PFERD  UND  MENSCH

Das Ende des kentaurischen Pakts

von Ulrich Raulff (FAZ, 27.04.2012)

(Anmerkungen & Links: N. Dikigoros)

Erst mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs endete definitiv die Epoche gemeinsamer historischer Arbeit: Wir erzählen, wie Mensch und Pferd sich getrennt haben - und was zuvor geschehen war.

Wer um die Mitte des 20. Jahrhunderts auf dem Land geboren wurde, erblickte eine alte Welt, die sich wenig von derjenigen unterschied, die hundert Jahre früher da gewesen war. Gewiss, auch hier hatten die Maschinen, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts seltene Ausnahmen gewesen waren, der Zahl nach zugenommen. Überdies waren sie kleiner, praktischer, alltäglicher geworden und sahen nicht mehr aus wie mittelalterliche Belagerungsmaschinen oder Saurier aus „Jurassic Park“.

Immer häufiger kam es vor, dass sie von kleinen Traktoren gezogen wurden; Geräten, die das 19. Jahrhundert noch nicht oder nur in Verbindung mit enormen Dampfmaschinen gesehen hatte. Die Traktoren um die Mitte des 20. Jahrhunderts leisteten 15 oder 20 PS, hatten kurze, einprägsame Namen wie Fendt, Deutz, Lanz oder Faun und waren, mit Ausnahme des grauen Lanz, grün lackiert. Im Rückblick wirken sie wie fragile Grashüpfer, verglichen mit den Mammuts von heute mit 200 PS und schalldichter Kabine.

Immer noch aber waren Pferde, schwere belgische Kaltblüter, kraftvolle Trakehner und stämmige Haflinger, das am stärksten verbreitete und am meisten gebrauchte Transport- und Zuggerät. Über den Winterbildern meiner Erinnerung steht der Dampf ihres Atems und ihrer erhitzten Flanken, über den Sommerbildern liegt der Duft ihrer braunen Felle und hellen Mähnen. Immer noch spüre ich das Entsetzen, mit dem ich zusah, wie ihnen beim Beschlagen vierkantige Eisennägel in das, was ich für ihre Fußsohlen hielt, getrieben wurden. Immer wenn ich später hörte, irgendjemand sei „beschlagen“, also gebildet, kundig, belesen, tauchten vor meinem Auge die Vierkantnägel auf.

Lebendige Skulpturen im Verschlag

In den Ställen der Bauern, die noch von den Erträgen des Landes lebten und ihre ärmlichen Höfe nicht gegen einen Arbeitsplatz in der Fabrik eingetauscht hatten, nahmen die Boxen der Pferde den kleineren, aber nobleren Teil ein. Die Kühe, Rinder, Kälber, Schweine und Hühner machten sich breiter, sie stanken heftiger und führten das große Wort, sie waren, mit einem Wort, die Plebs im Stall; die Pferde waren selten, kostbar und wohlriechend, sie aßen manierlicher und litten spektakulärer, besonders ihre Koliken waren gefürchtet. Wie lebendige Skulpturen standen sie in ihren Verschlägen, nickten mit den schönen Köpfen und signalisierten mit den Ohren Misstrauen oder Verdacht.

Die Pferde hatten ihre eigene Weide, auf die sich nie eine Kuh verirrte, von Schweinen oder Gänsen ganz zu schweigen. Kein Bauer wäre je auf die Idee gekommen, die Weide der Pferde mit Stacheldraht zu umgeben, hinter dem sich Kühe und vor allem Schafe wiederfanden. Bei den Pferden genügte ein bisschen Holz oder ein leichter Elektrozaun. Aristokraten sperrt man nicht ein, man erinnert sie an ihr Ehrenwort, auf Flucht zu verzichten.

Ich erinnere mich an einen Tag Mitte der Fünfziger, ich stand mit meinem Großvater auf der Anhöhe, von der sich unser Hof, Teile des ihn umgebenden Landes und sogar ein Stück des fernen Laubwaldes übersehen ließen, durch den sich eine schmale Straße den Berg hinaufwand. Seit einer Weile war die Stille über der ländlichen Einsamkeit zerrissen von etwas, das wie eine bucklige Ameise aussah, die sich langsam und geräuschvoll den Berg hinaufquälte.

