OPFER DER LEGENDEN

Wie der römische Kaiser Nero zum
Sündenbock der Geschichte wurde

von Richard Herzinger (wams, 15.01.2006)

Wer an Nero denkt, hat das Bild eines Monsters vor sich. Schuld sind Jahrhunderte christlicher Historiographie und ein Hollywoodfilm mit Peter Ustinov. Dabei war Nero nicht skrupelloser als seine Gegner. Etwa einige frühe Christen, eine Art al-Qaida der Antike, die Motive hatten, Rom anzuzünden.

Das Feuer brach in einem Gebiet unweit des Circus Maximus aus. Angefacht von starkem Wind, breitete es sich rasend schnell aus. Als der Brand nach sechs Tagen endlich erloschen schien, loderte er an anderer Stelle erneut auf. Nachdem er drei weitere Tage gewütet hatte, waren von den vierzehn Stadtteilen der Millionenstadt drei vollständig zerstört, sieben mehr oder weniger stark beschädigt und nur drei unversehrt.

Diese verheerende Katastrophe, die in der Nacht vom 18. auf den 19. Juli 64 n. Chr. über Rom hereinbrach, ist im kollektiven Gedächtnis der Menschheit mit einem Namen verbunden: Nero.

Bis heute steht der am schlechtesten beleumundete aller römischen Kaiser als Synonym für die Grausamkeit und den Irrsinn einer mörderischen, willkürlichen Macht. Lucius Domitius Ahenobarbus, so sein Geburtsname, nennt man in einem Atemzug mit den furchtbarsten Verbrechern der Weltgeschichte. Hitlers Anweisung, die Infrastruktur des eigenen Landes zu zerstören, damit sie den vorrückenden Alliierten nicht in die Hände fällt, wird bis heute als "Nero-Befehl" bezeichnet. Denn Nero, glaubt jedes Schulkind zu wissen, habe Rom anzünden lassen, um Platz zu schaffen für eine Metropole nach seinen größenwahnsinnigen Plänen.

Über den Dächern der brennenden Stadt soll er dazu verzückt selbstgedichtete Lieder über den Untergang Trojas gesungen haben.

Danach habe er, um von seiner Schuld abzulenken, die unschuldigen, gewaltlosen Christen grausam verfolgen lassen. Viele der Unglücklichen, die man nicht den wilden Tieren in der Arena vorwarf, so liest man es schon beim römischen Geschichtsschreiber Tacitus (55 - ca.116 n. Chr.), hätten als lebende Fackeln dienen müssen, um die nächtlichen ausschweifenden Feste des sadistischen Herrschers zu beleuchten.

Für die moderne Ausformung des Schreckensbilds vom vermeintlich verdorbensten aller römischen Kaiser ist vor allem der Roman "Quo vadis" verantwortlich, für den der polnische Autor Henryk Sienkiewicz 1905 den Literaturnobelpreis erhielt und der 1954 von Hollywood monumental verfilmt wurde. Die Darstellung Neros als dekadenten Psychopathen durch den genialen Komödianten Peter Ustinov hat sich ins Gedächtnis von Generationen eingebrannt. Nero, die Verkörperung des Staatsverbrechers, des amoralischen Ästheten, der das Leid anderer als Stimulanzmittel für seine perversen Gelüste brauchte - kein grausiges Detail fehlt in diesem populären Horrorporträt eines vollendeten Scheusals.

Das Problem ist nur: Es stimmt so gut wie nichts daran.

Nero, der 54 n. Chr. im Alter von nur 17 Jahren den Kaiserthron bestiegen hatte, vierzehn Jahre später durch eine Patrizierverschwörung gestürzt wurde und seiner Hinrichtung durch Selbstmord zuvorkam, ist posthum das Objekt einer in der Weltgeschichte einzigartigen und beispiellos erfolgreichen Verleumdungskampagne geworden. Heute gehen die Meinungen der Historiker auseinander, ob der größte Brand in der Geschichte Roms durch Fahrlässigkeit entstand oder mit Absicht gelegt wurde. Sicher aber scheint: Nero hatte nichts damit zu tun.

