Als im August 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, ergriff die Welle der nationalen Begeisterung auch Thomas Mann[2]: "wir glaubten nicht an den Krieg, - während wir ihn in uns trugen" (408).[3] Der Behauptung, das Empfinden des deutschen Volkes sei "Entsetzen über die bevorstehenden Greuel" (329) gewesen, hielt er entgegen: "Das Weltvolk des Geistes [d.i. das deutsche Volk], zu überschwänglicher Leibeskraft erstarkt, hatte einen langen Trunk am Quell des Ehrgeizes getan; es wollte ein Weltvolk, so Gott es dazu berief, das Weltvolk der Wirklichkeit werden... Als der Krieg entfesselt war, glaubte Deutschland inbrünstig die seine [Ehrstunde] gekommen, die Stunde der Heimsuchung und der Größe." (330)
Diesen "Krieg gegen äußere Einschnürung und gegen innere Verdüsterung"[4] sah Mann auch als (Volks-)Erziehung.[5]
Als Reaktion auf den Essay Friedrich und die große Koalition (1915), in dem Thomas Mann den Einfall Friedrichs II. in das neutrale Königreich Sachsen verteidigte - die Analogie zur aktuellen Situation (deutsche Truppen in Belgien) war unübersehbar -, veröffentlichte sein Bruder Heinrich Mann[6] seinen Zola-Essay, der, ebenfalls historisch bemäntelt, Gegenposition bezog. Dies führte einstweilig, aber doch über mehrere Jahre hin, zum Bruch zwischen den Brüdern. Davon ausgehend, begann Thomas Mann mit der Niederschrift der Betrachtungen eines Unpolitischen, die er in einem "mehr als zweijährigem Gedankendienst mit der Waffe" (1) vollzog.
Ernst Niekisch erinnert sich: "in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen präsentierte er sich als preußisch-militanten Bürger, der im Waffenlärm Genesung von der Fäulnis und neu aufsprudelnden Vitalität suchte; unduldsam rechnete er mit allen literarischen Ärzten ab, insofern sie sich sträubten, ebenso gläubig den Wechsel der Heilmethoden mitzumachen, wie er selbst es getan hatte."[7] Auszüge aus den Betrachtungen erschienen schon 1917 als Vorabdruck in Zeitschriften. Mann schloß dieses "Produkt[s] einer Einsamkeit" (9) am
Tage des Beginns der Waffenstillstandsverhandlungen mit Rußland ab, es erschien schließlich 1918. Ende 1917 / Anfang 1918 versuchte Heinrich Mann eine briefliche Wiederannäherung an seinen Bruder und eine Versöhnung, die
jener aber zurückwies.[ 8
] Das Zerwürfnis mit Heinrich Mann sollte auch nach dem Kriege fortdauern.
So beklatschte Thomas Mann das Ende der Münchner Räterepublik ("eines
Gefühles der Befreiung und Erheiterung entschlage auch ich mich nicht"[ 9
]) und begrüßte noch 1920 zustimmend den Stimmenzuwachs der
Rechts-Parteien bei der Reichstagswahl im Tagebuch, indes Heinrich Mann
anläßlich der Ermordung des sozialistischen bayerischen
Ministerpräsidenten Kurt Eisner sprach. Mehrten sich seine Zweifel schon
bei dem Kapp-Putsch, gab es nach der Ermordung des Außenministers Walther
Rathenau, mit dem Thomas Mann bekannt war, keinen Zweifel mehr für ihn,
sich von der Sphäre des Reaktionär-Nationalen abzuwenden. Den 'Abschied'
vollzog er in der Rede Von deutscher Republik im Oktober 1922, auf
die unten eingegangen wird. Anläßlich einer Erkrankung seines Bruders
erfolgte die Versöhnung der beiden.[ 10
] Über das Politische der Gebrüder Mann erinnerte sich Golo Mann: "Wenn
ich H.M. und T.M. zusammen politisieren hörte, hatte ich manchmal das
