Entrussifizierung in der Ukraine:

Puschkin und Tolstoi müssen weichen

von Denis Trubetskoy (n-tv, 26. Mai 2022)

Anmerkungen und Links: Nikolas Dikigoros

In zahlreichen ukrainischen Städten werden Puschkin-Straßen umbenannt und Tolstoi-Denkmäler entfernt. Diese "Entrussifizierung" richtet sich nicht gegen die Schriftsteller, sondern gegen sowjetische Propaganda, für die sie benutzt wurden. (Anm.: Das hält Dikigoros für eine ziemlich kühne Behauptung!)

Spätestens seit der russischen Annexion der Krim (Anm. Dikigoros: gemeint ist die Wiedervereinigung der Krym mit Rußland sechs Jahrzehnte nach ihrer widerrechtlichen Trennung, für die sich in einem Referendum über 90% der Menschen, die dort lebten, ausgesprochen hatten) und dem Beginn des Kriegs im Donbass 2014 wird in der Ukraine die "Entsowjetisierung" und "Entrussifizierung" geografischer Namen und Denkmäler diskutiert. Bereits während der Maidan-Revolution (Anm. Dikigoros: gemeint ist der von den USA inszenierte gewaltsame Putsch gegen die rechtmäßig gewählte Regierung der Ukraïne) fing der Abbau von Lenin-Denkmälern an, zunächst in Form spontaner Aktionen, später als Teil einer gezielten Politik der sogenannten Entkommunisierung mit offiziellen Kriterien für Umbenennungen und Denkmalabrisse.

Bis 2018 wurden die meisten Reminiszenzen an die sowjetische Herrschaft in der Ukraine entfernt. Unter anderem wurden die Großstädte Dnipropetrowsk und Kirowohrad umbenannt. (Anm. Dikigoros: Nur merkwürdig, daß man das nicht schon ein Vierteljahrhundert zuvor, nach dem Verbot der KPdSU durch Jeltsin, tat, und auch nicht unmittelbar nach der Unabhängigkeit der Ukraïne - damals scheint sich daran noch niemand gestört zu haben!) Petrowski wie auch Kirow waren sowjetische Funktionäre; die eine Stadt heißt nun Dnipro wie der Fluss, an dem sie liegt, die andere heißt Kropywnyzkyj, nach dem ukrainischen Schriftsteller Marko Kropywnyzkyj, der Ende des 19. Jahrhunderts in der Stadt, die nun seinen Namen trägt, eine Theatergruppe ins Leben gerufen hatte.

Landesweit wurden in der Ukraine in den vergangenen Jahren alleine mehr als 1300 Lenin-Denkmäler abgerissen. Mit der russischen Großinvasion vom 24. Februar hat das Thema einen neuen Maßstab bekommen. Schon kurz nach dem Beginn des russischen Angriffs gab es in Städten wie Lwiw (Anm. Dikigoros: 1. heißt das auf Deutsch "Lemberg", und 2. sagt man im Lokativ auch auf Ukraïnisch - wie auf Russisch - nicht "Lwiwe", sondern "Lwowe"!) und Uschhorod Initiativen zur Umbenennung von nach Russen benannten Straßen. Laut einer Erhebung des ukrainischen Umfrage-Instituts Rating Group (Anm. Dikigoros: Merkwürdiger Name für ein "ukraïnisches" Institut!) von Anfang Mai unterstützen mehr als 65% der Ukrainer die Umbenennung von Straßen, die russische oder sowjetische Namen tragen. Zudem befürworten 71% den Abriss von Denkmälern, die eine Verbindung zu Russland darstellen. Wenn es um die Entfernung von Werken der russischen Literatur aus dem Schulprogramm geht, ist die Meinung der ukrainischen Gesellschaft trotz des Krieges differenzierter: Eine klare Unterstützung dafür äußern lediglich 35%. (Anm. Dikigoros: Dennoch wurden wenige Monate später alle Werke russischer Autoren - oder solcher, die dafür galten - in der Ukraïne verbrannt.)