Im Näherkommen gab sich die Ameise als der altertümliche Mercedes-Diesel eines meiner Großonkel zu erkennen. Mit olympischer Gravität näherte sich der schwere Wagen. Mein Großvater sah mit wachsender Skepsis zu, wie mein Cousin, der Mann am Volant, den festen Weg verließ und quer über das Weideland direkt auf uns zusteuerte.

Der Kaltblütler als Nothelfer

Schon nach wenigen Metern auf dem grasigen Boden verlor er die Kontrolle über sein Gefährt. Der Wagen brach seitlich aus, kam ins Gleiten und verwickelte sich, für keine Lenkung, kein Pedal mehr ansprechbar, in den Elektrozaun, der die Pferdeweide umgab, bis er endlich, von einer mächtigen blauen Wolke umgeben, vor einem Baumstumpf zum Stehen kam. Unter der Wolke kam der schwarze Olympier zum Vorschein, der jetzt seine Blitze nach innen schleuderte: Der Gefangene des Weidezauns hatte sich in eine Art umgekehrten Faradayschen Käfig verwandelt, der über seine zahlreichen Eisenteile jeden Stromstoß an seinen Insassen weitergab.

Nachdem alle Versuche einer Selbstbefreiung von Fahrer und Wagen fehlgeschlagen waren, betrat als Nothelfer ein schwerer belgischer Kaltblüter die Szene. Vor die hintere Stoßstange des Diesels gespannt, zog er mit seinen Bärenkräften das havarierte Automobil auf festen Boden zurück. Das Schicksal hatte, ironisch wie so oft, noch einmal das historische Blatt gewendet: Es war der Gaul, das von der Geschichte pensionierte Schlachtross, das jetzt das Auto zog: Noch einmal legte die alte Welt sich für die neue ins Geschirr.

Tatsächlich war zu diesem Zeitpunkt die Sache definitiv gelaufen: Mensch und Pferd hatten getrennte Wege eingeschlagen. Da der Mensch es künftig vorzog, die seinen mit Kraftwagen zu befahren, hatte er sie planiert und asphaltiert. Das Pferd gehörte zu jenem Teil der Wirklichkeit, den Condoleezza Rice, die vormalige amerikanische Außenministerin, als the roadkill of history bezeichnet hat; es gehörte zu denen, die die Geschichte überfahren hatte.

Während der längsten Zeit der aufgezeichneten oder aufgeschriebenen Geschichte hatte das Pferd dem Menschen geholfen, seinen gefährlichsten Feind zu besiegen, den anderen Menschen. Sechshundert Jahre Schießpulver hatten dem Pferd nicht seinen angestammten Platz als wichtigste Kriegswaffe des Menschen streitig gemacht - hundert Jahre Mechanisierung des Kriegs dagegen genügten, es obsolet zu machen. Das Pferd war der große Besiegte der jüngsten Geschichte.

Exodus aus der Menschengeschichte

So einfach und glatt, wie man sich die Trennung von Mensch und Pferd, von mechanischer und animalischer Kraft vorstellt, ist sie aber nicht verlaufen. Der Mensch war nicht an einem Tag Reiter und Kutscher und am nächsten Tag Kraftfahrer und Automobilist. Die Trennung ereignete sich in mehreren Phasen, die sich über einen Zeitraum von anderthalb Jahrhunderten verteilen, vom ausgehenden 18. Jahrhundert, das verschiedene Techniker mit dampfgetriebenen Fahrzeugen experimentieren sah, bis in die Mitte des 20., als das Automobil mit Verbrennungsmotor das Pferd als Antriebsmaschine auch in quantitativer Hinsicht überholte.

