OHNE "GLANZ UND GLORIA"

Die Erinnerungen des »Hauptmanns von Köpenick«

von Ludwig Lugmeier (Junge Welt, 14.10.2006)

Wilhelm Voigt, der 1849 als Sohn eines Schuhmachers in Tilsit geboren wurde, schrieb als »Hauptmann von Köpenick« Geschichte. Über ihn und seine Tat wurden unzählige Bücher und Aufsätze verfaßt, die Autobiographie Voigts, die 1909, ein Jahr nach seiner Haftentlassung, erschien, hat jedoch bis heute verhältnismäßig wenig Aufsehen erregt. Dabei ist dieses Buch selbst ein »Gaunerstückchen«, zeigt es doch, daß der »Hauptmann« ein größeres Schlitzohr war, als bislang angenommen wird. Ludwig Lugmeier, dessen vielbesprochene Autobiographie »Der Mann, der aus dem Fenster sprang« (Verlag Antje Kunstmann) im vergangenen Jahr Furore machte, kommentiert im Nachwort die Aussagen Voigts und zeigt, daß es sich bei der Besetzung des Rathauses eigentlich um einen Raubzug der Extraklasse handelte. Lugmeiers Nachwort erscheint hier mit freundlicher Genehmigung des Verlags anläßlich der Wiederveröffentlichung der Memoiren Voigts zum 100. Jahrestag der Köpenickiade am 16. Oktober (Wilhelm Voigt: Wie ich Hauptmann von Köpenick wurde. Ein Lebensbild. Verbrecher Verlag, Berlin 2006, ISBN 3-935843-66-6, 128 Seiten, 14,99 Euro)

Die Geschichte des Friedrich Wilhelm Voigt ist noch nicht geschrieben worden. Zwar gibt es von Wilhelm Schäfer einen biographischer Roman über ihn, der 1930 im Münchener Verlag G. Müller erschien, doch dieser »Hauptmann« hat mit der wirklichen Person Wilhelm Voigt wenig zu tun. Schäfers Roman steckt voller Unwahrheiten und Vereinfachungen. An Stelle »bereinigter« Lebensabschnitte hat er rührende Erlebnisse erfunden. Da schüttelt Richter Dietz nach der Urteilsverkündung Voigt die Hand und nennt ihn generös seinen »Menschenbruder«.

Carl Zuckmayer, von Fritz Kortner beauftragt, ein Drehbuch für einen Hauptmann-von-Köpenick-Film zu schreiben, bediente sich Voigts Geschichte, als wäre sie ein Trickbaukasten. Sein Hauptmann ist eine Kunstfigur - es hat ihn so nie gegeben. Tatsächlich ging es Voigt bei seinem Überfall auf das Rathaus in Köpenick nicht um einen Paß, sondern um Geld. Zwei Millionen Mark, so hatte er geglaubt, würden im Panzerschrank liegen. Zuckmayer hatte die Akten und Prozeßberichte gekannt, aber er wollte mit seiner Hauptmannsgeschichte ein »deutsches Märchen« schreiben - so hat er es selbst genannt.

Lediglich Winfried Löschburg nahm Wilhelm Friedrich Voigt als den, der er war: einen Gewohnheitsverbrecher. Sein Buch »Ohne Glanz und Gloria. Die Geschichte des Hauptmanns von Köpenick«, das 1978 im Verlag Der Morgen erschien, ist gut recherchiert. In den Mittelpunkt stellte er den Überfall vom 16. Oktober 1906. Das ist naheliegend, da Voigt durch diesen Überfall in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses geriet. Doch seine Geschichte erhellt sich daraus so wenig, wie die Frage beantwortet werden kann: Wie kam es, daß ein 57jähriger Schuster, der neunundzwanzig Jahre in Gefängnissen und Zuchthäusern gesessen hatte, die preußische Staatsmacht zum Zittern brachte - erst unter dem Gelächter der Untertanen, dann unter dem Hohn der restlichen Welt.

