Alfred Hitchcock wurde am 13. August 1899 im
Londoner Eastend als drittes Kind eines römisch-katholischen
Gemischtwarenhändlers geboren. Seine Mutter, irischer Abstammung,
blieb für den jungen Hitchcock nach dem frühen Tod des Vaters 1914
der einzige Bezugspunkt. Er wohnte bei ihr, noch als er verlobt war.
Besitzergreifende und mächtige Mutterfiguren beherrschen Hitchcocks
Filme. Die Abhängigkeit der Fiktionen von der Erfahrung des
Künstlers scheint auf der Hand zu liegen. Ebenso unter anderem
Aspekt: der dicke und einsame Junge, durchpulst von allgegenwärtiger
Angst, so Hitchcock später, wurde zum Zuschauer des Lebens, das
andere führen. Katholische Erziehung, auch in einer Jesuitenschule,
und die Prägung durch sein soziales Umfeld, "Cockney", scheinen ihm
ein auffälliges Schuldbewußtsein und zugleich rebellische Attitüden
gegen herkömmliche Normen eingeprägt zu haben. Seine Angst vor der
Polizei und die Mißachtung dieser staatlichen Behörde wie die Furcht
vor dem Eingesperrtsein sind Leitmotive vieler Anekdoten, die
Hitchcock selbst in die Welt setzte. Hinter ihnen scheint er sich
manchmal, gleichsam wie hinter autobiographischen Kulissen, ähnlich
zu verbergen wie hinter der ziemlich mächtigen Hülle seines Leibes
und einer äußerst beherrschten korrekten Erscheinungsweise - nur
durchbrochen von seiner Neigung zu verletzenden Scherzen und
Sarkasmen. Die von Donald Spoto ausführlich recherchierte
Charakteristik Hitchcocks als eines Viktorianers, eines
Repräsentanten der durch zwanghaften Puritanismus gekennzeichneten
viktorianischen Periode, der seinen Wünschen und Begierden nur im
Film Gestalt anzunehmen erlaubt, hat bis heute keine wesentliche
Einschränkung erlitten: außen ein disziplinierter, souveräner Dr.
Jekyll, ein Meister der Verdrängung und Selbststilisierung zum
ordentlichen Mitbürger, innen ein von schweren unterdrückten
Schüben, Versagens- und Rachegefühlen gebeutelter Mr. Hyde (um das
von Robert Louis Stevenson stammende exemplarische Doppelporträt der
gespaltenen viktorianischen Männerpersönlichkeit
aufzugreifen). Hitchcock heiratete mit 27 Jahren die
Schnittmeisterin und Autorin Alma Reville; das einzige Kind der
beiden, Tochter Patricia, trat später in wenigen seiner Filme in
Nebenrollen auf. Alma Reville blieb bis an sein Lebensende
unverzichtbare Partnerin und Beraterin in künstlerischen und
ökonomischen Fragen. Doch der scheinbar so gefestigte Familienvater
verriet bald eine obsessive Leidenschaft für einen bestimmten
Frauentypus (dem die kleine, bewegliche und rothaarige Alma Reville
überhaupt nicht entsprach), der bereits früh in seinen Filmen zur
Geltung kam: die kühle, blonde, unnahbar wirkende Schöne, die ein
Geheimnis zu haben scheint oder bloß vortäuscht und für den Helden
eine unberechenbare Verlockung und Gefahr birgt. Diese Heroine gerät
in den späteren Filmen Hitchcocks nicht nur in Not, vielmehr wird
sie in quälenden Situationen moralisch und physisch gemartert oder
gar vergewaltigt und umgebracht (Vertigo, Psycho, Frenzy) -
die unerreichbaren Objekte, die Begierde erwecken, müssen
offensichtlich vernichtet werden. Die unverkennbar sexuell gefärbten
Tötungsphantasien in Hitchcocks erzählter Welt werden meistens durch
spielerische Ironie, durch den Humor der grotesken oder
karikaturistischen Übertreibung gebrochen, die für seine Behandlung
von Kriminalgeschichten so kennzeichnend sind wie die Verknüpfung
von Liebesdrama und Mordspektakel.
