NARREN IM GEISTERLAND

Nobelpreisträger V. S. Naipaul rechnet ab mit Helden und Träumen
"Abschied von Eldorado" ist eine bittere Kolonialgeschichte

von Susanne Mayer (DIE ZEIT Literatur 09/2002)

Am Anfang war ein Leerzeichen. Chaguanas - geboren in Chaguanas heißt es im Lebenslauf von V. S. Naipaul, geboren an einem Ort, dessen Name der eines Indianervolkes ist, das nicht mehr existiert. Verschwunden von der Insel Trinidad vor Hunderten von Jahren und ohne irgendeine Spur zu hinterlassen außer jener einen drohenden Bemerkung in einem Brief des spanischen Königs, der die Vermutung äußert, das Volk der Chaguanas habe sich auf die Seite der englischen Feinde geschlagen. "Ihr habt beschlossen, sie zu strafen", erinnert er den Gouverneur von Trinidad.

Was dann geschah, weiß niemand. Schlimmer noch: Es war offensichtlich für niemanden von Interesse, jahrhundertelang, ein Thema so belanglos wie die Menschen, die nach den Chaguanas - Schwarze, Chinesen, Inder - auf die Insel Trinidad kamen, bemerkt Naipaul. "Es schien nicht weiter verwunderlich, dass mehr als vierhundert Jahre nach Kolumbus in einem Teil der Welt, den er ,Westindien' genannt hatte, Inder lebten und dass die Menschen, die er Indianer getauft hatte, daraus verschwunden waren", so schreibt der Autor es auf, als er sich vor über 30 Jahren daranmachte, diese und andere Geschichten über die Vergangenheit seiner Heimat aufzuspüren. Ein Buch voller Bitternis: Abschied aus Eldorado. Naipaul, dessen Lebenswerk im letzten Jahr durch den Nobelpreis geehrt wurde, hat es Anfang der sechziger Jahre veröffentlicht, zehn Jahre später überarbeitet, und noch einmal überarbeitet für eine Ausgabe im Jahr 2001, die nun auf Deutsch vorliegt. Er hat sich nicht leicht getan mit diesem Buch.

An einer Stelle heißt es: "Opfer zu sein bedeutet immer, auch lächerlich zu sein."

Wie schreibt man über die Geschichte einer Insel, die am Rande der großen Scheibe Welt liegt? Ein Land, das mehrfach entdeckt, aber im Bewusstsein der Welt immer noch weiße Zone ist? Hinfahren? Es ist oft bemerkt worden, dass Naipaul sich gern seiner Heimat fern gehalten hat und den Tropen ein Arkadien namens Wiltshire vorzog. Nun, Naipaul reiste - nach London. Er forschte im Herzen des Empire: in den Archiven des Britischen Museums, er recherchierte im Staatsarchiv und in der London Library. Und fügte, was er gefunden hat - Dokumente, Erzählungen, Briefe, Gerichtsakten - aneinander, es ist eine Art von Strandgut aus Jahrhunderten, das dieses Buch Seite um Seite vor uns absetzt, da stehen wir, überwältigt, vor den Brocken.

Kein Heldenepos. Nur kalte Wut

Die Zeit der spanischen Konquistadoren, die Invasion der britischen Edelleute, der Kampf der Weltmächte, der Ausbau zur Sklaveninsel. Naipauls Geschichtsschreibung beginnt um 1600 und umfasst zwei Jahrhunderte, und es wäre zu viel versprochen, würden wir sagen, dass wir aus der Lektüre mit einem klaren Bild der Geschehnisse herauskommen.

Es ist kein Heldenepos geworden, keine Geschichte über arme ausgemerzte Völker, es findet sich kein Mitleid, auch nicht mit den Chaguanas, höchstens kalte Wut über die Behandlung der Sklaven. Die detaillierteste Episode, die in diesem Werk erzählt wird, ist der genaue Ablauf einer Folterung, die einer jungen schwarzen Frau. Zu beobachten ist vielleicht der Versuch eines Schriftstellers, mit seinen Gefühlen auch Hass im Zaum zu halten, der ja auf jemanden zurückfallen könnte, dessen Geschichte diese Kolonialgeschichte auch ist, nämlich die eigene.

El Dorado, das Land des Glücks und des Reichtums. Damit war, vor langer Zeit, als die königlich legitimierten Hasardeure auf den westindischen Inseln und auf dem venezolanischen Festland einfielen, nicht die einzigartige Landschaft der Mangrovenwälder gemeint oder das Idyll des Golfes von Paria, auf dem die Boote der Eingeborenen hin und her fuhren, Handel treibend oder fischend. Die Männer, die dort Ende des 15. Jahrhunderts auf ihren großen Seglern eintrafen, bestaunten nicht jene naturwissenschaftlichen Wunder, die Alexander von Humboldt 200 Jahre später protokollieren sollte, noch ging es um die wundersame Kultur der Indianer von Orinoko, die wir heute erst anfangen, in ihren Resten zu Kenntnis zu nehmen, die bunten Federkronen, die ausgefeilten Rituale, die Tänze oder die Kunst, von den Toten Abschied zu nehmen. "Eldorado narrte die Spanier in der Verfolgung einer indianischen Phantasie von Gold", schreibt Naipaul - und narrte die Engländer in der Jagd nach einem spanischen Fantasma, und sie alle zusammen konnten nie finden, was sie suchten, aus einem Grund: Weil sie es eben schon zerstört hatten mit ihrer Ankunft, bemerkt er böse.

