GÖTTINNEN - DÄMMERUNG

Das Ende eines Mythos: Auch bei den Minoern herrschten nicht
die Frauen - darauf deutet der Fund einer edlen Zeus-Figur hin

von Christian Bauer (Focus Online, 13. September 2007)

Anmerkungen, zusätzliche Bilder und Links: Nikolas Dikigoros

Der neue Gott der Minoer kam wie Phönix aus der Asche. Im Frühjahr 1987 machte das Team um den kanadischen Archäologen Alexander MacGillivray im Osten der Insel Kreta einen der aufregendsten Funde der jüngeren Archäologiegeschichte: den fast völlig zerstörten und verbrannten Torso einer männlichen Figur aus Elfenbein. Erstaunen, Unglauben und erbitterter Widerstand waren die ersten Reaktionen der Fachwelt auf den Fund. Denn was in minutiöser Arbeit aus oft nur millimetergroßen Fragmenten unter der Hand des Restaurators entstand, war die 40 Zentimeter hohe Statue eines jungen, aufgerichteten Mannes aus Elfenbein und Gold – den wertvollsten Materialien der Antike. „Wäre die Figur irgendwo auf dem Antikenmarkt aufgetaucht, jeder hätte sie für eine Fälschung gehalten“, sagt MacGillivray. „Ablehnen konnte man sie nicht, denn jeder Moment ihrer Entdeckung war bestens per Video dokumentiert.“ Er hat kein Gesicht, dieser Kouros von Palekastro, wie MacGillivray die Gestalt nach dem Fundort nannte. Dass es sich dabei jedoch um das Abbild eines bislang unbekannten Gottes der Minoer handelt, der unser Bild über die Hochkultur von Grund auf verändern könnte, dessen ist sich der Archäologe gewiss. Denn der Kouros besitzt das falsche Geschlecht.

In der Welt der Minoer, deren Kultur bis etwa 1500 v. Chr. auf Kreta florierte, herrschte nach der Auffassung der Archäologen eine Muttergottheit, die unter dem Namen Schlangengöttin bekannt wurde. Ihre berühmteste Darstellung stand lange im Museum of Fine Arts in Boston: eine Elfenbeinfigur in weitem, plissiertem Gewand mit provokanten Brüsten und weit vorgestreckten Armen, um die sich goldene Schlangen winden. Stolz und unerschrocken signalisiert sie zugleich Eros und Gefahr. Sie wurde zu einer Ikone der Frauenbewegung. Das Problem ist nur: Die Figur ist nicht original, wie kürzlich eine Altersbestimmung nach der Radiocarbonmethode ergab. Das Elfenbein datiert nicht, wie es sollte, aus dem 15. Jahrhundert vor, sondern nach Christus. Vor wenigen Monaten entfernte daher das Museum seine berühmte Schlangengöttin aus der Ausstellung ins Archiv – sehr zum Kummer ihrer zahlreichen Verehrer. Auch das Royal Ontario Museum in Toronto hat inzwischen eine ähnliche vermeintlich minoische Frauenfigur aus Elfenbein aus der ständigen Ausstellung genommen. Diese Figur, ebenso vollbusig wie die Schlangengöttin, trägt kurioserweise ganz unpassend einen fein ziselierten, goldenen Penisschutz. Ein Scherz des Fälschers? Der Radiocarbontest steht noch aus.

(Anm. Dikigoros: Früher war man vorsichtiger und bildete die hermafrodite "Schlangengöttin" nur von der Seite ab, damit solche Peinlichkeiten nicht auffielen :-)

Der Irrtum des Archäologen Evans

Schon jetzt ist jedoch klar, dass das Bild der friedlichen, farbenfrohen und der Natur zugewandten Gesellschaft der Minoer, in der die Frauen eine dominierende Rolle hatten, auf arg tönernen Füßen steht. Diese romantische Auffassung geht wesentlich auf Sir Arthur Evans zurück, neben Heinrich Schliemann (Troja) und Howard Carter (Grab des Tutanchamun) einer der großen Heroen der klassischen Archäologie.

Als Evans zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts auf Kreta den Palast von Knossos entdeckte, erweckte der Engländer ein faszinierendes Volk zum Leben: die Minoer. Wie schon Schliemann orientierte sich Evans an den antiken Mythen, um seine Funde zu deuten. Sie erzählen von einem König Minos, der auf Kreta herrschte –und dem Minotaurus, einem Monster, halb Mensch, halb Tier. Die Sagen berichten indes nichts von einer Schlangengöttin. Sie entsprang Evans Fantasie, die sich vom Fund zweier Frauenfiguren in Knossos inspirieren ließ. Dass es sich um Symbolfiguren eines Matriarchats handeln könnte, leitete Evans von Vorstelllungen des Schweizers Johann Jakob Bachofen ab. Dieser mutmaßte, prähistorische Gesellschaften hätten einer Urmutter allen Seins gehuldigt.

MacGillivray vermutet bei Evans daneben psychologische Motive: Als Kind hatte er seine Mutter verloren. Seine junge Frau war nach nur kurzer Ehe gestorben. Die Verluste soll er nie verwunden haben. Und als kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Boston unter mysteriösen Umständen eine Schlangengöttin aus Gold und Elfenbein auftauchte, war das für Evans der letzte Beweis für die Gültigkeit seiner Ideen. Die Hinterlassenschaften der Minoer sind heute nicht nur unter dem Staub der Jahrtausende, sondern ebenso unter dem Schutt dieser Ideengeschichte vergraben. Dabei ist die Hochkultur weitgehend unbekannt geblieben. Noch immer sind z. B. ihre wichtigsten Schriftzeugnisse nicht entschlüsselt.

Erst allmählich entsteht in den Köpfen einer neuen Generation von Archäologen das wahrhaftige Bild der Minoer. Dass der Kouros von Palekastro darin einen zentralen Platz einnehmen wird – davon ist MacGillivray überzeugt. Der Archäologe vermutet, dass die Minoer nicht so isoliert von anderen Kulturen existierten, wie Evans mutmaßte. Er glaubt, dass sie geografisch und kulturell eine Brücke zwischen Ägypten und den Festlandgriechen bildeten. Der neue, junge Gott ist für ihn ein kretischer Zeus – halb Osiris, halb Göttervater. Ein Herrscher der stirbt und wiedergeboren wird im Wandel der Natur.


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