Hitchcock hatte als Regisseur ein gewaltiges
Lebenswerk vollbracht, als er am 29. April 1980 in Los Angeles an
Nierenversagen starb: Mit 53 Kino- und 20 Fernsehfilmen und dank
geschickter Selbstvermarktung hat er nicht nur die Wertschätzung
eines riesigen Publikums und ebenso der Kritik erworben, seine
rundleibige Gestalt, selbst nur als Schattenriß, ist eine ähnlich
vertraute Ikone der Filmgeschichte geworden wie die Trampfigur
Charlie Chaplins. Seine Lehrzeit absolvierte Hitchcock in Studios
des deutschen Stummfilms, in denen er von Vorbildern wie Friedrich
Wilhelm Murnau und dessen Film Der letzte Mann (1924) lernte,
mit der Kamera zu erzählen und Bilder zu erfinden, welche die
subjektive Wahrnehmung einer Figur verdeutlichen. Der jeweilige
Affektzustand einer Person - Angst, Argwohn, Wahn, Krankheit,
Besessenheit usw. - reguliert deren Blick auf die Welt und läßt ein
jeweils anderes Gesicht der Dinge entdecken. So geht es zum Beispiel
der vergifteten jungen Frau in Berüchtigt (1946) oder dem von
seiner mysteriösen Madelaine faszinierten Scottie in Vertigo
(1958). Diese ausgeprägte Stummfilm-Ästhetik bewahrte und nutzte
Hitchcock auch für seine Tonfilme. Sogar die hörbare Welt kann
nach der jeweiligen Figurenperspektive moduliert werden, die von
Hitchcock immer sorgfältig abgestimmten Geräusche geben dann etwas
von der spezifischen Empfindung einer Person wieder. Natürlich
vermischt sich mit diesen subjektiven Anmutungen eine objektivere
Sicht, die neutrale Milieus registriert, in der sich all die anderen
offenbar konfliktfrei oder nach üblichen Regeln bewegen, doch dient
diese Alltagsrealität oft nur als mehr oder weniger zähes Fluidum,
das die Verfolgten und die Verfolger mühevoll durchdringen. Ob es
die schottischen Highlands sind oder ein New Yorker Bahnhof, das
jeweilige Environment schafft Hindernisse und erweitert oder verengt
sich je nach der Dramatik der Situation. Jenseits eines Zimmers oder
umgrenzten Handlungsbereichs trug Hitchcock keine Bedenken, gegen
jede Wahrscheinlichkeit zu verstoßen. Auf die realen Dimensionen des
weiten Außenraums wollte er selbst bei seinen Verfolgungsjagden oder
Action-Szenen in Eine Dame verschwindet (1938) oder noch in
Der unsichtbare Dritte (1959) keine Rücksicht nehmen, da
schnitt er die passenden Stücke aneinander, der Studiocharakter
nachgebauter Schauplätze springt ins Auge, in den letzten Filmen
gestattete er sich sogar erbärmlich falsch wirkende Rückprojektionen
bei Autofahrten. In vier Wänden war er dagegen genau und konnte
Echtzeit- und Echtraum-Eindrücke durch komplizierte Kamerafahrten
und kontinuierlich gedrehte Szenen vermitteln. Es ist daher nicht
verwunderlich, daß Hitchcock - bis in seine amerikanische Zeit
hinein - immer wieder Bühnenstücke aufgriff und geschickt ins andere
Medium übertrug. Im Innenraum festgebundene Protagonisten, die nicht
schnell ihren Ort verändern können, interessierten ihn bevorzugt -
wie der zwangsweise im Rollstuhl sitzende Reporter in Fenster zum
Hof (1954), der Detektiv in Vertigo, der seine Höhenangst
nicht überwinden kann, oder die kleine Familie in Die Vögel
(1963), die in ihrem Haus von Scharen einst so harmloser Tiere
belagert wird. Hitchcock galt in Hollywood lange Zeit nur als
hervorragender Spannungs-Techniker, weil man auf der durch das
Melodram dominierten Werteskala offenbar nicht einordnen konnte, daß
er soviel raffinierte Kunstfertigkeit in der Bildgestaltung und
hindernisreichen Wegplanung seiner Erzählung auf 'niedere' Motive
verwendete wie Begierden, Mord und Verfolgung. So erhielt Hitchcock
nie einen Oscar für einen einzelnen Film. Rebecca (1940),
seine erste amerikanische Produktion, wurde zwar zum besten Film des
Jahres erklärt, doch der Preis fiel dem Produzenten David O.
