VOM  KURUKSHETR
ZUM HÜHNERMOOR

AUF 64 SCH[L]ACH[T]FELDERN
Dame, König, Elefant; Türke, Tod und Teufel
Züge des Schachspiels und der Schachspieler

[Schachbrett]

EIN KAPITEL AUS DIKIGOROS' WEBSEITE
REISEN DURCH DIE VERGANGENHEIT
GESCHICHTEN AUS DER GESCHICHTE


(Fortsetzung von Teil I)

Das 39. Feld ist in Buenos Aires, der Stadt der guten Lüfte. Dikigoros erinnert sich zwar, daß es viele Jahre später am Rio de la Plata ziemlich stank, aber noch schreiben wir ja Ende August 1939, da mag es besser gewesen sein - und wenn nicht: Geld stinkt nicht, und "plata" ist nicht umsonst das argentinische Wort für Geld (damals gibt es noch echte, schwere Silberpesos, keine wertlosen Papierscheine mit Dutzenden Nullen). Ja, Argentinien ist ein reiches Land, das reichste Latein-Amerikas, außerdem nach Meinung vieler das zivilisierteste und für Europäer klimatisch angenehmste des Kontinents. Da liegt es also nahe (wenngleich nicht entfernungsmäß, aber inzwischen gibt es ja Verkehrsflugzeuge!), die Schach-Olympiade dort statt finden zu lassen. Nun ist es zum Glück nicht so, daß man zur Teilnahme an diesem Turnier Amateur sein muß, wie bei den "offiziellen" Olympiaden. Also tummeln sich dort die Spitzenspieler der Welt, und das ist umso wichtiger, als es davor und danach nie wieder ein ganz objektives Kräftemessen der Besten gab oder geben wird. Wir hatten ja schon gesehen, daß der so genannte Weltmeister Aljëchin seinen Titel immer nur gegen zweitklassige Gegner verteidigt hatte; und wir werden später sehen, daß die Sowjets, als sie den Titel einmal in der Hand haben, auch nicht mehr bereit sein werden, ihn stärkeren Spielern außerhalb ihres Machtbereichs zu überlassen. Und wer war damals der stärkste Spieler der Welt? Die Antwort gab Capablanca ziemlich deutlich: er holte die meisten Punkte am ersten Brett, und Aljëchin dachte noch immer nicht daran, ihm Revanche zu geben - der Kubaner hätte sich den Titel mit einiger Sicherheit zurück geholt. Und gegen wen hätte er ihn dann von Rechts wegen verteidigen müssen? Gegen jemanden, der heute fast in Vergessenheit geraten ist, und an den sich Dikigoros eigentlich auch nur infolge einer Episode erinnert. Sein Name steht für all diejenigen, denen man aus politischen Gründen nie eine Chance auf einen WM-Kampf gegeben hat, obwohl - oder weil - er gute Aussichten gehabt hätte, ihn zu gewinnen. Nein, Dikigoros meint nicht den Sieger des AVRO-Turniers - auf den kommen wir später zurück -, sondern einen anderen jungen Mann von Ende 20, der am 1. September von der Nachricht überrascht wird, daß im fernen Europa ein Krieg ausgebrochen ist, zwischen dem Deutschen Reich und Polen. So was! Ein paar Tage später marschiert auch noch die Rote Armee ein, und England und Frankreich sind auch schon mit von der Partie. Na bravo. Mikhail Najdorf überlegt: Wie es auch kommt, als Jude und Anti-Kommunist wird er zuhause - egal in welcher Besatzungszone - nicht sonderlich wohl gelitten sein; in Argentinien kann ein guter Schachspieler dagegen ziemlich unbeschwert leben. Kurz entschlossen nimmt er die argentinische Staatsbürgerschaft an, ändert seinen Vornamen in Miguel, und beherrscht in den nächsten Jahrenzehnten die südamerikanische Schachszene fast nach Belieben. Und nicht nur die: 1946 wird er das erste große Nachkriegs-Turnier in Prag (noch vor der kommunistischen Machtergreifung in der wieder gegründeten Tschecho-Slowakei) überlegen gewinnen, dabei unter anderem den Sowjet-Meister Mikhail Botwinnik souverän von der Platte fegen, und auch seiner Heimat Polen einen Besuch abstatten - aber nur einen ganz kurzen. Entsetzt ob der dort auch unter den Kommunisten herrschenden Judenfeindlichkeit kehrt er schleunigst nach Argentinien zurück - und das ist auch der Grund, weshalb er nicht zum Kandidatenturnier eingeladen wird, obwohl er offiziell verlauten läßt, daß er vor allem deshalb nicht in Polen geblieben sei, weil die bösen Nazi-Deutschen alle seine Verwandten umgebracht hätten. Aber das nimmt ihm natürlich niemand ab: Erstens ist durchaus nicht klar, wer seine Verwandten umgebracht hat, und wenn, dann wäre hätte er ja trotzdem im "befreiten" Polen bleiben und von den Deutschen "Wiedergutmachung" einklagen können, wie es so viele andere polnische Juden später tun werden. Und zweitens gewährt ausgerechnet Argentinien den bösen Nazi-Deutschen, so es ihnen gelingt, ihren alliierten Verfolgern zu entfliehen, politisches Asyl - dafür wird er als polnischer Jude mit büßen müssen. In den 1950er Jahren wird Najdorf der stärkste Spieler der Welt sein, inoffizieller Simultanweltmeister, inoffizieller Blindspielmeister, mehrfacher Olympiasieger, Sieger in über 50 Großmeister-Turnieren - er wird der einzige Nichtweltmeister sein, der alle so genannten Weltmeister geschlagen hat (außer Steinitz, der schon zehn Jahre tot war, als Najdorf geboren wurde).

Aber Dikigoros wollte ja noch eine Episode zum besten geben. Wie fängt er am besten an? Am besten mit seinem alten Schachfreund Mosche Eimermann. Der ist schon über 60, Beamter im höheren Dienst, mit ordentlichem Einkommen und einem langen weißen Bart, als Dikigoros noch ein Schuljunge ist und gerade richtig Schachspielen lernt. Nun trifft es sich, daß damals im selben Verein auch eine junge Lehramtsstudentin Schach spielt, Gabi heißt sie und ist - was bei Frauen besonders ungewöhnlich ist - eine hervorragende Blitz-Spielerin. Dikigoros hat sie selten verlieren gesehen, und wenn, dann nur gegen Männer mit Meistertitel. (Er selber hat sie nie geschlagen, ihr nur einmal, als er schon 15 oder 16 war, ein Remis in Zeitnot abgenommen.) Natürlich hat sie, die keine Sowjet-Menschin und auch nicht bereit ist, in die SU zu reisen, keine Chance, in die so genannte "Weltspitze" der Frauen vorzudringen - auch aus politischen Gründen. Aber sie macht die Turniere in aller Welt unsicher - und verunsichert insbesondere die Männerwelt, denn sie sieht auch noch gut aus - Miguel Najdorf, der inzwischen ein alter Knacker und unverbesserlicher Schürzenjäger ist, bezeichnet sie in einem Interview als "die schönste Schachspielerin der Welt". Und warum sollte er nicht hinter ihr her sein? Gabi hat nichts gegen ältere Männer, im Gegenteil: mit diesen dummen, grünen Jungen in ihrem Alter kann sie eh nichts anfangen. Und so überrascht es eigentlich niemanden außer Dikigoros (der noch zu jung ist, um das zu verstehen), als eines Tages in der Vereinszeitung des Schachclubs Glückwünsche zur Vermählung von Gabi und Mosche stehen. Nanu, denkt Dikigoros, wie viele Gabis und Mosches haben wir denn hier? Daß Ulla, die einzige andere Schachspielerin im Verein von einiger Spielstärke - halt für den Hausgebrauch - kürzlich einen Mann geheiratet hat, der ihr Vater sein könnte, mag ja noch angehen. Schließlich ist er ein angesehener Schachmeister auf dem Zenith seiner Laufbahn (was er freilich noch nicht weiß) - und die Ehe hat bis heute gehalten (obwohl - oder weil - Ulla Scheidungsanwältin geworden ist :-). Aber daß die junge, hübsche Gabi einen Mann heiratet, der ihr Großvater sein könnte... Aber warum eigentlich nicht? Mosche ist verwitwet und kinderlos; wenn er abkratzt wird sie eine ordentliche Pension bekommen, und ihr Studium hat sie über die Schachspielerei (die ja damals noch eine ziemlich brotlose Kunst ist) so vernachlässigt, daß es mit einem Abschluß eh nichts mehr werden wird; also bitte... Und Mosche? "Wer weiß schon zu sagen, was im Leben richtig ist?" sagt er, alt und weise geworden, zu Dikigoros, als der ihn vorsichtig darauf anspricht, "wir können jedenfalls miteinander Schach spielen." Gabi geht auf Reisen, zu den großen Schachturnieren dieser Welt (mit oder ohne Begleitung ihres Ehemannes, aber immer von alternden Verehrern wie Miguel Najdorf "verfolgt"); Dikigoros auch. Als er aus den USA zurück kehrt - er ist inzwischen ein mittelstarker Spieler auf dem Zenith seiner Laufbahn (was er freilich noch nicht weiß) - führt ihn sein erster Weg natürlich in den Schachclub, um von Gabi Revanche zu fordern - jetzt, da die paar Jahre Altersunterschied nicht mehr ins Gewicht fallen, will er sie endlich schlagen. Wo steckt sie bloß? Er begrüßt Mosche, der stumm zum Nebentisch deutet. Dikigoros - der eigentlich nicht schreckhaft ist - ist schockiert: Da sitzt eine alte, abgezehrte Frau mit dunkler Brille, die Zigarette in der einen, das Bierglas in der anderen Hand. Gewiß, sie hat immer viel geraucht und getrunken - aber das gilt damals unter Schachspielern als normal. Sie spielt nicht mehr. "Nur eine vorübergehende Unpäßlichkeit", meint Mosche fast beschwörend, "sie wird sich bestimmt bald wieder erholen, und dann wird sie wieder ins Turniergeschehen eingreifen. Die Ärzte wissen auch nicht, was es ist, es kann also nicht so schlimm sein." Ein paar Monate später liest Dikigoros eine herzzerreißende Todesanzeige: "... verstarb meine unvergleichliche, über alles geliebte Frau..." Zwei Wochen später gibt auch Mosche die Löffel ab - Najdorf wird sie um eine ganze Generation überleben.

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Aber Dikigoros hat weit vorgegriffen; zurück zum 40. Feld, zu den Elysischen Feldern, nach Paris. Wir schreiben den 22. Juni 1940, um 18:50 Uhr ist der verdammte Krieg zuende gegangen, kurz und schmerzlos. Keine sechs Wochen hat er diesmal gedauert - zweieinhalb Jahrzehnte zuvor hatte er über vier Jahre lang getobt -, und nun ist also Waffenstillstand. Das Volk jubelt - jedenfalls soweit es sich auf den Straßen blicken läßt. Einige tun das nicht. In ihren mittelprächtigen Hotelzimmern, nur ein paar hundert Meter voneinander entfernt, hocken zwei Männer, die einander so ähnlich sind und die doch Welten trennen, zumal in jenen Tagen: Beide sind in Rußland geboren, beide sind emigriert, beide haben die französische Staatsbürgerschaft angenommen, beide halten sich für die besten Schachspieler der Welt. Nun ja, Aljechin weiß vielleicht insgeheim, daß er es nicht mehr wirklich ist, und warum er seinen Weltmeistertitel nicht mehr verteidigen will, am allerwenigsten gegen den frisch gebackenen Sieger des großen Turniers von Paris, das gerade zuende gegangen ist. Nein, diese Schande wird er sich nicht antun, er, der als erster arischer Spieler in die Falanx der jüdischen Schachweltmeister eingebrochen ist. (Er verdrängt Capablanca, seinen Todfeind, dem er nie eine Revanche gegeben hat, weil er den Gedanken nicht ertragen kann, daß der eigentlich der erste nicht-jüdische Schachweltmeister war und er selber nur der zweite :-) Gegen diesen galizischen Juden will er nicht verlieren, diesen Vaterlands-Verräter. Ja, auch er selber ist emigriert, aber doch erst, als die Bolschewiken den Zaren gestürzt hatten - bis dahin war er, wie sich das gehörte, als Sanitäts-Offizier an der Front gewesen und hatte seinen Beitrag zur Verteidigung des Vaterlandes geleistet. Tartakower dagegen, dieser Jude, hatte Mütterchen Rußland schnöde den Rücken gekehrt (er war in Rostow am Don geboren), bloß weil seine Eltern und Geschwister dort einem Pogrom zum Opfer gefallen waren. Ausgerechnet nach Österreich-Ungarn war er gegangen, war k.u.k. Offizier geworden und hatte erbittert gegen Rußland gekämpft, wovon seine vielen Orden zeugten, die er ungeniert zur Schau trug, auch als er nach der Niederlage und Zerschlagung der Doppelmonarchie weiter nach Frankreich emigrierte. Mit welchem Recht wollte ausgerechnet der...? Aljechin schaut in den Spiegel: Er sieht einen alten Mann, den der Alkohol ruiniert hat; Tartakower ist fünf Jahre älter als er, sieht aber mindestens zehn Jahre jünger aus. Dabei ist der durch und durch altmodisch, spielt längst überholte Eröffnungen, trinkt nicht, raucht nicht, bringt keine Katzen mit in den Turniersaal, ein Spielverderber wie er im Buche steht...