Ein alter Bourgeois

Um die Lebensgeschichte Voigts zu schreiben, hätte es eines Hans Fallada oder Alfred Döblin bedurft. Fallada, weil er das Gefängnis aus eigener Erfahrung kannte, die Stigmatisierung dadurch und den Kreislauf, demzufolge immer wieder kam, wer einmal aus dem Blechnapf fraß. Alfred Döblin, weil er mit Franz Biberkopf, dem Protagonisten seines Romans »Berlin Alexanderplatz«, eine Gestalt schuf, die Voigt in vieler Hinsicht ähnlich war. Beide bewegten sich auf der Schattenseite der Gesellschaft, in Gefängnissen und der Unterwelt, und schlugen sich als Gesetzesbrecher durchs Leben. Allerdings unterscheiden sie sich dadurch, daß Franz Biberkopf die Welt, in der er steckte, nicht begriff und seinem Schicksal ausgeliefert blieb, während Voigt das Regelwerk der Macht durchschaute und es an ihrer schwächsten Stelle zu brechen verstand. Als Verbrecher war er dem fiktiven Franz Biberkopf weit überlegen.

Friedrich Wilhelm Voigt wurde am 13. Februar 1849 in Tilsit geboren. Sein Vater, ein Schuhmacher, war Alkoholiker, der die Kinder verprügelte und seiner Frau das Geld wegnahm. Voigt besuchte drei Klassen der Stadtschule und wechselte auf die Realschule. Danach erlernte er das Schuhmacherhandwerk. Mit vierzehn rückte er aus, wurde aber bald aufgegriffen und saß zum ersten Mal, wegen Landstreicherei und Bettelei, achtundvierzig Stunden in Haft. Bald darauf holte er sich ein Stück vom Speck, der ihm nicht gehörte, und wurde wegen Diebstahls zu vierzehn Tagen Gefängnis verurteilt. Ein Jahr später, 1864, saß er wegen des gleichen Delikts drei Monate ein, und wieder ein Jahr danach bekam er wegen Diebstahls neun Monate Gefängnis und ein Jahr Ehrverlust. Von da an galt er als Gewohnheitsverbrecher. Als er 1867 wegen Urkundenfälschung erneut straffällig wurde, verdonnerte ihn das Schwurgericht von Prenzlau zu zehn Jahren Zuchthaus, zu denen eine Geldstrafe von 1500 Talern kam, für die er, da er sie nicht bezahlen konnte, zwei weitere Jahre sitzen mußte.

Nach der Entlassung ging er ins Ausland, zog nach Budapest, Jassny und Prag. Zehn Jahre arbeitet er mal hier und mal dort. Dann stahl er wieder und stand erneut vor Gericht. Da er inzwischen seinen Vornamen in Richard geändert hatte, kamen seine Vorstrafen nicht an den Tag. Allein seine dicke Gerichtsakte hätte ihm fünf Jahre eingebracht. So kam er mit einem davon. Doch als man ihn nach der Verbüßung der Strafe bei einem Einbruch in das Gerichtsgebäude von Wongrowitz schnappte, wurde er zur Höchststrafe verurteilt: fünfzehn Jahre Zuchthaus.

Das ist, dürftig erzählt, Voigts Geschichte bis zu seinem 57. Lebensjahr. Wie aber kam es, daß er einen Militärstreich durchzuführen verstand, von dem noch heute gesprochen wird? Wo und wie war die Idee entstanden, und wie hatte er es geschafft, daß ihn die Jahrzehnte hinter Gittern nicht gebrochen hatten? Wer war dieser Mann?

Als er am 1. Dezember 1906 auf der Anklagebank des Schwurgerichts in der Turmstraße in Moabit seinen Platz einnahm, trug er einen schwarzen Rock und eine bunte Krawatte, der Kragen seines Hemds war tadellos weiß. Er kannte die Praktiken und Gepflogenheiten des Gerichts und die Paragraphen, gegen die er verstoßen hatte. Seine Ausdrucksweise war gewandt, seine Verteidigung bedacht und planvoll vorbereitet. Dem Schriftsteller Paul Lindau, der während des Prozesses im Gerichtssaal saß, kam Voigt vor »wie ein alter Bourgeois, der zum Angeln geht«.

In Friedrich Wilhelm Voigt hatte seit jeher ein anderer gesteckt. Wie bei dem spanischen Hidalgo, der »hijo de algo«, auf den sich Ruhm und Bedeutung der Vorfahren übertrugen, war auch Voigts Selbstbewußtsein durch die Taten seiner Ahnen geprägt. Seine Großväter hatten in den Befreiungskriegen gekämpft, sein Vater hatte 1849 gegen die bürgerlich demokratische Revolution gefochten. Die Kriege von 1864 und 1866 begeisterten ihn, und obwohl er während des deutsch-französischen Krieges 1870/71 schon im Zuchthaus saß, stand er auf der Seite des Kaisers. Voigt kannte sich in Geschichte aus und im »Kleinen Waldersee«, dem Militärhandbuch. Mit Sicherheit hätte er einen hervorragenden Offizier abgegeben.