Selznick zu. Bei dieser zweifellos herablassenden Wertung wurde
augenscheinlich übersehen, daß sich Hitchcocks Filme immer wieder
eindringlich mit verschiedenen Phänomenen existenzieller Angst
beschäftigen, zum Beispiel der scheinbaren Ausweglosigkeit dessen,
der aus einem Mißverständnis heraus, wegen unzutreffender Anklagen
und Beschuldigungen gejagt wird und von niemandem Glauben für die
Wahrheit erwarten darf. Dies gilt für Die 39 Stufen (1935),
noch in England gedreht, bis zu Verdacht (1941) oder Der
unsichtbare Dritte. Diese Gejagten dürfen in der humoristischen
Spielart allenfalls durch Verblüffung und unerwartetes Rollenspiel
die Umzingelung zu ihren Gunsten durchbrechen, sie treten als
falsche Redner auf oder stören eine Auktion, sie retten sich in den
Schutz der Öffentlichkeit und benutzen deren Riten und Zeremonien
für sich, indem sie sich z.B. in diese eingliedern. Die
aufgezwungene falsche Identität kann den Helden Hitchcocks zum
Alptraum werden, besonders, weil es ihnen oft nur in letzter Sekunde
gelingt, dem Zugriff zu entkommen, und sich die Prüfungen und
Überlebensproben zu einer langen Prozession schlimmstmöglicher
Varianten verketten. Dabei ereilt das Schicksal die Helden
vorwiegend in Gestalt eines Zufalls, einer Kombination beliebiger
Umstände, die plötzlich das zufriedene Dasein verändern und die
Figuren in äußerste Not bringen. Gegen die Tradition versöhnlicher
Schlüsse behauptet sich in Hitchcocks Filmen häufig (nicht immer)
eine augenscheinlich erbarmungslose Welt, in der Unschuldige oder
Halb-Bescholtene geopfert werden, ohne daß ihnen (poetische)
Gerechtigkeit widerfährt. Dies gilt von Sabotage (1936) über
Psycho (1960) - hier wird die Diebin, als sie Reue zeigt und
umkehren will, viehisch erstochen - bis Frenzy
(1971).
Hitchcock hat oft beteuert, daß er die
Whodunit-Fabeln (wer hat es verbrochen?), die Suche nach einem Täter
unter lauter Verdächtigen und Unverdächtigen meide. Er richtete das
Augenmerk auf seine Konzeption des Suspense: Die Zuschauer wissen
mehr als die handelnden Figuren und bangen daher um so stärker mit,
weil sie ein Ende mit Schrecken nicht ausschließen können. Indes
zeigt sich, daß Hitchcock immer wieder gegen seine Theorie verstieß
und mit unbekannten Größen spielte, also mit Formen des 'surprise'.
Zahlreiche Überraschungen, unvorhersehbare Wendungen der Geschichte
und Enttarnungen überzeugen die Zuschauer davon, daß ihnen vieles
unklar geblieben ist und sie nur in wenigen Fällen im voraus wissen,
was geschehen könnte. In seiner englischen Phase zwischen Der
Mieter (1927) und 1939, dem Jahr der Umsiedlung nach Amerika
(auf Einladung von Selznick), drehte Hitchcock 23 Filme, einige
davon flüchtig und desinteressiert, ständig im Kampf mit bestürzend
ignoranten Produzenten. Der legendär gewordene Michael Balcon als
sein wichtigster Förderer war eine erfreuliche Ausnahme. Wegen der
Experimentierlaune sind von den Stummfilmen Hitchcocks hevorzuheben:
Der Mieter, eine der ersten von vielen Geschichten, die eine
Person unter falschen Verdacht stellen und ausgrenzen, und
Erpressung (1929), ein Film, der bereits Tonelemente
aufgreift und in die Wahrnehmungswelt einer Person integriert. Von
den Tonfilmen erreichten bereits Die 39 Stufen und Eine
Dame verschwindet erstaunliche Reife: geschickte Eingliederung
behaglicher oder burlesker Episoden in den überwölbenden
Spannungsbogen, pfiffig pointierende Einstellungen, heiterer
Erzählwitz dämpfen die Angstspannung, ohne sie ganz aufzulösen.
