RÜCKKEHR  DES  ISLAM

In Granada träumen Moslems von der Reconquista

von MARTIN DAHMS

(Frankfurter Rundschau, 27.11.2004)

"Kommen Sie, kommen Sie", drängt Padre Javier: "Aus dieser Perspektive haben Sie die Alhambra noch nie gesehen." Mit vorsichtigen Schritten steigt der 77-Jährige die Treppe zur Dachterrasse des Nebengebäudes seiner Kirche San José hinauf. Ein klarer, kalter Novemberabend. Der Pater holt ein wenig Luft, dann zeigt er auf den Hügel. Dort drüben liegt, zum Greifen nah, der mächtige Palast des maurischen Herrschergeschlechts der Nasriden, die Alhambra, "die Rote Festung", entstanden im 13. Jahrhundert, das Symbol des Islam auf spanischem Boden, eingetaucht in gelbes Scheinwerferlicht. Padre Javier ist verzückt: "Bei diesem Anblick bekommt man Lust zu beten und die Menschen zu lieben."

Der alte Priester der Kirche San José in Granadas verwinkeltem Altstadtviertel Albaicín ist ein Menschenfreund. Das Lächeln weicht ihm nicht aus dem Gesicht, es ist die Freude an seinem Glauben. Auch wenn die Zeiten nicht die besten sind für seine Religion. "Ich bin vor sechs Jahren nach Granada zurückgekehrt, nach 40 Jahren Mission in Guatemala. Es war nicht einfach, mich wieder an Spanien zu gewöhnen. Der Fortschritt zerstört die Menschen, ein egoistischer Fortschritt, ein Fortschritt des Habens. Es gibt keinen Geist, kein Leben, die Werte gehen verloren." Er sagt das bekümmert, aber ohne Rechthaberei, so sind die Dinge eben.

Padre Javier hat an diesem Abend in einer Seitenkapelle seiner Kirche die Messe gelesen, 40 Gläubige beteten mit ihm. "Hier im Viertel gibt es nicht mehr so viele Leute, die zur Messe kommen. Die Alten ziehen weg, weil ihnen die steilen Gassen des Albaicín zu mühsam werden. Statt dessen kommen Araber. Jeden Tag mehr." Die Straßen Calderería Nueva und Calderería Vieja ein wenig unterhalb der Kirche San José haben sich in nicht einmal zehn Jahren in einen Basar mit arabischen Teestuben, Restaurants und Andenkenläden verwandelt, eine Touristenattraktion. Der Pater klagt nicht darüber. "Die Araber sind sehr gute, schlichte Menschen. Ich bin mit vielen von ihnen befreundet. Und während des Ramadan zeigen sie unserer Gesellschaft, dass es mehr gibt in dieser Welt als nur Dinge." In 20 Jahren, davon ist er überzeugt, wird sein Viertel weitgehend arabisch sein.

Isabella von Kastilien
Isabella I. und Ferdinand II. vereinten mit ihrer Hochzeit im Jahr 1469 Kastilien und Aragon.

Nach einem erbitterten, über zehn Jahre währenden Krieg gemeinsam mit den Truppen Ferdinands nahmen die Soldaten Isabellas, in der katholischen Kirche auch als "Katholische Königin" verehrt, 1492 die Stadt der Alhambra ein. Die Vollendung der christlichen Reconquista.

An der Grabstätte Isabellas und ihres Mannes Ferdinand in der Königlichen Kapelle von Granada erinnert eine lateinische Inschrift für alle Zeiten daran, dass hier "die Vernichter der mohammedanischen Sekte und Auslöscher der ketzerischen Falschheit" ruhen. mad

"Sie kommen mit dem Gedanken der Reconquista im Kopf", glaubt der Priester und spricht das große Wort gelassen aus. Reconquista, Rückeroberung. Dass man in Granadas Straßen Arabisch spricht, ist nichts Neues. Die Stadt gehörte fast acht Jahrhunderte, ein ganzes Zeitalter lang, zur arabischen Welt. Im Jahr 711 war der maurische Heerführer Tarik aus Nordafrika kommend bei Gibraltar nach Europa einmarschiert und hatte in kurzer Zeit fast die gesamte Iberische Halbinsel besetzt. Nur im nördlichen Bergland hielten die alten westgotischen, christlichen Herrscher aus. Mit der siegreichen Schlacht bei Covadonga 722 begannen sie ein Projekt, dass ihre Nachkommen fast acht Jahrhunderte lang beschäftigen sollte: die Reconquista Iberiens. Mitte des 13. Jahrhunderts war fast die gesamte Halbinsel wieder in christlicher Hand. Nur das nasridische Königreich Granada blieb noch 250 Jahre lang Leuchtturm der islamischen Kultur im Westen Europas. Bis Isabella von Kastilien mit ihrem Mann Ferdinand von Aragón Granada wieder einnahm.