Sie vernichteten, was sie sich wünschten. Sie erschufen zugleich, was jeder fliehen würde: "... ein Reich der Plantagen und der Neger, der Peitsche und des Brandeisens, des Messers (zum Abschneiden von Negerohren), des Pfahls und der Folterzellen im Gefängnis von Port of Spain".

Naipaul nennt Eldorado "ein Erzählgespinst". Alles, was sich darin entwickelt, ist von absurder Irrealität. Sollte Naipaul in diesem ausufernden Buch irgendetwas zielgerichtet tun, dann führt er auf seinen Seiten ein aberwitziges Possenspiel vor, das über die Jahrhunderte und mit Akteuren verschiedener Weltreiche immer gleich ablaufen wird. Ein Drama, das reich ist an grandiosen Gesten, aber arm an Tragik. Das zu behaupten beinhaltet in der Tat so etwas wie Rache.

Menschen mit zerlumpten Uniformen klettern von ihren Schiffen und nehmen ungastliche Strände in wirren Zermonien in Besitz. Sie schmücken sich wie die Kinder mit Titeln im Stile von "Don Fernando de Oruñay de la Hoz, von Königs Gnaden, Gouverneur und Generalkapitän der Provinzen Eldorado, Guyana und des Sagenhaften Manoa sowie der Insel Trinidad". Sie kämpfen sich durch Landstriche, die von Kanibalen entvölkert sind, "gleichsam leer gefressen", wie Naipaul grimmig bemerkt. Man sieht die Soldaten, wie sie inmitten der Wildnis in Formation marschieren: "... mit dem Wappen der Königin, welches in einem weißen Seidenschal mit einem Besatz von dunkler, silberner Spitze gehüllt war ..." Narren im Geisterland! Rührend, wie sie sich um die Toten bemühen: "Ihre in Leichentücher gehüllten Leichname wurden auf Bretter gelegt, die die Männer auf die Schultern nahmen und in einer feierlichen Prozession mit gesenkten Fahnen zweimal um den Platz trugen."

Und es sterben viele. Die Eroberer krepieren an giftigen Schlangen und Würmern oder an den Pfeilen der Indianer. Von 2000 Soldaten des ersten Konquistadoren Queseda überlebten gerade 25 in den feuchten Wäldern. Die Akten berichten von Männern, die im hohen Gras der Savannen verbrennen, Suchtrupps werden von Indianern verspeist. Oder sie werden angeschossen und schleppen sich zurück, schwarze stinkende Kadaver. Vor allem sterben natürlich die Indianer. Von den 400 000 Indianern, die der spanische Eroberer Domingo de Vera um 1600 auf Trinidad vorfand, sind im nächsten Jahrhundert noch 4000 übrig. Es gibt Pockenepidemien, denen selbst die Affen zum Opfer fallen.

Später werden die Weißen das Sterben in den Griff kriegen. Als Trinidad zur Sklaveninsel geworden ist, wird es Auspeitschungen geben, die den Opfern das Fleisch in Stücken vom Körper fetzt, Hinrichtungen, bei denen Leiber zerhackt oder in Schwefel getränkte Hemden gesteckt und dann angezündet werden, es wird gehängt, gevierteilt, Leichen werden enthauptet, die Reste verbrannt, als Asche wird verteilt, was von den Menschen übrig bleibt: "Icare, Thisbe, Piram: die Franzosen gaben ihren Negern gerne klassische Namen. Ein kolonialer Aspekt ihrer Vorliebe für das Pastorale", schreibt Naipaul.

Die Vergangenheit der Kolonien hatte nichts vom Charme eines Out of Africa, auch fehlte ihr die angenehme Mattigkeit, die Naipaul in seinem Roman Ein halbes Leben den Pflanzern im ehemals besetzten Afrika gönnt (Ein halbes Leben; aus dem Englischen von Sabine Roth und Dirk van Gunsteren; Claassen 2001; 223 S., ¤ 19,-. Rezension von J. M. Coetzee in der ZEIT Nr. 43/01). Die Eroberer Arkadiens lebten wie Schiffbrüchige. In feuchten Hütten, vom Fieber geschüttelt, von Durchfall gedemütigt.

Sie haben entweder zu wenige Soldaten, um sich gegen die Einwohner des Landes ihrer Träume verteidigen zu können, oder zu viele, um sie zu ernähren. Sie flehen in Briefen an ihre verehrten und fernen Majestäten um Hilfe, Briefe, die Jahre brauchen, um anzukommen, falls sie denn ankommen, und die nicht beantwortet werden, sodass die Eroberer, die sich bald wie Verbannte fühlen, neue Briefe schreiben.