Situationen erscheinen unter Doppelaspekt: zugleich unter dem Aspekt
des Hilfesuchenden, des Gejagten, der wenig Gelaassenheit aufbringt,
gleichsam befangen ist, und dem objektiveren Aspekt eines
Betrachters, der den Humor oder das Unheimliche der Konstellation
versteht. Erinnert sei an Sequenzen wie die Begegnung des
flüchtenden Helden (in Die 39 Stufen mit dem Bauernpaar in
den schottischen Highlands, bei der der eifersüchtige Landmann
sofort - in völliger Verkennung der Lage - eine Liebesbeziehung
zwischen seiner jungen Ehefrau und dem attraktiven Stadtmenschen
befürchtet, oder an die Einkehr des Helden in eine Herberge mit
einer Frau, die durch Handschellen an ihn gefesselt ist, die ihm
durchaus entkommen will und nicht bereit ist, das Täuschungsspiel,
sie seien ein Liebespaar, mitzumachen - während die gerührte Wirtin
- gleichfalls in völliger Verkennung der Lage - das Paar vor allen
Nachstellungen schützt. Eine andere Sequenz (aus Eine Dame
verschwindet) löst bei einer Figur Zweifel an der
Zuverlässigkeit ihrer Realitätskenntnis aus und folgerichtig am
eigenen Verstand: Die Heldin wacht in einem Eisenbahnabteil auf und
vermißt ihr Gegenüber, die alte Dame - und alle Mitreisenden
bestreiten auf die bestürzten Fragen der jungen Frau hin standhaft,
die Lady je gesehen zu haben. So könnte eine Reise in den Wahnsinn
beginnen. Hitchcock drehte auffällig viele Spionagethriller,
nicht weil ihn ein politisches Interesse in der Zeit des Dritten
Reichs und dann des kalten Krieges angetrieben hätte, als es genug
Beispiele für die Bespitzelung des 'Feindes' gab, sondern weil ihn
der Umstand fesselte, daß augenscheinlich biedere und angesehene
Mitbürger im Verborgenen destruktive Ziele verfolgen, also ein
Doppelleben führen, daß Menschen unsichtbare Masken tragen und kein
Vertrauen verdienen.
Als bedeutendster Regisseur Englands importiert,
setzte Hitchcock seine Arbeit in Amerika mit einem Film fort, der
schauer-romantisch-europäisches Gepräge trägt: Rebecca
(1940). Anschließend versuchte er energisch, sich amerikanische
Sujets und Schauplätze zu erschließen, jedoch: seine bewegliche
Kamera, die berühmten langen Einstellungen, die Szenen in ihrem
Verlauf so festlegen, daß der Schnitt nicht mehr viel verändern kann
und den Produzenteneinfluß beim Final Cut eng begrenzt, seine
subjektiven Figurenperspektiven und entsprechende Forderungen an
eine das Normalmaß übersteigende Ausstattung unterscheiden sich
merklich vom Hollywood-Standard: Als die junge Frau DeWinter
(Rebecca) in die Gemächer ihrer mystifizierten Vorgängerin
Rebecca eindringen will, muß sie erst eine riesige Tür öffnen - wie
ein furchtsames Kind betritt sie den Palast der überlebensgroßen
Toten. So viele schöne Details auch Verdacht und Ich
kämpfe um Dich (1945) aufweisen, etwa die in der endgültigen
Version stark gekürzte Traumsequenz im zuletzt genannten Film, die
Salvador Dalí nach Hitchcocks Vorstellungen entwarf, Hitchcock´s
einprägsamste Filme der vierziger Jahre sind nach Rebecca
wohl Im Schatten des Zweifels (1943), Das Rettungsboot
(1944) und Berüchtigt. Im Schatten des Zweifels weist
eine von Hitchcock auch später bevorzugte Doppelstruktur auf:
Charlie, der Witwenmörder, und Charlie, seine Nichte, sind innerlich
aneinandergekettet wie später die beiden Protagonisten in Der
Fremde im Zug (1951). Das Rettungsboot sticht ab von den
üblichen intellektuellen Kriegsanstrengungen Hollywoods im Kampf
gegen Hitlerdeutschland. Hitchcock ist stets die Zwangssituation
willkommen, die hier eine gemischte Gesellschaft von Überlebenden in
einem Rettungsboot zusammenpfercht. An ein Entrinnen ist nicht zu
denken. Die Psychologie der Gruppe wird allmählich entfaltet: Die
meisten sind Zivilisten und unterwerfen sich schrittweise dem
Kommando des Feindes, eines deutschen U-Boot-Kapitäns. Zum Schluß
bringen sie ihren Gegner gemeinsam um. Dramaturgie, die einen
starken Gegenspieler braucht, hat der politischen Korrektheit ein
Schnäppchen geschlagen - was Hitchcock verärgerte Reaktionen
eintrug. Der Film blieb daher lange Zeit unbekannt.