Die krassesten Anschuldigungen, die über Jahrhunderte hinweg kolportiert wurden, hat der italienische Journalist Massimo Fini bereits 1994 in seinem Buch "Nero - 2000 Jahre Verleumdung" widerlegt. Fini nennt Nero gar einen "bedeutenden Staatsmann". Und einiges berechtigt zu dieser Wertung: Während seiner Herrschaft hatte das Römische Reich die größte Ausdehnung seiner Geschichte erreicht und erlebte eine Periode äußeren Friedens, kultureller Blüte und wirtschaftlichen Aufschwungs, wie es ihn weder vorher noch nachher gegeben hat. Zweifellos, Nero besaß paranoide und exhibitionistische Züge, war psychisch labil. Doch er war auch ein ungewöhnlich vielseitig begabter und interessierter Kaiser. Er brachte es zu ansehnlichen Fertigkeiten beim Spielen des Saiteninstruments Kithara sowie als Sänger, Dichter, Schauspieler und Wagenlenker. Er war an naturwissenschaftlichen und technischen Neuerungen interessiert, suchte das Gespräch mit Künstlern, Philosophen, Erfindern.

All dies waren freilich Eigenschaften, die der privilegierten konservativen Aristokratenklasse unschicklich schienen. Vor allem aber provozierte sie Neros Volksnähe. Er verteilte großzügige Geldgeschenke an die Plebs und leitete Rechts- und Steuerreformen sowie eine Währungsreform ein, die die Vorrechte des Adels beschneiden sollten.

Nero tat das natürlich nicht aus purer Menschenfreundlichkeit. Die Gunst der einfachen Volksmassen war für ihn ein Faustpfand im Machtkampf mit den Patriziern, die um ihre Vorherrschaft fürchteten. Beim Volk selbst aber kam Neros Zuwendung gut an - in den unteren Schichten wurde er auch über den Tod hinaus geradezu mystisch verehrt.

Eine neue Biographie des berüchtigten Herrschers zeichnet Nero als das Gegenteil eines verabscheuungswürdigen Monsters. Für den Autor, den Religionssoziologen Horst Herrmann, war Nero eine Art Kulturrevolutionär auf dem Kaiserthron, der das starre, patriarchalische Wertesystem der römischen Adelsklasse von innen her aufbrechen wollte, der "den Versuch einer Kulturwende von oben wagte". Neros viel verlachter Einsatz für die Künste sei nicht nur seiner eigenen Obsession geschuldet gewesen, als bedeutender Künstler in die Geschichte einzugehen. Da er auf dem Feld politischer Reformen auf heftigsten Widerstand der beharrenden Kräfte gestoßen sei, habe Nero die versteinerten Verhältnisse durch die radikale Umwälzung des kulturellen Wertesystems Roms zum Tanzen bringen wollen. Das habe am Ende auch seinen Fall bewirkt.

"Nero hat sich zu weit vorgewagt und der römertümelnden Mentalität zuviel Änderung zugemutet", resümiert Herrmann. Neros Vision, meint Herrmann, war die Verfeinerung der römischen Sitten durch den griechischen Geist, dem er in der römischen Gegenwart zu einer zweiten Blüte verhelfen wollte. Dazu veranstaltete der Kaiser im Jahre 59 erstmals Festspiele mit Musik-, Theater- und Tanzwettbewerben. Vor allem Musikvorführungen und schauspielerische Darbietungen aber hatten nach den strengen traditionellen Maßstäben der römischen Elite bis dahin als pöbelhaft und "unmännlich" gegolten. Im Jahre 60 führte Nero zudem ein Fest griechischen Stils ein, das im Fünf-Jahres-Rhythmus stattfinden sollte und später "Neronia" genannt wurde. Dabei wurden, ganz "unrömisch", athletische Wettbewerbe veranstaltet, bei denen, wie der Nero-Biograph Jürgen Malitz notiert, "die Teilnehmer nackt auftraten und bei Beobachtern alten Schlages Gedanken an das - angeblich - östliche Laster der Homosexualität weckten".