[...] Gefühl: Was reden doch die zwei unwissenden Magier da ? Unwissend,
weil schlecht informiert, weil wirklichkeitsfern. Magier, weil sie sich
andere Wirklichkeiten erträumend oder Lieblingsträume mit Wirklichkeit
gleichsetzend, noch mehr, weil mit stark intuitivem Blick begabt [...]"[
11
]
In einem Brief an Paul Amann schrieb Mann: "Was ich wünsche ist,
daß die Überwindung des politischen Preußentums, die Demokratisierung
Deutschlands, die dieser Krieg offenbar zur Folge haben wird, Deutschland
entdüstern möge, ohne es zu verflachen, daß sein Verhältnis zur
Wirklichkeit sich vertraulicher ... gestalten möge."[ 12
] - "'Unser gesamtes nationales Sein als schuldvoll und irrig erwiesen', -
das ist es, wogegen meine Betrachtungen sich frühzeitig auflehnten."[ 13
]
Mann verfocht die "Identität der Begriffe 'Politik' und
'Demokratie'" (21); indem man Politiker sei, sei man auch zwangsläufig
Demokrat (ebd.). In diesem Sinne ist auch der Titel dieses
"Rechenschaftsbericht[es]" (9f.) an die Öffentlichkeit und an die Freunde
aufzufassen. 'Politik' und die synonym gesetzte 'Demokratie' sind als
"deutschfeindlich" (22) anzusehen: "Politik aber, Demokratie, ist an und
für sich etwas Undeutsches, Widerdeutsches; und der Selbstwiderspruch der
Demokratie, oder doch einer gewissen Demokratie, besteht darin, daß sie
zugleich demokratisch und national sein will.... In Wahrheit mag sie
patriotisch [ 14
]sein ... national ist sie nicht und kann sie nicht sein: Ihr
abstrakter Begriff des Menschentums, ihre gesamte geistige Überlieferung
straft diesen Anspruch Lügen." (254 f.)
Entgegen der landläufig
gebräuchlichen Definition von Politik als der Lehre vom Staate, bzw. der
Regeln und Folgen des Staatslebens, lautete Manns "wahrhaftige Definition
des Begriffes...: Politik ist das Gegenteil vom Ästhetizismus" (214),
wobei er Ästhetizismus nicht als "Schöngeistigkeit" etc. definiert (215),
sondern als die Art der Betrachtung, in der z.B. antipodische Umstände,
wie Krieg und Friede, "mit der gleichen dilettierenden
Einfühlsamkeit, Liebe und freien Anschauung" vertieft wird (216). Und: die
Abwesenheit der Tat vom Werke, was Mann mit Schopenhauer ausführt (217
f.). Weiter in den Betrachtungen relativiert Mann den Gegensatz von
Politik und Ästhetik, zumindest in Hinblick auf die Kunst (535). Mann
sieht sich selbst als 'Ästhet'. Er weiß aber sehr wohl von der
Schwierigkeit, als 'Ästhet', als 'Unpolitischer', über Politik zu
schreiben. Selbst als erklärter Gegner jedoch, trägt er zwangsläufig zu
ihr bei, denn "Anti-Politik ist auch Politik, denn die Politik ist eine
furchtbare Macht: Weiß man auch nur von ihr, so ist man ihr schon
verfallen. Man hat seine Unschuld verloren" (407).
In der
folgerichtigen Ablehnung eines 'politischen' Sieges Deutschlands, erhoffte
Mann sich den Sieg der "innere[n] Politik" (25), die sich in "Kultur,
Seele, Freiheit, Kunst und nicht Zivilisation, Gesellschaft,
Stimmrecht, Literatur" manifestiert (23), die nicht eine "imperiale[n]
Existenz" oder "[g]roße[n] Politik" anstrebt (25), sondern den "Geist"
(ebd.). Zustimmend zitiert Mann aus einem Brief Wagners an Liszt: "Ein
politischer Mann [sic !] ist widerlich" (im Original kursiv; 113). Den
Geist des Demokratismus will er in diesem Essay, diesem "gewissenhafte[n],
erregt durchgeführte[n] Exorzismus"[ 15
], abwehren und austreiben.