Berüchtigt gehört zu den Meisterwerken - dank der
melodramatischen Konfiguration zwischen einer angeblich labilen, zur
Trunksucht neigenden Frau, die sich vom amerikanischen Geheimdienst
mit einem Nazi in Südamerika verkuppeln läßt, und ihrem
Agentenführer, den sie liebt, der aber im Konflikt zwischen Pflicht
und Neigung fast zu lange der Pflicht den Vorrang einräumt; dank
aber auch der Besetzung der weichen, sinnlichen und scheinbar ihr
Unglück als Lebensschicksal akzeptierenden Frau durch die
traumwandlerische Ingrid Bergman, des Agenten, der vor der Zumutung
der Frauen mißtrauisch zurückweicht, durch einen oft finsteren Cary
Grant und des Nazi-Ehemannes durch Claude Rains, der seine ihm
zugetrickste Frau tatsächlich liebt und nicht im Klischee des bösen
Feindes aufgeht. Dringliches Begehren und kühlende Hemmung stoßen
aufeinander in der berühmten Kußsequenz in der Wohnung über dem
Strand von Rio. Bergman beschmust aufs innigste den abwehrenden
Grant: die Authenzität der Liebe wird verkannt durch das Mißtrauen
eines Mannes, der die Hingebung der Frauen nur als Kalkül oder als
Charakterlosigkeit begreifen kann. Rope - Cocktail für eine
Leiche (1948) ist ein extremes Beispiel für Hitchcocks
ästhetische Risikofreude. In wenigen etwa zehn- bis zwölfminütigen
Plansequenzen erzählt er eine Geschichte, die so lange dauert wie
der Film. Um eine so künstliche Einschränkung des Handlungsraums und
der Handlungszeit im Studio verwirklichen zu können, mußten im
Atelier für die verwickelten Kamerabewegungen ständig die Wände
hochgezogen oder verschoben werden. Doch die Spekulation, eine
fließende und ununterbrochene Spannungsbewegung müsse immer einen
höheren Gefühlsausschlag zur Folge haben als eine sprunghafte, auf
Montage vertrauende Erzählung, erwies sich als Fehlspekulation.
Hitchcock hat, das bestätigen viele Zeugen, während
der Arbeit an seinen Drehbüchern gewöhnlich sehr detailliert, selbst
mit Hilfe von Zeichnungen, Kamerabewegungen und Schnittfolgen
festgelegt, sodaß er sich nach der Gestaltung seines Films im Kopf
(und auf dem Papier) bei der Umsetzung im Studio oft zu langweilen
schien, zumindest nachdem er die Kamerapositionen bestimmt hatte.
Seine Arbeit mit Schauspielern wird oft als nachlässig beschrieben,
mit Ausnahme der Fälle, in denen er eine blonde Schauspielerin
besitzergreifend unterwerfen wollte. Und doch sind etliche seiner
großen Filme ohne die Präsenz der Schauspieler nicht vorstellbar: In
Bei Anruf Mord (1954) gewährt die junge und schöne 'Lady'
Grace Kelly der Rolle der zu Unrecht des Mordes verdächtigten
Ehefrau ihre elegante und subtile Sinnlichkeit. Fenster zum
Hof lebt nicht nur vom Voyeurismus des an den Rollstuhl
gefesselten Reporters im heißen Stadtsommer, sondern auch von der
Spannung zwischen dem gefesselten Abenteurer des James Stewart und
der unprätentiösen Vornehmheit Grace Kellys, die um so mehr
Spielraum gewinnt, als der Mann keinen hat. Die verzweifelte Mutter
aus dem bürgerlichen Mittelstand in der zweiten, amerikanischen
Version von Der Mann, der zuviel wußte (1956) erhält durch
Doris Day überzeugend brave und heldenmütige Gestalt. Die Intimität
der Blicke zwischen dem immer besessener seiner Liebe verfallenden
Detektiv (James Stewart) und der selbst im grauen Kostüm
kräftig-erotischen, dennoch sich stets entziehenden weiblichen
Hauptfigur (Kim Novak) verleiht Vertigo seine sehnsüchtige
erotische Spannung, die wie bei 'Tristan und Isolde' nie zu einer