Was ihn von anderen unterschied, war sein Blick auf die Welt. Es war der Blick des Stigmatisierten und Outlaws. Als Dieb und Betrüger hatte er die Schwachstellen heraus gefunden und wußte, wo er angreifen konnte. Als Gefangener mußte er, um die Jahrzehnte überstehen zu können, die Apparatur der Macht durchschauen und die Schwächen ihrer Repräsentanten erkennen. Was für den Staatsbürger gottgegeben war, stellte sich ihm als Farce dar, als Theaterstück, in dem die Schauspieler jedoch nicht wissen, daß sie Statisten sind. Siegesfeiern und Militärparaden, Rituale und Staatspomp hatten keine höhere Bedeutung für ihn. Er wußte, daß in Uniformen Menschen steckten, die mit Staatsgläubigkeit und Unterwürfigkeit ihre Feigheiten und Schwächen kaschierten. Er kannte den Untertan, und er erkannte ihn besser als der Kaiser und die Chargen, die sich im Konstrukt der Staatsmacht unangreifbar wähnten. Dieses Wissen war aus Zellen und Gefängnishöfen gekrochen, aus Scheißkübeln und den Predigten evangelischer Pfaffen.

Auf Anordnung des Kaisers

Nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus am 12. Februar 1906 wurde Friedrich Wilhelm Voigt unter Polizeiaufsicht gestellt. Binnen 24 Stunden mußte er sich bei Zuzug an jedem Ort bei der Behörde melden. Wohnungswechsel hatte er anzuzeigen, neue Aufenthaltsorte anzugeben, sein Vorstrafenregister begleitete ihn. Drei Monate arbeitete er als Schuhmacher in Wismar. Dann wurde er ausgewiesen und ihm verboten, das Großherzogtum Mecklenburg-Vorpommern wieder zu betreten. Er ging nach Marienburg und Graudenz, trieb sich von Ort zu Ort, um schließlich in Berlin zu landen. Dort quartierte er sich in der Abstellkammer seiner Schwester ein, schlug sich als Tagelöhner durch, schippte Kohlen und arbeitete als Stepper in einer Filzschuhfabrik. Er lernte eine Witwe kennen, die er heiraten wollte. Da wurde er aus Berlin und den umliegenden Orten bis Potsdam, Königs Wusterhausen und Bernau ausgewiesen. Er wußte nicht, wohin, tauchte unter, versteckte sich in einer Schlafstelle in der Langen Straße beim Schlesischen Bahnhof. Doch die Bleibe war unsicher, und der Winter stand vor der Tür.

Während dieser Zeit reifte eine Idee, die im Gefängnis entstanden war, zum Plan. Er wollte »der andere« werden, der, der in ihm steckte, derjenige, dessen Großväter im Befreiungskrieg gekämpft hatten und dessen Vater geholfen hatte, die Demokraten niederzuschlagen. Er wollte in die Uniform steigen, in die Schale der Macht, Kommandogewalt übernehmen, einen Coup d'Etat en miniature durchführen und sich soviel Geld holen, daß er den Rest des Lebens als Privatier leben konnte. Die Voraussetzungen dafür hatte sein Leben geschaffen. Das Ergebnis war eine geniale Idee.

Bei der Umsetzung ging er dilettantisch ans Werk. In einer Zeitung hatte er gelesen, daß sich im Panzerschrank des Rathauses von Köpenick zwei Millionen Mark befänden, doch überprüfte er die Nachricht nicht. Zwar sondierte er das Gelände, aber die Hauptmannsuniform, die er in Trödelläden zusammenkaufte, war nicht vorschriftsmäßig. (Die Hose war fleckig und abgetragen, die Gesäßtaschen fehlten, und die an die Mütze gesteckten Kokarden stimmten nicht.) Auch trank er sich Mut an, bevor er seinen Plan in die Tat umsetzte. Doch als er dem Wachkommando der Militärschwimmanstalt von Plötzensee, das aus vier Füsilieren und einem Unteroffizier bestand, »Halt!« befahl und auf »Allerhöchste Anordnung des Kaisers« seinem Befehl unterstellte, war aus ihm der Hauptmann geworden. Die Uniform gab ihm Macht. Angst und Unsicherheit waren überwunden, und der Ton seiner Befehle wurde bestimmt. Als er einen Sporn verlor, schnarrte er: »Werde nächstens meinen Schuhmachermeister anschnauzen müssen!« Er strahlte Sicherheit und Ruhe aus, und seine Anweisungen erfolgten genau und nach Dienstvorschrift. Mit sechs weiteren Männern des 4. Garde-Regiments zu Fuß, die er akquirierte und den Füsilieren anschloß, besetzte er das Rathaus in Köpenick, nahm den Bürgermeister Langerhans gefangen, übernahm die Polizeigewalt, konfiszierte die Kasse und verschwand damit. Da sich in der Kasse nur 3557,45 Mark befanden, war sein Plan zwar gescheitert, doch der Geniestreich selbst war gelungen. Ämter und Behörden waren bestürzt, Zeitungsredaktionen spuckten Extrablätter aus, und der Kaiser, verärgert und wütend, äußerte »Worte von ausgesuchter Schärfe und von sehr eindrucksvoller Redeweise«. Wahrscheinlich hätte er Voigt gerne einen Kopf kürzer gesehen.