Gerade hat das Radio eine Rundfunkansprache des greisen Marschalls Pétain gebracht, des Siegers von Verdun 1916, nach dem Motto: "Frankreich hat eine Bataille verloren, jetzt ist Ruhe die erste Bürgerpflicht." Gewäsch - die beiden Russen wechseln den Sender. Radio London kommt. Zwei Leute reden. Der eine ist der britische Premier, offenbar stinkbesoffen. Mit schwerer Zunge lallt er - wie schon einmal vor gut einer Woche, als er etwas von "Blut, Schweiß und Tränen" faselte - von der Notwendigkeit, den Krieg fortzusetzen, der noch längst nicht entschieden sei. Aber er spricht Englisch (obwohl er auch Französisch beherrscht), und das verstehen die beiden nicht so gut. Dann kommt die hohe Fistelstimme eines französischen Brigade-Generals, des rangjüngsten der französischen Armee, erst ein paar Tage vor Kriegsende befördert: "Hier spricht der Général De Gaulle..." Na, was der redet kann man wenigstens verstehen. Kann man auch verstehen was er sagt? Das sehen die beiden ganz unterschiedlich: Aljechin ist froh, daß die Deutschen den Krieg gewonnen haben. Das sind vernünftige Leute, mit denen kann man sich arrangieren. Er ist zwar kein Nazi, aber ihren Antisemitismus teilt er voll und ganz. (Er wird ihnen sogar ein paar Artikel schreiben, in denen er kräftig über seine jüdischen Schachfeinde herzieht.) Und sie lassen ihn in Ruhe Weltmeister bleiben und ab und zu mal ein Turnier spielen, gegen handverlesene Gegener. Wie ihren Parteigenossen Bogoljubow, den dicken, gemütlichen Wahl-Bayern, der so gerne Bier trinkt, und dem sie schon zwei Titelkämpfe gegen ihn finanziert haben, die er beide brav verloren hat (nicht wie dieser undankbare Euwe)! Ersparen sie ihm nicht auch jetzt die lästige Titelverteidigung gegen den immer noch quäkenden Capablanca oder die Juden Fine, Reschewskij, Najdorf und wie sie alle heißen? Die Deutschen sind schon o.k. - und dieser De Gaulle, der von den Kolonien aus weiter gegen sie kämpfen will, ist ein Spinner... Der arme Tartakower muß das verständlicherweise ganz anders sehen: Zwar kommt damals noch kein deutscher Nazi auf die Idee, einem französischen Juden ein Haar zu krümmen - schon gar keinem, der im Ersten Weltkrieg als Frontoffizier das EK I bekommen hat -, aber ob man ihm jemals eine Titelchance geben wird? Wohl kaum. Und ob die Deutschen den Krieg wirklich gewinnen werden? Tartakower - von dem so kluge, aus der Weisheit der Schach-Erfahrung gewonnene Sprüche stammen wie "Moralische Siege zählen nicht" und "Der vorletzte Fehler gewinnt" ist überzeugt, daß die Unmoral auch in diesem Krieg wieder den Sieg davon tragen wird und daß die Alliierten gerade den vorletzten Fehler gemacht haben; er packt noch in der selben Nacht seine Koffer und fährt in die Bretagne. Von dort entkommt er auf einem Fischkutter nach England und schließt sich De Gaulle an - und setzt damit auf den richtigen Gaul. (Tartakower ahnt noch nicht, daß das letztlich alles vergeblich sein wird: Zwar wird er das zweite große europäische Nachkriegsturnier 1947 in Paris wieder gewinnen - keine Eintagsfliege, er wird im selben Jahr auch in Venedig siegen -, aber an der Schachweltmeisterschaft 1948 wird man ihn nicht teilnehmen lassen, auch nicht als Nachrücker, als der Amerikaner Fine aus Protest gegen die Machenschaften der sowjetischen Schach-Mafia von der Teilnahme zurück tritt. 1956 wird er einsam, verbittert und vergessen auf seinem Pariser Hotelzimmer sterben.)

Aber Dikigoros hat schon wieder vorgegriffen. Dabei brauchen wir gar nicht 16 Jahre in die Zukunft zu springen, wenn es darum geht, welche großen Schachspieler einsam, verbittert und vergessen auf billigen Hotelzimmern sterben. Das 41. Feld ist wieder New York. Im Januar 1941, drei Wochen nach seinem 72. Geburtstag, stirbt dort Emanuel Lasker, der große deutsche Patriot und Rekordweltmeister (niemand blieb es so lange wie er). Nach dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 hat er die SU verlassen; auch diese letzte große Enttäuschung seines Lebens ist ihm nicht erspart geblieben. Und während seine Schwägerin Else Schüler und ihre Gedichtchen der Nachwelt einigermaßen in Erinnerung bleiben, sind seine großen Schachpartien bald vergessen. Sie waren wohl nicht spektakulär genug, zu korrekt erarbeitet, nicht leichthin erspielt. Als Lasker vergraben und vergessen ist, sind die USA offiziell noch neutral, d.h. nicht im Krieg befindlich - obwohl Laskers Glaubensbruder Roosevelt längst heimlich die Alliierten beliefert. Als er die Maske fallen läßt und ein Embargo gegen Japan verhängt, begreift das tumpe Volk noch nicht, was dieser Schachzug bedeutet: Es ist ein Gambit, aber die Japaner nehmen es nicht an - auf Bauernopfer fallen sie nicht herein. Roosevelt muß erst ein richtiges Figurenopfer bringen: er bringt es in Form der Pazifik-Flotte von Pearl Harbor (aber das ist eine andere Geschichte). Diesmal nehmen es die Japaner an, und es scheint, als sei dieses Opfer nicht korrekt gewesen, jedenfalls sieht es noch ganz so aus, als im März 1942 der große kubanische Patriot José Raúl Capablanca stirbt. Er hat es nie verwunden, daß ihm Aljechin, der arrogante Russe, nie eine Revanche gewährt hat, denn er hält sich immer noch für den besseren Schachspieler - und vielleicht ist ers auch. Immerhin findet er ein schönes, ihm angemessenes Ende: er erleidet einen Herzinfarkt im Manhattan Chess Club -; viele andere Menschen, ob Schachspieler oder nicht, erleiden damals einen weitaus weniger schönen Tod...

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Unterdessen glaubt östlich des großen Teichs ein Narr, der aus der Geschichte der vielen Schlachtfelder nichts gelernt hat, daß er mitten im Krieg weiter machen könne wie bisher, fast wie auf dem Schachbrett: Ein [Feld]Zug hier, ein [Feld]Zug da, immer vorwärts marsch; aber Zug um Zug manövriert er sich und seine Farben - er hat Weiß, also angefangen, da muß man auch gewinnen, sonst setzt es hinterher Vorwürfe - in eine immer schlechtere Position; als Stalin ihm ein Remis anbietet, lehnt er entrüstet ab. Nein, die Partie ist noch nicht verloren; aber wer genau aufs Brett schaut, sieht, daß er zwar noch weit in der Hälfte des Gegners, aber nicht mehr wirklich auf Sieg steht. Jemand, der das schon relativ früh erkannt hat, ist Dikigoros' Großvater, der ein sehr ausführliches Kriegstagebuch führt - jeden Tag mehrere Seiten. Zwar befaßt er sich darin nicht vornehmlich mit den "großen Ereignissen" der Politik und des Kriegsgeschehens (es genügt ihm, die vielen Bombenangriffe auf Hamburg zu zählen und deren Folgen zu beschreiben); aber seit Anfang 1942 nehmen seine Zweifel am Endsieg zu, da doch angeblich die Sowjet-Armeen schon im Herbst 1941 "vernichtet" wurden und jetzt immer noch weiter kämpfen - ob etwa der Wehrmachtsbericht doch nicht immer die Wahrheit sagt? Seine Zweifel erhärten sich ganz massiv, als sein Sohn, der im März seine - kriegsbedingt verkürzte - Ausbildung an der Reichsfinanzschule Wöllershof abgeschlossen hat und im April zum Arbeitsdienst eingezogen worden ist (nach Tittling bei Passau - weiter weg ging es wohl nicht; aber immerhin war man dort noch vor Bombenangriffen sicher), im August mit seiner ganzen RAD-Abteilung an die Ostfront versetzt wird, d.h. offiziell nur zum Flugplatzbau hinter der Front; aber am 14. Oktober werden sie plötzlich auf Lkw verladen und 300 km gen Osten gekarrt. Als sie nach 4 Tagen Fahrt und 3 Nächten Schlaf auf blankem Steppenboden an ihrem Bestimmungsort ankommen, nimmt man ihnen die Spaten ab und drückt ihnen dafür Gewehre in die Hand - eine "vormilitärische" Ausbildung haben sie ja alle schon genossen. Dikigoros' Großvater zählt 2+2 zusammen: Wenn es das Regime jetzt schon nötig hat, 18-jährige RAD-"Jungmänner" an der Front zu verheizen, steht die Partie womöglich schon mehr als auf Messers Schneide. Aber sein Sohn hat Glück: Er erkrankt an Gelbfieber und wird sofort ausgeflogen. Er hat aus dem Lazarett geschrieben (er weiß noch nicht mal, wie der Ort heißt [Saporozhje], geschweige denn wo genau er liegt [südlich von Dnepropetrowsk], nur daß es "ca. 500 km hinter der Front" sei), daß er sich langweile. Und nun sitzt Dikigoros' Großvater da und macht ein Päckchen an seinen Sohn fertig. Was er hinein legt? Natürlich keine Spielkarten, sondern... Schachfiguren! (Urs hatte das Schachspiel von seinem besten Schulfreund gelernt. Siegfried Morgenstern heißt er und ist reinblütiger Jude; aber sein Vater war Frontsoldat im Ersten Weltkrieg und ist als solcher von den Bestimmungen der "Nürnberger Gesetze" ausgenommen, mitsamt seiner Familie - die einzige Form von Sippenhaft, die es im "Dritten Reich" gibt. Erst die britischen "Befreier" sollten ihn 1945 von seinem Leben befreien, als er sich der Vergewaltigung seiner Tochter zu widersetzen suchte, mitsamt seiner Familie - so will es das gut-demokratische Rechtsverständnis der Alliierten.) Aber unkt Dikigoros' Großvater nicht etwas zu sehr aus seiner Froschperspektive? Daß er ausgerechnet in Hamburg wohnt, wo ständig Luftangriffe statt finden, ist halt persönliches Pech; aber im Herzen Europas herrscht doch wirklich Friede: Die alliierten Bomber kommen noch nicht bis in die Ostmark, nach Böhmen und Mähren, also kann man dort auch Schachturniere veranstalten. In der alten Reichshauptstadt Wien, in Salzburg und im goldenen, einst deutschen Prag stehen die nächsten Felder dieser Reise durch die Vergangenheit. 1942 und 1943 treffen dort die großen Strategen des königlichen Spiels aufeinander - zum letzten Mal für ein halbes Jahrhundert in Freiheit, ohne eine sowjet-russische MP oder den sowjet-russischen Schachverband (oder dessen Marionette, die F.I.D.E.) im Nacken, der den Ausgang eines Turniers oder eines Titelkampfes vorschreibt. Nein, auch der "Reichsprotektor" Heydrich, der im Mai 1942 einem britischen Attantat zum Oper gefallen ist, hätte das nicht getan - er hieß doch nicht Churchill!