Das auf den ersten Blick Überraschende ist, dass während der längsten Strecke dieses Zeitraums der Verbrauch an Pferden immer weiter stieg, statt, wie man erwarten könnte, zu sinken. Erst gegen Ende des Zeitraums, mit Ausgang des Zweiten Weltkriegs, geht der Verbrauch an Pferden zurück, dann allerdings rapide. Insofern erlebt das letzte Jahrhundert des Pferdezeitalters nicht nur den Exodus des Pferdes aus der Menschengeschichte, sondern zuvor noch seine Apotheose: Nie zuvor war die Menschheit so stark auf Pferde angewiesen wie zu der Zeit, als in Mannheim und Cannstadt schon die Verbrennungsmotoren knatterten.

Es war vor allem das Wachstum der Städte und des innerstädtischen Verkehrs, das im 19. Jahrhundert die Zahl der gebrauchten (und oft rasch verbrauchten) Pferde sprunghaft in die Höhe schnellen ließ. In Los Angeles zum Beispiel kam im neunzehnten Jahrhundert auf zwölf Menschen ein Pferd; in Städten mit agrarischer Umgebung wie Kansas City waren es deutlich weniger. Dasselbe gilt, wenn auch aus anderen Gründen, für Städte mit großen Garnisonen: In Ludwigsburg näherte sich das Verhältnis von menschlicher und tierischer Population zeitweise dem Verhältnis drei zu eins.

Nach der Erfindung des Automobils sollte sich am Verbrauch von Pferden im städtischen Transportwesen und in der Landwirtschaft lange Zeit nichts ändern; zu niedrig war die Zahl der Kraftwagen, zu hoch ihr Preis, zu gering ihre Zuverlässigkeit. Ein Vierteljahrhundert sollte vergehen, bis sich um 1910 die ersten Folgen der Motorisierung abzeichneten.

In praktischer Hinsicht unentbehrlich

Der Erste Weltkrieg ließ abermals den Verbrauch an Pferden in die Höhe schnellen - und zugleich den Blutzoll, den die Tiere entrichten mussten. An jedem Gefechtstag starben Tausende von Pferden; nicht selten lagen ihre Verlustzahlen über denen der Menschen. Noch höher waren die Zahlen der getöteten oder an Krankheit, Hunger und Kälte gestorbenen Tiere im Zweiten Weltkrieg. Allein auf deutscher Seite kamen im Verlauf des Kriegs etwa drei Millionen Pferde zum Einsatz, von denen die wenigsten überlebten. Das Pferd war zwar in strategischer Hinsicht längst durch das motorisierte Fahrzeug überholt, in praktischer Hinsicht aber - bei der bespannten Artillerie und in der Logistik - unentbehrlich. Erst mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs endete definitiv die Epoche gemeinsamer historischer Arbeit von Mensch und Pferd.

Am Anfang des Pferdezeitalters steht ein Paradox, gleichsam das Urparadox der ganzen Geschichte: Ein intelligentes Säugetier, der Mensch, bemächtigt sich eines anderen Säugetiers, des Pferdes. Er zähmt und züchtet es, er freundet sich mit ihm an, benutzt es zu seinen Zwecken. Das Erstaunliche an der Sache ist, dass sie auch dann noch funktioniert, als, von einem bestimmten Punkt an, die Zwecke des Menschen der Natur seines vierbeinigen Kollegen zuwiderlaufen.

Anders als der Mensch ist das Pferd ein Fluchttier. Wenn es nicht mit seinesgleichen in erotischen Belangen konkurriert (die berühmten kämpfenden Hengste), sucht es keinen Streit; der Instinkt für Beute ist dem großen Säuger fremd. Die Geschwindigkeit, mit der es seine Flucht bewerkstelligt, ist es, wodurch es sich der Bedrohung entzieht.

Schnell sein hieß beritten sein

Dies ist der Punkt, durch den es die Aufmerksamkeit seines Säugerkollegen Mensch erweckt. Nicht als Zug- und Tragetier tritt das Pferd zuerst ins Licht und bald schon ins heiße Zentrum der Menschengeschichte - in der Funktion des Lastenbewegers verharrt es mit Ochs und Esel im Hinterhof der Geschichte, gleichsam am Lieferanteneingang. Erst als schnelles Fluchttier rückt das Pferd an die Spitze aller historischen Symbiosen von Geschichte und Natur. Ein Platz, den es, allen historischen Teilerfolgen von Kamel und Elefant zum Trotz, viertausend Jahre lang unangefochten behaupten sollte.

