realität geworden. Ohne jene Distanz zuzulassen, in der Rationalität erst möglich wird. Ein mythisches Bewusstsein. Es nimmt gefangen, macht unfrei. Die Herrschaft der Manipulation. Wir sollen Bild-Gläubige sein.
Leni Riefenstahl folgt der Logik des Mediums, sucht ihre stärkste Wirkung: die Suggestivität. Denkt man diese mythische Logik zu Ende, gibt es keine Einzelnen mehr, nur Massenpartikel, keine Menschen, nur Heroen hier und ornamentale Masse da, die ihrem Führer zujubelt.

Kitsch ist nicht harmlos, denn er bebildert kleinbürgerliche Seelenroheit

Das ist faschistische Ästhetik, die nicht anti-modern, sondern (wie wir an den Folgen sehen) sehr modern, sogar avantgardistisch sein kann. In Italien war Marinetti der erste Avantgardist, der im Futurismus die Verbindung von Technik und Masse feierte, der Gedichte über Rennautos schrieb und vom neuen Herrenmenschen (dem Bezwinger der Technik) träumte. Und auch Riefenstahls Filme sind totale Mobilmachungen von Filmtechnik – äußerer Fortschritt mit barbarischem Kern. Liest man die fast tausendseitigen Memoiren Leni Riefenstahls, so muss man wohl sagen, dass sie viel zu unintelligent ist zu erkennen, was sie eigentlich getan hat. Wer nur schöne Bilder zeigt, nur die geschlossene Form zulässt, der wandelt am Rande des Kitsches. Und Kitsch ist nicht harmlos, weil er kleinbürgerliche Seelenroheit bebildert. (Der letzte Satz ist in dieser verallgemeinernden Form schlicht Quatsch und belegt, daß Gunnar Decker mindestens ebenso "unintelligent" ist wie Leni Riefenstahl, Anm. Dikigoros)
Riefenstahls herzige Art, ihr Leben zu erzählen, kontrastiert das Pathos der Bilder. Keine Ecken und Kanten sind hier zugelassen. Kein Raum für Fragen. Die Antwort auf alle Fragen, sie kommt wie in der Eingangssequenz von »Triumph des Willens« erlösergleich aus den Wolken herab auf das Nürnberger Parteitagsgelände der NSDAP, von unten schallt ein »Heil! Heil!« herauf. Die Riefenstahl filmt die Ankunft eines Gottes auf Erden. Nein, sie inszeniert, reißt den chronologischen Ablauf auseinander, komponiert die Bilder neu, gibt ihnen einen Rhythmus, eine Spielfilm-Dramatik. Eine neue Technik des Dokumentarfilms, bahnbrechend. Damals war die Medienskepsis gering, der Überrumpelungseffekt enorm.
Die Riefenstahl bedient das Bedürfnis nach gefangen nehmender Schönheit, nach dem filmischen Dabei-Sein. Ihre Effekte sind immer die gröbsten, die massenwirksamsten. Sie ist eine berechnende Technokratin mit sentimentalem Gemüt. Und damit sehr aktuell. Wäre sie sechzig Jahre jünger, sie hätte eine gloriose Hollywoodkarriere vor sich, und nicht George Lukas, sondern Leni Riefenstahl drehte den »Krieg der Sterne«.
Sind ihre Filme – ästhetisch gesehen – also Dokumente eines schlechten Geschmacks, der Schritt vom röhrenden Hirsch überm Sofa zum gottgleichen Führer, der aus den Wolken zu uns herabgestiegen ist? Einerseits ja. Im Grunde treffen sich Hitler und Riefenstahl in dem, was sie für Kunst halten: im monumentalen Pseudo-Klassizismus. (Immer noch besser als das, was heute als "Kunst" ausgegeben wird, Anm. Dikigoros) Andererseits erwächst aus dieser Ästhetik eine bestimmte – auch produktive – Form der Pop-Kultur, die von Idolen (Bilderverehrung!) lebt. Helmut Newtons Bilder: undenkbar ohne Riefenstahl-Ästhetik. Körperkult ist Teil unserer Alltagskultur geworden. Aber jedes Bild produziert auch seine eigenen Antikörper, zieht nicht nur an, sondern stößt auch ab. Schafft im glücklichsten Falle Symbole, die einen Wahrheitsgehalt besitzen, der sich dem nur Diskursiven verschließt. Siehe Jean Cocteaus surrealer Mythen-Avantgardismus.
Cocteau nannte die Riefenstahl ein »Genie des Films«. An ungewöhnlichen Verteidigern hat es ihr ohnehin nie gefehlt. Alice Schwarzer sieht in ihr eine von Männern verfolgte Unschuld. Das mit der Unschuld ist sicherlich stark übertrieben, aber dass gerade eine Frau in der Nachkriegsrestauration West mit Speer, Globke, Filbinger (sogar »Jud Süß«-Regisseur Veit Harlan arbeitete wieder!) unter Berufsverbot stand und bis heute den ewigen Sündenbock geben muss, ist schon merkwürdig. Mick Jagger von den Rolling Stones jedenfalls wollte nur von ihr fotografiert werden – er wird schon wissen, warum. Denn, wer der Riefenstahl ins Bild gerät, der sieht hinterher immer schön und mächtig aus. Alles eine Frage von Kamerastandpunkt, Objektiv und Licht.