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Das 45. Feld ist ein Feld, das manche, die nicht das zweifelhafte Vergnügen hatten, darauf zu bleiben, auch "das Feld der Ehre" nennen, und es liegt vor den Toren Hamburgs. Frühjahr 1945... Klaus Junge

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Das 46. Feld ist in Lissabon, genauer gesagt im (einstmals) mondänen Vor- und Badeort Estoril (wo heute nur noch ein paar große, alte Hotelkästen und ein still gelegtes Casino vom alten Glanz zeugen). Seit dem 16. Jahrhundert sind zwar aus Portugal keine großen Schachspieler (oder sonstige Sportler, Prominente pp.) mehr gekommen, aber nach Portugal... März 1946. Der Zweite Weltkrieg ist seit fast einem Jahr zuende - jedenfalls schweigen in Europa vordergründig die Waffen. Hinter den Kulissen ist das Morden jedoch weiter gegangen: In der Sowjet-Union rund zehn Millionen "Kriegsverbrecher" und "Deserteure" (zu letzteren zählen auch alle Kriegsgefangenen, die man 1945 "befreit" und dann an die Wand gestellt hat - man wird ihren Tod später den Deutschen in die Schuhe schieben), in Deutschland knapp zwei Millionen Kriegsgefangene, in Frankreich knapp eine Millione "Collabos"... Aljëchin wußte sehr wohl, daß auch er zu letzteren gehören würde, wenn man die Maßstäbe der französischen Kommunisten anlegte - nicht umsonst kannte er die Kommunisten und war vor ihnen einst nach Deutschland geflohen. Hier in Portugal konnte jeder überleben, der politisch verfolgt wurde, egal welcher Nationalität und welchen (auch politischen) Glaubens er war, denn es war eines der wenigen Länder auf der Welt, die wirklich neutral geblieben waren, ohne zumindest heimlich mit einer der kriegführenden Parteien zu paktieren. Das verdankte es seinem größten Sohn im 20. Jahrhundert: António de Oliveira Salazar. Der hatte nicht nur das unter unfähigen Partei-Politikern fast gekenterte Staatsschiff wirtschaftlich wieder flott gemacht (was noch nichts besonderes war - von einem Professor für Volkswirtschaft konnte man das wohl erwarten), sondern es auch geschickt durch die außenpolitischen Stürme und Klippen jener Zeit manövriert (zum Dank gilt er heute als böser Fascist und Diktator). Hier trafen sich alle, vom verjagten König von Spanien bis... zum bis dahin größten Schachspielers des 20. Jahrhunderts aus Rußland. An einem schönen Frühlingstag fand man seine Leiche in einem billigen Hotelzimmer. Wir wissen also, wo er starb, aber nicht wie. Im Obduktionsbericht stand später "an einem Stück Fleisch erstickt"; hinter vorgehaltener Hand hieß es später: "Schlaganfall infolge Alkoholmißbrauchs". Beides ist äußerst unglaubhaft: Man verschluckt sich nicht an einem Stück Fleisch zu Tode, und vom Saufen mag man zwar Sterben - und Alëchin hatte vorübergehend tatsächlich weit mehr getrunken als gesund war -, aber das führt schwerlich zum Schlaganfall. Gab es Leute, die ein Interesse hatte, ihn umzubringen? Na klar, all diejenigen, denen er den Weg zur Weltmeisterschaft versperrte. Natürlich wird kein anderer Schachspieler einfach hingegangen sein, um ihn zu ermorden - zumal die meisten, die in Frage kamen, gewußt haben werden, daß sie nur zu warten brauchten - irgendwann mußte er ausder Versenkung auftauchen, und dann gab es sicher ein Dutzend anderer Spieler, die ihn am Brett schlagen konnten. Aber es gab andere, die ausgerechnet aus dem königlichen Spiel für Individualisten eine Angelegenheit höchsten staatlichen Interesses machen wollten (wobei Dikigoros keinen großen Unterschied macht zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Verbänden - hatte Alëchin nicht 1938 die AVRO vor den Kopf gestoßen? Scherte er sich nicht auch um die F.I.D.E. einen Dreck?). Kurzum: ein Motiv hatten viele, die Gelegenheit hatte praktisch jeder. Irgendjemand wird sie genutzt haben...

Die kommunistische Sowjetunion hat - begünstigt durch die verbrecherische Dummheit ihrer westlichen Alliierten - den Zweiten Weltkrieg gewonnen, d.h. das russische Volk hat ihn verloren. Das ist das schlimmste, was der Welt geschehen konnte, und besonders für einen russischen Patrioten wie Al., der immer an eine Rückkehr in seine Heimat mit deutscher Hilfe geglaubt hatte. Ein paar Monate später findet man ihn tot in seinem Hotelzimmer. Es soll Selbstmord gewesen sein - und Grund genug mag er gehabt haben, den Freitod zu wählen. Das schließt freilich nicht aus, daß auch andere Leute ein Interesse daran gehabt haben könnten, ihn aus dem Weg zu räumen. Wie war das vor Kriegsbeginn? Wollte er da nicht seinen Titel gegen Keres verteidigen? Und nun etwa schon wieder? Nein, das paßt einigen Leuten in der SU gar nicht in den Kram, und die gehen - auch und gerade im Ausland, wenn es um Emigranten, also Verräter geht - bekanntlich über Leichen.

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47. 1948 SU-Botwinnik schlägt Euwe und Keres und ist damit neuer WM. Alles Schiebung? Paul Keres (nein, später! Hier nur Botwinnik!).

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48. Schach-Olympiade? Helksinki 1952 und Ausblick

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Das 49. Feld liegt in Paris: Es ist der Friedhof von Montparnasse. Der hat von allen Friedhöfen der Welt die meisten Katzen - wo sonst also könnte man den großen Katzenliebhaber Aleksandr Alëchin würdiger zu Grabe tragen? Nanu, war der nicht schon zehn Jahre zuvor in Portugal gestorben? Gewiß, aber nun besinnen sich die Franzosen, daß dort Salazar, der böse Krypto-Nazi regiert, und daß Alëchin doch eigentlich gar kein Nazi war, sondern vielmehr der einzige Franzose, der im 20. Jahrhundert Schach-Weltmeister wurde, also folglich ein guter Demokrat gewesen sein muß. Und überhaupt gibt es jede Menge Dinge, von denen man im Jahre 1956 ablenken muß: England und Frankreich, die beiden Staaten, die den Zweiten Weltkrieg angezettelt und "gewonnen" haben, versuchen ein letztes Mal, Großmacht-Politik zu treiben, und um unter Beweis zu stellen, daß sie den Krieg nur angefangen hatten, um den armen Juden zu helfen, tun sie diesmal wieder das gleiche: Im Verein mit Israel überfallen sie Ägypten, wo, pardon weil der böse Nasser den Suez-Kanal verstaatlicht hat, den sie immer noch als ihr gemeinsames Baby ansehen: Schließlich hat ihn ein französischer Ingenieur geplant und ein englischer Jude finanziert (aber das ist eine andere Geschichte); also kann man doch nicht zulassen, daß so ein daher gelaufener Putschist... Aber nun fällt ihnen unerwartet jemand in den Rücken, mit dem sie gar nicht gerechnet haben, und zeigt ihnen, wer in Wirklichkeit den Zweiten Weltkrieg um die Weltherrschaft geführt - und gewonnen - hat: U.S.-Präsident Eisenhower. Engländer und Franzosen müssen kleinlaut wieder abziehen; und unterdessen sind die Sowjet-Russen - die anderen "Gewinner" des Zweiten Weltkriegs - in Ungarn einmarschiert (daran hat sie niemand gehindert) und lachen sich ins Fäustchen. Ach so - eine Schach-Olympiade war auch noch - die haben sie freundlicherweise die Ungarn gewinnen lassen...

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50. 1958: Botwinnik gewinnt seinen Titel von Smyslow zurück; die Russen starten den Sputnik. 1961: Botwinnik gewinnt zum letzten Mal seinen WM-Titel zurück, von Tal.

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Das 51. Feld liegt in La Habana, Cuba. Dort hat vor einigen Jahren ein Putsch des verkrachten Rechtsanwalts Fidel Castro statt gefunden - einige meinen, daß es ein "erfolgreicher" Putsch gewesen sei; nun ja, wer das als "Erfolg" für Cuba betrachtet, kann ja mal dorthin reisen und sich die Folgen in der Praxis anschauen... Aber damals konnte man das vielleicht noch nicht wissen, allenfalls ahnen; denn noch zehrte das neue Regime vom Reichtum des gestürzten Batista-Regimes - und von seinen alten Lorbeeren. So veranstaltet es im Jahre 1965 aus unerfindlichem Anlaß ein großes "Capablanca-Gedächtnis-Turnier", zu dem auch der beste amerikanische Spieler, ein gewisser Robert Fischer (von dem wir später noch mehr hören werden), eingeladen wird. Der würde zwar gerne teilnehmen, aber die U.S.-Regierung verweigert ihm ein Ausreise-Visum ins kommunistische Cuba. Was hat man mit dem Land nicht in letzter Zeit für Ärger gehabt: Die Stationierung sowjetischer Raketen dortselbst hat fast zu einem Dritten Weltkrieg geführt; und der unfähige U.S.-Präsident Kennedy (der inzwischen vom amerikanischen Geheimdienst glücklich beseitigt worden ist) mußte u.a. Berlin opfern, damit die Russen ihre Raketen wieder abzogen. Aber wenigstens mit einem Boykott Cubas wollten sich die U.S.A. rächen (und das tun sie bis heute :-). Also: Keinen Rum aus Cuba (die Familie Bacardi emigriert und verlegt ihren Firmensitz nach Mexiko - aber das ist eine andere Geschichte); und keine Schachspieler nach Cuba. Aber telefonieren darf man noch - an Telefonanrufen nach Cuba verdienen ja die amerikanischen Telefongesellschaften. Also setzt sich Fischer in New York ans Telefon und gibt - wie beim Fernschach - seine Züge fernmündlich nach La Habana durch. Dort sitzt der Sohn Capablancas - ein braver, linientreuer Castro-Anhänger, der leider in Sachen Schach seinem Vater nicht das Wasser reichen kann - und überträgt sie aufs Schachbrett. Ätsch, meint Fischer; aber man vergißt ihm diese Umgehung der Ausreisebestimmungen nie. Knapp drei Jahrzehnte später werden die U.S.-Gewaltigen bei einer ähnlichen Gelegenheit gründlich Rache nehmen...

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Das 52. Feld liegt in Prag. Schrieb Dikigoros eben vom Einmarsch der Sowjet-Russen in Ungarn? Und vom Trostpflaster, das sie ihnen gelassen haben, indem sie ihre Spieler anwiesen, das Endspiel der Schach-Olympiade von 1956 gegen die Madgyaren zu verlieren? Das ist nun zwölf Jahre her, und noch immer sind die Russen eine Weltmacht - auch im Schach: Botwinnik hat seinen WM-Titel zwar zum dritten Mal verloren, gegen Petrosjan (und anders als die beiden Male davor, gegen Smyslow und Tal, hat er ihn nicht zurück gewinnen können), aber nur Radio Eriwan (dort hat Petrosjan studiert - Journalismus) würde behaupten, daß sich dadurch irgend etwas am System geändert hätte. Radio Eriwan behauptet zur Zeit noch ganz andere Dinge, und damit kommen wir zu der Frage, was das alles mit Prag zu tun haben soll. Aber darüber schreibt Dikigoros an anderer Stelle ausführlicher, auch in schachlicher Hinsicht; deshalb braucht er hier nur noch den Link zu setzen, was er hiermit getan hat. Aber er darf Euch doch noch - wenn Ihr es nicht schon selber bemerkt habt - auf einen kleinen, aber [un]feinen Unterschied hinweisen: Die ungarischen Schachspieler werden 1956 noch gepampert; vergleicht das bitte mal mit der Behandlung, die die Sowjets 1968 Ludek Pachman angedeihen lassen...

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Das 53. Feld ist auf dem Mond - oder auch nicht. 1969: Die Amerikaner fliegen - angeblich - hin. Spasskij schlägt Petrosjan und wird neuer Weltmeister.