Die wichtigste Leistung, die mit dem Pferd in die Geschichte kommt, ist also die Geschwindigkeit; Oswald Spengler hat es als Erster deutlich gesagt. Schnell sein hieß beritten sein - eine historische Erfahrung, die fünf Generationen nach der Erfindung des Automobils, vier nach der des Flugzeugs vollständig vergessen ist. Das Pferd war die Tempomaschine par excellence; als solche ermöglichte es Herrschaft in einem territorialen Umfang, wie sie ohne seine Hilfe undenkbar gewesen wäre. Dank dem Pferd ließen sich die weitesten Länder erobern, die größten Herrschaften errichten - mehr noch: Sie ließen sich auch sichern und aufrechterhalten.

Spengler nennt das, anknüpfend an Nietzsche, die „große Politik“: Mit dem Pferd ist historisch die Möglichkeit da, Macht- und Eroberungspolitik im großen Stil zu treiben. Als zähmbares und züchtbares, als von Menschen lenkbares Geschwindigkeitstier, mit einem Wort: als animalischer Vektor wurde das Pferd zum politischen Tier und zum wichtigsten Gefährten des Homo sapiens.

Damit kommt das schon erwähnte Paradox wieder in Sicht. In seiner Vektorfunktion muss sich allzu oft der durch und durch zivile Kollege Pferd in den militärischen Kameraden Pferd verwandeln. Das Fluchttier, eingesetzt als physisch und psychisch überlegene Waffe, im Kampf des Beutetiers Mensch gegen seinesgleichen: Das ist die originäre Dialektik des Pferdezeitalters, der Spannungsbogen, der dem kentaurischen Pakt zugrunde liegt.

Das Bündnis zerfiel geräuschlos

Verglichen mit dem kentaurischen Pakt waren alle anderen Bündnisse, die der Mensch in seiner Geschichte einging, fragil und ephemer; nicht einmal die Beziehungen zu seinen Göttern wiesen ein vergleichbares Maß an Stabilität auf. Umso bemerkenswerter war das abrupte Ende: Im selben historischen Augenblick, in dem das Bündnis seine höchste Dichte und Virulenz erreichte, begann es unaufhaltsam zu zerfallen. Erstaunlich rasch, beinahe geräuschlos und von den meisten Zeitgenossen unbemerkt, löste es sich in seine Bestandteile auf. Die große dramatische Figur zerfiel, Jahrtausende kentaurischer Gemeinschaft gingen sang- und klanglos zu Ende.

Was danach passierte, war kaum ein Satyrspiel zu nennen: Während die eine Partei, der menschliche Teil der alten Allianz, kurzlebige Bündnisse mit Maschinen aller Art, Automobilen, Flugobjekten und Simulatoren, einging, wechselte die andere als Sport- und Therapiegerät, Prestigesymbol und Assistenzfigur weiblicher Pubertät in den historischen Vorruhestand. Nur gelegentlich sollte dem Pferd noch ein Auftritt im archaischen Schreckensfach vergönnt sein, etwa wenn es galt, demonstrierende Arbeiter niederzureiten oder Protestierende aus den Einkaufszonen zu vertreiben.

Lange Zeit träumte ich von einer anderen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Die Idee dazu war mir zuerst in Amerika gekommen. Irgendwann verdichtete sich die Fülle der Bilder der großen amerikanischen Pferdemaler wie Frederic Remington, auf die man in allen Museen der Vereinigten Staaten stößt, die zahllosen Begegnungen mit Indianern, Pferden, wilden Mustangs in den Filmen, Fotos, Romanen und Songs Amerikas, in Skizzen aus der Besiedlungsgeschichte und den Indianerkriegen, in Denkmälern des Bürgerkriegs, zu der machtvollen Vorstellung eines großen, auf intime Weise kohärenten Pferdekosmos, der seine definitive Form und seinen gültigen Ausdruck im 19. Jahrhundert gefunden hatte und dessen Wirkung bis tief hinein in die Träume der Amerikaner, ihre Identität als Nation und ihre politische Kultur nicht zu überschätzen war.