Geboren wird Helene Riefenstahl 1902 in Berlin. Sie ist eine erfolgreiche Ausdruckstänzerin, bis sie sich am Knie verletzt. Ihren Ehrgeiz stoppt das nicht. Sie versucht sich als Schauspielerin in fünf Bergfilmen, zeigt sich kaltblütig, ist erfolgreich. Sie beginnt, selbst Regie zu führen. »Das blaue Licht« (1932) wird Hitler sehen und das »Fräulein Riefenstahl« nach seinem Geschmack finden.

Die Riefenstahl als ewiger Sündenbock für alle Deutschen?
Ist sie uns näher, als uns lieb ist?

Das Fräulein mit dem eisernen Willen hat keine Schwierigkeiten, »Mein Führer« zu sagen. Ihr erstes Auftragswerk für die Nazis heißt »Triumph des Glaubens« und zeigt ein überaus realistisches Bild von »der Bewegung«. Parteitagschaos mit rivalisierenden Gruppierungen. Neben – oder vor Hitler – steht immer Röhm, Chef der SA. Nichts klappt, es sieht, wie Lutz Kinkel in seinem Buch »Die Scheinwerferin« schreibt, »eher komisch als feierlich« aus. Zwei Führer, das ist wie aus einer Kabarettnummer. Hitler legt einen Blumenstrauß, den er von einem kleinen Mädchen gereicht bekommt, achtlos neben sich ab: seinem Stellvertreter Heß in den Schoß. Ernst Röhm ist zu sehen, wie er sich die Hose über dem prallen Bauch öffnet, und Baldur von Schirach schiebt beim Vorbeigehen mit dem Hintern Hitlers Mütze vom Tisch. Leni Riefenstahl leidet unter so viel unvollkommener Realität. Ihr nächster Film wird ganz anders, verspricht sie Hitler. Dafür aber muss sich der ganze Parteitag nach ihrem Drehbuch richten. Vor allem: nur noch e i n Führer.
Hitler hatte begriffen – das Fräulein Riefenstahl ist fähig und willens, einen Film ganz aus seiner gottgleich erhöhten Person zu bauen. Das Parteitagsgelände wird zum Filmstudio. Um Hitlers Rednerpult werden Schienen verlegt, und eine Kamera fährt immer im Kreis um ihn herum. Das sieht in der Realität lächerlich aus, aber das Kamera-Auge macht Hitler nun zum alleinigen Mittelpunkt, um den alles kreist. Die gläubige Masse wird als in mathematische Formen aufgelöstes Instrument des Führer-Willens inszeniert. Ein Götzen-Dienst.
Aber wer wollte übersehen, dass nach dem Ende des Naziregimes diese Bild-Macht immer weiter gewachsen, ja dass sie geradezu explodiert ist? Jürgen Trimborn will in seiner Riefenstahl-Biografie »Eine deutsche Karriere« diese Macht der Bilder, die den »Führer« erst schufen, abgeschwächt sehen. Der »Führerkult« sei 1935 längst etabliert gewesen. »Auch wenn ihre Filme mit Sicherheit nicht ohne Wirkung blieben und dazu beitrugen, das Volk auf Hitler einzuschwören, kam ihnen für die Anfangsphase der Diktatur nicht die zentrale, einzigartige Bedeutung zu, die ihnen im Rückblick wiederholt zugeschrieben wird.«
Riefenstahls propagandistischen Wert für die Nazis abzuschwächen, bedeutet paradoxerweise zugleich, filmische Qualität zu schmälern. Denn nur wegen dieser wurde sie ja gebraucht. Sie, die nie Mitglied der NSDAP war, die direkte Rassen- oder Kriegshetze in »Stürmer«-Manier wohl nicht mitgemacht hätte, sondern die immer nur Größe verherrlichen wollte, schöne Bilder suchte, die faszinieren. Deswegen wurde sie ein so erfolgreiches Aushängeschild der Nazis, auch bei der unpolitischen Masse, auch im Ausland, wo sie mit Preisen überhäuft wurde. Ihr zweiteiliger Olympiafilm »Fest der Völker« und »Fest der Schönheit« gilt als Geburt der modernen Sportreportage – auf pseudoantike Folien projiziert.
Nimmermüde Künstlerin – oder einfach nur Hitlers willige Helferin? Beides. Eine passionierte Filmemacherin, die für ihren Erfolg einfach alles tat, auch sich mit dem Teufel einlassen. Eine sehr deutsche Eigenschaft. Aber an deren folgenreichen Bedeutungsmetamorphosen wir bis heute wir nicht vorbeikommen. Der Künstler und die Macht. Ein ewiges Thema. Erliegt er der Versuchung, zum Propagandisten der Macht zu werden, wenn diese ihn nicht nur leben, sondern sogar hoch-leben lässt? Leni Riefenstahl ist zum Symbol des moralischen Versagens eines Künstlers in Zeiten der Diktatur geworden. Nicht irgendeiner Diktatur, sondern jener, die sich Rassenhass und Welteroberungskrieg ins Programm geschrieben hat: Hitlers NSDAP, die Politik gewordene Barbarei im 20. Jahrhundert. Andere gehen in die Emigration, Leni Riefenstahl, persönliche Freundin Hitlers, macht bei den Nazis Karriere. Erst in ihrer Bildinszenierung verwandelt sich der armselige Adolf in den großen Führer.
Aber, so fragt Biograf Jürgen Trimborn, ist das nicht zu einfach – die Riefenstahl als ewiger Sündenbock für alle anderen Deutschen? Ist sie uns vielleicht näher, als uns lieb ist? Denkverbote produzieren Mythen. Trimborn will keinen Riefenstahl-Mythos. Er differenziert, legt Wert auf Details und Nuancen, die aller Biografie erst Kontur geben. Sein Fazit: »Sie war eine große Künstlerin und eine willfährige Propagandistin des NS-Regimes.« Den Widerspruch gilt es auszuhalten.
Trimborn sieht die Riefenstahl als eine Karrieristin, die sich von der verbrecherischen Macht verführen lässt – und mit ihren Filmen selbst zur Verführerin wird. Ein Einzelfall? Kaum. Wichtig ist heute, was, über persönliche Schuld hinausgehend, von der Riefenstahl bleibt. Die Macht der Bilder – und die Ohnmacht des Zuschauers als Konsument. Bilder manipulieren, sie täuschen Größe und Perfektion vor. Jede Werbeagentur produziert heute massenhaft Riefenstahl-Nachahmungen. Was hilft gegen diese neuen – faustgroben bis subtilen – Verführungen? Sehr viel Skepsis.
Es wäre wohl ungerecht, die Riefenstahl auf den »Triumph des Willens« reduzieren zu wollen. Sie hat in den vergangenen Jahrzehnten einiges gebüßt, aber wenig eingesehen. Sie hat gegen Kriegsende »Tiefland« gedreht und darin selbst eine Zigeunerin gespielt. Aber die anderen, die echten Zigeuner, sie kamen hinterher ins KZ, und viele wurden ermordet. Sie will davon nichts gewusst haben und sagt heute, sie halte das Schicksal dieser Menschen für schlimm.