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Das 54. Feld liegt in Reykjavík auf Ísland, dem nördlichsten und zugleich westlichsten Land Europas, das bisweilen fast in Vergessenheit geraten ist, und dennoch - oder gerade deshalb - immer wieder die Fantasie der übrigen Europäer beflügelt hat. Das geheimnisvolle "Thule" des Pytheas (hinter dem sich wahrscheinlich Norwegen oder sonst ein Land in Skandinavien verbarg :-) suchten schon die alten Römer auf jener Insel; im 7. oder 8. Jahrhundert wurde sie von den Wikingern besiedelt; und als der junge Konrad von Würzburg Mitte des 13. Jahrhunderts Teile der Thidrekssaga zum Nibelungenlied umformte, da verlegte er nicht nur die Heimat der Niflungen von der Eifel nach Worms und den Hof Attalas von Westfalen nach Ungarn, sondern auch die Burg Prynhildens vom Nordrand des Harzes nach Ísland - wo sollte es sonst schon den Flammenkreis geben, den Jung-Sigfrit überwinden mußte, wenn nicht auf der Inseln der Vulkane und Geysire? Dann hörte man lange nichts mehr von ihr - bis 1940, als die Briten sie überfielen, pardon "befreiten", um sie vor den bösen Nazi-Deutschen zu schützen (die schließlich schon die verbrecherische "Thule-Gesellschaft" gegründet und damit ihre Eroberungspläne offenbart hatten). Das hatten sie zuvor auch schon mit Norwegen und Dänemark versucht, aber da waren ihn die letzteren ärgerlicherweise zuvor gekommen. 1941 wurden ihre Besatzungstruppen von denen der "neutralen" US-Amerikanern abgelöst - ihr Präsident Roosevelt war ein weitsichtiger Mann, obwohl auch er sich wahrscheinlich nicht hätte träumen lassen, daß die Besatzer erst anno 2006 wieder abziehen sollten - 15 Jahre später als aus Deutschland! Die wehrlosen Isländer - ein kleines Völkchen von gerade mal 300.000 Köpfen - mußten gute Mine zum bösen Spiel machen, denn sie hatten keinerlei Wehrmacht, weder Heer noch Marine, geschweige denn Luftwaffe, und sie verschanzten sich all die Jahre außenpolitisch hinter einem braven Vasallentum zu den USA und innenpolitisch hinter einer meist "sozialistisch" genannten Regierung. Tatsächlich hielten sie mit einer unglaublichen Zähigkeit (die Ihr aber bitte nicht "konservativ" oder gar "nationalistisch" nennen wollt, liebe Leser :-) an ihren althergebrachten Traditionen fest, vor allem an ihrer alten, rein-germanischen Sprache. Die Festlandskandinavier - Dänen, Norweger und Schweden - können einander für gewöhnlich verstehen, etwa so wie Bayern, Preußen und Sachsen. Aber die Isländer zu verstehen, das wäre für sie, als wollte man von einem Engländer verlangen, den Beowulf im Original zu lesen, oder von einem Deutschen die Merseburger Zaubersprüche. Nein, nicht die "mittelhochdeutschen" Epen - die hatten nämlich vielfach französische Vorbilder und strotzten deshalb von romanischen Fremdwörtern. So etwas gibt es bei den Isländern nicht; die haben nicht nur einige der schönen alten Runen-Zeichen behalten (während z.B. die Schweden inzwischen sogar das "æ" und das "ø" abgeschafft und durch "ä" bzw. "ö" ersetzt haben, um nicht mehr so "altmodisch" zu erscheinen), sondern verhindern auch, daß ihre Sprache durch Fremdwörter verunreinigt wird. So dürfte Ísland das einzige Land der Welt sein, wo man weder ein Radio noch ein Auto noch ein TV-Programm kennt, ja nicht einmal elektrischen Strom, dafür irgendwelche mehr oder weniger hübschen Rückübersetzungen in die alte Sprache der Wikinger, die es einem Ausländer fast unmöglich machen, "Íslenska" zu erlernen... Deren Sprecher sind in einem solchen Maße in sich gekehrt, daß man sie von außen ohne weiteres als "neutral" ansehen kann - und es auch tut. Und so kommt es, als zum ersten Mal in der Geschichte des Schachs ein WM-Kampf zum Politikum wird, daß man sich 1972 wohl oder übel auf Ísland als Austragungsort einigt.

Hier spielen nicht nur zwei Großmeister um den höchsten Titel ihrer Sportart, sondern zwei Großmächte rüsten zum Vergleich der Systeme, zum Kampf um die geistige Weltherrschaft - und das unter merkwürdig verkehrten Vorzeichen: Mit Boris Spasskij ist zum ersten Mal seit 1948 ein Sowjet-Bürger Schach-Weltmeister geworden, der es geschafft hat, seine [halb-]jüdische Herkunft einigermaßen zu verschleiern - obwohl er nach jüdischem Recht, das bekanntlich allein auf die Mutter abstellt, Jude ist; aber wer will das schon offiziell sein in der Sowjetunion, wo die Juden einen zunehmend schweren Stand haben? Sie sind die einzigen, die noch wagen, den Mund aufzumachen und das Sowjet-Regime zu kritisieren. "Dissidenten" nennt man sie, diskriminiert und schikaniert sie, wo man kann. Wenn sie Glück haben, dürfen sie nach Israel ausreisen (wo sie auch nicht immer willkommen sind); wenn sie noch mehr Glück haben sogar in die USA. Wenn sie Pech haben, bekommen sie Hausarrest und Publikationsverbot; wenn sie noch mehr Pech haben, landen sie in Sibirien oder sonstwo im "Lager"; und der Rest duckt sich und spielt brav den Nicht-Juden - man kann sich als Sowjet-Bürger aussuchen, welche Volks- und Religionszugehörigkeit man im Paß stehen haben will; "Russe" und "Atheïst" macht sich immer gut. [Was, liebe Leser, Ihr meint, Spasskijs Vorgänger Petrosjan sei doch "Armenier" gewesen? Na ja, etwa so, wie Kasparow Aseri ist... Geboren wurde er in der georgischen Hauptstadt Tiflis; aber wenn man irgend einem Schachspieler jemals angesehen hat, daß er Jude ist, dann Petrosjan - sein Bilderbuch-Konterfei war Gegenstand von Karikaturen in aller Welt (außer in Deutschland, versteht sich :-).] Spasskij war auch kein besonders begeisterter Sowjet-Mensch. Gewiß, er war in der Partei, und er latschte auch brav in der Mai-Parade mit; aber er war kein "150%iger" wie vor ihm Botwinnik oder nach ihm Karpow.

Auch die U.S.A. schicken einen Juden ins Rennen (übrigens einen anti-zionistischen :-). Das wäre weiter nicht schlimm - auch Steinitz, Fine und Reshewsky waren Juden; aber die konnte man wenigstens noch als "Tschechen" oder "Polen" verkaufen. Dieser ist dagegen ausgerechnet ein deutscher Jude! Robert ("Bobby") Fischer, Sohn Berliner Emigranten, ist in Brooklyn aufgewachsen, wo er (zusammen mit der später noch berühmteren Schlagersängerin Barbra Streisand) zur jüdischen Erasmus-Schule gegangen ist, die er freilich nicht beendet hat, "um sich ganz dem Schachspiel widmen zu können". (Man sollte ihm das später als "mangelnde Intelligenz" auslegen. Aber mal im Ernst, liebe Leser, glaubt Ihr wirklich, daß Schulerfolg [noch] etwas mit Intelligenz zu tun hat? Gerade Hochintelligente muß dieser Idioten-Betrieb doch zutiefst anwidern und abstoßen; wer da vorzeitig von der Schule abgeht, tut das meist nicht, weil er nicht mehr mitkommt, sondern weil er dort nichts mehr lernen kann.) Der Brooklyn Chess Club - die letzte Bastion des einstmals jiddischten Stadtteils von New York City - hat Bobby das zerrüttete Elternhaus ersetzt und ist ihm auch geistige Heimat geworden. Seit Jahren führt er schon die Weltrangliste an; aber er hat sich stets geweigert, an den Ausscheidungskämpfen um die WM mitzumachen - die Teilnahmebedingungen für Nicht-Sowjet-Menschen erscheinen ihm (wohl nicht ganz zu Unrecht) als unfair. Nein, das ist nicht einfach ideologische Gegnerschaft zum Kommunismus - er hätte wie gesagt kein Problem damit, Turniere in Castros Kuba zu spielen oder in Titos Jugoslawien -, sondern ganz konkreter Haß auf das Sowjet-System, ganz speziell auf die jüdisch-sowjetische Schach-Mafia. Man bekniet ihn, man bietet ihm Geld, immer mehr Geld - und schließlich läßt er sich gnädig herab, mitzumachen. Erwartungsgemäß gewinnt er das Kandidaten-Turnier spielend; und nun tritt er also an mit dem erklärten Ziel, die sowjetische Vorherrschaft zu brechen. Die Welt - nicht nur die Schachwelt - hält den Atem an. Dikigoros - der damals ein relativ starker Spieler ist und gerade seine ersten bescheidenen Lorbeeren geerntet hat - und seine Schachfreunde verfolgen jede Partie; es werden Wetten abgeschlossen - mit einer Ausnahme, einen gewissen B., setzen alle im Verein auf Fischer; und als der nach zwei Parteien 0:2 hinten liegt, gibt es die ersten langen Gesichter. Danach reißt sich Bobby (der die beiden ersten Partien praktisch verschenkt hat) jedoch am Riemen und gewinnt am Ende deutlich - umso länger sind die Gesichter im Verein, als B. untertaucht, ohne seine Wetten eingelöst zu haben. Wie dem auch sei, die Amerikaner triumfieren - in den USA nimmt das Schachspiel einen geradezu fantastischen Aufschwung. Fortan werden in allen größeren Städten Turniere abgehalten, in mehreren Klassen, damit auch Anfänger und mittelstarke Spieler teilnehmen können. Die U.S.C.F. wird vorübergehend zum mitgliederstärksten Sportverband in den USA - auch Dikigoros, der einige dieser Turniere mitspielt, tritt ihr bei. (Zu Meisterehren hat er es zwar nie gebracht; aber es war eine schöne Zeit, die er nicht missen möchte; und er hat noch heute ein relativ hohes Rating, weil er rechtzeitig aufhörte, als seine Spielstärke nachließ, und sich so den Punktestand nicht mehr versaut hat :-) Spasskij dagegen fällt in Ungnade und darf zur Strafe ein Jahr lang nicht mehr im Ausland spielen...

