Klischees einer Vergangenheit,
die einfach nicht vergehen will

Selektive Wahrnehmung durch die antisemitische Brille: Hohmann,
Solschenizyn und die Rolle der Juden in der russischen Geschichte

von Arno Lustiger (WELT.de, 10. November 2003)

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann sagte in seiner Rede zum Tag der deutschen Einheit: "Wir haben nun gesehen, wie stark und nachhaltig Juden die revolutionäre Bewegung in Rußland und mitteleuropäischen Staaten geprägt haben. Mit einer gewissen Berechtigung könnte man im Hinblick auf die Millionen Toten dieser ersten Revolutionsphase nach der "Täterschaft' der Juden fragen...Daher könnte man Juden mit einiger Berechtigung als "Tätervolk' bezeichnen". Hohmann bezieht seine Kenntnisse aus einem hetzerischen Machwerk, zu welchen Ernst Nolte ein Vorwort beisteuerte. Der Historiker behauptet dort, dass der Mythos vom "jüdischen Bolschewismus" keiner sei, sondern einen rationalen Kern in der Wirklichkeit besitze. Hohmann hat mit seinen Betrachtungen zur Geschichte der russischen Juden Argumentationsmuster benutzt, wie sie schon vor über 80 Jahren unter den völkischen Antisemiten, den Vorläufern der Nationalsozialisten, kolportiert wurden. Sie sind als Manipulationen der historischen Wahrheit längst erkannt und angeprangert worden. Hohmann und Nolte beweisen, dass es eine Vergangenheit, insbesondere die der russischen Juden gibt, die nicht vergehen soll, um Nolte zu paraphrasieren.

Auch Alexander Solschenizyn leistet hierzu in seinem Buch "Zweihundert Jahre zusammen", dessen zweiter Band jetzt erschienen ist, einen Beitrag. Im Buch wird die Geschichte der sowjetischen Juden von 1917 bis zu den 1990er Jahren behandelt. Es hat eine bizarre Vorgeschichte. Im Jahre 2000 tauchte in Russland eine von Anatoli Sidortschenko herausgegene Broschüre mit drei Texten auf, darunter dem Aufsatz von Alexander Solschenizyn "Juden in der UdSSR und im zukünftigen Russland", der laut Impressum 1965 verfasst und 1968 umredigiert wurde. Solschenizyn hat dessen Autorenschaft mit dem Hinweis abgeleugnet, dass es sich um das Produkt eines geisteskranken Fälschers handele. Nach Erscheinen des zweiten Bandes haben Historiker, wie Kostyrtschenko und Deitsch festgestellt, dass viele Textstellen der Broschüre mit Texten im Buch übereinstimmen. Erst ein halbes Jahr später bequemte sich Solschenizyn, seinen zahlreichen Kritikern zu antworten. In einem langem Brief vom 8.Oktober 2003 an die "Literaturnaja Gaseta", bezeichnet er erstmalig den fraglichen Text als eigenen "Entwurf", der ihm vor Jahren gestohlen worden sei.

Wie schon der erste Band, wurde auch der zweite von vielen Rezensenten stark kritisiert. Der Autor benutzt fast ausschließlich Sekundärquellen, darunter mehrere jüdische Nachschlagewerke, wie die obsolete jüdisch-russische Enzyklopädie von 1906. Wie im ersten Band fehlen auch hier Materialien aus den nun zugänglichen russischen Archiven. Die vielfältigen Forschungen westlicher Historiker über Russland und die Juden, wie die von Pipes, Haberer, Löwe, Lustiger und Redlich, scheint er nicht zu kennen. Die Fleißarbeit enthält über 1500 Zitate. Unter den über Tausend erwähnten Personen fehlen Namen von unzähligen Juden, die nicht in sein Konzept als Täter passen.

