Antisemitismuskeule contra Solschenizyn

von Wolfgang Strauss (Staatsbriefe, 15.7.2002)

mit Links und Anmerkungen von Nikolas Dikigoros

Zahlreiche Verdächtigungen und Anschuldigungen hat Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn über sich ergehen lassen müssen, doch war keine Denunziation so infam wie die von Arno Lustiger im Feuilleton der FAZ vom 8. Juni 2002. Überschrift: "Der erste Kreis des Antisemitismus". In diesem Artikel wird der ehemalige GULag-Häftling zum Pogromanstifter gestempelt, der den Juden "die Schuld an allem Unglück Rußlands" zuschieben würde. Mit dem "Unglück" ist der rote Holocaust gemeint, dem in Osteuropa und Zentralasien mindestens 66 Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind.

Im Kreuzfeuer der Denunziation: Solschenizyns Werk "Zweihundert Jahre gemeinsam", erschienen in russischer Sprache im konservativen Moskauer Verlag Russkij Putj, Sommer 2001, 500 Seiten stark, ausführlich rezensiert in STAATSBRIEFE 12/2001. Die deutsche Übersetzung bringt Herbig im Oktober heuer heraus, 560 Seiten unter dem Titel "Zweihundert Jahre gemeinsam. Die russisch-jüdische Geschichte 1795-1916". Es handelt sich also um den ersten Band.

Der Solschenizynbeschimpfer in der FAZ ist weder Russe noch russischer Jude. Arno Lustiger stammt aus einer Rabbinerfamilie in Polen, geboren 1924, Vetter des Aron Lustiger, als Jean-Marie Lustiger Kardinal von Paris. In Paris lebt heute Arno Lustiger, er gehört zu den Mitbegründern der jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main und ist außerdem Leitungsfunktionär der Zionistischen Organisation in Deutschland (ZOD). Er schreibt regelmäßig für die FAZ. Von Arno Lustiger stammen einige Publikationen, die den Juden im Spanischen Bürgerkrieg, der jiddischen Literatur in Ostmitteleuropa und dem von Stalin liquidierten Jüdischen Antifaschistischen Komitee (YAK) gewidmet sind. Als Verehrer und Freund Ilja Ehrenburgs brachte er dessen "Schwarzbuch" über die Entstehung der Sechsmillionenzahl 1994 neu heraus.

Daß Feuilletonchef Dr. Frank Schirrmacher dem Denunzianten eine ganze Seite einräumte, hängt mit dem von Schirrmacher los getretenen Antisemitismusstreit zusammen. Nach Martin Walser bekommt nun der Gulagchronist Solschenizyn die Antisemitismuskeule eines Schirrmacher zu spüren. Dem FAZ-Mitherausgeber gelang am 8. Juni ein zynisch kalkulierter Tabubruch: Die Verwandlung des unerschrockenen Diktaturbekämpfers Solschenizyn in einen dumpfen Judenbekämpfer.

Eine Textanalyse des Lustiger-Artikels bringt ns Licht, daß dieser bereits vor einem Jahr geschrieben wurde und seither in der Ablage verstaubte. Zum Schluß schreibt Lustiger nämlich, das Erscheinen des zweiten Bandes sei "für das Ende des Jahres" vorgesehen, also noch 2001. So war es auch seitens des Moskauer Verlages geplant. Tatsächlich erscheint der abschließende Band (mit der brisanten Schilderung der dominierenden Rolle jüdischer Bolschewiken von 1917 bis 1938) erst Ende 2002 oder Anfang 2003. Mit anderen Worten: Schirrmacher ließ den Lustiger mit einjähriger Verspätung aus dem Papierkorb hervorholen. Weil es plötzlich opportun schien - aus rein innerdeutschen Gründen.