Na ja, werden einige Leser denken, aber rechtfertigt es das wirklich, Ísland als eines von 64 entscheidenden Feldern der Weltgeschichte anzusehen? Einige andere, die im Politik-Unterricht brav aufgepaßt haben, werden diese Frage vielleicht bejahen, weil doch durch jene Schachweltmeisterschaft von 1972 so viel Vertrauen zwischen den Großmächten geschaffen wurde, daß dort 14 Jahre später das "historische" Treffen zwischen US-Präsident Reagan und Sowjet-Führer Gorbatschow statt finden konnte, das bekanntlich zu... ja, wozu führte es eigentlich? Zu gar nichts, liebe Leser, zu gar nichts. Die beiden redeten zwar viel herum, aber in dem Punkt, um den es ihnen - angeblich - ging, nämlich um die Abrüstung (ausnahmsweise mal nicht nur die der anderen, sondern auch die eigene, denn die kostete verdammt viel Geld), kamen sie keinen ernsthaften Schritt voran. Sie rüsteten beide kräftig weiter auf, und ein paar Jahre später war die SU pleite. Und dann gab es doch viel wichtigere Felder, oder? Vielleicht Berlin, wo 1989 die Mauer fiel und 1991 die "Wieder"-Vereinigung von BRD und DDR zur BRDDR vorgenommen wurde? Aber nein, liebe deutsche Leser, das meint Dikigoros nicht, denn er sieht da überhaupt keinen Kausalzusammenhang. Aber zeitlich seid Ihr schon auf der richtigen Spur, und mit der Vertrauensbildung auch. Während die Augen der Welt auf Berlin gerichtet sind, fragen sich die Wähler in Reykjavík, warum sie eigentlich die Juden nur Schachfiguren über ein kleines Brett von 64 Feldern schieben lassen sollen - sollten sie nicht mal einem von ihnen die Chance geben, ein etwas größeres Rad zu drehen? Was, ausgerechnet die konservativen Isländer fragen sich das? Aber ja - sie sind doch keine Anti-Semiten, und Davíd Oddsson ist doch ein Mitglied der konservativen Partei, und anders als die Deutschen schafft er auch den 17. Juni - den "Tag der L'yoveldio" (wir erinnern uns: lateinische Fremdwörter gibt es im Isländischen nicht, also auch keine "Republik" :-) - nicht als National-Feiertag ab. Der Mann ist durch und durch vertrauenswürdig. Aber wenn sich schon niemand an seinem jüdischen Vornamen stört (wieso auch - stört es denn jemanden, wenn jemand in Ísland "Aasgeier" heißt?), stört sich denn auch niemand an seinem Nachnamen? War nicht auch Loki, der Gott der Lüge aus der altgermanischen Mythologie, der den Göttern den Untergang ihrer alten Welt brachte, ein "Sohn des Otters"? Blödsinn, von solchen bösen Vorzeichen, pardon Vorurteilen wollen wir uns doch nicht beeinflussen lassen, oder? Und der neue Ministerpräsident beweist in der Tat ganz bemerkenswerte Qualitäten. Wie war das zu Zeiten der Wikinger? Da ging man noch mühsam auf Raubfahrt ("Wik" war die Beute; "Wikinger" bedeutete "Beutemacher"), das war nicht nur gefährlich, sondern brachte oft auch nicht viel ein. Das konnte man doch viel leichter haben, wenn man nur die Finanz- und Wirtschaftspolitik ein wenig "lockerte". Seid Ihr, liebe ältere Leser, noch mit der Vorstellung groß geworden, daß "die Reichen" ihr Geld in die Schweiz, nach Luxemburg, Liechtenstein oder auf die Bahamas bringen? Dann seid Ihr mit Verlaub hinterm Mond: Dort ist die Quellensteuer hoch, die Zinsen sind niedrig, und das Bankgeheimnis ist längst abgeschafft. Wer clever ist, der bringt sein Geld nach Ísland; dort gibt es 30% Zinsen und Doppelbesteuerungs-Abkommen mit praktisch allen in Frage kommenden Herkunftsländern, dazu stabile politische Verhältnisse und ein westlich-kapitalistisches Wirtschaftssystem, dem man blind vertrauen könnte; und selbst wenn man das nicht tut, sondern mal hin fliegt und sich alles mit offenen Augen anschaut, wird dieser Eindruck bestätigt: Die Isländer verstehen offenbar etwas vom Wirtschaften; ihre Insel ist binnen eines Jahrzehnts vom ärmsten zum reichsten Land westlich des "Eisernen Vorhangs" geworden - den es ja nun nicht mehr gibt, weshalb bald auch die "Neureichen" im Osten das neue Geldanlage-Paradies entdecken. Die Isländer wissen das zu schätzen; sie sind ihrem Premier so dankbar, daß sie ihn immer wieder wählen - er stellt einen neuen Rekord auf, was die Länge der Regierungszeit anbelangt. 2004 tritt er freiwillig zurück - warum eigentlich? Gute Frage. Darf Dikigoros noch eine hinzufügen? Wißt Ihr, was Kettenhemden sind? Na klar, das waren die Dinger, in denen die alten Wikinger auszogen, um andere Völker zu überfallen und auszuplündern, aber die könnt Ihr hier getrost vergessen. Wißt Ihr aber auch, was Kettenbriefe sind? Wenn nicht, dann schlagt es bitte nach, denn das ist wichtig. Nach dem Prinzip der Kettenbriefe funktionierte nämlich unter Davíd, dem Sohn des Otters, die isländische Wirtschaft im Allgemeinen und das isländische Bankenwesen im Besonderen. Eigentlich hätte das jedem klar sein müssen, denn niemand auf der Welt kann auf seriöse Art und Weise 30% Zinsen p.a. erwirtschaften, geschweige denn mehr (und von der Differenz hätten die isländischen Banken ja leben müssen); und noch weiter abwerten konnte man die isländische Krone (die längst unter die Grenze von 1 Cent gesunken war) auch nicht mehr, zumal die Anleger bald auf "Fremdwährungs-Garantien" bestanden, d.h. das Abwertungsrisiko nicht mehr mittragen wollten. Egal, solange "frisches" Geld nachkam, hatten die Banker keine Probleme: Sie nahmen es und teilten es durch drei: ein Drittel steckten sie in die eigenen Taschen - und die er Politiker, die sie deckten -, ein weiteres Drittel verwendeten sie, um den ausländischen Anlegern ihre 30% Zinsen zu zahlen, und aus dem letzten Drittel gewährten sie den Inländern großzügige Kredite zu 3%, so daß bald jeder Isländer, der noch wenige Jahre zuvor in einer Fischerhütte ohne elektrisches Licht und fließend Wasser gehaust hatte, ein eigenes Haus, ein Auto, einen Kühlschrank, Fernseher, Computer und und und sein Eigen nannte. (Nichts davon "made in Iceland", sondern alles Importware - die doofen Ausländern lieferten den WikingernIsländern nicht nur das Geld, sondern auch die Waren frei Haus :-) Das ging so lange gut, bis mal irgend jemand sein Geld wieder abheben wollte und plötzlich keines mehr da war - denn darauf ist so ein System nun mal nicht eingerichtet. Und da wirklich jeder Idiot sein Geld nach Reykjavík getragen hatte - einschließlich der "Bank of England" (ja, war es denn nicht klüger, das Geld "anzulegen" als es etwa in die Rüstung zu stecken? Kettenbriefe statt Kettenhemden!) - krachte das Weltfinanzsystem auf einen Schlag zusammen. Das war im Herbst 2008, und seitdem wird nur noch mühsam eine Fassade aufrecht erhalten, hinter der es freilich arg hohl zugeht: Die Regierungen haben praktisch alle Banken verstaatlicht und schöpfen "neues" Geld durch Kredite, Bürgschaften, Garantien und andere Spiegelfechtereien. Eine Handvoll Wikinger hat gut tausend Jahre, nachdem sie Europa erstmals ins Unglück stürzten, wieder Weltgeschichte geschrieben - eines ihrer schlimmsten Kapitel, das in einem neuen "Ragnarök" (nachschlagen, liebe jüngere Leser, wenn Ihr den Begriff nicht kennen solltet!) enden könnte. Und was macht David, der Sohn des Otters? Der verzehrt in aller Ruhe seine üppige Pension und verbringt seine Freizeit dem Vernehmen nach vorzugsweise mit Schachspielen. (Und die Milliarden Schmiergelder? Keine Sorge, die hat er gut angelegt - natürlich außerhalb Íslands :-)

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Aber Dikigoros hat weit vorgegriffen. Kehren wir zurück auf das 55. Feld der Schachgeschichte. Es ist ein Ruinenfeld, und es liegt in Afrika. Dort hat man im Jahre 1922 die Ruinen von Zimbabwe ausgebuddelt, in einer britischen Kolonie, die nach dem großen Diamanten-Sucher Cecil Rhodes "Rhodesia" genannt wird. Diese Kolonie hat sich - ebenso wie die benachbarte Republik Südafrika - vor einigen Jahren für unabhängig erklärt; und da es auch dort Schachspieler gibt, sind beide Staaten der F.I.D.E. beigetreten, die im Sommer 1974 im schönen Nizza tagt, um ihr 50. Jubiläum zu feiern. Viel zu feiern gibt es nicht, denn die Geschichte der F.I.D.E. besteht wie gesagt eigentlich nur aus Skandalen - und der jüngste ist, daß der amtierende Weltmeister Bobby Fischer es abgelehnt hat, als unbezahlter Grüßgott-August zu dieser albernen Veranstaltung zu reisen. Aber irgendetwas "Positives" müssen die Funktionäre doch vorweisen können? Na klar, sie gründen eine "Afro-Zone". Nun ist zwar allgemein bekannt, daß Neger traditionell kein großes Interesse am Schachspiel haben - sie laufen oder boxen halt lieber oder spielen Ball; aber die F.I.D.E. findet immerhin 47 Afrikaner, die einigermaßen die Spielregeln beherrschen, und denen verleiht sie den neuen Titel "F.I.D.E."-Meister ehrenhalber. Das ist ein guter Witz. Ein schlechter Witz ist dagegen, daß das neue F.I.D.E.-Mitglied Marokko (wo es insgesamt weniger Schachspieler gibt als in jeder mittelgroßen Stadt Südafrikas oder Rhodesiens) einen Antrag stellt, Südafrika und Rhodesien aus der F.I.D.E. auszuschließen - wegen Rassendiskriminierung. Die F.I.D.E. stellt eine Untersuchung an und kommt zu dem Ergebnis, daß keinerlei Diskriminierung schwarzer Spieler vorliegt, da es gar keine schwarzen Spieler gibt, und... schließt deshalb Südafrika und Rhodesien unter Vorsitz des korrupten alten Schweins Euwe - dessen Namen wir ins solchen Zusammenhängen doch immer wieder tunlichst erwähnen wollen, er hat es sich verdient, nicht umsonst wurde er 1970 zum F.I.D.E.-Präsidenten gewählt! - antragsgemäß aus. Das ist der endgültige Sündenfall der F.I.D.E.; wer die fortan noch als Interessenvertretung aller Schachspieler auf der Welt ansieht, kann nicht ganz richtig im Kopf sein (aber das soll ja bei Schachspielern schon mal vorkommen :-).

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Das 56. Feld liegt in Tallin - oder wenn Ihr so wollt in Reval. [Beides sind schwedische Bezeichnungen - genauso wie Konstantinopel, Byzanz und Istanbul allesamt griechische Bezeichnungen sind; der Namensstreit ist also einer um des Kaisers Bart.] 100.000 Schachfreunde ziehen durch die Straßen der Hauptstadt der Sowjet-Republik Estland - was doch recht beachtlich ist, wenn man bedenkt, daß das estnische Volk nach der brutalen Russifizierungs-Politik der Sowjet-Union kaum noch eine Million Menschen zählt. Aber zu welchem Turnier pilgern die da bloß im Juni 1975? Eine Weltmeisterschaft kann es doch nicht sein; denn nachdem Bobby Fischer sich geweigert hat, seinen Titel unter Bedingungen zu verteidigen, die ihn klar benachteiligen, hat ihm die F.I.D.E. den Titel kurzerhand entzogen, und das korrupte alte Schwein Euwe hat ihn im April (ein schlechter Aprilscherz - aber ganz ernst gemeint!) kampflos einem jungen Sowjetmenschen namens Anatoliji Karpow verliehen, der gerade zum Dr. rer. pol. promoviert worden ist mit einer Dissertation über die Bedeutung der Freizeit für die Volkswirtschaft. (Ein Werk, in dem das Schachspiel mit keinem Wort erwähnt wird - Schach ist keine Freizeitbeschäftigung, sondern Arbeit zum Ruhme des Sozialismus! :-) Nun ist das keineswegs ein Willkürakt wie die Jahrzehnte lange Verschiebung des WM-Titels an Botwinnik, und Karpow ist zwar kein Jude (sondern Atheïst russischer Abstammung, wie sich das für einen guten Sowjet-Menschen gehört),aber dennoch ein recht guter Schachspieler. Schließlich hat er auch das Kandidaten-Turnier gewonnen, Spasskij und Kortschnoj geschlagen, also ist er wohl - jedenfalls nach Fischer - der beste Spieler der Welt, oder? Hm... fragt mal die 100.000, die in stummem Protest durch die Straßen von Tallin ziehen - sie werden das nicht kommentieren, denn das könnte noch immer lebensgefährlich für sie werden, wie es für den war, dessen Sarg sie folgen, den frisch gebackenen Sieger der offenen Meisterschaften von Kanada, die er als fast 60-jähriger noch einmal gewonnen hatte. Auf der Rückreise von Vancouver nach Helsinki ist er einem Herzinfarkt erlegen - so lautet jedenfalls die offizielle Diagnose der Ärzte. Wie kommt es, daß Euch Dikigoros auf dieser Reise durch die Schachgeschichte noch gar nichts von Paul Keres berichtet hat, dem mutmaßlich stärksten Schachspieler der 40er, 50er und 60er Jahre? Ganz einfach: weil er nie Weltmeister geworden ist. Warum nicht? Darüber gehen die Meinungen weit auseinander: Die einen schreiben es "einer Mischung von Pech und schwachen Nerven" zu, die anderen schlichter Erpressung. Wer selber etwas überdurchschnittlich Schach spielt und in der Lage ist, ein paar Partien nachzuspielen, wird kaum einen Zweifel haben, welche dieser Meinungen zutreffend ist.