Außer der Halsbandaffäre hat keine kriminelle Tat je ein politisches System so erschüttert wie der Überfall auf das Rathaus in Köpenick. Doch während die Erschütterung durch die Halsbandaffäre sich fortgepflanzt und zur Revolution geführt hatte, unter der das Ancien Régime zerbrach, verpuffte Friedrich Wilhelm Voigts Militärstreich im Innern. Er hatte zwar die Hohlheit der Macht entlarvt, zugleich aber auch dem Staatsbürger einen Spiegel vorgehalten, in dem dieser sich in seiner obrigkeitshörigen Erbärmlichkeit sehen konnte. So richteten sich Spott und Hohn nicht nur gegen oben, gegen Bürgermeister Langerhans, die Militärhierarchie und den Kaiser, sondern in einem Akt der Abwehr auch gegen Voigt. Auf Ansichtskarten wurde er zu einer o-beinigen Witzfigur. Die Presse beschrieb ihn als bemitleidenswerten Sozialfall, während sein Coup d'Etat für Komödien auf Theaterbühnen herhalten mußte. Der Untertanengeist aus Moral, Gehorsam und Vaterlandsliebe aber brütete dumpf weiter. Acht Jahre später, als das Gelächter verebbt war und der Kaiser mobil machen ließ, waren die Reihen wieder fest geschlossen.

In reinerem Lichte

Von Voigts Überfall profitierten Druckereien, Ansichtskartenverkäufer, Zeitungen und Stückeschreiber. Er selbst, 1906 zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, konnte erst nach seiner vorzeitigen Entlassung am 16. August 1908 seinen Ruhm abschöpfen. Und er verstand das Geschäft. Von der Polizei mißtrauisch beäugt und regelmäßig aus Städten vertrieben, trat er in Panoptiken, Varietés und Gaststätten auf, verkaufte signierte Ansichtskarten, auf denen er bald als Bürger, bald als Hauptmann abgebildet war, reiste durch Europa und in die Vereinigten Staaten und wurde nun wirklich, was er hatte werden wollen: Privatier und Hausbesitzer. Zuletzt holte ihn die Politik wieder ein. Die Inflation fraß sein Geld, und als er am 3. Januar 1922 in Luxemburg starb, war er so arm wie zuvor.

Die vorliegende Autobiographie »Wie ich Hauptmann von Köpenick wurde« erschien im Januar 1909, ein halbes Jahr nach seiner Entlassung. Sie gehörte zu seiner Geschäftsstrategie. Wahrscheinlich hatte er mit den Aufzeichnungen in der Zelle angefangen. Für die endgültige Fassung nahm er den damals bekannten Kriminalschriftsteller Hans Hyan zu Hilfe. Dieser allerdings beschwerte sich im Vorwort, daß Voigt in diesem Buch »alle seine Taten in reinerem Lichte, das, was ihn gekränkt, in schwärzeren Farben« sähe, doch »als Kulturbild, als kriminelles Dokument ist Voigts Autobiographie von hohem Wert.«

Das Buch verkaufte sich erfolgreich und wurde ins Französische übersetzt. Es ist voller Ungenauigkeiten, Verdrehungen und Haarspaltereien, voller Katzbuckeleien, Angebereien und Rührseligkeiten. Obwohl Voigt nichts an Wahrhaftigkeit lag – und weshalb sollte es auch, schließlich wollte er damit nur Geld verdienen –, spiegelt er sich im Subtext selbst. So bleibt dieses Buch der einzige authentische Bericht über Friedrich Wilhelm Voigt, den Hauptmann von Köpenick, dessen ganze Lebensgeschichte niemals geschrieben wurde.


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