Wie stand Mann denn nun zum damaligen
Staatsgefüge, da er doch die drohende Demokratisierung geißelte? Da der
"Künstler[s] und Geistige[n]" sich nur soweit dem Staate verbunden fühlt,
wie er eine Verwandtschaft im metaphysischen Charakter des Staates zu
erkennen vermag, was zu einer Solidarisierung führt, muß der aktuelle
Staat als "nicht besonders verehrungswürdig" (241) angesehen werden, zumal
er zugunsten eines "sozialen" Charakters den "metaphysischen ... mehr und
mehr einbüßt" (ebd.). Mann erhoffte sich also einen Dritten Weg
(ein Begriff, den Mann hier jedoch nicht verwendete), der kaum etwas
mit dem bestehenden und besonders nichts mit dem erahnten kommenden
Staatsgefüge gemein hat. Wie dieser aussehen soll, führte Mann wie folgt
aus: "...ich will eine leidlich unabhängige Regierung, weil nur sie die
Gewähr politischer Freiheit, im Geistigen wie im Ökonomischen, bietet. ...
Ich will nicht die Parlaments- und Parteiwirtschaft, welche die Verpestung
des gesamten nationalen Lebens mit Politik bewirkt. Ich will nicht, daß
Dreyfus aus Politik verurteilt und aus Politik freigesprochen werde, -
denn die Freisprechung eines Unschuldigen aus Politik ist nicht weniger
widerwärtig, als seine Verurteilung aus diesem Grunde.[ 16
] ... Ich will nicht Politik. Ich will Sachlichkeit, Ordnung und Anstand."
(253)
Der dem Kriege folgende Friede, so erhoffte Mann, soll "nicht
international, sondern übernational [sein], er sei kein demokratischer,
sondern ein deutscher Friede" (199); das "gebildetste, gerechteste und den
Frieden am wahrsten liebende Volk [soll] auch das mächtigste, das
gebietende" (ebd.) sein - natürlich dachte Mann hier an Deutschland, denn:
"Deutschlands Selbstbehauptung und Selbsterfüllung, das ist der Friede"[
17
].
Der Krieg wurde von ihm - zumindest zwischen Frankreich und
Deutschland - als "Bruderzwist" betrachtet, da nur aus gleichem Denken,
aber verschiedenem Empfinden, Feindschaft und Haß erwachsen; denn: wenn es
keine "Gemeinsamkeit der Gedanken" gibt, kann nur "gleichgültige
Fremdheit" herrschen, die jedoch keine Feindschaft ergibt (39).
Die
'brüderliche' Verbindung hält Mann natürlich nicht davon ab, Wertungen
vorzunehmen: "Es ist nicht bloße patriotische Voreingenommenheit, wenn man
bei der seltsam organischen, ungezwungenen und poetischen Wortverbindung
'Deutsches Volk' etwas nicht nur national, sondern wesentlich anderes,
Besseres, Höheres, Reineres, ja Heiligeres imaginiert und empfindet, als
bei dem Worte 'Englisches' oder 'Französisches Volk'."(359)
Im
Prinzip handelte es sich - und hier geht Mann von Dostojewski aus - um
einen Kampf der "römischen Welt gegen das eigensinnige [und
protestantische - im mehrfachen Sinne des Wortes] Deutschland" (40).
Hauptsächlich richtete sich das Buch gegen die "Feinde
Deutschlands] in seinen eigenen Mauern" (32) und zwar vornehmlich gegen
den 'Zivilisationsliteraten', hinter dem unschwer besonders Heinrich Mann
zu erkennen ist. Manns Charakterisierung des ('Zivilisations'-) Literaten
ist: "Der Literat nämlich ist nicht, er urteilt nur..." (482).
"Persönlichkeit" aber, "Persönlichkeit ist Sein, nicht Meinen"
(483).
"In Deutschlands Seele werden die geistigen Gegensätze
Europas ausgetragen" (46), das faustische "Zwei Seelen...". Der
'Bruderzwist' wurde also nicht nur physisch-kriegerisch an der realen
Front ausgetragen, sondern psychisch-kämpferisch im Innern (47). Der
'Zivilisationsliterat' ist eigentlich ein Vertreter des 'geistigen
Franzosentums' im Sinne der Ideen von 1789, der aber auf der Seite
(willentlich oder nicht) der feindlichen Entente steht, und also auch
einen Beitrag zum innerdeutschen 'Bruderzwist' leistete (49, 186) und
somit nicht "[u]ndeutsch" ist, obwohl er "unnational", d.h.