Genau wie Isabella behielten auch die Moslems Granada in ihrem Herzen. Al-Andalus, der einstige Name für das gesamte islamisch beherrschte Iberien, wurde für sie zu einem Mythos. Manche träumen noch heute von der Rückeroberung, der dann islamischen Reconquista. In seiner kruden Rechtfertigung für die Attentate des 11. Septembers 2001 sprach Osama Bin Laden von "der Tragödie von al-Andalus", die sich in Palästina nicht wiederholen dürfe. José María Aznar, damals Spaniens Ministerpräsident, antwortete nach den Madrider Terroranschlägen vom 11. März dieses Jahres nicht viel feinsinniger: "Die Probleme Spaniens mit Al Qaeda begannen im 8. Jahrhundert, als Spanien von den Mauren überfallen wurde und sich weigerte, ein Teil der islamischen Welt zu werden."

Die Einnahme Granadas hat man "in Rom, in Paris, in ganz Europas gefeiert", sagt Manuel Reyes, der Dekan der Königlichen Kapelle in Granada: "Europa lebte in Furcht vor den Türken, die 1453 Konstantinopel erobert hatten und den halben Balkan besetzt hielten. Granada ließ die Christen aufatmen. Der Zusammenstoß der Zivilisationen ist ein Jahrhunderte altes Phänomen." Als Isabella am 26. November 1504 im kastilischen Medina del Campo starb, hinterließ sie ein ganz und gar katholisches Königreich. Sie selbst hatte noch im Jahr der Einnahme Granadas die Juden aus dem Land geworfen und später die Granadiner Moslems, die nicht auswandern wollten, zur Taufe gezwungen.

Doch inzwischen kehrt der Islam zurück. Rund 15.000 Moslems leben wieder in der 265.000 Einwohner zählenden Stadt, etwa die Hälfte von ihnen sind Arbeitsimmigranten. Viele Studenten stammen aus dem Maghreb, ein Abschluss der Universität Granada ist in Marokko ein Qualitätszertifikat.

Nouredine Slimani, ein 48 Jahre alter Marokkaner, der in der Calderería Vieja am Fuße des Albaicín einen Laden für Kunsthandwerk betreibt, muss lachen, wenn er das Wort von der Reconquista hört, der islamischen Rückeroberung Andalusiens. "Ich bin nach Spanien gekommen, um mein Brot zu erobern, nicht das Land." Er hat eine Spanierin geheiratet, sie zum Islam bekehrt und mit ihr sechs Kinder. Zwischen den ausländischen Moslems wuchs eine Gruppe spanischer Moslems heran, etwa 1500 Konvertiten, die der katholischen Kirche bei ihrer persönlichen Sinnsuche den Rücken kehrten. Sie sind die stolzesten Vertreter ihres Glaubens in Granada, das sie zur "Islamischen Hauptstadt Europas" erklärt haben. Nach 23 Jahre währenden Auseinandersetzungen mit Nachbarn und Behörden haben sie im Sommer ihre Moschee auf dem höchsten Punkt des Albaicín-Hügels eröffnet, mit einer Aussicht auf die Alhambra, die noch erhabener ist als der Blick von Padre Javiers Dachterrasse. Eine Moschee im andalusischen Stil mit weiß bemalten Ziegeln und roten Dachpfannen, gebaut mit Geld aus Marokko und den Vereinigten Arabischen Emiraten, ein Symbol, wenn nicht der Reconquista, so doch der Rückkehr des Islam ins europäische Heimatland.

Nach 500 Jahren ruft im Albaicín wieder ein Muezzin fünf Mal am Tag zum Gebet. Der Direktor der Moschee-Stiftung, Malik Ruiz, ist 34 Jahre alt, ein gelernter Bauingenieurs: "Wir erleben die größten Ungleichheiten aller Zeiten, Arbeitslosigkeit, Intoleranz, Gewalt." Schuld daran hat "das wirtschaftliche System", das "perfekt ferngesteuerte Massen" schaffe. Doch zum Glück gibt es den Islam, der hält "Lösungen für alle Probleme dieser Gesellschaft" bereit. Über Geschichte redet Ruiz, der vor zwölf Jahren als engagierter Katholik zum Islam konvertierte, nicht gern. Im Albaicín leben sie friedlich beieinander, die Katholiken, die alten und die neuen Moslems, die Leute aus der Bohemien-Mittelschicht, die viel Geld für ein Häuschen mit Alhambra-Blick hinlegen. Doch Malik Ruiz hat eine Vision, die Vision einer Art islamischer Reconquista durch Überzeugung: "Bald", glaubt der Direktor, "werden sich die wahren Christen zu Moslems bekehren."


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