Im Jahr 67 erfüllt sich Nero seinen Lebenstraum und reist nach Griechenland, das seit 146 v. Chr. eine römische Provinz ist. Dort schwelgt er in seiner Hellasverehrung, nimmt an allen vier panhellenischen Spielen teil, die ihm zu Ehren in einem einzigen Jahr abgehalten werden. Bei den Olympischen Spielen werden erstmals musikalische Wettbewerbe veranstaltet, damit Nero als Kitharaspieler auftreten kann. Er gewinnt sage und schreibe 1808 Medaillen. Soviel Entgegenkommen zahlt sich für die Griechen aus: Am 28. November 67 gewährt der Kaiser Griechenland in einem pompösen Akt Selbstverwaltung und die Befreiung von Abgaben.

Aber Nero initiiert in Griechenland auch ein Bauprojekt von historischer Dimension: den Isthmus-Kanal, den Durchstich der Landenge von Korinth. Bald nach seinem Tod werden die Bauarbeiten von Kaiser Vespasian wieder eingestellt - wie auch die griechische Unabhängigkeit rückgängig gemacht wird. Das Kanalprojekt kann erst 1800 Jahre später verwirklicht werden. Neros Pionierarbeit ist da längst aus dem kollektiven Gedächtnis der Menschheit getilgt.

Dasselbe gilt für seine Friedenspolitik. Nero verabscheute das Militärische - was ihm im römischen Establishment zusätzliche Verachtung eintrug -, er setzte auf Diplomatie und rationalen Interessensausgleich. Sein größter Erfolg ist die friedliche Beilegung des lange schwelenden Konflikts mit den Parthern im Jahre 66. Das Großreich Parthien, das im heutigen Gebiet von Irak und Iran lag, war die einzige Macht, die Rom Paroli bieten konnte. Der Frieden sollte fünfzig Jahre lang halten.

Neros staatsmännische Verdienste, seine fortschrittlichen Visionen - all das verschwand hinter der schwarzen Legende, die seine Feinde posthum um ihn gesponnen haben. Seine ruchloseste Tat ist gewiß die Ermordung seiner Mutter Agrippina im Jahre 59. Doch um dieses Verbrechen richtig einordnen zu können, muß man die wenig zimperlichen Umgangsformen innerhalb der Machtelite des alten Rom berücksichtigen. So ließ Neros Vorgänger, der Kaiser Claudius, seine Frau umbringen - um danach Neros Mutter zu heiraten, nachdem deren erster Mann Domitius, Neros Vater, gestorben war.

Machtkämpfe, auch blutige, waren in der römischen Herrschaftselite nicht selten Familienangelegenheiten. Agrippina war mit dem großen, alle seine Nachfolger überragenden Kaiser Augustus (er regierte von 27 v. Chr. bis 14 n. Chr.) verwandt und die Schwester von Caligula, dem besonders grausamen Vorgänger von Claudius auf dem Kaiserthron. Zielstrebig arbeitete sie von der Geburt ihres Sohnes daran, ihn als Nachfolger von Claudius zu installieren. Claudius adoptierte Nero und verlobte ihn mit seiner zehnjährigen Tochter Octavia, die er drei Jahre später heiraten mußte. Zum Erzieher und Berater von Nero bestellte Agrippina Seneca, den angesehensten stoischen Philosophen dieser Zeit. Neros Hauptkonkurrenten um den Thron ließ sie durch Mord aus dem Weg räumen.

Doch Agrippina wollte die Finger auch dann nicht vom Ränkespiel der Macht lassen, als sie ihr Ziel erreicht hatte und Nero im Jahre 54 n. Chr. zum Princeps ernannt worden war. Sein unkonventioneller Regierungs- und volksfreundlicher, ausschweifender Lebensstil - Nero soll zuweilen verkleidet und inkognito durch die Kneipen Roms gezogen sein - mißfällt ihr zunehmend, und sie beginnt, gegen ihn zu intrigieren. Sie baut Britannicus, einen leiblichen Sohn des Claudius, als Rivalen Neros auf, doch der 19jährige stirbt im Jahre 55 während eines Gastmahls. Daß Nero ihn vergiften ließ, wurde eifrig verbreitet, ist aber höchst unwahrscheinlich.