Sie beklagen sich "beim König wie kleine Kinder", schreibt Naipaul kalt. "Ich laufe barfuß und fast nackt umher", jammern die Beamten, und dass sie keinen Lohn erhalten hätten, seit Jahren. Ihnen gehe das Papier aus für die Buchführung der Verwaltungstätigkeiten. Ihnen fehle das Holz, eine Truhe zu bauen, in der so ein Buch verwahrt werden könnte. Sie erflehen ihre Entlassung, aber selbst wenn diese angenommen wird, erfahren sie es nicht. Es vergehen Jahrzehnte, ohne dass auch nur ein Schiff anlegt.

Natürlich hätte Naipaul auch ganz andere Geschichten erzählen können. Die des englischen Nationalhelden Sir Walter Raleigh, dessen Träume vom Paradies im Blut ertrinken; Naipaul legt Wert darauf festzuhalten, dass Raleighs berühmtes Buch The Discovery of the Large, Rich and Beautiful Empire of Guyana der Bericht einer Niederlage ist. Natürlich hat Sir Robert Dudley, elisabethanischer Edelmann, seinen Auftritt, selbstverständlich auch der Graf de Miranda. Der Inbegriff des stolzen Südamerikaners, auch wenn er von den Kanaren stammte. Ein Verehrer Napoleons, auch wenn er 26 Jahre in England lebte. Ein Dandy mit grauer Puderperücke und grün schillernder Brille. Er wollte Venezuela die Revolution bringen und wies seine Haushälterin an, unterdessen in London die Kaminfeuer zu päppeln, zum Schutz der Bücher vor Feuchtigkeit. Er wird 1816 in Cadiz im Gefängnis sterben. Er spielt in Naipauls Buch eine Nebenrolle.

Immer Angst vor Sklaven

Naipaul lässt durchblicken, dass er die ganze Bagage der legendären schillernden Gestalten für erbärmliche Amateure hält. Er weigert sich geradezu, ihnen die Bühne zu überlassen. Auf der stehen bei ihm die Sklaven.

Stückware. Investitionen. Die Sklaven sind Reichtum, der mit französischen Pflanzern Ende des 18. Jahrhunderts zu Tausenden auf die Insel kommt. Sie bedeuten Reichtum - und Bedrohung. Die brutalsten Strafen können sie klein halten, aber auch zum Aufstand hetzen. Über Jahrhunderte versuchen Spanier, Engländer, Franzosen, die mit dem Anspruch des gesetzmäßig überlegenen Herrenmenschen auftreten, ihre Versklavung der Schwarzen zu legitimieren. Aber wie? Die Franzosen führten Anfang des 19. Jahrhunderts eine Skala mit 128 Farbabstufungen ein, an deren Ende der Sang-Melé stand, der 127 Anteile von weißem Blut hatte, aber doch als dunkel galt, eine Klassifizierung für diejenigen, schreibt Naipaul, die "unsicher waren, die vom Blut ihrerer eigenen Neger durchdrungen und immer ängstlicher bedacht waren, jegliche Konkurrenz zu unterdrücken".

Die Idealisierung des eigenen Menschenbildes, die Ordnungsvorstellung der so gennanten Zivilisation zügeln Macht nicht, sondern legitimieren deren Ausübung. Alle Reformversuche müssen scheitern, weil sie dem Geist einer Sklavengesellschaft widersprechen: "Dies war es, was jegliches erklärtes mutterländische Prinzip, ob französisch, spanisch oder englisch, hemmte und entstellte, jedes Prinzip der Revolution, des intellektuellen Fortschritts, des Rechts, der sozialen Dynamik, der Gerechtigkeit und der Freiheit: das Problem der Rasse, die Schande der Sklaverei. Beide trugen dazu bei, die Kolonialgesellschaft primitiv zu halten."

Hier ist der Kern jener Distanz zur eigenen Abstammung, die Naipaul gern vorgehalten wird: "Die primitive Gesellschaft brachte primitive Menschen hervor", schreibt er.

Man könnte bemerken, dass dieses Buch nur ein halbes Geschichtsbuch ist, ähnlich wie Willie Chandrans nur ein Ein halbes Leben lebt - unfähig zur Gestaltung, ohne Wille zur Konzentration, geradezu ägerlich im Unwillen, das Material zu formen. Es ist, als hätten den Autor die Kräfte verlassen, das Gebirge von Informationen, das er auftürmt, auch zugänglich zu machen. Kaum eine Szene ist ausgebildet, keine Epoche präzise umrissen, selten eine Entwicklung konsequent nachgezeichnet. Dies Buch ist eine Zumutung. Und möchte, kein Vertun, den Herrenmenschen ein halbes Jahrtausend später den Spiegel ihres Versagens vorhalten. Auch das ist natürlich ein Unterfangen von grandioser Vergeblichkeit.

V.S. Naipaul: Abschied von Eldorado Eine Kolonialgeschichte; aus dem Englischen von Betinna Münch und Kathrin Razum; Classen Verlag, München 2001; 446 S. 23,- Euro


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