Seit seinem 19. Lebensjahr hatte Keres kaum eine Partie verloren und auch das AVRO-Turnier von 1938 gewonnen; aber Aljëchin hatte gar nicht daran gedacht, seinen WM-Titel gegen ihn zu verteidigen - wohl wissend, daß er chancenlos gewesen wäre. Im Krieg spielte (und gewann) Keres weiterhin die Turniere, die in Europa gespielt wurden - und wo die gespielt wurden, haben wir ja schon gesehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg nannte man das "in Nazi-Deutschland", und wer sich daran beteiligt hatte, war ein "Kollaborateur", verdiente folglich, wenn er aus dem sowjetischen Machtbereich stammte, die Todesstrafe. Stammte Keres aus dem sowjetischen Machtbereich? Na klar! In Esland hatte die unkluge Politik des Generals Laidoner - eines Bruders im Geiste des finnischen Marschalls Mannerheim - in den 30er Jahren das Land zwischen alle Stühle gesetzt: Die nationale Bewegung hatte er brutal unterdrückt und damit die sympathisierenden Deutschen abgeschreckt; da er dies mit diktatorischen - also "undemokratischen" - Mitteln tat, hatte er auch die Westmächte vor den Kopf gestoßen, und ausgerechnet Stalin war er in den Hintern gekrochen - was Estland nicht davor bewahrte, 1940 "freiwillig" von der S.U. geschluckt zu werden, und ihn selber nicht davor, in einem russischen Lager zu verschwinden (er sollte erst 1953 wieder auftauchen - als Leiche). Stalins Angebot an Keres - und an den lettischen Großmeister Petrow - war ganz einfach: Sie durften am Leben bleiben, weiter Schach spielen - für die S.U., versteht sich - und so viele Turniere gewinnen wie sie wollten, wenn sie sich verpflichteten, niemals ernsthaft in den Kampf um die Weltmeisterschaft einzugreifen. (Diese Ehre hatte man, wie wir gesehen haben, Botwinnik und anderen braven Sowjet-Menschen vorbehalten.) Petrow lehnte ab - er verschwand wie Laidoner im Lager und tauchte nie wieder auf. Keres akzeptierte das Angebot - nie die Hoffnung aufgebend, daß sich die politischen Verhältnisse zu seinen Lebzeiten noch einmal ändern könnten - und quälte sich fortan durch die WM-Ausscheidungskämpfe, wohl wissend, daß er nie mehr als Zweiter werden durfte: 1953 und 1956 hinter Smyslow, 1959 hinter Tal, 1962 hinter Petrosjan, 1965 hinter Spasskij... Wenn Ihr Muße habt, liebe schachkundige Leser, dann schaut Euch die jeweils entscheidenden Partien einmal an und fragt Euch, wie und warum Keres sie verlieren konnte. Eine "vernünftige" Erklärung hat bisher noch niemand gefunden - jedenfalls keine, die Dikigoros überzeugt hätte. Überzeugt hat ihn allenfalls ein Artikel, in dem die offenbar absichtliche Niederlage Keres' gegen Botwinnik im Kandidatenturnier von 1948 als besonders augenfällig beschrieben und kommentiert wird, und den Ihr hier nachlesen könnt.

Aber der Zug der 100.000 Esten im Sommer 1975 ist nicht nur ein stummer Protest gegen die Jahrzehnte lange Ausbootung ihres größten Schachspielers; sie wissen, was die Großmächte an dem Ort, wo er gestorben ist, gerade ausbrüten: die schändliche KSZE-Schlußakte von Helsinki. Dem dummen Wahlvieh im Westen wird sie als "großer Erfolg für die Menschenrechte" verkauft; die Menschen im Osten wissen es besser: Es ist der offene Verrat, das offizielle Im-Stich-Lassen der unterdrückten und ihrer Menschenrechte beraubten Völker - und speziell die Esten wissen, was das bedeutet - unter dem Deckmantel der "Entspannung". "Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten" nennt man das, was die Sowjet-Union triumfierend als das Verhandlungsergebnis heraus streicht, d.h. von nun an geht es niemanden mehr etwas an, was die Russen in den von ihnen besetzten Ländern treiben, denn das sind ja ihre "inneren Angelegenheiten". (Nur umgekehrt schert sich niemand darum, wenn sich die S.U. und ihre Satelliten, wie Capablancas Heimat Cuba, überall auf der Welt - besonders in der so genannten "dritten" - in deren inneren Angelegenheiten einmischen, von Nicaragua bis Chile, von Angola bis Mosambique... Die USA haben den Vietnam-Krieg verloren und räumen das nunmehr offen ein - die Unterstützung des unter Bruch des Waffenstillstandsabkommens von 1973 vom Vietcong überrolte Südvietnam wäre eine Einmischung in dessen "innere Angelegenheiten". Der Westen ist feige geworden - die Wähler, die Parlamente, die Regierungen; "lieber rot als tot" lautet die Parole nun; und wegen der kleinen Scheiß-Völker im Baltikum wird man sich doch nicht mit der großen Sowjet-Union anlegen... Pardon, liebe Leser, wenn Dikigoros hier widerspricht: "Die" baltischen Völker gibt es nicht; und die Litauer und Letten mögen ja durchaus Scheiß-Völker sein; aber auf die Esten - die mit ihnen nichts zu tun haben als die bedauernswerte geografische Lage - läßt er ebenso wenig kommen wie auf die Finnen (doch darüber schreibt er an anderer Stelle mehr). Wollt Ihr wissen, woran man diesen Unterschied auch schachgeschichtlich festmachen kann? Bitte sehr: Als die baltischen Staaten zu Beginn der 1990er Jahre wieder unabhängig werden, spricht in Lettland niemand mehr von Petrow. In Esland dagegen wird Keres zu einer nationalen Ikone. Wie schrieb einst der deutsche Historiker Leopold v. Ranke: "Den Charakter einer Nation erkennt man daran, wie sie mit den Toten ihrer verlorenen Kriege umgeht" - oder so ähnlich.

[5 Krooni Estland 1992, mit Keres als Ritter des Sch(l)ach(t)felds]

Das 57. Feld liegt in Amsterdam. Die Computer-Firma IBM (hört hört!) sponsort das große Turnier von Amsterdam, an dem die Crème de la crème des Schachs teilnimmt. Es gewinnt - nicht ganz unerwartet - Wiktor Kortschnoj aus Leningrad. Er ist seit 20 Jahren Großmeister, seit 1960 mehrmals Meister der UdSSR, und jetzt wahrscheinlich der stärkste Spieler der Welt; aber das will niemand wahr haben, schon gar nicht der sowjetische Schachverband. Vor zwei Jahren, beim Endkampf des Kandidatenturniers gegen Karpow, hat man ihm ziemlich übel mitgespielt - man könnte auch sagen, daß die Russen, die ihren strahlenden junger Parteigenosse auf dem Schachthron sehen wollten und nicht den alten, politisch unzuverlässigen Halbjuden, ihn verschoben haben, sonst wäre er kampflos Weltmeister geworden. So sieht er das jedenfalls, und er hat die Schnauze endgültig voll. Er setzt sich ab, beantragt politisches Asyl in den Niederlanden und bekommt es auch. [In der BRD hätte er es nicht bekommen, denn die nimmt längst keine wirklich politisch Verfolgten mehr auf, sondern nur noch Schein-Asylanten, Betrüger und andere Kriminelle aus aller Welt - die dafür gleich jedes Jahr zu hunderttausenden.] Später geht Kortschnoj in das einzige Land, das noch wirklich neutral ist und dessen Politiker der SU nicht in den Hintern kriechen: die Schweiz, deren Staatsbürgerschaft er annimmt und deren Meisterschaften er fortan gewinnen wird. Nachdem Bobby Fischer 1977 sang- und klanglos seinen Rücktritt vom offiziellen Turniersport verkündet, wird er die Hoffnung der westlichen Schachwelt gegen die Sowjets. Aber vielleicht blufft Fischer nur oder hat einfach die Zeichen der Zeit eher erkannt als andere? Dem Vernehmen nach spielt er hinter den verschlossenen Türen seines Anwesens, in das er sich zurück gezogen hat, Tag und Nacht gegen einen Schach-Computer, den ihm das M.I.T. gebastelt hat - damals ist das für die Schachgewaltigen freilich nur ein Grund mehr, ihn für geisteskrank zu erklären und aus den Annalen der Schachgeschichte zu streichen.

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Das 58. Feld liegt in Baguio auf den Filippinen. Nanu - was haben die denn mit Schach zu tun? O.k., der neue F.I.D.E.-Präsident Campomanes - ein Kanak wie aus dem Bilderbuch, vor dem jeder Makake Reißaus nehmen würde, ebenso korrupt und sowjet-hörig wie sein Vorgänger Euwe - kommt von dort. Aber sonst? Nichts und niemand. Doch das spricht ja gerade dafür, an diesem scheinbar neutralen Ort den Weltmeisterschafts-Endkampf 1978 auszutragen zwischen dem KPdSU-Abgeordneten im Obersten Sowjet der UdSSR, Anatolij Karpow, und dem bösen Renegaten Wiktor Kortschnoj, der sein sowjetisches Vaterland schmählich im Stich gelassen hat, um in die kapitalistische Schweiz zu desertieren. So etwas kommt im Zeitalter der "Entspannung" gar nicht gut an; schließlich will auch im Westen niemand Kritik an der SU hören - allzu groß ist die Furcht der inzwischen fast überall an die Macht gelangten Linken, daß das Wahlvieh die Parallelen zwischen Kommunismus, Sozialismus und "Sozialdemokratie" sehen könnte, wenn mal jemand von jenseits des Eisernen Vorhangs laut darüber redet. Das Match endet, wie es enden muß: Kortschnoj, von allen verlassen, kämpft auf verlorenem Posten: gegen seinen Gegner, gegen dessen "Beraterstab" von Großmeistern (Kortschnoj selber hat keinen einzigen ernst zu nehmenden Sekundanten) und gegen den Schiedsrichter. Er verliert unglücklich und denkbar knapp mit 5:6. Leonid Brezhnjew, der Führer der ruhmreichen Sowjet-Union, heftet Karpow den höchsten Orden derselben persönlich an die Heldenbrust. Im geistigen Wettstreit der Systeme haben die Sowjets wieder gesiegt; die Schmach von 1972 ist getilgt. (Über den Rückkampf drei Jahre später braucht Dikigoros kein Wort zu verlieren; Kortschnoj ist ein alter, kranker Mann, der erneut keine Chance hat.)

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Wir schreiben das Jahr 1979, und Ihr dürft Euch aussuchen, liebe Leser, wohin wir das 60. Feld verlegen wollen. Schlimme Dinge passieren auf der Welt, aber niemand will sie sehen; vor allem will niemand sehen, daß all diese Dinge die Fratze des militanten Islam tragen: Im Iran stürzen die Mullahs die weltliche Regierung des Shah-in-shah (ja, der, nach dem das königliche Spiel benannt ist - sollte das etwa ein böses Omen sein?) und setzen an seine Stelle einen islamischen "Gottesstaat" - niemand im Westen wagt zu sagen, daß es in Wirklichkeit ein Teufelsstaat ist, denn er hat doch Erdöl; und da die "Grünen" und "Alternativen", die plötzlich überall an die Macht drängen, doch die Atomkraftwerke schließen wollen, wird man davon auf absehbare Zeit abhängig bleiben. Und im Osten? Auch die Sowjets sind blind: In Afģānistān unterstützen sie einen kommunistischen Umsturz, der das weltliche Königtum hinweg fegt - daß sie damit das ganze Land destabilisieren, auch dort den Mullahs in die Hände spielen und am Ende des Jahres selber einmarschieren müssen, um zu retten, was (vermeintlich) noch zu retten ist, ahnen sie nicht. Multi-kulti ist angesagt, Völkerfreundschaft oder wenigstens friedliche Koëxistenz. Und welches Land in Ost und West könnte das besser versinnbildlichen als Jugoslawien, und innerhalb Jugoslawiens der Bundesstaat Bosnien-Herzegowina, in dem orthodoxe Serben, katholische Kroaten, muslimische Bosniaken und noch ein paar Splittergruppen friedlich vereint zusammen leben?! Und dort, genauer gesagt in Banja Luka - der zweitgrößten Stadt Bosniens nach Sarajewo, aber ohne all die bösen Erinnerungen, die mit dem Namen des letzteren verbunden sind - kann man auch, fernab all der Krisenherde, ein schönes, friedliches, internationales Schachturnier veranstalten. Ganz und gar nicht friedlich reagieren allerdings die jugoslawischen Großmeister, als sie die Meldeliste der Sowjet-Union sehen: "So eine Frechheit, uns einen 16-jährigen Bengel ohne Elo-Zahl vorzusetzen, ihren Jugendmeister, damit der mal sein erstes Turnier im Ausland spielt; aber nicht mit uns..." Der alte Botwinnik muß sie persönlich bitten, von einem Boykott abzusehen - na ja, die Sowjet-Union, und zumal deren jüdische Schach-Mafia, setzt ja doch immer alles durch, was sie will...

