Die kalkulierte Willkür

Wie Hitchcock seinen ärgsten Feind bekämpfte: die Logik

von Lars-Olav Beier
(Bertz-Verlag 1999)

Runter kommen sie immer

Die Situation ist völlig aussichtslos. Ein Mann hängt an einer Regenrinne, die sich langsam durchbiegt. Seine Finger klammern sich an das Blech wie an die letzte Hoffnung. In dem Moment reckt sich ihm eine helfende Hand entgegen, kommt näher, berührt ihn fast, will zupacken, da saust die Hand und mit ihr der Polizist, dem sie gehört, in die Tiefe. Der Mann an der Regenrinne blickt entsetzt nach unten, und nun scheinen ihm nicht nur die Kräfte, sondern gar die Sinne zu schwinden. Der Film schließt für den Mann die Augen: Eine taktvolle Abblende will uns, wie es zunächst scheint, das Schlimmste ersparen. Das Bild versinkt im Schwarz, als wolle es Trauer tragen. Dann wird es wieder Licht - das Leben geht weiter. James Stewart alias Scottie Ferguson balanciert gut gelaunt einen Krückstock auf dem Finger. Was geschah wirklich zwischen den Bildern?

Keine Ahnung, erwidert Alfred Hitchcock und läßt VERTIGO (1957) mit einer der unverschämtesten Ellipsen der Filmgeschichte beginnen. Der Regisseur baut eine Situation auf, für die das Wort cliffhanger erfunden wurde, und läßt den Zuschauer dann hängen über den Abgründen der Wahrscheinlichkeit. Ein Film, der davon handelt, wie Tote wieder auferstehen, erklärt die Frage, wie das Leben des Helden gerettet wurde, gleich zu Beginn für obsolet. Hitchcock setzt sich über den Anspruch seines Publikums, hierzu Näheres erfahren zu wollen, so flüchtig hinweg wie der von Stewart verfolgte Verbrecher über die Schlucht zwischen den beiden Häusern. Dem Regisseur geht es darum, gleich in den ersten zwei Minuten die Fallhöhe des Helden auszuloten; die restlichen 126 Minuten beschreiben den Sturz.

Warum ließ das Publikum dem Master of Suspense Willkürakte wie diesen immer wieder so großzügig durchgehen? Vielleicht weil er der raffinierteste Trickbetrüger war, der je hinter der Kamera stand. Hitchcock war, seiner äußeren Erscheinung zum Trotz, ein überaus flinker Hütchenspieler, der durch pure Schnelligkeit und geschickte Ablenkungsmanöver dafür sorgte, daß es den Zuschauern nicht gelang, während des Spiels ihre Finger auf die wunden Punkte des Plots zu legen. Mehr noch: Er ist wohl der einzige Regisseur, der uns am laufenden Meter Zelluloid dramaturgische Mogelpackungen andreht und uns, nachdem wir sie geöffnet haben, dennoch immer das Gefühl geben kann, über Gebühr auf unsere Kosten gekommen zu sein.

Warum einfach, wenn's auch kompliziert geht?

Ein Mann liest eine Frau in einer Music Hall auf und nimmt sie mit nach Hause. Kaum haben die beiden seine Wohnung betreten, klingelt das Telefon. Die Frau warnt ihn, den Hörer abzunehmen. Sie behauptet, man wolle sie umbringen. Er blickt auf die Straße und stellt fest, daß unter der Laterne zwei Männer stehen - Mitglieder eines Spionagerings, der ein Staatsgeheimnis außer Landes schaffen wolle, behauptet die Frau. Mitten in der Nacht wehen die Vorhänge eines geöffneten Fensters. Plötzlich wankt die Frau mit einem Messer im Rücken auf den Mann zu. Bevor sie stirbt, kann sie ihm noch zuraunen, er sei das nächste Opfer und solle fliehen. Das Telefon klingelt, und nun schrillen bei Richard Hannay (Robert Donat), dem Helden von Hitchcocks Film THE 39 STEPS (1935), alle Alarmglocken. Er blickt auf die Straße: Da stehen wieder die zwei Männer, der eine vor, der andere in einer Telefonzelle.