befriedigenden Lösung findet. Cary Grant ist in Der unsichtbare
Dritte wesentlich daran beteiligt, daß hier Hitchcocks heiterste
und pointierteste Verfolgungskomödie entsteht. Grant - das
entspricht seinem Rollenprofil - scheint beinahe in jeder
unmöglichen Lage bemüht, Gentleman zu bleiben, im Gespräch mit
seiner spöttisch herablassenden Mutter, betrunken hinter dem Steuer
oder auf der Flucht vor einem Flugzeug. Immer ist er etwas
unangepaßt, immer der Schwerkraft der schlimmen Realität ein wenig
enthoben. Sein intelligentes Spiel mit der Situation - wie in der
Kunstauktion, die er durch erheiternde Regelverletzungen sprengt, um
sich selbst zu retten, macht ihn überlegen. Erstaunlich für die
späten fünfziger Jahre, in denen der puritanische Hayes-Codex noch
galt, ist die Offenheit der sexuellen Einladung durch Eva Marie
Saint und ihre sexuelle Doppelbeziehung zum guten und zum bösen
Helden. Motive aus Die 39 Stufen und Berüchtigt
vermischen sich in Der unsichtbare Dritte zu einem der
freizügigsten und bei aller Spannung lockersten Als-ob-Fiktionen,
beinahe einer Genreparodie, die alle Angst befristet oder in
Gelächter auflöst. Als Hitchcock um die sechzig Jahre alt war,
gelangen ihm die größten Erfolge bei Kritikern und Publikum:
Vertigo, Der unsichtbare Dritte, Psycho und
Die Vögel. Hitchcock hat Psycho mit einem Fernsehteam
im Stil eines Fernsehfilms gedreht - also nicht mit seinem
Kameramann Robert Burks, der zwischen 1951 (Der Fremde im
Zug) und 1964 (Marnie) fast alle Hitchcockfilme
fotografierte. Dem Reportageformat des neuen Mediums und der
Tradition des Film Noir gleichzeitig entsprechen das Schwarzweiß,
die Helldunkel-Akzente oder auch die fast pädagogische Information
im Schlußteil, als ein Psychiater den merkwürdigen Fall des
Muttermörders Norman Bates in ziemlicher Breite erläutert. An das
Horrorgenre gemahnen das unheimliche Haus, Motive wie die
ausgestopften Vögel oder Schockmomente wie die Duschszene. Die
ungewöhnliche Konstruktion hat Hitchcock bereits in Vertigo
erprobt. Der Film scheint mittendrin zu Ende zu sein: In
Vertigo mit dem angeblichen Todessturz der geliebten
Madeleine vom Kirchturm, in Psycho mit der Reue der Diebin am
Abend im Motel. Doch nach dem Trugschluß setzt eine neue Handlung
ein. Die Duschsequenz mit ihren über 60 Einstellungen ist im
Grundriß übrigens von Saul Bass entwickelt worden, der auch die
suggestiven Vorspänne von Vertigo und Psycho graphisch
konzipierte. Psycho erzählt einen denkwürdigen und
sensationellen Fall - und zieht keine Moral daraus. Schuld und
Strafe stehen in keinem irgendwie begründbaren Verhältnis
zueinander: Warum muß dieses Mädchen abgeschlachtet werden? Es ist
ein 'schwarzer Film', auf die 'gottabgewandte' Seite der
Wirklichkeit starrend und zugleich fasziniert von dem Umstand, daß
man einem anderen in sich, Mr. Hyde oder der strengen Mutter, die
Verantwortung für Morde aller Art zuschieben darf. Die Schockeffekte
sind wohlkalkuliert und selten durch Suspense-Technik begründet,
vielleicht sogar trivial: gellende Schreie, riesige Messer, die
vorstechen, der jähe Überfall aus halbgeöffneten Türen, gurgelnder
Schlamm, in dem Autos versinken, ein Mumienkopf im schwankenden
Kellerlicht. Daß der Schrecken ein nervöses Gesicht mit
unergründlichen dunklen Augen, ein physiognomisches Angstmotiv im
ganzen Film, erhalten hat, liegt an der Gestaltung der Rolle des
Norman Bates durch Anthony Perkins.