Der 16-jährige Junge, von dem hier die Rede ist, weiß, was von Friede, Völkerfreundschaft und Multikulti zu halten ist: Er ist in Bakú geboren, in Aserbaidjan, einer Sowjet-Republik mit muslimischer Bevölkerungs-Mehrheit. Nicht, daß er darob als Sohn eines deutschstämmigen Juden und einer christlich-orthodoxen Armenierin diskriminiert würde, Marx bewahre, im Kommunismus sind doch alle Menschen gleich... Aber einige sind halt doch gleicher; und so beschließt die Mutter eines Tages, ihren Sohn Harry (nach dem jüdischen Schriftsteller Harry Chaim, der sich später auf den Namen "Christian" taufen ließ, aber als Literat weiter das Pseudonym "Heinrich Heine" führte) Weinstein in "Garry Kasparow" umzubenennen. (Das geht anstandslos, denn Vater Weinstein ist längst gestorben, Kasparowa ist ihr Mädchenname, und ein "H" können die Russen eh nicht aussprechen, weshalb sie es in der Regel durch ein "ch" oder ein "g" ersetzen; außerdem paßt "Garry" ohnehin viel besser zu einem Deutschstämmigen, der sich in den Kopf gesetzt hat, Anglistik zu studieren und später einmal ins Ausland zu gehen, denn bei den Angelsachsen heißt der Deutsche ja "Gerry". Wie kommt man als Sowjet-Bürger am ehesten ins Ausland? Als Sportler natürlich; und in welcher Sportart sind die Sowjets noch immer weltweit führend? Eben... Garry lernt also Schachspielen, und da er ein kluges Kerlchen ist und sonst keine Interessen hat, macht er rasche Fortschritte: Mit 9 Jahren wird er beinahe Blitzmeister von Aserbaidjan, mit 12 zu ersten Mal Jugendmeister der Sowjet-Union (da spielen die bis zu 18-jährigen mit), mit 15 gewinnt er das Sokolsky-Turnier in Minsk. Na ja, ein zweitrangiges Turnier; hier in Banja Luka werden die Champs dem Bengel schon die Leviten lesen... Es wird die größte Blamage, welche die Weltelite im Schach je gegen einen Newcomer erlitten hat: Kein einziger vermag den "Anfänger" zu besiegen, er gewinnt das Turnier mit 2 Punkten Vorsprung - das entspricht in einer Zeit, da viele Turniere an der Spitze punktgleich enden, etwa einem Vorsprung von glatten 2 Sekunden beim 100-m-Lauf. (Capablanca hatte anno 1911 in San Sebastian immerhin eine Partie verloren.) Noch im selben Jahr wird Garry Kasparow (den sie im Ausland meist "Garri Kasparov" schreiben) Internationaler Meister, ein Jahr später Großmeister, noch ein Jahr später Meister der Sowjet-Union, und weitere zwei Jahre später Weltmeister - mit 20 Jahren der jüngste aller Zeiten und der einzige, der jemals einen 0:5-Rückstand bei 6 Gewinnpartien aufholen mußte. Über den monatelangen Nervenkrieg, der den braven, linientreuen Sowjet-Menschen und Titelverteidiger Karpow an den Rand der psychischen Zerstörung brachte, haben die Zeitungen genug geschrieben - das braucht Dikigoros nicht weiter zu kommentieren, denn historisch tut es nichts zur Sache; und über das, was später aus dem schönen, friedlichen, multi-kulturellen Jugoslawien geworden ist - insbesondere aus Banja Luka, der "Hauptstadt der serbischen Republik Bosnien" - schreibt er an anderer Stelle.

Inzwischen haben - weitgehend unbemerkt - viel wichtigere Entwicklungen statt gefunden, die dazu führen werden, daß Kasparow nicht nur der letzte allgemein anerkannte Weltmeister sein wird (das allein wäre nicht weiter tragisch; die Inflation der "Weltverbände" hat das Schach mit anden Profi-Sportarten gemeinsam, wie dem Boxen, und solange alle gut davon leben können, macht das gar nichts), sondern auch der letzte Weltmeister überhaupt. Nanu, was schreibt Dikigoros denn da? Hat er noch nie von Kasparows illustren Nachfolgern gehört, den... Moment, liebe Leser, er hat, und er wird sie Euch gleich vorstellen - was dringend nötig ist, Ihr kennt sie nämlich noch nicht, und Ihr kämet wahrscheinlich auch nicht so ohne weiteres drauf. Tröstet Euch: Dikigoros hat es damals auch nicht gleich bemerkt.

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Das 59. Feld ist in München, und es ist zeitlich gar nicht so weit von Banja Luka entfernt (räumlich ja auch nicht :-), gerade mal ein Jahr. München 1980? werden die Schachfreunde fragen, welches bedeutende Schachturnier soll denn da statt gefunden haben? Gar keines, liebe Leser, gar keines. Es ist wie in der "richtigen" Geschichte: Es muß nicht immer eine "Entscheidungs"-Schlacht sein, die den Lauf der Weltgeschichte bestimmt; und es muß nicht immer ein großes Turnier sein, das den Lauf der Schachgeschichte bestimmt. Wo waren wir eben stehen geblieben? Bei einem unterschätzten "Anfänger". Jeder fängt mal an, aber nicht jeder hat noch Zeit und Geduld, um jungen Menschen etwas beizubringen. Deutschland ist ein kinderfeindliches Land geworden, die Schulen sind zu Kinderverwahr-Anstalten verkommen (böse Zungen behaupten sogar, zu Kinderverwahrlosungs-Anstalten - aber das ist eine andere Geschichte), wo niemand mehr etwas richtig lehrt oder lernt (nicht nur, weil die Lehrer selber zu dumm und pädagogisch unfähig sind, sondern auch, weil die Lehrinhalte zu Leerinhalten verkommen sind, weil die Disziplin und die Disziplinen nicht mehr stimmen - man erzieht nicht mehr den jungen Menschen, schon gar nicht zum Denken - Denken der Untertanen ist unerwünscht bei den regierenden Gutmenschen -, sondern programmiert junge Gehirne darauf, irgendetwas nachzuplappern, möglichst "politisch korrekt"); am besten wäre es ja, wenn man diese lästige Aufgabe an Maschinen delegieren könnte, an Computer. Ja, warum denn eigentlich nicht? Könnte nicht ein Computer den Kindern die Grundzüge des Schachs beibringen? Wenn sie es dann einigermaßen gelernt haben, können sie immer noch in den Verein gehen und es dort perfektionieren.

Zu Weihnachten 1980 bringt die Münchner Firma Hegner & Glaser einen "Schach-Computer" auf den Markt, dem sie den Namen "Mephisto" gibt. Das ist mutig zu einer Zeit, da in Deutschland kaum mehr jemand weiß, wer Goethe war, geschweige denn den Faust gelesen hat, und noch kaum jemand weiß, was ein Computer ist - die ersten "PCs" der amerikanischen Firma IBM gibt es erst seit ein paar Jahren, sündhaft teuer und von sehr beschränkter Leistungsfähigkeit, halt eine Mischung aus elektronischem Taschenrechner und Bildschirm-Schreibmaschine, ein Spielzeug fast. Aber der Schach-Computer soll ja gar nichts anderes sein als ein Spiel-Zeug. Ist er auch nicht. Dikigoros' Freund Reiner - der beruflich mit Computern zu tun hat - kauft sich so ein Ding und probiert es mangels eigener Spielstärke gegen ihn aus. Das Ergebnis ist niederschmetternd: Der Kiste gelingt nicht ein einziges Remis, geschweige denn ein Sieg. Dikigoros hat schnell heraus, woran das liegt und wie man das ausnutzt: Das Computer-Programm spielt nicht zielgerichtet, es reagiert nur: Wenn sein menschlicher Gegner etwas falsch macht, z.B. eine Figur einstellt, schlägt er sie. Mephisto selber begeht zwar keine solchen Flüchtigkeitsfehler; aber wenn man einfach nur hin und her zieht und abwartet, was der Computer macht, weiß er nichts mit seinem Zugvorteil anzufangen und zieht so lange ziellos vor sich hin, bis er seine Stellung völlig verstellt hat und einem ins Messer läuft: Ein kurzer Angriff auf den Königsflügel, und er ist geschlagen. "Aus den Dingern wird nie etwas," feixt Ex-Weltmeister Euwe, "Maschinen können nicht denken." Die Firma Hegner & Glaser macht denn auch bald Pleite, und alle lachen herzlich über die Dummköpfe, die aus der Konkursmasse das Patent für diesen albernen Schach-Computer kaufen. Dikigoros vergißt die Dinger; und als man ihm fünf Jahre später das Angebot macht, an einem kleinen Regional-Turnier gegen ein Nachfolgemodell teilzunehmen, sagt er zu und macht sich auch keine großen Gedanken, daß ihm nur ein Remis gelingt. Andere - z.B. sein alter Freund Fidi - schlagen die Kiste selbstverständlich; er selber hat ja seit Jahren keine Turnierpraxis mehr, außerdem hat er etwas leichtsinnig gespielt, um eine besonders "schöne" Partie hin zu zaubern, und ist am Ende ein wenig in Zeitnot gekommen, sonst hätte er vielleicht auch noch gewonnen; und diejenigen seiner Mitmenschen, die verloren haben, sind halt Idioten - so einfach ist das in seinen kurzsichtigen Augen.

Nur am Rande - nicht auf einem extra Feld, Kaïssa bewahre! - registriert Dikigoros weitere vier Jahre später, daß Kasparow (der inzwischen seinen WM-Titel noch ein paarmal erfolgreich gegen seinen Vorgänger Karpow verteidigt hat) in New York City gegen ein "Deep Though" [tiefes Denken - dabei denken die Kisten doch gar nicht!] genanntes Schachcomputer-Programm mühelos 2:0 gewinnt und fühlt sich in seiner Auffassung bestätigt, daß der Mensch der Maschine im königlichen Spiel stets überlegen sein wird. Wenn man ihn fragte, wie es denn überhaupt so weit kommen konnte, daß ein menschlicher Weltmeister die Herausforderung so einer blöden Kiste annehme, würde er antworten: "Geld stinkt nicht" - und Kasparow kann es gerade jetzt gut brauchen; denn inzwischen sind wider einige unschöne Dinge passiert auf der Welt, die wir kurz Revue passieren lassen wollen: Die Sowjet-Union, das Bollwerk der Schachwelt, steht vor dem Kollaps; der Rüstungswettlauf gegen die USA hat sie in den wirtschaftlichen Ruin getrieben; das rote Imperium ist nicht länger zu halten. Die Berliner Mauer fällt, und bald wird nicht nur die BRD mit der DDR "wieder" vereinigt sein, sondern der ganze Ostblock - und am Ende gar die Sowjet-Union - werden auseinander brechen. Käsestaaten wie die Tschecho-Slowakei und Jugo-Slawien sowieso - mal mit, mal ohne Bürgerkrieg. Auch in Kasparows Geburtsland Aserbaidjan bricht einer aus, zwischen muslimischen Aseris und christlichen Armeniern. Aber was geht das den jüdischen Schachweltmeister an? Er ist Kosmopolit; ihm ist es egal, wo er sein Geld verdient; er zieht erst nach Moskau (seine Großfamilie - 68 Personen - läßt er im Privatjet mit ausfliegen, während der Mob in den Straßen von Bakú Jagd auf Armenier macht) und nimmt die russische Staatsbürgerschaft an, dann in die USA - mit dem US-$ steht man sich doch eh besser als mit dem russischen Rubl, der täglich weniger wert wird. Kasparow - der mal ein Anhänger von Michaïl Gorbatschëw war, der den ganzen Schlamassel einst ins Rollen gebracht hat und nun hinweg gefegt worden ist von Jeltsin, der auch nicht besser ist - nimmt die Herausforderungen des siegreichen Kapitalismus an: Warum sollen ausgerechnet die Schachspieler weiter als Staatsamateure am Hungertuch nagen, da doch alle anderen Sportarten ihre Champions zu reichen Leuten machen? Er braucht auch die korrupten alten Säcke von der F.I.D.E. nicht mehr; er gründet 1993 seinen eigenen Schachverband, die "P.C.A. [Professional Chess Association]". Die Autorität dazu kann ihm kein billig und gerecht Denkender absprechen, denn auf den 64 Feldern ist er weltweit unschlagbar - zehn Jahre lang bleibt er unbesiegt; er ist populärer als es selbst Morphy und Fischer je waren; und daß die F.I.D.E. - zum zweiten Mal nach 1975 - den amtierenden Weltmeister für absetzt erklärt und ihn wieder durch ihren willfährigen Lakaien Karpow ersetzt, wird in der Schachwelt allenfalls noch mit einem müden Lächeln zur Kenntnis genommen. [Bobby Fischer nimmt das zum Anlaß, mit seinem alten Kontrahenten Boris Spasskij nach Rest-Jugoslawien zu fliegen und dort eine Revanche für 1972 auszuspielen, als "Titelverteidigung", denn warum sollte die Aberkennung seines Titels durch die korrupten F.I.D.E.-Gangster wirksamer sein als die jetzt? Die U.S.-Regierung nimmt ihm das äußerst übel und statuiert ein Exempel ob dieses "Vaterlandsverrats" (inzwischen ist heraus gekommen, daß Fischer Jahre lang für die Kommunisten gearbeitet hat, die er doch immer zu bekämpfen vorgab) und "Verstoßes gegen UN-Sanktionen": Fischer - der das Match wieder gewinnt - wird ausgebürgert, enteignet und zur Fahndung ausgeschrieben wie ein Schwerverbrecher (bis zu 10 Jahre Gefängnis stehen auf seine ruchlose Tat); er flieht nach Ungarn, wo er sich dem Vernehmen nach bis heute versteckt hält. Nein, die Amerikaner brauchen dafür keine "Nürnberger Gesetze" gegen Juden und Halbjuden - sie sind nicht so pedantisch wie die Deutschen...]