Rekapitulieren wir noch einmal: Der oder die Mörder sind durch ein Fenster (im ersten Stock!) in Hannays Wohnung eingedrungen und haben eine Frau erstochen (ohne sich freilich zu vergewissern, daß sie auch wirklich tot ist). Danach stahlen sie sich auf leisen Sohlen davon, damit Hannay ungestört weiterschlafen konnte. Kaum wieder auf der Straße, gingen sie zur nächsten Telefonzelle, um ihn zu wecken. Bei Anruf Mord oder bei Mord Anruf - das ist hier die Frage. Nüchtern betrachtet, kann man den Killern den Vorwurf einer gewissen Inkonsequenz nicht ersparen. Aber was sagt das schon? Denn Hitchcock läßt es fast nie zu, daß der Zuschauer in seinen Filmen etwas nüchtern betrachten kann. Wohlweislich zeigt uns der Regisseur in dieser Sequenz kein einziges Mal die Perspektive der Mörder. Würde der Zuschauer auch nur für wenige Sekunden die Sicht der beiden einnehmen (und das bedeutet: sich an ihre Stelle versetzen), bestände sofort die Gefahr, daß er ihr Handeln reflektiert und die Ungereimtheiten aufdeckt. Wie für die meisten Hitchcock-Helden bricht das Unheil, auch wenn es in Menschengestalt daherkommt, wie eine Springflut über Hannay herein. Und eine Springflut fragt niemand nach ihrer Motivation. Man will nur eines wissen: Wie kann man sich vor ihr retten?

Zudem beweist Hitchcock schon in diesem frühen Film sein nahezu untrügliches Gespür für den Moment, in dem der ganze Schwindel auffliegen könnte. Wie ein Taschendieb, der seinem Opfer auf den Fuß tritt, um ihm ungestört das Portemonnaie aus dem Jackett zu ziehen, lenkt er den Zuschauer ab. Wenn Hannay von der Leiche der Frau zurückweicht, kommen wir mit jedem Schritt der Frage näher, warum die Mörder nicht auch ihn getötet haben. Da schrillt jäh das Telefon, so laut, als sei der Ton durch das momentan sehr empfindliche Sensorium des Helden verstärkt worden. Ein paarmal klingelt es, und weil unsere Leitung nicht so lang ist wie die der Mörder, beginnen wir uns nach dem Zweck dieses Anrufs zu fragen. Doch unmittelbar bevor wir vom Film eine Antwort verlangen wollen, findet Hannay in der Hand der Toten eine Landkarte, auf der ein Ort in Schottland eingekreist ist. Diese Karte, die unser Interesse sofort vom Vergangenen weg auf die Zukunft richtet, auf den Weg, der dem Helden bevorsteht, füllt im Nu das Bild. Dann schimmert das Gesicht der Frau durch, die einige Sätze der letzten Nacht noch einmal direkt in die Kamera spricht. Der Film wird subjektiv und zeigt uns, was im Kopf des Helden vorgeht. Hitchcock steigt aus der realen Situation aus, und als er wieder in sie einsteigt, haben wir längst vergessen, was wir ihn fragen wollten.

Alles eine Frage der Perspektive

Ein Vierteljahrhundert nachdem es Richard Hannay in THE 39 STEPS von London ins schottische Hochland verschlug, trieb Hitchcock einen seiner Helden auf dem Gebiet der Vereinigten Staaten in die gleiche Fluchtrichtung: NORTH BY NORTHWEST (1958). Den Gegenspielern, die Roger O. Thornhill (Cary Grant) töten wollen, gibt der Film allerdings schon nach wenigen Minuten Gesichter. Dennoch räumt Hitchcocks Inszenierung ihnen zunächst kein Eigenleben ein, das unabhängig vom Helden existiert. Robert Burks' Kamera bewegt sich zu Beginn des Films vom Tisch, an dem Thornhill mit Geschäftspartnern sitzt, zügig durch die Lobby des Hotels zu den beiden Männern, die den Helden kurz darauf entführen. In einem Landhaus, wo wir zusammen mit ihm den Auftraggeber der beiden, Phillip Vandamm (James Mason), kennenlernen, verläßt die Kamera nie den Raum, in dem Thornhill eingesperrt ist. Als Vandamm wieder hinausgeht, folgt sie diesem, setzt sich in Bewegung, verharrt aber genau vor der Türschwelle, die für Thornhill eine unüberwindliche Grenze markiert - als würde auch sie von den beiden Killern zurückgehalten, die dem Helden wenige Augenblicke später den letzten Rest seiner Bewegungsfreiheit nehmen werden.