Wie Psycho dem Publikum das Vertrauen in
abseits liegende Motels geraubt hat, so haben Die Vögel die
franziskanische Zuneigung zu gefiederten und flatternden Lebewesen
erschüttert. In diesem Film Hitchcocks spielt sich die Tricktechnik
in den Vordergrund und verwandelt friedliche Tiere in aggressive
Schwärme, stellt damit die natürliche Ordnung auf den Kopf. Zwar
haben einzelne Interpreten beobachtet, daß die Tiere im Film
angreifen, wenn Menschen sich ihr Verlassensein eingestehen, andere,
daß die Attacken oft mit dem Verlassenheitsgefühl der Mutter
korrespondieren und gerade die am heftigsten verwunden, gar töten,
die als junge Frauen ihrem Sohn nahegekommen sind, als seien die
über Bodega Bay kreisenden Wesen Verkörperungen ihrer Rachewünsche.
Restlos läßt sich der Zusammenhang nicht klären, daß aber
schließlich eine Art Waffenstillstand entstanden ist zwischen den
Kombattanten, wird deutlich, als sich der Wagen mit der Familie und
der verletzten, tief verstörten Freundin langsam durch Heere von
abwartenden Vögeln entfernt. Hitchcock wollte ausdrücklich kein
Schlußsignet 'The End'. Tippi Hedren, ursprünglich ein Fotomodell,
wirkt als Schauspielerin gehemmt, sie stellt eine grazile,
disziplinierte junge Frau aus besseren Kreisen mit streng
kontrollierter Frisur dar, die im Film systematischer Zerstörung
ausgesetzt wird: ein Opfer. Im nächsten Film, Marnie, spielt
sie eine krankhafte Diebin mit verdrängter Vorgeschichte. Wieder
einmal ist die hartherzige Mutter schuld. Die (zugegeben:
deformierte) Identität Marnies wird zerbrochen, ebenso ihre
Unabhängigkeit, bis sie willenlos und 'geheilt' sich einem ziemlich
brutalen Mann ergibt. Nach zwei weiteren, ziemlich humorlosen
Spionage-Filmen (Der zerrissene Vorhang, 1966, und
Topaz, 1969) kann als respektables Alterswerk noch
Frenzy gelten: eine grimmige Studie über einen Frauenmörder
aus dem Marktviertel eines London, das nach Meinung eines britischen
Kritikers nach Mottenkugeln rieche: Erinnerungen an die Umwelt der
eigenen Kindheit? Durchaus zeitgenössisch wirkt dagegen die schon in
Psycho begonnene Aufhebung der Blickverbote: die ungenierte
Darstellung einer Vergewaltigung und des nackten Opfers.
Familiengrab (1976) ist dagegen ein leichter Abgesang des
inzwischen 77jährigen Regisseurs, der seinen Film nicht mehr ganz
ernst nimmt und ihm deshalb auch keine komplizierten
Spannungsabläufe aufzwingt.
Komponisten haben zu einigen Filmen Hitchcocks
vorzügliche Partituren geschrieben, die die Grundstimmung
musikalisch intensivieren: Franz Waxmans romantisch-nostalgische
Ouvertüre zu Rebecca mit ihrer leicht vergiftet klingenden
Süße wäre ebenso zu nennen wie Bernard Herrmanns süchtig strudelnde
Musik zu Vertigo, mit Reminiszenzen an Richard Wagners
Tristan-Klänge und dessen kreisendes Melos. Meisterlich als
illustrierende und zugleich den Grundgestus erfassende Komposition
ist Herrmanns Psycho-Musik, harte, pfeifende und peitschende
schnelle Repetitionen, die den Akt des Zustechens gleichsam als
musikalische Figur spiegeln. Hitchcock hat als überlegener
Stratege des spannungsvollen Erzählens durch das Erfinden vieler
Hindernisse auf dem Weg des Helden, durch suggestive Kamera-Dynamik
und wohlkalkulierte Einstellungsfolgen kaum seinesgleichen in der
Filmgeschichte. Er hat das Verbrechen selten durch schnöde Habgier
motiviert, vielmehr psychologisch durch einen dunklen Drang oft -
uneingestanden - sexuellen Charakters. Sein Humor hat in vielen
Filmen Distanz zur Not der gerade Verfolgten geschaffen, die
Relativität der Angst behauptet. Selbst in seinen kleinen Werken ist
in etlichen Sequenzen noch eine Kunst der 'Manipulation' zu
bestaunen, von deren Kalkuliertheit die berühmt gewordenen Gespräche
mit Francois Truffaut Zeugnis ablegen, die mitte der sechziger Jahre
stattgefunden haben. Aus Reclams Lexikon der
Filmregisseure
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