Ein sensationeller Hominidenfund stellt die
Geschichte der Menschwerdung auf den Kopf

von Andreas Sentker & Urs Willmann (DIE ZEIT 29/2002)

Anmerkungen und Links: Nikolas Dikigoros

Der Wind ist der beste Freund der Paläoanthropologen. Im Norden des Tschad fegt er mit 60 Stundenkilometern über die Wüste. Er trägt Sand durch die Luft, schiebt Dünen umher und modelliert die Landschaft immer neu. Ab und an bringt er verborgene Gegenstände ans Licht: Steine, Äste, Gebeine. Jeden Sommer macht sich eine Gruppe einheimischer Kundschafter der Mission paléoanthropologique Franco-Tchadienne, einer Kooperation französischer und afrikanischer Forscher, im Norden des Landes auf die Suche nach den Dingen, die der Wind befreit hat.

"Wie Nomaden", sagt Mackaye Hassane Taïsso, Assistenzprofessor an der Universität Ndjamena, "fahren wir mit unseren Geländewagen durch die Wüste." Dabei suchen die Expeditionsteilnehmer nach erfolgversprechenden Fundstellen. In jedem Frühjahr kehren sie mit den französischen Kollegen an jene Orte zurück, an denen sie hoffen, der Entstehungsgeschichte des Menschen ein neues Kapitel hinzufügen zu können.

"Letztes Jahr hat der Wind besonders gut geblasen", sagt Taïsso. Am Grabungsplatz Toros- Menalla 266 stieß sein junger Kollege Djimdoumalbaye Ahounta plötzlich im Sand auf einen kugeligen Gegenstand. Er musste "nur ein bisschen kratzen", um ihn ganz freizulegen. Ahounta umfasste die gewölbte Platte, hob das Fundstück vorsichtig auf und drehte es um. Sein Blick fiel erst auf Zähne, die aus einem weißlichen Knochen ragten, und dann in die leeren Augenhöhlen eines Wesens, das vor sechs bis sieben Millionen Jahren die Welt erkundet hat.

Das Fossil aus dem Tschad, in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsjournals Nature präsentiert, stellt die gängigen Theorien zur Menschheitsgeschichte auf den Kopf. Der Schädel ist nicht nur das älteste bisher geborgene Gebein eines menschlichen Urahnen. Auch beendet er den Traum der Forscher von der Wiege der Menschheit in Ostafrika. Und er zwingt sie, von ihren geliebten Stammbäumen Abschied zu nehmen. Denn Sahelanthropus tchadensis ist eine Chimäre, ein bizarres Puzzle aus äffischen und menschlichen Merkmalen.

Toumaï - übersetzt: Lebensmut - haben die Entdecker ihren Fund getauft, ein Name, der in dieser Wüstenregion im Norden des Tschad jenen Kindern gegeben wird, die kurz vor Beginn der Trockenzeit zur Welt kommen.

Mehr als sechs Millionen Jahre lang lagen die Knochen im sandigen Sediment des prähistorischen Tschadsees. Und Toumaï war nicht allein. Unzählige Säugetierknochen, Überreste von Schlangen, Fischen und Schildkröten haben die Ausgräber in seinem Umfeld inzwischen geborgen. Mit ihrer Hilfe lässt sich das Alter der Fundschicht bestimmen. Denn in Kenia sind zwei Fossilienlager bekannt, sechs bis sieben Millionen Jahre alt, die eine ganz ähnliche Tiergesellschaft bergen.

In diesem Zeitraum, das belegten schon in den 1970er Jahren genetische Untersuchungen, haben sich vermutlich die Entwicklungslinien von Mensch und Schimpanse getrennt. War Sahelanthropus einer der letzten gemeinsamen Vorfahren?

Expeditionsleiter Michel Brunet lässt diese Frage offen. Dennoch übertreffen sich die Kommentatoren schon jetzt mit Superlativen: "Der wichtigste Fund seit dem Taung-Baby, mit dessen Entdeckung Raymond Dart vor 77 Jahren die Paläoanthropologie in Afrika begründete", schreibt Nature-Autor Henry Gee. "Eine kleine Atombombe in der Evolutionstheorie der Menschwerdung", sagt der Harvard-Anthropologe Daniel Liebermann. Und Bernard Wood, Anthropologe von der George Washington University, schwant schon: "Ein einzelnes Fossil kann unsere Vorstellung vom menschlichen Stammbaum ganz grundsätzlich verändern."