Agrippinas Verbitterung gegen den Sohn aber wächst immer mehr, schon gar, nachdem Nero Poppaea Sabina zur Geliebten nimmt und die Ehe mit Octavia, von der er sich 62 scheiden läßt (und die er kurze Zeit später ebenfalls umbringen lassen wird), nur noch pro forma aufrecht erhält.

Es ist nicht zuletzt Seneca, der den zögernden Kaiser zur Abrechnung mit der Mutter drängt. Als sich Nero, nach mehreren vergeblichen Versöhnungsversuchen, zum Mord entschlossen hat, braucht es ein halbes Dutzend Versuche, bis die Tat endlich gelingt. Mit wenig Geschick versucht er danach, die Schuld an der Tat abzustreiten. Ein kaltblütiger Muttermörder war er nicht. Zeitlebens litt er wegen dieser selbst für römische Verhältnisse frevelhaften Tat unter Gewissensqualen.

Kein Zweifel, Nero hat zahlreiche wirkliche oder mutmaßliche Gegner ermorden lassen. Aber er mußte sich auch unablässig Feinden erwehren, die ihm selbst nach dem Leben trachteten. So scheiterte im Jahr 65 nur knapp eine Verschwörung unter der Führung des Patriziers Piso. In das Mordkomplott soll auch Seneca verwickelt gewesen sein, der sich im Jahre 62 von Nero getrennt und auf seine Landgüter zurückgezogen hatte. Denn Seneca, eigentlich ein Parteigänger des konservativen Adels, geriet bei diesem wegen seiner Bindung an den Kaiser und den Reichtümern, die er dadurch anhäufen konnte, zusehends in Verruf.

Nach der Aufdeckung der - von Patriziern angezettelten - Pisonischen Verschwörung wird Seneca von Nero zum Selbstmord gezwungen. Seit Tacitus wird das gern als Opfertod eines ehrwürdigen Feingeistes hingestellt, der dem Bösen den Dienst verweigert habe. Doch Seneca war kein argloser Idealist, der, wie einst Sokrates, unbestechlich nichts als die Wahrheit kündete. Er war selbst Akteur im blutigen Spiel.

Dennoch wurde alle nur erdenkliche Bosheit und Grausamkeit dieser Zeit im nachhinein einzig Nero in die Schuhe geschoben. Dabei spielte der Vorwurf, er habe Rom in Brand gesteckt, zu seinen Lebzeiten kaum eine Rolle. Nicht einmal bei Tacitus, der sonst keine Schauergeschichte über Nero ausläßt, wird diese Anklage erhoben. In die Geschichtsschreibung Einzug hält sie erst durch christliche Historiker - Jahrhunderte nach Neros Tod. Ihn zu einem Unhold zu stempeln, der seine Untat aus Mutwillen den Christen anhängte und sie angeblich erbarmungslos verfolgte, half der sich institutionell verfestigenden Kirche beim Ausspinnen von Märtyrerlegenden. Doch die Christen hatten womöglich noch ein anderes, abgründiges Motiv, Nero in dieser Weise zu verteufeln.

Zunächst aber: Warum ist der Brandstifter-Vorwurf gegen Nero haltlos? Um einen Verdacht gegen ihn zu begründen, fehlt vor allem eins: ein Motiv. Zwar hatte Nero in der Tat ehrgeizige Pläne zur architektonischen Neugestaltung Roms. Doch das war für einen römischen Kaiser nichts Ungewöhnliches. Zudem: Als der Brand ausbrach, hatte Nero gerade seinen Palast aufwendig vergrößern und verschönern lassen. Auch dieser wurde durch den Brand schwer beschädigt. Es leuchtet nicht ein, warum Nero, hätte er das Feuer legen lassen, dies nicht vor der Restaurierung seines Palastes tat. Oder warum er sein Schmuckstück nicht gegen die Flammen schützte.

Vor allem aber: Nero hatte kein politisches Interesse daran, das Volk Roms in ein Inferno zu stürzen. Denn er gründete seine Macht wesentlich auf die Unterstützung durch die unteren Volksschichten. Warum hätte er sie mutwillig aufs Spiel setzen sollen?