THE 39 STEPS und NORTH BY NORTHWEST zeigen auch die andere Seite des Suspense: Der Wissensvorsprung, den Hitchcock uns gegenüber den Helden gibt, darf unter keinen Umständen so groß werden, daß wir uns zu weit von ihnen entfernen. Dann wäre die Identifikation mit ihnen gefährdet. Die Blickwechsel mit anderen Figuren, die Thornhill in einem zweifelhaften Licht erscheinen lassen, oder die Aufsichten, aus denen die Kamera auf ihn blickt, täuschen etwas vor, was es gar nicht gibt: Objektivität ist im ersten Akt dieses Films ein bloßes Phantom, der unsichtbare Dritte, der nicht existiert. Ohne daß wir es richtig mitbekommen, bringt uns Hitchcock dazu, in Thornhills Haut zu schlüpfen wie in den Maßanzug dieses Mannes. Der Plot des Films ist zunächst nichts anderes als Thornhills Charakter, in Handlung umgesetzt. Die Exposition vermittelt uns unter anderem, daß Thornhill unzuverlässig ist, daß er gelegentlich lügt und gerne trinkt. Der Plot dient vor allem dem Zweck, dem Helden genau diese Schwächen zum Verhängnis werden zu lassen. Kein Spionagering der Welt würde einen enttarnten feindlichen Agenten erst mit Bourbon abfüllen, dann hinter das Steuer eines Wagens setzen (zudem: eines gut einsehbaren Cabrios!), diesen unter Gefährdung der eigenen Leute auf eine kurvenreiche Küstenstraße steuern und hoffen, daß er in den Abgrund stürzt. (NORTH BY NORTHWEST gibt uns auch keinen triftigen Grund an, warum dieser Mord als Unfall kaschiert werden muß.) Doch Hitchcock ist hier schon einen Schritt weiter: in der Situation danach, wenn niemand, die Polizei nicht und noch weniger die eigene Mutter, Thornhill auch nur ein Wort glaubt. Hitchcock setzt einen wenig plausiblen Mordversuch spannend in Szene und zieht gleich danach aus der Tatsache, wie hanebüchen er ist, komischen Nutzen. Der Regisseur schließt den Mangel an Plausibilität kurz und freut sich daran, wie die Funken fliegen.

Kurze Zeit später durchsucht Thornhill mit seiner Mutter das Hotelzimmer des fiktiven Agenten, für den man ihn hält. (Vergleicht man das Geburtsdatum der Schauspielerin Jessie Royce Landis mit dem von Cary Grant, stellt man erstaunt fest, daß sie die einzige Mutter sein dürfte, die so alt ist wie ihr Sohn.) Das Telefon klingelt. Thornhill nimmt ab und hört - ein Nachhall aus THE 39 STEPS - die Stimme eines der beiden Killer. Man redet, ein Wort gibt das andere, und schließlich legt der Mann auf. Thornhill ruft die Rezeption an und erfährt, daß der Anruf aus der Lobby kam. Fluchtartig verläßt er das Zimmer. Seine Mutter folgt ihm, ist nun aber restlos davon überzeugt, daß er an Verfolgungswahn leidet.

Die Killer kündigen sich telefonisch an. Warum? Wollen sie einen Termin vereinbaren? Während des Telefonats setzt sich die Kamera in Bewegung, kommt auf Grants Gesicht zu wie die nahende Bedrohung und verharrt, in leichter Aufsicht, über seinem Kopf: in jener Einstellung, die in Hitchcock-Filmen fast immer Lebensgefahr signalisiert. Die Suggestivkraft dieser Fahrt zieht die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf sich, mit halbem Ohr hört er nur noch hin, während es in seinem Kopf wie in dem Thornhills fieberhaft arbeitet. Kaum gibt uns der Regisseur aus dem Griff der Einstellung frei, inszeniert er einen kurzen Fluchtweg zum Aufzug - zu kurz, um darüber nachzudenken, warum die Killer Thornhill und seiner Mutter Zeit geben, den Raum lebend zu verlassen. Und schon ist Hitchcock genau in jener Situation, auf die alles Vorherige hinsteuerte: Thornhill, seine Mutter, die beiden Killer und viele nichtsahnende Hotelgäste stehen zusammen im Aufzug, eingeschlossen und auf engstem Raum.

»You gentlemen aren't really trying to kill my son, are you?« fragt Mutter unbekümmert. Die Gesichter der Killer gefrieren kurz, doch dann fangen die beiden an zu lachen, erst zaghaft, bald darauf herzhaft. Mutter läßt sich davon anstecken, nach und nach stimmen auch die anderen Fahrgäste mit ein. Nur einer findet das alles gar nicht komisch: Roger Thornhill, unser Held. Wir können nicht umhin mitzulachen und fühlen uns Thornhill doch so nahe wie noch nie, weil wir wissen, daß er recht hat und in großer Gefahr schwebt. Diese Szene ist ein schlagendes Beispiel für Hitchcocks Fähigkeit, Thrill und Komik so zu verbinden, daß sie sich gegenseitig hochschaukeln.