Dass Sahelanthropus in diese Kategorie der Revolutionäre gehört, ist unstrittig. Der Schädel ist erstaunlich gut erhalten. Zwar haben ihn die Sedimentschichten im Laufe der Jahrmillionen ein wenig zusammengedrückt und seine rechte Gesichtshälfte zerquetscht, aber er offenbart noch immer unzählige überraschende Details.

"Anfangs dachte ich, das ist ein Schimpanse", schildert Daniel Liebermann seine erste Begegnung mit dem Urahn aus dem Tschad. "Als ich jedoch näher hinsah, zog es mir die Schuhe aus." Der Schädel von Sahelanthropus erscheint wie ein wildes Mosaik aus dem Atelier der Evolution. Der Hinterkopf gleicht dem eines Schimpansen und bot einem Hirn von nur 320 bis 380 Kubikzentimeter Volumen Raum. Aus der großen Stirn treten markante Augenwülste hervor, wie sie heute bei männlichen Gorillas zu finden sind. Die untere Hälfte des Gesichts ist dagegen vergleichsweise zart gebaut. Die Zähne sind klein, die Eckzähne deutlich unauffälliger als bei den äffischen Verwandten.

Manche von Toumaïs Merkmalen sind einige zehntausend Jahre später, bei den frühen Vormenschen der Gattung Australopithecus, schon wieder verschwunden. Sie tauchen erst wieder bei der Gattung Homo auf. "Von vorn sieht Sahelanthropus aus wie ein 1,7 Millionen Jahre junger, fortschrittlicher Australopithecine", sagt Bernard Wood. Wenn aber die ersten Australopithecinen affenähnlicher waren als der deutlich ältere Sahelanthropus, wo in unserer Ahnenreihe sind sie einzuordnen? Gehören sie überhaupt dazu?

Wood wehrt sich vehement gegen Versuche, den menschlichen Stammbaum voreilig zu stutzen, um wieder Ordnung in den Garten der Evolution zu bringen. Hominiden- und Affenarten, sagt Wood, hätten sich vermutlich immer wieder vermischt und dabei ein ganzes Set prähistorischer Eigen- und Errungenschaften stets aufs Neue kombiniert. Schon vor einigen Jahren hatte der südafrikanische Paläoanthropologe Phillip Tobias die These von der "Evolution im Mosaik" aufgestellt. 1995 fand er den ersten fossilen Hinweis darauf: einen Fuß, dessen Zehen affenartig, dessen Mittelfußknochen aber überraschend menschlich waren. Die Evolution, so lautet Tobias' Theorie, erfasst nicht alle Körperteile gleichzeitig, manches entwickelt sich überraschend schnell, anderes verharrt lange Zeit im ursprünglichen Zustand. Manches Merkmal, so kann man jetzt ergänzen, verschwindet im Lauf der Evolution, um manchmal Jahrmillionen später erneut aufzutauchen.

Toros-Menalla 266 ist ein unwirtlicher Ort. Verteilt auf vier Quadratkilometer, liegen hier die Gebeine von Vormenschen und Urtieren im Staub. Knapp 300 Kilometer Luftlinie sind es zum nächstgelegenen Dorf, Kouba Olanga. Wüste, wohin das Auge reicht. Als aber Sahelanthropus tchadensis in seiner Jugend hier umherstreifte, kreuchte und fleuchte um ihn herum eine reiche Fauna. In den Flüssen und Seen tummelten sich zehn verschiedene Arten von Süßwasserfischen. Schildkröten und amphibische Säuger schoben sich über den Strand, Schlangen lauerten im Unterholz. Im Sumpf dösten die Krokodile. Über Grasland und Baumsavanne zogen die Ahnen von Giraffe, Elefant, Pferd und Rind. Und grunzend erschnüffelte das Urschwein die Wälder, in denen Primaten regierten.