Arno Lustiger, der den noch nicht erschienenen Band gar nicht kennen kann, schlüpft in die Rolle eines Nostradamus, wenn er schreibt, in diesem Band werden die "Bolschewiki jüdischer Abstammung" im Vordergrund stehen, man müsse daher auf "noch schlimmere Anschuldigungen gegen die Juden vorbereitet" sein. Um diese "Anschuldigungen" im voraus zu entlarven, konstruiert Lustiger eine Legende, mit der er die Grenze zum Lächerlichen überschreitet. Wahrheitswidrig behauptet Lustiger, weder der Zahl noch der politischen Funktion nach wären die "Bolschewiki jüdischer Abstammung" in der Oktoberrevolution, im Bürgerkrieg, in der frühen SU dominierend gewesen.

Die dominierende Rolle der Juden bei der bolschewistischen Machtergreifung betont der bekannteste jüdische Kommunismus-Experte in den USA, Harvard-Professor Richard Pipes. Sonja Margolina, die sich stolz als die Tochter eines "jüdischen Bolschewisten" bezeichnet, schreibt vom jüdischen Engagement bei der Entfaltung des bolschewistischen Terrorismus: "So wurde der nicht selten gebrochen russisch sprechende jüdische Kommissar mit Lederjacke und Mauserpistole typisch für das Erscheinungsbild der revolutionären Macht..." Zitat aus Margolinas Enthüllungsbuch "Das Ende der Lügen. Rußland und die Juden im 20. Jahrhundert", Berlin 1992, S. 45.

In "The Last Days of the Romanovs" des britischen Zeitzeugen Robert Wilton sind die Namen der Mitglieder der ersten sowjetischen Regierung ("Sownarkom") aufgelistet. Unter den 22 "Volkskommissaren" nur drei Russen, ein Georgier, ein Armenier; 17 Minister waren der Nationalität nach Juden. Wiltons Buch, seinerzeit ein Politknüller, erschien 1920 in London und New York, 1921 in Paris, 1923 in Berlin.

Wilton nennt auch die Namen der Organisatoren des Massakers an der Zarenfamilie am 17. Juli 1918 in Jekaterinburg - Funktionäre des Ural-Sowjets und der Ural-Tscheka, Kommissare des Erschießungskommandos. Wiltons Buch enthält die Porträts dieser Killer beziehungsweise Schreibtischmörder. In Jekaterinburg Jankel Weisbart, Pinchus Weiner, Isaak Fram, Jankel Jurowski, in Moskau Jankel Swerdlow (Auerbach), Trotzki (Leib Bronstein), Sinowjew (Hersch Apfelbaum).

Der englische Solschenizyn-Biograph Donald M. Thomas zerpflückt Lustigers Legende mit der Feststellung, kommunistische Juden seien an den politischen Weichenstellungen und Greueltaten nach 1917 überproportional beteiligt gewesen, wörtlich: "Männer wie Trotzki, Sinowjew, Kamenjew, Swerdlow und Radek gehörten dem ersten Politbüro an, das zu drei Vierteln aus Juden bestand. 70% des Tscheka-Personals wurde von Juden oder Letten gestellt." So der Engländer in "Solschenizyn", Berlin 1998, S. 584.

Die Kardinalbeschuldigung Arno Lustigers besteht in der Behauptung, Solschenizyn mache ausschließlich "die" Juden verantwortlich für die Tragödie im 20. Jahrhundert. Das hat Solschenizyn jedoch niemals gesagt. Was die Entstehung und Verbreitung der kommunistischen Genozidstrategie anbelangt, resümiert Solschenizyn, könne man weder das russische noch das jüdische Volk einer Kollektivschuld bezichtigen. Aber, und das belegt er in seinem ersten Band durch dokumentarische Zeugnisse, die Akkumulation der terroristischen rußlandfeindlichen Strömungen zwischen 1890 und 1910 wäre ohne den überproportionalen Zustrom jüdischer Intellektueller nicht denkbar gewesen. Terrorgruppen der linken Opposition wären von jüdischen Studenten geleitet worden. So Solschenizyn im 1. Band seiner Erforschung der "jüdischen Frage" (im Original "jewreiski wopros"), wobei er, dies sei noch einmal betont, eine Kollektivschuld  der jüdischen Minorität im damaligen Rußland rundweg abstreitet.


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