"antideutsch" aber "national französisch", sich gebärdet (50; vgl. auch
191). Im Grunde ersehnte sich der 'Zivilisationsliterat' die Niederlage
Deutschlands, um seine Ideale durchgesetzt zu sehen, da eine Revolution in
seinem Sinne ausblieb.
Letztlich ist das Ziel des
'Zivilisationsliteraten' die "Demokratisierung" Deutschlands und
damit seine "Entdeutschung", d.h. "die Verdummung des Deutschen zum
sozialen und politischen Tier", (265), ein Unfug, an dem Thomas Mann
natürlich nicht teilhaben wollte (60). Darauf richtete sich Manns
Pessimismus (und er zitiert zustimmend die Worte Overbecks von der
"größeren Fruchtbarkeit des Pessimismus", 484): "Denn die Demokratie ist
es, und nicht ihre Verwirklichung, an die ich nicht glaube" (486), "...ich
hasse die Politik und den Glauben an die Politik" (524).
In den
Begriffen "Macht und Geist" sieht jener 'Zivilisationsliterat', der
Verfechter der Demokratie also, "seine oberste Antithese"[ 18
] (51), im völligen Gegensatz zu Thomas Manns ersehnter Gestalt "seines
Dritten Reiches", nämlich der "Synthese von Macht und Geist"[ 19
]. Später wird von "Macht und Geist" als "der spezifisch deutschen
Antithese" gesprochen (246), ja gar als der "General-Antithese" (281) und
schließlich äußerte Mann die Auffassung, "daß 'Demokratie' ganz eigentlich
die Synthese von Macht und Geist bedeutet" (348).[ 20
]
Ein weiteres Gegensatzpaar, welches sich Thomas Mann im letzten
Kapitel der Betrachtungen auftat, ist das von "Ironie und
Radikalismus" (560), das zugleich der Gegensatz von "Leben ... [und]
Geist" (ebd.) ist. Radikalismus sei Nihilismus (allerdings ohne die
nietzscheanische Komponente der darin enthaltenen Selbstüberwindung). Mann
führt hierfür den erweiterten Wahlspruch des römisch-deutschen Kaisers
Ferdinand I. an, "Fiat justitia ... [et] pereat mundus" (560). Indessen
der Ironie ein erotisches Moment innewohne (das dann den 'Konservatismus'
ausmacht; vgl. 561 und auch 575 f.). Das Verhältnis Leben / Geist ist ein
wechselseitiges, "Sehnsucht nämlich geht zwischen Geist und Leben hin und
wieder. Auch das Leben verlangt nach dem Geiste" (561).
In vielem,
so muß festgestellt werden, betrieb Mann in diesem "Tausendfüßler von
Abhandlung"[ 21
] eher eine Begriffsverwirrung, denn Klärung, so werden Begriffe wie
"Reaktion", "Demokratie", "Bürger" und etliche mehr, immer wieder
unterschiedlich bewertet, mal positiv, mal negativ konnotiert. Ein
sorgsamer Umgang mit diesen Begriffen kann nicht konstatiert werden, bei
aller Brillanz des Stiles.[ 22
] Auch befähigen die als Beleg oft angeführten Zitate zu keiner
Eindeutigkeit.
Dieser Mangel an einheitlichen und damit eindeutigen
Aussagen ist es, der den Meisten auffällt. So z.B. Ulrich Greiner: "Wo
steht er [T.M.] überhaupt ? Überall und nirgends. Die panoramahafte
Verspieltheit des Denkens, die ständige Stippvisite durch alle
weltanschaulichen Positionen ist seine Sache"[ 23
]. Greiner konstatiert einen "völlige[n] Mangel an begrifflicher Schärfe
und gedanklicher Disziplin"[ 24
]. So auch Kurt Flasch: "Es wimmelt in Manns Weltkriegs-Texten von
Widersprüchen"[ 25
].
Es finden sich in den Betrachtungen etliche
autobiographische Einschübe und Adnoten zum eigenen literarischen
Schaffen, das Mann z.T. als eben jene bei anderen geschmähten Erzeugnisse
des 'Zivilisationsliteratentums' bezeichnen mußte und diese zu
Rechtfertigen suchte (besonders: 80-93)[ 26
], indem er sich eine eigene Form der Bürgerlichkeit zuschreibt (106 ff.).