Noch können die Forscher nicht sagen, ob Toumaïs Clan auf allen Vieren die Gegend erkundete oder bereits den aufrechten Gang übte. "Es fehlen uns Skelettteile, um ihn auf die Hinterbeine stellen zu können", sagt Mackaye. Gewiss ist, dass der Alte in einer Zeit lebte, in der der tropische Regenwald stark zurückwich. Mit den Lichtungen und Waldsavannen entstanden neue Lebensräume. Doch die alte Theorie, wonach der aufrechte Gang erst mit der Besiedelung der Savanne entstand, ist inzwischen überholt. Verschiedene Primatenarten haben unabhängig voneinander neue Fortbewegungsformen ausprobiert, die Zweibeinigkeit gleich mehrfach erfunden. (Anm. Dikigoros: eben - und damit ist die "Urmutter"-Theorie doch erledigt!)

Neue Fenster in die Vorzeit

Von weiteren geliebten Theorien müssen sich die Forscher verabschieden. Lange vermuteten sie die Wiege der Menschheit in Ostafrika. Der zentralafrikanische Sahelanthropus aber ist älter als alle ostafrikanischen Fossilien. "Es wird niemals möglich sein, genau zu wissen, wann oder wo die erste Hominidenart entstanden ist. Aber wir wissen jetzt, dass Hominiden schon vor sechs Millionen Jahren über die Sahelzone verbreitet waren", sagt Michel Brunet.

Zu erklären, wie und warum sich die Entwicklungslinien von Mensch und Schimpanse trennten, wird damit aber noch schwieriger. Denn bisher nahmen die Forscher an, der afrikanische Grabenbruch, eine lange Naht längs des Kontinents, an der zwei Platten der Erdkruste zusammenstoßen, habe die beiden Populationen voneinander getrennt. Vor etwa acht Millionen Jahren soll es dort kräftig rumort haben. Die seitlichen Schultern des Grabens hoben sich und bildeten eine Klimabarriere. Im Westen des Grabensystems regnete es weiterhin regelmäßig. Im Osten dagegen wechselten sich Regen- und Trockenzeiten ab. Während sich die Ahnen der Affen im Westen dem feuchtwarmen Regenwaldmilieu anpassten, entwickelte sich bei einer kleinen Gruppe in der Savannenlandschaft des Ostens der aufrechte Gang.

Da passt Sahelanthropus gar nicht mehr ins Bild. Viel zu weit westlich, mitten im vermeintlichen Schimpansengebiet, haben die Forscher ihn gefunden. "Wir brauchen ein gesamtafrikanisches Szenario auch für diese frühen Entwicklungsphasen", glaubt der Frankfurter Paläoanthropologe Friedemann Schrenk. "Die Funde, die wir bisher hatten, haben uns über die wahre Verbreitung der Hominiden getäuscht."

Lange Zeit gab es nur zwei Fenster, die sich in die afrikanische Prähistorie öffneten: in Südafrika, wo 1925 die ersten Fossilien bei Bergbauarbeiten zum Vorschein kamen und Raymond Dart Darwins These von einem afrikanischen Ursprung der Menschheit belegte. Und in Ostafrika, wo Geologen in den sechziger Jahren auf die ersten Fossilien stießen.

Daneben existierten lange nur noch zwei Stellen, die in Afrika menschliche Spuren ahnen ließen: Malawi und der Tschad. "Das waren eher Schlüssellöcher als Fenster", beschreibt Bernard Wood die mühsame Suche nach neuen Hominidenfundstellen. Inzwischen sind jedoch in Malawi wie im Tschad jeweils die Überreste zweier menschlicher Urahnen geborgen worden: Homo rudolfensis und Paranthropus aethiopicus an den Ufern des Malawi-Sees, Australopithecus bahrelghazali (Brunets erster Fund dort) und nun Sahelanthropus tchadensis in der Wüste des Tschad.