Sie ist immer noch auf Suche nach heiler Welt.
Was sie nicht findet, das inszeniert sie

Schlimm findet sie ebenso, dass »Tiefland«, als es 1954 doch noch in bundesdeutsche Kinos kam, ein Misserfolg wurde. Der Krieg und die immer brutalere Judenverfolgung haben Leni Riefenstahl unerwartet tief getroffen. Es gibt Bilder von 1939, als sie beim Überfall auf Polen mit der Kamera dabei war und selbst fotografiert wurde: ein fassungsloses, schreckensverzerrtes Gesicht. (Das machte sie wohl eher angesichts der polnischen Greuel an der volksdeutschen Minderheit, Anm. Dikigoros) Nein, dieser Krieg war nicht schön, kein Fest, sie sah Massaker an Zivilisten (polnische Massaker an deutschen Zivilisten, Anm. Dikigoros). Auch wenn sie es nicht zugibt, wir wissen beim Betrachten dieser Fotos: hier fällt sie das Entsetzen an. Nicht nur über ihren »Freund« Hitler – auch über sich selbst?
Nun also hat ihr letzter Film Premiere. Sich selbst zu seinem hundersten Geburtstag mit einem Film zu beschenken, dazu gehört Kraft, Trotz und Hingabe – Respekt! Sie hat mit ihren Fotos der Nuba im Sudan (ein Kult der Häßlichkeit, Anm. Dikigoros) die Frage nach Körperkult und faschistischer Ästhetik ebenso konsequent provoziert wie mit ihrer schwelgerischen Unterwasserfotografie. Leni Riefenstahl ist immer noch auf der Suche nach heiler Welt und Erbauung. Was sie nicht findet, das inszeniert sie. Sie ist Mitglied bei Greenpeace geworden (Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung ist schwerlich eine Empfehlung, Anm. Dikigoros) und lernte mit 72 Jahren noch tauchen. Das Resultat können wir nun besichtigen. Es heißt sehr schlicht »Impressionen unter Wasser« und zeigt sie auf der Suche nach Schönheit und Größe der Unterwasserwelt. Aber diesmal ist sie wohl auch auf der Suche nach Frieden mit sich selbst. Um den zu finden, muss sie aber schon sehr tief tauchen.


Jürgen Trimborn: Riefenstahl – Eine deutsche Karriere, Aufbau-Verlag 2002, geb., 600 S., 25 EUR.
Lutz Kinkel: Die Scheinwerferin – Leni Riefenstahl und das »Dritte Reich«, Europa Verlag , Hamburg/Wien 2002, 391 S., 26,90 EUR.


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