Der Aufbau der Sequenz zeigt idealtypisch: Hitchcock interessierten weniger die Geschichten seiner Filme als vielmehr die Situationen und die Figuren, die in diese hineingeraten. Filme seien das Leben, aus dem man die langweiligen Teile heraus geschnitten habe, behauptete er. THE 39 STEPS und NORTH BY NORTHWEST sind filmische Reisen, die nur aus Sehenswürdigkeiten bestehen und den Zuschauer auf eine Sightseeing-Tour-de-force schicken. [To Catch a Thief auch, Anm. Dikigoros] Wir mögen beim rasanten Fortgang des Geschehens kurz an einem logischen Problem hängenbleiben, doch es dauert nie lange, bis eine Szene folgt, die uns wieder mitreißt.

Wie wahrscheinlich ist die Wirklichkeit?

Kräftige Hände haken sich von rechts und links unter die Achseln eines Mannes und ziehen diesen von der Kamera weg zu einem Auto. Exakt die gleiche Einstellung, in der Roger O. Thornhill aus seinem Leben in das Abenteuer entführt wird, hatte Hitchcock zwei Jahre zuvor schon einmal verwendet. Nur war sie da noch schwarzweiß, und aus dem Gesicht des Mannes, der genauso überrascht und hilflos war wie Thornhill, wich der bittere Ernst den ganzen Film über ebensowenig wie aus dem Cary Grants die sanfte Ironie: Henry Fonda spielt die Hauptrolle in THE WRONG MAN (1956) - auch einen falschen Mann in echten Schwierigkeiten. In seiner Einführung am Anfang des Films beteuert Hitchcock, er habe die folgende Geschichte, die so seltsam sei, daß man sie wohl nicht hätte erfinden können, mitten aus dem Leben gegriffen. Das ist nicht falsch, aber nur die halbe Wahrheit.

THE WRONG MAN basiert auf dem authentischen Fall eines Justizirrtums, der sich 1953 in New York ereignete. Doch diese Grundlage funktionierte Hitchcock zum Sprungbrett für ein weiteres Kunst-Stück um: In einem Film, der sich um eine weitgehend objektive Rekonstruktion der Fakten bemüht, treibt der Regisseur die Subjektivierung des Blickes ins Extrem und läßt den Zuschauer die Welt durch die Augen der Hauptfigur sehen. Hitchcock verweigert uns nicht nur einen Wissensvorsprung vor dem Protagonisten, dem Musiker Manny Balestrero, der mehrerer Raubüberfälle verdächtigt wird. Vielmehr läßt uns der Regisseur die manchmal qualvolle Anspannung des Helden teilen, wenn diesem Informationen über den Stand der Ermittlungen vorenthalten werden.

Zwei Polizisten setzt Hitchcock beim Vergleich mehrerer Schriftproben ins Bild wie Kartenspieler, die sich von niemandem ins Blatt schauen lassen, nicht einmal vom Zuschauer. Sie studieren genau die Schriften, besprechen sich, wundern sich, wenden sich Manny zu, geben ihm zu verstehen, es sehe sehr böse für ihn aus. Doch was sie entdeckt haben, erfahren auch wir erst in dem Moment, als sie es dem Helden zeigen: Manny ist der gleiche Rechtschreibfehler unterlaufen wie dem Täter. Später, beim Prozeß, legt eine Zeugin Manny bei der Identifizierung die Hand auf die Schulter, die im Anschnitt zu sehen ist. Die Kamera blickt aus wenigen Zentimetern auf die Hand hinab, scheinbar mit Mannys Augen, als habe er seinen Kopf leicht zur Seite geneigt. Diese Einstellung gibt uns das Gefühl, als wäre es unsere eigene Intimsphäre, die hier verletzt, unser Körper, der angetastet wird. In diesem Augenblick berührt uns der Film nicht bloß, sondern ergreift uns.

Doch Hitchcock, der Purist der Perspektive, begeht in THE WRONG MAN einen Stilbruch: ein einfacher Blickwechsel, der uns aber in eine andere Welt katapultiert, in die Welt der Anderen, die nichts unversucht lassen, Manny Balestrero ins Gefängnis zu bringen. Hinter Gittern ist er schon in dieser Szene, die in einem Versicherungsbüro spielt: Senkrechte Stäbe trennen Manny von der Frau hinter dem Tresen. Sie glaubt in ihm jenen Mann wiederzuerkennen, der die Filiale vor einigen Monaten überfallen hat, geht nach hinten und informiert ihre Kolleginnen. In der gesamten Sequenz nimmt der Film nun nur noch die Perspektiven der Frauen ein: Sie schirmen einander vor dem Mann ab, um ihn heimlich in Augenschein nehmen zu können, ihre Körper schieben sich im Vordergrund ins Bild, in Unschärfe verschwimmend, visuelle Schutzschilde vor den auch aus der Ferne und in Schwarzweiß stechenden Blicken Henry Fondas.