Forscher warnen allerdings davor, die Wiege der Menschheit nun einfach von Ostafrika in das Wüstenland zu verlegen. Schließlich sind in den vergangenen Monaten einige vormenschliche Überreste geborgen worden, die die fossile Geschichte weiter erhellen: Ardipithecus ramidus aus Äthiopien ist etwa 5,2 bis 5,8 Millionen Jahre alt. Orrorin tugenensis aus Kenia hat vor nahezu 6 Millionen Jahren gelebt. Übrig geblieben sind von ihm leider nur ein paar Zähne und Knochensplitter. Auf die Datierung aber mag sich kaum ein Forscher festlegen. "Die Funde repräsentieren nur einen Ausschnitt, einen Augenblick der Menschheitsgeschichte. Wann Ardipithecus, Orrorin oder Sahelanthropus erstmals die Erde betraten und wie lange sie gelebt haben, wissen wir nicht", sagt Schrenk.

Buschwerk statt Stammbaum

Eines jedoch macht auch der neue Fund deutlich: Homo sapiens ist erst seit kurzer Zeit der einzige Vertreter seiner Gattung. In all den Jahrmillionen zuvor haben immer mehrere Vor- oder Urmenschenarten nebeneinander existiert. Konkurrenz und Koexistenz bringen die Theorie der Menschwerdung gründlich durcheinander. Noch in den sechziger Jahren herrschte die Vorstellung, ein gebeugter, geistig umnachteter Vorfahre habe Stufe für Stufe die Leiter der Evolution erklommen, um als begabter und begnadeter Mensch in der Gegenwart zu enden. "Das ist immer noch das Märchen, in dem ein Frosch zwangsläufig zum Prinzen geküsst wird", schimpft der Anthropologe Ian Tattersal vom American Museum of Natural History in New York.

Doch die Vorstellung einer linearen Ahnenreihe ist nur schwer auszurotten. "Abraham war der Vater von Isaak, Isaak von Jakob, Jakob von Juda und seinen Brüdern" - so geht es im Matthäus-Evangelium immer weiter, bis zur Geburt Jesu. Dieses biblische Stammbaumdenken prägt die Menschen offenbar seit je.

Dabei weist immer mehr darauf hin, dass wir es bei der Stammesgeschichte der Menschheit nicht mit einem beständigen Fortschreiten zu tun haben - mit einigen Opfern links und rechts der Weges, Arten, die sich zu sehr spezialisierten und später ausstarben -, sondern mit einzelnen Evolutionsereignissen, die ein unübersichtliches Geflecht von Entwicklungswegen bilden. Das Mosaikgesicht des Sahelanthropus tchadensis ist dafür der beste Beleg.

"Das ist doch ganz beruhigend", sagt Friedeman Schrenk. "Je mehr Fossilien wir finden, desto deutlicher wird, dass der Mensch auch nur ein Tier ist. Eine Sonderstellung hätte mich eher beunruhigt."

Jetzt sehen jene Forscher ihre Chance, die schon immer davor gewarnt haben, die Geschichte der Menschheit vorschnell zu vereinfachen. Lange Zeit wurde mit jedem neuen Fund der Stammbaum des Menschen niedergerissen und ein neuer gepflanzt: jedes Fossil ein neuer Zweig, jeder Knochen eine neue Art. Drohte der Stammbaum zu stark zu wuchern, fanden sich Forscher, die die dünnen Zweige zu dicken Ästen bündelten. Man stritt über Zuordnungen, mancher Urahn wurde mehrfach umbenannt, immer neue Verwandtschaftsverhältnisse wurden diskutiert. Jetzt klettern die Forscher von den Bäumen. Dichtes Buschwerk statt starker Eichen, das könnte das neue Modell der Evolution des Menschen kennzeichnen.

Nun gilt es, das Bild zu verfeinern. Die Chancen dazu stehen nicht schlecht. In Afrika haben sich in manchen Ländern die politischen Verhältnisse inzwischen so beruhigt, dass die Forscher vor Ort arbeiten können. "Der Kontinent wird zugänglicher", sagt Friedemann Schrenk. "Die Paläoanthropologie steht ganz am Anfang. Es wird noch viele Überraschungen geben."


Chronik der Paläoantropologie (Die wichtigsten Funde von 1848 bis heute auf einen Blick)


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