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Das 60. Feld liegt in Indien, obwohl das Match um die Profi-Weltmeisterschaft im Jahre 1995 zwischen Kasparow und dem genialen jungen Brāhman Wishwanāth Ānand (das bedeutet übrigens "Glückseligkeit", wie Leser von Dikigoros' Seite über Dominique Lapierre längst wissen :-) gar nicht dort statt findet (schon gar nicht auf dem Kurukshetr :-). Jedenfalls nicht in der Realität - wohl aber virtuell. Dikigoros hat selber mit erlebt, in welch einen Taumel die Inder der Griff eines der ihren nach der Krone des königlichen Spiels versetzt hat: Jede Partie wird fieberhaft mit- und nachgespielt, analysisert und kommentiert; Indien hat sich als Heimat des Schachspiels wieder entdeckt. Nein, man kann nicht sagen, daß das Schachspiel nach Indien zurück gekehrt ist, denn es ist ja längst nicht mehr das alte Chaturang, sondern das italienische "Räuberschach" aus dem 16. Jahrhundert; aber was soll's. Jedenfalls ist es der letzte glänzende Höhepunkt, der dem Schachspiel noch einmal zu weltweiten Schlagzeilen verhilft. Natürlich gewinnt Kasparow - aber "Vishy" Ānand hat sich wacker gehalten - und auch ausgesorgt. So kurz? Ja, liebe Leser, es geht zuende, mit Riesenschritten, denn das Schachspiel steht unmittelbar vor dem Abgrund, wenngleich es noch niemand bemerkt hat (Dikigoros damals auch nicht); wir haben nicht mehr viele Felder übrig. Eines hat Dikigoros ohnehin schon geschlabbert, weil es wieder München war und eigentlich nicht so wichtig: Im Vorjahr hat Kasparow dort nämlich im Blitzschach gegen das Computer-Programm Fritz 3 verloren. Na ja, das ist ein ganz ordentliches Programm (das erste, das zu schlagen auch Dikigoros bisweilen ernsthafte Schwierigkeiten hat :-) - und im Blitzschach kann das schon mal passieren; wahscheinlich hatte Kasparow einen schlechten Tag erwischt... Auch die (32.) Schach-Olympiade, die ein Jahr später in der armenischen Hauptstadt Eriwan statt findet, erlaubt sich Dikigoros zu schlabbern - natürlich gewinnt Kasparow Gold (für Rußland); noch immer ist er unter Menschen - und nur die dürfen an der Olympiade teilnehmen - unschlagbar. Bedarf das der Erwähnung?

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Gegenfrage: Darf Dikigoros die Felder 61-63 wieder zu einem Dreieck zusammen fassen? Er tut es einfach nochmal - die Fakten geben es ihm so vor. Die erste Spitze steht in Philadelphia. Wir schreiben das Jahr 1996; Kasparow braucht mal wieder Geld; und die Firma IBM hat ihm eine Menge Dollars geboten, wenn er gegen ihre jüngste Kreation antritt: "Deep Blue" heißt der neue Schachcomputer, und dieses Mal trägt er seinen Namen zurecht: Tief blau ist die Kiste, denn das ist die Farbe von IBM - hilft ihr aber nichts; Kasparow fertigt sie 4:2 ab. Na also. Was der kann, kann ich auch, denkt sein alter Widersacher Karpow und zieht ein Jahr später nach Gelsenkirchen, denn dort sitzen inzwischen die neuen Eigentümer des Mephisto, die auch ein Nachfolgemodell auf den Markt gebracht haben. Eigentlich ist Gelsenkirchen ja eher einer Fußball-Hochburg; der FC Schalke hat gerade den UEFA-Pokal gewonnen, den "Pott", wie die Kumpels im "Ruhrpott" früher sagten. Von deren Sorte gibt es zwar kaum noch welche in Gelsenkirchen (und von den 11 Milionarios auf dem Fußballfeld ist auch kein einziger mehr ein echter Schalker - nur auf der Ersatzbank sitzt sich noch ein alter Recke, pardon Knappe, den Arsch ab -, und erst recht niemand mehr aus der Pütt, doch das ist eine andere Geschichte); aber man will ja hinter dem alten Revier-Rivalen Dortmund nicht zurück stehen, wo jetzt alljährlich große Schachturniere statt finden. Im Juli 1997 tritt also Karpow, der neue Jetzt-Wieder-Weltmeister von FIDEs Gnaden, gegen den neuen Schachcomputer Mephisto an. Der Kampf endet unentschieden - die Gegner schieben ein Remis nach dem anderen, ohne eine einzige Gewinnpartie. Vielleicht steckt dahinter im wahrsten Sinne des Wortes Schiebung? Ist Karpow dafür bezahlt worden, daß er die Kiste nicht besiegt, um den Absatz nicht zu gefährden? Oder ist er einfach nur alt geworden? Na, er ist ja eh nur noch Amateur-"Weltmeister"... Wie man es richtig macht, wird der "echte" Weltmeister schon allen zeigen, wenn er "Deep Blue" demnächst Revanche gibt...

Die dritte Spitze des Dreiecks liegt in New York, wo Kasparow erneut gegen die besagte Kiste antritt, der die Programmierer inzwischen eine noch stärkere Software verpaßt haben. Die Kritiker werden später sagen und schreiben, daß der Mensch ein paar schlechte Tage erwischt habe - was der Kiste halt nie passiert -, daß er insbesondere die zweite Partie hätte Remis halten können... aber Kasparow weiß selber am besten, daß diese seine Niederlage das Ende ist: Künftig bereitet er sich nur noch mit dem Computer auf seine Partien gegen menschliche Gegner vor - wie die übrigens auch. ("Deep Blue" wird nach dem historischen Match abgebaut, tritt also "im Felde unbesiegt" ab; aber seine Nachfolgeprogramme, die auf jedem PC laufen, sind genauso stark, vor allem "Deep Fritz", der bald die Computer-WM gewinnen wird.) Drei Jahre später verliert Kasparow seinen WM-Titel an einen jungen orthodoxen Christen aus der Ukraïne - der aber ganz unorthodox Schach spielt - namens Wladimir (ein Name - "Beherrsche die Welt" -, der eines Weltmeisters würdig ist :-) Kramnik, der zu seinen Wettkämpfen demonstrativ mit einem silbernen Kreuz um den Hals antritt, wohl wissend, daß er der erste Weltmeister seiner Konfession in der Geschichte des Schachspiels ist; doch auch er gewinnt nur, weil er mehr von Computern versteht als Kasparow und ihn bei der Eröffnungs-Bibliothek austrickst. (Kasparow gewinnt keine einzige Partie.) Aber das Match interessiert eh niemanden mehr - und das liegt nicht etwa an den Personen. Selbst die Inder, die noch 1995 so begeistert vom Profi-Titelkampf zwischen Kasparow und Ānand waren, haben drei Jahre später dem (vergeblichen) Versuch ihres Landsmanns, wenigstens Karpow die Amateur-Weltmeisterschaft abzunehmen, kaum noch Beachtung geschenkt. Schach ist mausetot; kein Sponsor findet sich mehr, der Millionen dafür hinblättert, daß sich zwei Menschen gegenüber sitzen und Figuren übers Brett schieben, da sich doch jeder für ein paar Hundert Dollar ein Computer-Programm kaufen kann, gegen das kein Mensch mehr gewinnt. Dikigoros tut es auch - und hat es schon lange nicht mehr benutzt. Weil er immer verliert. Das ist ebenso langweilig wie frustrierend. Dafür könnte er jetzt wieder den Nachwuchs schlagen, denn es gibt kaum noch intelligente junge Menschen, die jenes blöde Spiel erlernen wollen. Wenn schon Computerspiele, dann wenigstens solche, die man auch gewinnen kann...

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Und damit kommen wir zum 64. und letzten Feld. Es liegt, wie das erste, im Sumpf, obwohl die erste Weltmeisterschaft im Moorhuhn-Schießen im Jahre 2000 - dem selben, in dem Kasparow die Schach-Weltmeisterschaft der Menschen gegen den Computer-Spezialisten Kramnik verliert; es ist nicht nur die Wachablösung zwischen zwei Spielern, sondern auch zwischen zwei Spielen - gar nicht dort statt findet (schon gar nicht auf dem Kurukshetr), und überhaupt nicht in der Realität, sondern nur virtuell. Die Geschichte des Schachspiels geht zuende, ohne großen Knall, ohne Verbot, ganz ohne "Rechtsakt". Es paßt einfach nicht mehr in unsere Zeit, denn man muß dabei denken, und es kostet Zeit. Und so wie uns Maschinen die zeitraubende körperliche Arbeit abgenommen haben, so nehmen uns nun Computer das zeitraubende Denken ab - nicht nur auf dem Schachbrett. Wir können es uns also leisten, Muskeln und Gehirn verkümmern zu lassen, bis wir nur noch eine Maus oder einen Joystick in der Hand halten können, um virtuelle Moorhühner auf einem gackernden Bildschirm zu jagen. Das ist der Fortschritt. Noch Fragen?

Nachtrag: Im Oktober 2001 sollte im World Trade Center zu New York City ein WM-Kampf zwischen Kramnik, dem stärksten menschlichen Schachspieler, und "Deep Fritz", dem stärksten Schachprogramm, statt finden; aber dann kommen die Ereignisse vom 11. September dazwischen und führen allen klar denkenden Menschen drastisch vor Augen, daß es künftig wichtigere Dinge gibt, als Kriegsspielchen auf einem Brett von 64 Feldern zwischen Christen (oder Juden) und EDV-Programmen zu veranstalten.

Und so findet das Match denn erst im nächsten Jahr statt, ausgerechnet bei den Arabern am Persischen Golf, im islamischen Scheichtum Bahrein. Es ist stinkend langweilig und endet 4:4 unentschieden - es bleibt dabei, daß der Mensch die Maschine im Schach nicht mehr besiegen kann. Aber wen interessiert das noch? Niemanden - oder habt Ihr von diesem denkwürdigen Nahost-Match irgend etwas in den gängigen Massenmedien gehört oder gesehen, liebe Leser? Dikigoros auch nicht; und bevor jemand nach dem fehlenden (65.) Feld "Tripoli 2004" fragt - darüber schreibt er an anderer Stelle.


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