Solschenizyns Leitfigur, die oft zitiert wird, ist Wassili Schulgin, einer der bekanntesten Antisemiten Russlands. Er war bis 1917 Herausgeber der Pogromisten-Zeitung "Kiewlanin" und verfasste im Exil das Buch "Was uns an ihnen (den Juden,A. L.) nicht gefällt. Über den Antisemitismus in Russland", das 1929 in Paris erschien. Solschenizyn zitiert zum Beispiel Schulgins Rechtfertigung der Judenpogrome durch die Weißen so: "Aber erstens gaben die "Jidden' wirklich Anlass zum Ärger, und zweitens hatten die "Helden' nichts zu essen". Als "liberale Hetze" brandmarkt Solschenizyn die Kritik an den Autoren der "Dorfprosa" Astafjew, Below und Rasputin, die in Offenen Briefen die Juden als Schuldige an allem Unglück Russlands bezeichnen.

Solschenizyn gibt zu, dass es hauptsächlich Russen waren, die die Revolution entfesselten. Aber schuld an der Konsoliderung der Sowjetmacht seien die jüdischen Bolschewiki. Diese stellten aber in Wirklichkeit eine Minderheit innerhalb der Minderheit dar; weniger als Tausend Juden gehörten der bolschewistischen Partei vor dem Revolutionsjahr 1917 an. Es waren atheistische Renegaten jüdischer Abstammung, die sich für Russen hielten und sich nie als Juden betrachteten.

Dagegen kämpften Tausende von Juden als Mitglieder der russischen und jüdischen Parteien, als Menschewiki, Sozialrevolutionäre, Kadetten, als ozialdemokratische Bundisten und Zionisten gegen die totalitären Bolschewiki, für ein demokratisches Rußland.

Außerdem zählten die Juden schon in in den 1920er Jahren zu den ersten Dissidenten. Tausende der jüdischen "Opposizionery" wurden, in die Straflager von Workuta, Kolyma und Magadan verbracht, wo sie Hungerstreiks, die eigentlich Häftlingsmeutereien waren, organisierten. Fast alle wurden erschossen. Die russische Menschenrechts-Organisation "Memorial" schätzt den Anteil der Juden an den Gefangenen dort auf 30%, die der Russen auf nur 40%.

Solschenizyn beansprucht die Rolle eines objektiven Schiedsrichters in einem ewig andauernden Streit über die Frage, wer an Rußlands Unglück die Hauptschuld trage; die allgemeine Tendenz seines Buches deutet auf die Juden als Schuldige hin. Damit wird eine Kollektivschuld-These nicht nur begründet, sondern auch für ewige Zeiten zementiert. Solschenizyn verurteilt zwar den Antisemitismus unter Chruschtschow und Breschnew, aber er beklagt sich darüber, dass die Juden keine Reue für die Verbrechen der jüdischstämmigen Bolschewiki zeigten. Dient es der von ihm postulierten Aussöhnung, wenn Solschenizyn die Meinung eines frommen Juden wiedergibt: "Die Shoa ist in bedeutendem Maße eine Strafe für die Sünden, unter anderem für die Sünde der Leitung der kommunistischen Bewegung. Das hat etwas für sich"?

Solschenyzin teilt auch die Meinung einer Publizistin, die er veröffentlicht: "Heute ist das moralische Kapital von Auschwitz bereits verausgabt"? Wodurch ist das Kapital des Auschwitzhäftlings Nr. A-5592 Arno Lustiger erschöpft, Gospodin Solschenizyn? Knapp 20 Jahre lang gab es zwar auch jüdischstämmige Schergen des Sowjetregimes, aber 70 lange Jahre waren Millionen von Juden Opfer der jeweiligen Kremlherrscher. Auswanderung beendet.

Alexander Solschenizyn: Zweihundert Jahre zusammen. Die Juden in der Sowjetunion. Aus dem Russischen von Andrea Wöhr und Peter Nordqist. Herbig Verlag, München 2003. 608 S., 39,90 Euro


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