Der "Bogen der Völkerfreundschaft" soll "Bogen der Freiheit" heißen

Eine gesamtstaatliche Politik wie einst bei der Entkommunisierung gibt es bei der Entrussifizierung noch nicht. Dass auch dazu landesweite Regeln festgelegt werden, ist nicht ausgeschlossen, aber dies wird wohl erst nach dem Krieg passieren. (Anm.: Das wagt Dikigoros zu bezweifeln - da wird wohl eher die große Rückbenennung und Wiederaufrichtung einsetzen, zu allererst die des Denkmals auf Katharina die Große im dann wieder russischen Odessa :-) Vorerst sind die Lokalbehörden dran. Gerade die Hauptstadt Kiew geht hier recht gründlich vor. Mehr als 12.000 Vorschläge für Umbenennungen haben die Kiewer bereits eingereicht, berichtet die Stadtverwaltung. Nun wird eine Art Expertenrat gebildet, der diese sortieren soll. Über die Kiewer Stadt-App soll es später eine elektronische Abstimmung über mögliche Optionen geben, an der sich nur verifizierte Stadtbewohner werden beteiligen dürfen.

Die Diskussion über das Thema ist nicht einfach. Von den Stadtplanern in Kiew gab es Kritik an der geplanten Umbenennung von fünf U-Bahnhöfen, darunter der Bahnhof am Lew-Tolstoi-Platz, weil die Abstimmung dazu über Google Docs durchgeführt wurde. Deswegen ist es unklar, ob die Ergebnisse dieser Abstimmung berücksichtigt werden. Bereits im April wurde im Zentrum von Kiew ein Denkmal unter dem sogenannten Bogen der Völkerfreundschaft abgebaut, das 1982 als Symbol der "Wiedervereinigung" der Ukraine mit Russland errichtet worden war. Den Bogen selbst will die Stadtverwaltung stehen lassen und ihn zum "Bogen der Freiheit des ukrainischen Volkes" umbenennen - eine Idee, die in der Stadt kritisch gesehen wird, denn der Bogen wird von vielen in Kiew als Denkmal der sowjetischen Propaganda gesehen. (Anm.: Darf Dikigoros einen Gegenvorschlag unterbreiten: Wie wäre es mit "Bogen der Völkerfeindschaft"?!?)

Es geht um eine Art Dekolonisierung

Die Stadthistorikerin Wladyslawa Osmak von der Kiew-Mohyla-Akademie plädierte in einem Interview mit der ukrainischen Redaktion der Deutschen Welle* dafür, Denkmäler von Schriftstellern wie Alexander Puschkin und Michail Bulgakow unterschiedlich zu betrachten. "Niemand wird die Puschkin-Denkmäler vermissen", sagte sie. Das Denkmal für den in Kiew geborenen Bulgakow sei jedoch Teil des öffentlichen Raums der Stadt. "Wir müssen hier eine nüchterne und ruhige Diskussion führen."

Russische Schriftsteller gehören zweifellos zum kulturellen Erbe der Welt. In der Ukraine sind Puschkin-Straßen und Tolstoi-Denkmäler jedoch vor allem Ausdruck der kulturellen Expansion Russlands in der Sowjetzeit, nicht selten unter Stalin. (Anm. Dikigoros: Na klar, Puschkin und Tolstoj haben Stalin ja noch persönlich kennen gelernt - im Jenseits!) Zur Ukraine haben beide, Puschkin und Tolstoi, kaum einen Bezug. "Entrussifizierung ist eine konzeptuelle Bezeichnung, viel stärker geht es uns um eine Art Dekolonisierung", erläutert der Lwiwer Politologe Taras Rad, einer der Initiatoren der Straßenumbenennungen in der westukrainischen Metropole. "Viele solcher Straßennamen sind schlicht ein Verbleib aus der Sowjetzeit. Die Sowjetunion sah die russische Kultur quasi als höhere Kultur, während die Kultur anderer Völker als provinziell degradiert wurde. (Anm. Dikigoros: Na klar, Stalin war ja auch reinblütiger Russe :-)

