REISE INS NIRGENDWO

Memoiren

Paul Theroux und seine Autobiografie «Mein anderes Leben»

von Alexander Remler (Berliner Morgenpost, 22.03.2000)

Keine Frage: Wenn es darum geht, Urlaub zu machen, sind wir Deutschen Weltmeister. Kein anderes Volk rund um den Globus verreist so gerne und so viel wie wir. Das mag am schlechten Wetter in unseren Breiten liegen oder daran, dass uns selbst im Urlaub nie der Sinn fürs Praktische abhanden kommt. Kein Wunder also, dass Reisebücher für uns vor allem Reiseführer sind, die uns zielsicher zu jeder Sehenswürdigkeit führen. Aber reisen wir eigentlich wirklich?

Nein, wir sind Touristen. «Doch Touristen», schreibt Paul Theroux, «wissen nicht, wo sie gewesen sind, Reisende wissen nicht, wohin sie fahren.» Der 59-jährige Amerikaner müsste es eigentlich wissen. Er hat in seinem Leben bisher an die 30 Romane geschrieben. Einige davon sind sehr gut, manche wurden sogar verfilmt - «Die Moskito-Küste» zum Beispiel mit Harrison Ford in der Hauptrolle. Doch bekannt wurde Paul Theroux nicht wegen seiner Romane, sondern vor allem wegen seiner literarischen Reisebücher wie «The Great Railway Bazaar» (1975), «Der alte Patagonien-Express» (1979) oder «Die glücklichen Inseln Ozeaniens» (1992).

An einem ganz normalen Montagmorgen in die Bostoner U-Bahn zu steigen, und erst 25.000 Kilometer weiter südlich in Patagonien, an der Südspitze Amerikas, die Eisenbahn wieder zu verlassen - das ist Paul Theroux. Er ist ein Abenteurer und der Eisenbahn-Freak unter den Reiseautoren. «Wenn mich Leute fragen, was sie tun sollen, um Schriftsteller zu werden, dann sage ich ihnen stets: Als erstes müsst ihr von zu Hause weggehen», so hat er einmal seine Devise formuliert. Damit gehört er zu jener etwas aus der Mode gekommenen Generation von Autoren, die im Sinne Alexander von Humboldts erst zu einer Weltanschauung gelangen, nachdem sie sich die Welt auch wirklich angeschaut haben.

In seinem neuen Buch schaut sich Paul Theroux allerdings vor allem selbst an. «Mein anderes Leben» ist seine Autobiografie oder zumindest etwas, das dem ziemlich nahe kommt. Weil er nicht über sich selbst sprechen könne, müsse er über sich schreiben, meint er - und doch, alles will er nicht preisgeben. Deshalb warnt er gleich in der Einleitung: «Dies ist die Geschichte eines Lebens, das ich gelebt haben könnte - es ist ein erdachter Lebensbericht.» Auch wenn es in jeder Zeile um ihn und nur um ihn geht, schafft er es doch, dadurch die Illusion der Distanz aufrecht zu erhalten.

In achtzehn Kapiteln durchmisst er sein Leben und zieht Bilanz. Ihm geht es vor allem um zwei Themen: Zum einen um seine schriftstellerische Karriere von den mühsamen Anfängen bis zum Erfolg, zum anderen um die Beziehung zu seiner Frau, die sich in gleichem Maße verschlechtert, wie es ihm gelingt, sich als Schriftsteller einen Namen zu machen. Es ist typisch für seine Art der fiktionalisierten Autobiografie, dass er seinen vielleicht traurigsten Lebensabschnitt in Form einer Kurzgeschichte erzählt - die Trennung von seiner Frau. Darin beschreibt er das letzte gemeinsame Abendessen, die letzte gemeinsam verbrachte Nacht, schließlich den Abschied, der, beide wissen es, für immer ist. Ganz am Ende steht: «Ich hatte die Tür zugeschlagen, und ich wusste, dass ich diesen Schmerzensschrei für den Rest meines Lebens hören würde.»

«Mein anderes Leben» beginnt jedoch viele Jahre früher. Mit einer Reise, natürlich. Eine Reise nach Afrika. 1963, mit 23 Jahren und Franz Kafkas Tagebüchern als Reisegepäck, geht Paul Theroux nach Malawi, um dort auf einer Leprastation Englisch zu unterrichten. Geschickt hatte ihn das Peace Corps, die Alternative wäre Vietnam gewesen. In Afrika lernt er auch seine spätere Frau kennen, mit der er zwei Söhne hat. 1968 ziehen sie gemeinsam weiter nach Singapur, wo er als Lehrbeauftragter auf der niedrigsten Gehaltsstufe der dortigen Universität mit mäßigem Erfolg versucht, seinen überwiegend moslemischen Studenten die Reize des englischen Dramas des 17. Jahrhunderts näherzubringen, während er gleichzeitig an seinen ersten Afrika-Romanen schreibt. Später, in London, verdient Paul Theroux sein Geld mehr schlecht als recht mit dem Schreiben von Sammelrezensionen für verschiedene Zeitungen und dem anschließenden Verkauf der Bücher an ein Antiquariat: «Ich war immer froh, die Bücher wieder los zu sein; es machte mir Spaß, einen Stapel Bücher in eine Schachtel Lego, ein Glas Orangenmarmelade zu verwandeln.»

Viele Jahre später, nachdem seine Ehe gescheitert ist, zieht er zurück nach Amerika, wo er bis heute lebt. In seinem Reisebuch «An des Gestaden des Mittelmeers» (1996) berichtet er von einer Begegnung mit Mr. Wong, einem alten Chinesen, den er auf seiner Reise in Gibraltar kennen lernt und der ihn fragt: «Und warum sind Sie hier?» - «Weil ich noch nie hier gewesen bin.» Mit dieser Antwort verrät Paul Theroux ein Motiv, dem er auf allen Reisen treu geblieben ist. Denn so weit er auch fährt, er kommt eigentlich nie an. «Der alte Patagonien-Express» endet im Nichts der Wüste. «Abenteuer China» in der Einsamkeit Tibets. Nichts zu suchen, das sei sein Ziel gewesen, schreibt er an einer Stelle. Und verschweigt damit nur, dass nichts zu finden und sich zu verlieren seine eigentliche Suche war. Kein Wunder, wenn die literarischen Reiseberichte von Paul Theroux in deutschen Buchhandlungen selten neben praktischen Reiseführern stehen.


zurück zu Paul Theroux

zurück zu Reiseschriftsteller des 20. Jahrhunderts

heim zu Reisen durch die Vergangenheit