Mann möchte die "Wiederherstellung des Begriffs 'Bürger'" erreichen und
ihn der "übersetze[n] Begriffswelt" des "Literatentum[s]", die ihn "aufs
schmählichste verderbt" hatte, entreißen (127).
Häufig zitiert Mann
Wagner, Nietzsche, Schopenhauer und Goethe als 'Kronzeugen' für seine
Thesen.[ 27
] Mann sah sich selbst mit diesem Groß-Essay in der Nachfolge Nietzsches,
dessen Selbstbezeichnung als "letzte[r] unpolitische[r] Deutsche[r]" er
zitiert (135, 236).
Thomas Mann bezeichnete die Gesinnung des
Buches als die der "deutsche[n] Menschlichkeit"[ 28
]. Für Breuer fand die "Resignation und Politikmüdigkeit" in den
Betrachtungen "ihren repräsentativen Ausdruck"[ 29
].
Ob man wirklich soweit gehen kann, wie es Heimendahl formuliert,
zu sagen, daß Mann mit den Betrachtungen "die große alternative
europäische Weltanschauung entwickeln"[ 30
] wollte, sei dahingestellt. Ich bin der Auffassung nicht, daß Mann primär
daran dachte, ein Programm zu kreieren, denn vielmehr, seine Position
darzustellen und sie zugleich von der des 'Zivilisationsliteraten' in der
Gestalt seines Bruders Heinrich abzugrenzen.
Die Betrachtungen
wurden als das Werk eines Dichters aufgenommen: "Wenn ein Dichter, wie
Thomas Mann, ... sich auf das politische Kampffeld begibt, so hat er unter
allen Umständen Anspruch darauf, gehört zu werden. Und dies erst recht,
wenn das, was er zu sagen hat, dem Zeitgeiste so schnurstracks zuwider
läuft, wie das in dem vorliegenden Werke der Fall ist."[ 31
]
Doch nicht genug mit dem bisher aus den Betrachtungen eines
Unpolitischen Angeführten. Auch nach dem Kriege äußerte Mann sich im
Sinne der KR: Er sprach sich für einen Anschluß Österreichs an Deutschland
aus und rief zur Revision der "Verfassung von Weimar, die eine nationale
Fälschung ist"[ 32
] auf, gleichfalls äußerte er den Wunsch nach einem weiter verbreiteten
deutschen Nationalismus.[ 33
]
Bereits zum Zeitpunkte der Drucklegung hatten sich die
Betrachtungen von ihrem Autor entfernt. Unter dem Eindruck des
Nietzsche-Buches von Ernst Bertram charakterisierte er sein eigenes Werk
als "...unbesonnene[s], ungebildete[s], stammelnde[s] und
kompromittierende[s] Künstlerbuch[e]"[ 34
]. 'Offiziell' wurde die Entfremdung aber erst in der Rede Von
deutscher Republik. Darin vollzog Mann zwar eine Distanzierung von den
Inhalten der Betrachtungen, behauptete aber, was hier doch
Verwirrung zu stiften vermag, "[i]ch widerrufe nichts. Ich nehme nichts
Wesentliches zurück"[ 35
], sah also in seinem Bekenntnis zur Demokratie eine Kontinuität seiner
'unpolitischen Zeit'. Auch andere wesentliche Begriffe wurden von ihm
beibehalten, jedoch mit neuen Inhalten angefüllt.[ 36
] Letztlich ging es Mann jeweils nur um ein System, welches Freiheit,
besonders natürlich die Freiheit des Künstlers (also zuvorderst: für sich
selbst) gewährleiste...[ 37
] Einige Jahre später, nämlich 1928, äußerte Mann in dem Aufsatz Kultur
und Sozialismus : "Ich gebe ihre [d.i. der Betrachtungen]
Meinungen preis. Ihre Erkenntnis aber bleibt unverleugbar richtig..."[ 38
]. In diesem aufschlußreichen Text findet sich eine retrospektive
Verteidigung der Betrachtungen und somit seiner selbst, ausgehend
von der Rede Von deutscher Republik, die ihm ja übel angekreidet
worden war. Diese Republik-Rede Manns wirkte nämlich, "als hätte der Autor
sich eine Brandbombe ins eigene Haus geworfen"[ 39
]. Die Reaktionen bewegten sich zwischen Verwunderung und Ablehnung. Der
Publizist und Übersetzer Albrecht Erich Günther äußerte sich scharf über
die Wandlung Thomas Manns: er (TM) sei vom Glauben abgefallen.[ 40
] Friedrich Georg Jünger schrieb 1929 im Widerstand, der
nationalrevolutionären Zeitschrift von Ernst Niekisch: "Man kann nicht
unpolitische Betrachtungen schreiben und dazu demokratische
Kulturpropaganda treiben. Klarer - es ist nicht gut, wenn man es kann"[ 41
]. Eines der gängigen Worte angesichts Thomas Manns Wandlung lautete "Mann
über Bord"[ 42
].