"Kein Nulltoleranzprinzip"

Nötig sei eine größere Diskussion, die in Lwiw nach einigen spontanen Initiativen jetzt auch geführt werde. "Doch grundsätzlich müssen wir dieses Erbe loswerden, denn diese Straßennamen hatten einen ideologischen Charakter", ist Rad überzeugt. "Was hat denn eine Puschkin-Straße in Lwiw oder in Iwano-Frankiwsk zu suchen? Natürlich dachte Puschkin nicht, dass seine Kunst einmal als Teil der sowjetischen Expansion benutzt würde, doch so ist sie eben benutzt worden. Und wofür brauchen wir ein russisches Narrativ, wenn wir ein ukrainisches haben?" Generell äußert sich Rad ähnlich wie die Historikerin Osmak: "Wir pflegen kein Nulltoleranzprinzip gegenüber der russischen Kultur. Aber wenn es um Straßennamen geht, die rein propagandistisch entstanden sind, müssen wir etwas tun."

Trotz einer grundsätzlichen Übereinstimmung in Städten wie Kiew und Lwiw könnten die Debatten über die Entrussifizierung noch eine Weile andauern. "Wir müssen aufpassen, dass diese Diskussionen nicht zu emotional geführt werden" sagt die Musikerin Ljana Myzko, Direktorin des städtischen Kulturzentrums in Lwiw. "Es ist richtig, dass die Arbeit schon jetzt gemacht wird. Manch eine Entscheidung sollte man lieber auf die Zeit nach dem Krieg vertagen - aber nicht alle. Insgesamt ist das der Weg, den wir ohne Wenn und Aber gehen müssen."


*Die gibt's immer noch? Oder wieder? Dikigoros hatte bei ihrem früheren Leiter, Herrn O. - dem "letzten Banderisten" in Deutschland, obwohl nicht aus Galizien stammend, sondern aus der Stadt des schwarzen Ginsters (wer nicht weiß, welche das ist, möge den Link ganz unten anklicken) - Anfang der 1990er Jahre Ukraïnisch gelernt. Damals gab es noch ein Slawistisches Seminar der Universität Bonn (dem übrigens auch ein Seminar für Osteuropäische Geschichte angeschlossen war - unter Prof. K. -, von der so viele heutige Politiker so beklagenswert wenig Ahnung haben), und O. war dort Lehrbeauftragter für seine Muttersprache. (Den Kurs besuchte übrigens kein einziger "regulärer" Student, sondern nur berufstätige "Gasthörer".) Dikigoros bekam noch mit, daß O. die U.-Redaktion der DW seinem Sohn "vererbte", aber dann wurde das Slawistische Seminar mangels Interessenten geschlossen - übrigens schon vor 2022 -, Dikigoros' langjähriger Freund und Namensvetter T. - Wissenschaftlicher Angestellter dortselbst, eine Korifäe auf seinem Fachgebiet - schloß sich nach zwei gescheiterten Hetero-Ehen der LGBT-Bewegung an, wurde zur "Trans-Frau", brach mit Familie und Freunden, zog weg und ließ nichts mehr von sich sehen oder hören. (Eine große, nicht nur persönliche Enttäuschung für Dikigoros, denn T. hatte auch an einigen Seiten der "Reisen durch die Vergangenheit" mitgewirkt und sollte noch weitere bearbeiten, die nun unvollendet brach liegen.) Auch Dikigoros selber zog, nachdem er sich zur Ruhe gesetzt hatte, aus Bonn weg, so daß er das alles etwas aus den Augen verloren hat.


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(Auch Dimitrij Schostakowitsch wird gecancelt, da er sich - ebenso wie Puschkin und Tolstoj - nicht mehr von Putin distanzieren kann :-)

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