Es bleibt also nur ein Argument: Nero war wahnsinnig und seine Handlungsweise deshalb völlig irrational, weshalb sachliche Entlastungsargumente ihre Geltung verlieren. Doch sein Verhalten vor und nach Ausbruch des Brandes gibt keinen Anhaltspunkt für seinen vermeintlichen Irrsinn.

Der Kaiser, der sich bei Ausbruch des Feuers in seiner Geburtsstadt Antium (heute: Anzio) aufhielt, eilte nach Erhalt der Nachricht vielmehr sofort nach Rom und leitete dort persönlich die Lösch- und Rettungsarbeiten. Er öffnete die Gärten seines Palasts für die Unterbringung und Versorgung der obdachlos gewordenen Bürger, sicherte die Lebensmittelversorgung und traf Vorsorge, daß keine Seuchen ausbrechen konnten.

Große Brände hatte es in Rom immer wieder gegeben, wenn auch in weit begrenzterem Umfang: unter Augustus im Jahre 6 n. Chr., unter Tiberius 27 und 36, sowie 54 unter Claudius. Brandbekämpfung war deshalb ein wichtiges Thema der Reformpolitik Neros. Sein weitläufiger Wiederaufbau Roms nach der Katastrophe zielte auch darauf, Großbrände in Zukunft zu verhindern. Es hat sie danach tatsächlich nicht mehr gegeben.

Auch das Klischee von Nero als einem erbarmungslosen Christenverfolger hält einer näheren Prüfung nicht stand. Zwar wurden tatsächlich Christen der Brandstiftung beschuldigt und hingerichtet. Doch dieses Los traf, wie Horst Herrmann vorrechnet, nur etwa 200 der 2000 in Rom lebenden Anhänger der Botschaft Jesu. Die Beschuldigungen gegen sie bezogen sich zudem auf ihr angebliches Verbrechen und zielten nicht primär auf ihre Religion. Die Folter- und Hinrichtungsarten waren brutal, für die damaligen Verhältnisse jedoch nicht unüblich. Abwegig ist die Vorstellung, Nero könnte den Brand selbst gelegt haben, um einen Vorwand in die Hand zu bekommen, sich die Christen vom Hals zu schaffen. Bis zum Brand hatten die Römer Mühe, die wunderliche, marginale Gruppe der Christen überhaupt als eine gegenüber den Juden gesonderte Glaubensgemeinschaft wahrzunehmen.

Daß Nero durch den Brand auf die Christen aufmerksam wurde, war nicht reiner Willkür geschuldet. Denn einige von ihnen bezichtigten sich selbst der Brandstiftung und verbanden dies mit wilden Reden über das Fegefeuer und ein göttliches Strafgericht, das über Rom gekommen sei. Das könnten freilich bloß Delirien einzelner Eiferer gewesen sein. Ein Beweis für eine organisierte Täterschaft der Christen ist es nicht

Wenn aber das Feuer nicht durch bloße Unachtsamkeit ausgebrochen sein sollte (von einer zufälligen Ursache geht auch Horst Herrmann aus), Nero als Brandstifter aber nicht in Frage kommt, wer sonst könnten die Täter gewesen sein? Aristokratische Gegner, die das Volk gegen den Kaiser aufbringen wollten, können es kaum gewesen sein. Fast niemand glaubte nach dem Brand an die Täterschaft Neros. Und warum sollten Männer, denen die Macht und Herrlichkeit Roms über alles ging, ihre Stadt vernichten, um einem Herrscher zu schaden, den sie mit einigem Geschick auch durch einen Putsch um die Ecke bringen konnten? Nur vier Jahre nach dem Brand klappte das ja auch. Der Patrizier Galba brachte Nero im Jahre 68 zu Fall.