Gewiß sollte diese Sequenz in Hitchcocks Augen erklären helfen, wie ein so offenkundig unbescholtener Mann wie Balestrero in einen so schwerwiegenden Verdacht geraten konnte. Doch wenn wir Manny dort stehen sehen, am anderen Ende des Raumes, hinter dem Gitter, dann haben wir viel Zeit, uns mit jenen Fragen zu beschäftigen, die uns Hitchcock sonst kaum zu Ende formulieren läßt: Wie können die Frauen ernsthaft glauben, daß ein Mann nur wenige Monate später die gleiche Filiale noch einmal überfallen würde, erneut ohne Maske? Würde er eine Versicherungspolice, die er dort abgeschlossen hat, mit seinem Namen und seiner Adresse auf den Tisch legen, prüfen lassen und dann unverrichteter Dinge wieder weggehen? Es war so, hat uns Hitchcock am Anfang versichert, und doch hören wir diese Worte schon wenige Minuten später nur noch wie einen fernen Hall, so tief hat uns der Film hineingezogen in die Welt des Kinos, die eigene Gesetze hat. Eines lautet: Man kann die Wirklichkeit nicht als Zeugen aufrufen, um sie für die Glaubwürdigkeit der Geschichte bürgen zu lassen.

Zwei Entlastungszeugen will Manny vorbringen; beide sind, wie er herausfindet, verstorben; seine Frau (Vera Miles) kann darüber nur noch hysterisch lachen. Dann fällt Manny ein, daß er am Tag eines der Überfälle, die man ihm zur Last legt, Zahnweh hatte und zum Arzt ging. Mit den schmerzenden Weisheitszähnen seiner Frau fing der Film an. Schon wieder Zahnschmerzen? Besser nicht, würde ein Drehbuchautor sagen, der eine Geschichte schreibt. Doch diese Geschichte hat sich das Leben selbst ausgedacht. Bevor der Aberwitz der realen Zufälle überhand nimmt, konzentriert sich THE WRONG MAN auf den psychischen Verfall von Mannys Frau, richtet den Blick von der kriminalistischen auf die melodramatische Ebene. Hitchcock hat diese Verlagerung als Schwäche empfunden. Es gibt gute Gründe, sie eher als gelungene Flucht nach vorn zu begreifen.

Der Weichensteller

Wenn Deterministen über das menschliche Leben reden, bemühen sie oft eine bestimmte Metapher: Es verlaufe wie ein auf Schienen gestellter Wagen. Bliebe die Frage, wer die Weichen stellt. In einem Hitchcock-Film ist das klar: der Master of Suspense. In STRANGERS ON A TRAIN (1950) läßt er die Wege von Bruno Anthony (Robert Walker) und Guy Haines (Farley Granger) sich wie zwei Gleise kreuzen, auf einer Trasse, die Patricia Highsmith in ihrer Romanvorlage gebahnt hatte. Wird Manny in THE WRONG MAN durch Zufall mit dem wahren Schuldigen verwechselt, erfolgt hier alles planmäßig. Lückenlos wie zusammengeschweißte Schienenstränge soll das Komplott zweier wildfremder Männer sein, die den Mord des jeweils anderen übernehmen - der Austausch von Schuld diesmal nicht als Problem, sondern als Lösung aller Probleme. Der Zuschauer aber tut sich schwer, auf den Zug aufzuspringen, denn er weiß nicht: Welchen von den beiden soll er nehmen?

Dies ist einer der wenigen Hitchcock-Filme, die uns bei der Suche nach einer Identifikationsfigur im Stich lassen. Die Ausgangsidee erzwingt eine Dramaturgie, die einen der beiden Protagonisten immer wieder für fünf bis zehn Minuten aus den Augen verliert. Zwar gerät der Tennisspieler Guy unschuldig in Verdacht, nachdem Bruno mit der Ermordung von dessen Frau in Vorleistung gegangen ist, dennoch wollen wir nicht recht mit ihm bangen. Aalglatt und gänzlich humorlos, kann er offenbar für nichts Leidenschaft aufbringen, nicht einmal für das Spiel, das ihn zu einer landesweit bekannten Persönlichkeit gemacht hat. Hitchcock gibt sich wenig Mühe, uns Guy nahezubringen. Er bleibt ein unbeschriebenes Blatt, das auch am Ende des Films so weiß ist wie die Kleidung, die er trägt. (Waren Gregory Peck, Montgomery Clift oder auch Paul Newman schwer mit dem Stil des Regisseurs vereinbar, so erwischte er mit Farley Granger einen wirklich schlechten Darsteller.) Viel faszinierender ist es zu beobachten, wie der sinistre Bruno, der schwarze Fleck, sich immer weiter ausbreitet.