Vorbei die Zeiten, in denen die Betrachtungen "besonders allen
denjenigen empfohlen werden [konnten], die von der nunmehr zur Herrschaft
gelangten Demokratie sich die Herabführung des Himmels auf die Erde
verspr[a]chen"[ 43
].
Es verwundert die (erneute) Abkehr von 'politischen' Ideen
(nicht im Sinne Manns) kaum, waren die Betrachtungen doch
schon "ein Buch der Ueberwindungen und Selbstverbrennungen"[ 44
], sie hatten schon damals "eine katharistische [sic !] Funktion"[ 45
].
Thomas Mann ist zum liberalen Bejaher der Republik geworden, ja
gar zum Sozialismus-Sympatisanten, zum "Kentauren..., der aus einem
konservativen Kopf, einem gemäßigt liberalen Leib, sozialistischen
Fortschrittsbeinen [besteht]", politisch ein "verwirrende[r] Regenbogen".[
46
] Alle Spektren der politischen Richtungen hat er
durchlaufen.
Interessant mag hier die Feststellung sein, daß Mann
die Neuausgabe der Betrachtungen von 1922, also dem Jahr seiner
Republik-Rede, um 38 ½ Seiten gekürzt hat, und zwar, kaum überraschend,
zufälligerweise um jene Stellen, "die ihn in der neuen Republik
kompromittieren konnten"[ 47
], wie es zuerst Arthur Hübscher in den Süddeutschen Monatsheften
nachwies.[ 48
]
Daß Thomas Mann die Betrachtungen später unangenehm
wurden, verwundert kaum, wurde er doch alsbald schon zur Verkörperung des
von ihm zuvor geschmähten Typus des Liberaldemokraten, ja, Thomas Mann war
der 'Zivilisationsliterat' des Zweiten Weltkrieges, der in Londoner
Sendern Reden gegen Deutschland hielt, indes die Deutschen unter dem
Bombenhagel der Alliierten litten[ 49
] - er saß ja im sicheren amerikanischen Exil. Ja, man kann sogar soweit
gehen, in den Radioreden der 40er Jahre eine Art der retrospektiven
Selbstkritik zu sehen; wenn auch eine gewisse 'negative Faszination' am
Nationalsozialismus durchaus zu verspüren ist. Ulrich Sonnemann: "Thomas
Mann hat seinen Anteil am Erbe des Humanismus und der Klassik verscherzt
und sich mit Haut und Haar und allen Anzeichen schlechten Gewissens dem
Zivilisationsliteraten überantwortet, des Nazi scheinfeindlichem Bruder."[
50
]
Nur kurz gestreift werden kann hier die Haltung Manns zum
Nationalsozialismus. In seinem Tagebuch notierte Mann: "Die deutschen
Vorgänge hören nicht auf, mich zu beschäftigen ... Die Revolte gegen das
Jüdische hätte gewissermaßen mein Verständnis ... wenn das Deutschtum
nicht so dumm wäre, meinen Typus mit in den selben Topf zu werfen und mich
mit auszutreiben."[ 51
] Kurzum: Würden die Nazis nicht ihn, Thomas Mann, ablehnen, so wäre das
alles nicht so schlimm und die Verfolgung der Juden stieße gar auf sein
Verständnis, wenn man nicht ausgerechnet ihn mit einbeziehen würde. Golo
Mann verwies in einem Brief auf "...sein[en, T.M.s] Antisemitismus, von
dem er nie völlig wegkam (sein Bruder auch nicht)."[ 52
] Noch einmal: wenn Thomas Mann etwas ablehnte, dann hauptsächlich
deswegen, weil seine ihm so genehme Rolle als 'erster Schriftsteller der
Nation' nicht gebührend anerkannt wurde.[ 53
] Ob es nun im ersten Kriege sein Bruder Heinrich war und der
"Bruderzwist" Deutschland - Frankreich, oder im Zweiten Weltkrieg "Bruder
Hitler" (1939). - Das ist Empörung mit "eine[m] Klubsessel im Gehirn"[ 54
]. Bertolt Brecht bemerkte süffisant: "Thomas Mann würde Deutschland gerne
abschaffen, wenn er sich die deutschen Leser dabei erhalten könnte"[ 55
].