Der Konstanzer Altphilologe Gerhard Baudy hält zur Lösung des Rätsels eine provokante These bereit. Er ist sicher, daß als Urheber einer Brandstiftung tatsächlich nur die frühchristliche Gemeinde Roms in Betracht kommt. Die Christen dieser Zeit hatten nämlich wenig Ähnlichkeit mit jenen friedfertigen, duldsamen Menschenfreunden, die sie uns in Hollywood-Historienschinken präsentiert werden. Eher schon glichen sie einer antiken al-Qaida.

Die christlichen Gemeinden jener Tage befanden sich im Zustand höchster apokalyptischer Erregung. Die Anhänger Jesu erwarteten den Tag des Jüngsten Gerichts damals noch ganz unmittelbar. Die Wiederkehr des Erlösers erschien ihnen längst überfällig. Mit jedem Tag, an dem sie ausblieb, wuchs ihre Ungeduld - und womöglich die Bereitschaft, dem himmlischen Zeitplan nachzuhelfen.

Mit welch aggressiven Gewaltphantasien die Vorstellung dieses durch die Wiederkehr Jesu bewirkten Weltendes im frühen Christentum verbunden war, kann man an der Johannes-Apokalypse im Neuen Testament ablesen, die freilich erst etwa ein halbes Jahrhundert nach dem Brand Roms entstanden ist. Dort wird die Vernichtung der "großen Hure Babylon" - einer Metapher für Rom - im Feuer beschrieben. Das Auftauchen eines Untiers "aus dem Abgrund" wird in der Prophezeiung als Zeichen für das unmittelbare Bevorstehen des Jüngsten Gerichts gedeutet. Als dieses Tier, den "Antichristen", haben christliche Schriftsteller wie Sulpicius Severus (der um 420 starb) Jahrhunderte später dann Nero identifiziert.

Das entscheidende Indiz für die Täterschaft der Christen ist für den Konstanzer Wissenschaftler jedoch das Datum des Brandes.

Schon einmal war Rom an einem 19. Juli durch ein Feuer vollständig zerstört worden - im Jahre 390 v. Chr., als gallische Invasoren die Stadt anzündeten. Daß Rom zweimal an demselben Datum abgebrannt ist, könne schwerlich Zufall sein, meint Baudy. "Der Zufall kommt zumindest nur als der unwahrscheinlichste Fall in Frage."

Der Schlüssel zum Tatmotiv sei vielmehr die Signalwirkung, die von diesem exakten Zeitpunkt des Brandes ausging. Der 19. Juli besaß in der antiken Welt seit alters her eine besondere Symbolkraft. Es war nämlich der Tag, an dem in Ägypten der helle Fixstern, der Sirius, am östlichen Morgenhimmel aufging. "Sein Erscheinen", so Baudy, "markierte im ägyptischen Sonnenkalender, nach dessen Vorgabe Cäsar im Jahre 46 v. Chr. den nach ihm benannten julianischen Kalender in modifizierter Form geschaffen und in Rom eingeführt hatte, den idealen Neujahrstag. Auf eben diesen Tag wurden welterneuernde periodische Katastrophen, Sintflut und Weltenbrand, datiert; er galt als Geburtstag des Kosmos."

Die römische Staatsideologie hatte sich diesen Mythos längst selbst zunutze gemacht. Das Datum stand für die Wiedergeburt Roms aus der Zerstörung, und die römischen Herrscher seit Julius Cäsar nutzten die Symbolik des Sterns, um den Beginn ihrer Regentschaft zum Anbruch eines neuen, herrlichen Zeitalters zu überhöhen. Für die Christen lag es nahe, auf diese tief im Bewußtsein der Römer verankerte Geschichtsdeutung zurückzugreifen, um ihrer eigenen Botschaft Nachdruck zu verleihen.

"Die Evangelien, die nach 70 n. Chr. entstanden sind", erläutert Baudy, "haben Anleihen bei dieser römischen Herrschaftsideologie genommen. Das Matthäus-Evangelium versucht sogar glaubhaft zu machen, daß der Geburtsstern Jesu eine direkte Kopie des Geburtssterns des Kaisers Augustus sei. Dieser galt in der römischen Welt als Zeichen einer neuen Weltära: Die Republik endet, das Kaiserreich beginnt. So wird aus einer biographischen eine welthistorische Zäsur. Die Christen haben das fortgesponnen, indem sie die Bedeutung des Sirius-Sterns noch überboten: Er stand jetzt für den Anbruch des Reichs Gottes."