Wenn wir in STRANGERS ON A TRAIN sehen, wie die Zuschauer eines Tennisspiels unentwegt den Kopf hin und her wenden - während Bruno starr auf Guy blickt -, um dem Ball zu folgen (eine hübsche Idee, die heute leider nicht mehr funktioniert, weil uns die Tennis-Übertragungen im Fernsehen gelehrt haben, daß man auf der Tribüne nicht die Köpfe, sondern nur die Augen bewegt [Das ist ein Irrtum: Heute wird der Tennisball so schnell geschlagen, daß ein Versuch, den Kopf im selben Tempo mit zu bewegen, aussichtslos wäre; zu Hitchcocks Zeiten, mit den alten Holzschlägern und auf den langsamen Ascheplätzen, ging das noch ohne weiteres, Anm. Dikigoros]), dann blicken wir in einen Spiegel: Auch wir müssen ständig von einem zum anderen Kontrahenten schauen. Im Kinosessel werden wir so aber zu Schiedsrichtern über die Figuren, verfolgen das Spiel ebenso unbeteiligt wie wachsam, immer auf der Suche nach Fehlern, unentschieden, wer gewinnen soll. Nachdem die Hälfte des Films vorüber ist, erzählt Guy seiner Freundin Ann (Ruth Roman), die schon seit geraumer Zeit etwas ahnt und damit zunehmend zur heimlichen Hauptfigur wird, die Wahrheit: Bruno habe Guys Frau ermordet, dafür solle er nun dessen Vater töten.

Nach einer Ellipse, die viele Fragen offenläßt, sehen wir, wie Guy nachts eine Pistole an sich nimmt. Er dringt in das Haus von Brunos Familie ein und bewegt sich an einem Hund vorbei die Treppe hoch. Dann schleicht er zum Schlafzimmer des Vaters, öffnet die Tür, nähert sich dem Bett - da geht das Licht an: Unter der Decke liegt nicht der Vater, sondern Bruno. Mit dieser Sequenz begeht Hitchcock einen Betrug am Publikum, gegenüber dem die lügende Rückblende in STAGE FRIGHT (1949) ein Jahr zuvor wie ein Kavaliersdelikt wirkt. Nach der Aussprache mit Ann, der moralischen Instanz im Film, wirkt dieses Manöver, das uns suggeriert, Guy wolle Brunos Vater wirklich töten, von Beginn an durchschaubar. Es kommt aber noch schlimmer: Im anschließenden Gespräch mit Bruno will uns der Film weismachen, Guy sei gekommen, um dem Vater die Absichten seines Sohnes zu verraten. In der Nacht? Mit einer Pistole?? Heimlich durchs Haus schleichend???

Von diesem Zeitpunkt an möchte man dem Film kein Bild mehr glauben. Guy muß, so rechnet er sich aus, ein Tennisspiel in drei Sätzen gewinnen, um Bruno einzuholen, der ihm den Mord an seiner Frau anhängen will - tatsächlich braucht er fünf. Wieso verliert Guy das Spiel nicht einfach? Warum simuliert er nicht einfach eine Verletzung? Wie kann er so sicher sein, daß Bruno Guys Feuerzeug erst nach Anbruch der Dunkelheit als falsches Indiz an den Ort des Verbrechens bringen wird? Wieso läßt der sonst so schlaue Bruno das Feuerzeug in einen Gully fallen? Überhaupt, das Feuerzeug: Was würde es beweisen? Guys Frau könnte auf alle erdenkliche Weise selbst in dessen Besitz gelangt sein und es verloren haben, als sie ermordet wurde. Die Unzufriedenheit des Zuschauers wächst, während die Parallelmontage am Ende von STRANGERS ON A TRAIN immer lauter knirscht und knarrt. Wie beim Karussell im Showdown wirken hier Fliehkräfte, die den Film zum Opfer der eigenen Konstruktion werden lassen, bis er, schwer havariert, zum Erliegen kommt.