Die Betrachtungen waren auch in der vormaligen "DDR" den
Machthabern ein Dorn im Auge.[ 56
] Harry Matter, der Herausgeber der Berliner Thomas-Mann-Ausgabe,
berichtet: "Zu DDR-Zeiten hatte ich große Mühe, manchmal auch Ärger, TM zu
vertreten. Das ideologische Dogma der Kulturfunktionäre verbot mir die
Aufnahme solcher Texte von TM, die denen politisch suspekt erschienen.
Jedes Buch mußte ja als Manuskript dem Kulturministerium zur Zensur
vorgelegt werden, ging insgeheim immer auch in die Überbehörde des
Politbüros der SED, die eine Veröffentlichung empfahl - oder auch nicht.
So blieben etwa die Betrachtungen eines Unpolitischen
jahrzehntelang verboten, andere Texte ebenso."[ 57
]
Freilich ist Breuer nicht darin zuzustimmen, wenn er Manns
Äußerung, er sei "niemals Nationalist"[ 58
] gewesen, für "durchaus glaubwürdig"[ 59
] erklärt. Breuer spricht kurz darauf auch wieder von zeitweisen
"Berührungen mit den Neonationalisten"[ 60
] und "Affinitäten" Thomas Manns zur KR.[ 61
] Dennoch versucht Breuer nachzuweisen, daß Mann eben nicht der KR
zuzuordnen sei, sondern "eher für eine liberale Restauration"[ 62
] stehe, was insofern verwunderlich ist, als Breuer den Dank, den Mann dem
Antidemokratismus Nietzsches schulde, zitiert;[ 63
] weiter spricht er von einer gründlichen Ablehnung der westlichen
Zivilisation und der Demokratie.[ 64
] Wie nun eine "liberale Restauration" und der "Antidemokratismus"
zusammengehen sollen, führt Breuer wohlweislich nicht aus. Schließlich
gesteht Breuer Mann doch eine eigene, nämlich "seine Version der
'konservativen Revolution'"[ 65
] zu. Kurzke nannte Mann gar einen der "wichtigsten Stichwortgeber"[ 66
]. Und Hans Mayer stimmte dem französischen Germanisten Edmond Vermeil[ 67
] zu, daß Thomas Mann zu den geistigen Wegbereitern des "deutschen
Nationalismus des 20. Jahrhunderts" zählt.[ 68
] Armin Mohler nannte Mann einen der "Pate[n]"[ 69
] der KR. Mann selbst sprach in dem Vortrag Meine Zeit von den
Betrachtungen als "eine[r] lange[n] Erkundung der
konservativ-nationalen Sphäre in polemischer Form..."[ 70
].
Heimendahl nennt in seiner Dissertation ausgehend von den
Betrachtungen die Gemeinsamkeiten: "Der Rekurs auf die
metaphysische Dimension des Menschen wie die Anlehnung an Nietzsche
scheinen neben dem Feindbild der Demokratie und einer
kulturpessimistischen Blickrichtung die verbindenden Gemeinsamkeiten der
'Konservativen Revolutionäre' zu sein."[ 71
]
Geht man allein von der Wirkung der Betrachtungen[ 72
] und der Intention des Autors aus, so ist die Frage, ob Thomas Mann ein
konservativer Revolutionär gewesen sei, eindeutig zu bejahen. Jedoch
gehörte er zu später jenen,[ 73
] die "nicht mehr an das erinnert werden wollen, was sie gestern gewesen
sind"[ 74
]. Allerdings gilt auch hier: "[E]in Irrtum [wird] erst dann zum
Fehler[...], wenn man in ihm beharrt"[ 75
]. Fragt sich nur, ob es überhaupt ein Irrtum war. Anders als andere,
wollte er später von seiner KR-Zugehörigkeit nichts mehr wissen.[ 76
] Viele seiner Apologeten folgten ihm in dieser Selbstdarstellung.[ 77
]
Wenn Max Rychner sagte, daß es "nicht loyal" wäre, "Thomas Mann
in seine politischen Begriffe einzuschnüren"[ 78
], so hat er damit gewiß recht, nur ist es uns hier nicht um Loyalität zu
tun.