Das Feuer als Medium der Weltveränderung spielt in der christlichen Tradition von jeher eine entscheidende Rolle. "Schon vor dem Brand Roms", sagt Baudy, "erwartete Paulus ein Weltgericht, das sich durch ein großes Feuer realisieren werde. Aus späteren christlichen Zeugnissen geht hervor, daß Teile der frühchristlichen Bewegung Jesus direkt mit dem aufgehenden Hundsstern identifizierten: Wie dieser mit seinem himmlischen Feuer die Pflanzen richte, so werde Jesus am Ende der Zeiten die Menschen richten. Eine solche Analogie kann schwerlich erst nach dem Brand Roms entstanden sein - damit hätten sich die Christen ja verdächtig gemacht, das Feuer gelegt zu haben. Es ist deshalb wahrscheinlich, daß in früherer Zeit ein apokalyptischer Text existierte, in dem Christus mit dem Hundsstern indirekte Verbindung gebracht wurde."

Auch realpolitisch sei die Zerstörung Roms aus Sicht der Christen durchaus sinnvoll gewesen. Bald nach dem großen Brand, im Jahre 66 nämlich, begann der Aufstand in Judäa. Er wurde im Jahre 70 blutig niedergeschlagen (da war Nero freilich schon seit zwei Jahren tot). Der Brand Roms könnte als Fanal für diese Erhebung gedacht gewesen sein, vermutet Baudy. Er nimmt den heutigen Theologen nicht ab, daß sich der in den Evangelien festgehaltene Ruf nach der Errichtung des Reichs Gottes nur auf das Jenseits bezogen habe. Diese Trennung der Sphären habe sich im Christentum erst viel später vollzogen - nachdem es (313) zur römischen Staatsreligion geworden war und das ideale Reich gedanklich von der Wirklichkeit eines jetzt real existierenden christlichen Staatswesens abgelöst werden mußte. Im ersten Jahrhundert aber hätten die Christen in Wahrheit nichts weniger erstrebt als einen irdischen Gottesstaat.

Denkt man diese Theorie zu Ende, hat die systematische Verteufelung Neros für das Christentum eine bedeutsame Funktion erfüllt. Indem Nero zur Bestie in Menschengestalt stilisiert wurde, die nicht einmal vor der Auslöschung der eigenen Stadt Halt machte, konnten die Christen die Spuren ihrer gewalttätigen Anfänge verwischen. Nero war der Sündenbock, der dazu herhalten mußte, die Legende von den frühen Christen als friedfertigen Märtyrern im kollektiven Bewußtsein der Menschheit zu verankern.

Eine verwegene Annahme? Fest steht: Die christliche Umdeutung des Brandes Roms zum apokalyptischen Zeichen und die Dämonisierung Neros zum Teufel in Menschengestalt hatte enorme kulturgeschichtliche Konsequenzen. Sie begründete das Klischee vom "dekadenten" Rom, das untergehen mußte, weil es sich in unerhörter Hybris über Gottes Gebote hinweggesetzt habe. Die Denunziation Roms als "Hure Babylon" ist zum Urmuster für das zivilisationskritische Ressentiment gegen die große Stadt als der Urheberin allen Lasters geworden. Es drang in der Neuzeit auch in das säkulare Denken ein und zeitigte in der Verbindung mit totalitären Ideologien schreckliche Konsequenzen.

Nero soll kurz vor seinem Tod geseufzt haben: "Welch ein Künstler stirbt mit mir." Er hätte sich wohl niemals träumen lassen, daß er statt dessen als die Verkörperung eines ewigen bösen Prinzips Unsterblichkeit erlangen würde.

Horst Herrmann: Nero. Eine Biographie. Aufbau Taschenbuch Verlag, 2005

Jürgen Malitz: Nero. Verlag C.H. Beck, 1999

Massimo Fini: Nero. Zweitausend Jahre Verleumdung. Herbig, 1994


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