Zum Greifen nah und doch Lichtjahre entfernt: Die Welt

Begeht der Bösewicht eines Films einen gravierenden Fehler, büßt er an Bedrohlichkeit ein. Der Held dagegen hat in solch einem Fall viel mehr zu verlieren: unser Verständnis. Kein Mensch will sich mit einem Stümper identifizieren, kein Held quält uns mehr als ein Tor, den wir immer mit der Nase auf die naheliegenden Dinge stoßen möchten. Wenn der Protagonist dagegen alles richtig macht und dennoch immer mehr in Gefahr gerät, kann uns die Spannung bis ans Herz wachsen. Manchmal riskiert aber auch Hitchcock, daß wir einem seiner Helden fast die Freundschaft aufkündigen. Wenn Roger O. Thornhill das Messer aus dem Rücken eines Mannes zieht, der ihm in die Arme sinkt, wenn er dann noch lauthals »Look!« ruft und die Tatwaffe fotogen in die Höhe hält, so daß ihn die anwesenden Reporter in aller Ruhe ablichten können, schütteln wir nur den Kopf: Was tun manche Menschen nicht alles, um in die Zeitung zu kommen!

Was würden wir machen, wenn wir uns nicht aus der Wohnung bewegen könnten und die sich nähernden Schritte eines Mannes hörten, der uns umbringen will? Auch wenn die wenigsten aus Erfahrung sprechen können: Wir würden um Hilfe schreien, und zwar nicht nach vorheriger Überlegung, was am besten zu tun sei, sondern instinktiv. Der an den Rollstuhl gefesselte Fotoreporter L.B. Jeffries (James Stewart) in REAR WINDOW (1953) schreit in diesem Moment nicht (auch zuvor nicht, als seine Freundin in tödliche Gefahr gerät). Doch weder ist Jeffries stumm, noch hat es ihm die Sprache verschlagen. Es ist auch nicht so, daß ihn ohnehin niemand hören würde. Im Gegenteil, das Fenster zum Hof steht weit offen. Was nicht offensteht, ist die Option, von den Menschen auf der anderen Seite gerettet zu werden. Er könnte ihnen zurufen, gewiß. Aber bis der Schall sie erreichen würde, wäre Jeffries tot. Sie wohnen direkt gegenüber und sind dennoch Lichtjahre entfernt. Zwischen Sichtweite und Reichweite liegen in REAR WINDOW Welten.

Die Tatsache, daß Jeffries nicht um Hilfe schreit, ist erstaunlich. Die Tatsache, daß wir nicht aufschreien, weil er es nicht tut, ist fast unbegreiflich. Wie hat Hitchcock das hinbekommen? Nicht, indem er die Möglichkeit der Kommunikation innerhalb des Hofes unterschlagen hätte. Wir erinnern uns: Nach etwa zwei Dritteln des Films rufen die Wehklagen einer Frau über ihren getöteten Hund im Nu die Hofbewohner auf den Plan. Doch der Regisseur setzt alles daran, Jeffries nicht als einen Teil dieser Welt erscheinen zu lassen. Keinen einzigen Blick wirft Hitchcock aus den anderen Wohnungen auf den Helden. Der erste Kontakt, den die Welt gegenüber mit Jeffries aufnimmt, ist der Blick des Mörders Thorwald, der kurz vor Schluß des Films unseren Helden erfaßt. Wenn Thorwald sich dann auf den Weg zu Jeffries macht, wirkt dieser Schritt im ersten Moment ebenso irreal wie jener, mit dem Jeff Daniels in THE PURPLE ROSE OF CAIRO (R: Woody Allen, 1984) von der Leinwand ins Leben steigt. Deswegen kommen wir nicht auf den Gedanken, daß Jeffries um Hilfe rufen könnte: Das wäre so, als säßen wir im Kino und würden laut schreien, in der Hoffnung, die Figuren auf der Leinwand würden uns hören und uns aus höchster Gefahr retten.

Master of suspension of disbelief

Ein Bild tritt ins Leben. Madeleine Elster (Kim Novak) in VERTIGO ist, wie es scheint, von dem Portrait der Carlotta Valdes besessen und gleicht sich diesem bis aufs Haar an. Wie einst Carlotta begeht Madeleine Selbstmord. Scottie Ferguson muß dies hilflos mit ansehen. Wenig später trifft er Judy Barton, die Madeleine unfaßbar ähnlich sieht - bis auf die Haare. So fängt er an, aus Judy ein Eben-Bild Madeleines zu machen, eine Traumfrau, ausgemalt nicht in der Phantasie, sondern im wirklichen Leben. Dieses Bild dreht Hitchcock plötzlich einfach um und zeigt uns die Rückseite. Wir erkennen sofort: Judy ist nicht die Kopie, sondern das Original. Die Fälschung, mit der wir es zu tun haben, hat einen weit größeren Rahmen: In einem Brief an Scottie gesteht Judy, daß sie Madeleine nur gespielt hat. Sie war die Hauptakteurin in einem Komplott, mit dem Gavin Elster die Ermordung seiner Frau als Selbstmord tarnen wollte. Als Judy den Brief fertig hat, zerreißt sie ihn. Doch seinen wahren Adressaten hat er längst erreicht: den Zuschauer.