Und wenn sich Thomas Mann zu einem "Zukunftskonservatismus"[
79
] bekennt, wie kann dies denn etwas anderes sein, als eine 'Konservative
Revolution', also der Wunsch nach und der Wille zu einem noch zu
schaffenden Zustande, den zu Bewahren sich lohnen werde?
Revolutionär, da der bestehende Status quo, d.h. die als zum
nationalen politischen Handeln in der Folge des sogenannten 'Versailler
Vertrages' unfähig wahrgenommene Weimarer Republik, überwunden werden
sollte. Konservativ, da mit dieser Überwindung eine neue Staatsform
in Deutschland etabliert werden sollte, die es lohne, bewahrt zu werden.
Konservativ meint ja nicht zwangsläufig, daß nur Bestehendes
bewahrt werden solle, sondern vielmehr, daß das immerwährend Gültige
gelebt wird.
Abschließend kann festgestellt werden, daß, um es in
einem Bild auszudrücken, Thomas Mann sehr wohl ein Zimmer im Hause KR
bewohnte, freilich ein andersartig eingerichtetes als jenes der Nachbarn
und Mitbewohner, wie ja auch alle Stockwerke individuell ausgestaltet
waren und sich nur in der Adresse vereinten. Aber: in diesem Hause wohnte
er. Thomas Mann zog 1922 in ein anderes Stadtviertel um; das Haus
schließlich wurde 1933 abgerissen.
Schließen wir mit einigen Sätzen
aus dem oben bereits zitierten Aufsatz Friedrich Georg Jüngers aus dem
Jahre 1929, Konstruktionen und Parallelen, die auch für die heutige
geistige Lage erstaunlich aktuell sind: "Der Spezialfall Thomas Mann hat
eine symptomatische Bedeutung. Nicht deshalb allein, weil er bezeugt, was
im Geiste heute in Deutschland erlaubt ist, was eine 'geistige Linke' aus
dem echten Metall aller Zeiten macht: Konfektion. Gefährlich wird dies
erst, weil die Unsicherheit des deutschen Menschen die Entscheidung für
das Förderliche und Schädliche, Schwächende leicht verwirrt. Da wir nun
Deutsche sind, nicht deshalb, weil wir etwas sein müssen, sondern weil wir
eben dieses Sein als ein Schicksal erfassen und es zu erfüllen
leidenschaftlich gedrungen sind, wehren wir uns mit Entschiedenheit gegen
Bestrebungen, die jede reinliche Gestalt zernagen und verhindern. So
inhuman und borniert man einen solchen Willen auch empfinden mag in einer
Zeit, die gerne alles sein möchte, von Nanuk dem Eskimo bis zur heiligen
Kuh, er verpflichtet genügsam zur Zurückweisung des geistigen Kippens und
Wippens und der geistigen Falschmünzerei. Was anders denn legen Versuche
der bezeichneten Art offen als ein Denken, das keine Einsätze kennt und
das sich in jedem Zusammenhang so leicht hineinbegibt, wie es sich bei
Gelegenheit aus ihm herausbegibt, ein Spiel, das man heute geistreich zu
nennen beliebt. Ein echter Gedanke aber, sei er Freund oder Feind, hat ein
Herz, d.h., der Denkende steckt in ihm und gewiß gibt er ihn nicht ohne
Gefecht auf. Ein Geist, der keine echte Entscheidung kennt, der in jeden
seiner Gedanken den geheimen Vorbehalt der Zurücknahme einschiebt, nicht
aus metaphysischer 'Vorsicht', sondern aus Unfähigkeit zur Entscheidung,
ein solcher Geist von leichtem Transport wird leicht zum Glücksspieler,
dem man bei erster Gelegenheit die Karte aus der Hand schlägt."[ 80
]
zurück zu Kasimir Edschmid