Der Held ist blind vor Liebe und leidet an Höhenangst, so daß er den Dingen niemals auf den Grund schauen kann. Das müssen wir für ihn tun. Dank Hitchcocks Hilfe und Judys Brief können wir uns im Nu ein umfassendes Bild machen. Und doch irritiert diese Szene bei jedem Sehen von VERTIGO aufs neue. Der innere Monolog (von dem Hitchcock in seinen Filmen so gut wie nie Gebrauch macht) wirkt in diesem Film, in dem wir gebannt verfolgen, wie sich das Innenleben der Figuren durch Blicke und kaum merkliche mimische Regungen langsam einen Weg nach außen bahnt, sehr indiskret. Da kurz zuvor in die gleiche Sequenz bereits Bilder vom Mord auf dem Kirchturm eingeschnitten wurden, fühlen wir uns vom Film, wenn er das jetzt noch einmal verbal wiederholt, sogar weit unterschätzt. Das Ungewöhnlichste aber ist: Resultiert der Suspense bei Hitchcock sonst daraus, daß wir uns wünschen, der Held möge schleunigst herausfinden, was wir schon wissen (denn meistens hängt sein Leben davon ab), so stürzt uns VERTIGO in einen tiefen Zwiespalt. Scotties Leben ist nicht im geringsten gefährdet, wohl aber sein Glück. Doch das wird, so ahnen wir schon hier, vorbei sein, wenn er hinter Judys Geheimnis kommt.

Vielleicht war sich Hitchcock dessen gar nicht bewußt, aber er versetzt uns in die Situation eines Menschen, der soeben Informationen erhalten hat, die über das Schicksal anderer Menschen entscheiden, und nicht weiß, ob er sie weitergeben soll. Folglich denken wir weniger über diese Informationen selbst als über ihre Konsequenzen nach. So gelingt es Hitchcock, den womöglich absurdesten Mordplan, den man in seinen Filmen findet, offenzulegen und zugleich wieder zu vertuschen. Warum ist Gavin Elster als Zeugen für den vermeintlichen Selbstmord auf einen Mann verfallen, der an Höhenangst leidet? Konnte sich der Mörder denn darauf verlassen, daß es Scottie nicht bis zur Turmspitze schafft? Konnte Gavin Elster darüber hinaus sicher sein, daß er und Judy nach dem Mord auf dem Turm nicht entdeckt würden? Wie wahrscheinlich ist es, daß Scottie Elsters Frau vorher nie zu Gesicht bekam? (Hitchcock zeigt sie uns nicht, so daß uns dieses Problem nicht richtig ins Bewußtsein tritt.) Wird selbst bei der Verhandlung kein einziges Foto der wahren Madeleine Elster vorgelegt, das Scottie sofort die Augen öffnen würde? Warum verpflichtete Elster mit Judy eine Frau, die in der gleichen Stadt lebt wie Scottie und diesem tagtäglich über den Weg laufen kann?

In diesem Mordplan findet man Löcher, wohin man sieht - doch der Zuschauer blickt kaum in sie hinein. Ihm geht es wie Scottie: Hitchcock hat uns verliebt gemacht in seinen Film, wir sind zu sehr von seiner Schönheit geblendet, um klar zu sehen, zu begierig darauf, das Abenteuer, auf das wir uns eingelassen haben, nun auch auszukosten. Eine ménage à trois zwischen Judy, Scottie und uns hat begonnen, und es wäre gänzlich unromantisch, auf die Vernunft zu hören, die uns davor warnt, uns dem Film hinzugeben. Wenn Hitchcocks Ablenkungsmanöver versagen, wenn die jäh herauf beschworenen lebensgefährlichen oder irrwitzigen Situationen uns nicht mehr hinwegtäuschen können über all den groben Unfug - dann ist es an uns, großzügig zu sein oder nicht. Manchmal müssen wir Hitchcock seine Willkürakte einfach verzeihen. Und wenn wir dies tun, können wir ziemlich sicher sein, daß er uns für unsere Nachsicht reich belohnen wird.


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