Amerikas Cowboy-Präsidenten

In der Gestalt des Cowboys hat Amerika noch einmal eine eigene kentaurische Rasse hervorgebracht, die in der politischen und populären Ikonographie der Vereinigten Staaten fortlebt - man denke an die Cowboy-Präsidenten wie Theodore Roosevelt und Ronald Reagan, an John Wayne und den verrückten Texaner, der in „Doktor Seltsam oder Wie ich lernte, die Bombe zu lieben“ rittlings auf einer Atomrakete sitzend, den Cowboyhut schwenkend in die Tiefe rast.

Überdies hat Amerika gegen Ende des 19. Jahrhunderts den Schauplatz geboten, auf dem man den Zusammenstoß zweier kentaurischer Kulturen, der weißen und der roten, Cowboys und Kavallerie auf der einen, indianische Reitervölker auf der anderen, in höchster Dramatik erleben konnte.

Als Bedeutungsträger war das Pferd immer der Menschenträger geblieben, das Nutztier, der Beweger. Am nächsten stand ihm, nicht nur genetisch gesehen, der Esel. Philosophisch war er zweifellos der bedeutendere Kollege - aber wann, außer beim Einzug nach Jerusalem, hat das Grautier je eine politisch bedeutsame Rolle gespielt? Literarisch und philosophisch war der Esel gleichen Ranges; politisch spielte das Pferd in einer anderen Liga.

Das Pferd war im selben Atemzug praktisches Dasein und lebendige Metapher. Es gab dem Menschen die Macht, Herrschaft zu erlangen und zu sichern, und lieferte ihm gleichzeitig die adäquate Darstellung der Herrschaft. Dergestalt, dass die Repräsentation der Herrschaft nicht mehr umzusatteln brauchte: Das Pferd war gleichsam schon von Natur aus die absolute politische Metapher.

Die Pferdeszenen der Weltliteratur

Parallel zu seinem finalen Aufstieg und Fall erlebte das Pferd im 19. Jahrhundert eine enorme literarische und ikonographische Karriere. Die großen Romane in diesem letzten Jahrhundert des Pferdezeitalters sind, sofern sie nicht auf hoher See, sondern auf dem Land spielen, zum großen Teil Pferderomane, sie sind von Pferdemotiven und Pferdegeschichten wie von starken Adern durchzogen.

Das gilt selbst für die urbansten Schriftsteller jener Zeit, man denke an Balzac, der in der „Comédie humaine“ einige der eindringlichsten Pferdeszenen der Weltliteratur gestaltet hat und der napoleonischen Kavallerie eines ihrer schönsten Denkmäler gesetzt hat, man denke an Stendhal, Tolstoi, Stevenson und Dickens. [Anm. Dikigoros: Raulff bringt es doch tatsächlich fertig, hier und im folgenden E. E. Dwinger mit keinem Wort zu erwähnen!]

Das Pferd ist der große Ideen- und Bildträger des neunzehnten Jahrhunderts, sein Denkhelfer, sein Logopäde. Man sollte das Denken, pflegte mein Großvater zu sagen, den Pferden überlassen, sie haben den größeren Kopf. Wann immer sie gedanklich nicht mehr weiterwissen oder emotional nicht weiterkommen, rufen die Menschen des 19. Jahrhunderts das Pferd zu Hilfe: Es ist ihr Ideenfluchttier und ihr Leidtragetier.

Das Pferd ist das tragische Tier par excellence, der Anblick seines Sterbens ist für den Menschen schwer zu ertragen. Das Einknicken seiner langen Beine, sein langsamer Sturz, das Brechen seines großen Auges, kein Mensch kann das ansehen. Der Anblick der leidenden Tiere durchschlägt den Gefühlspanzer des rohesten Soldaten: „Die Pferde taten mir leid, die Menschen gar nicht. Aber die Pferde taten mir leid bis zum letzten Tag“, heißt es unter den Aussagen von deutschen Soldaten des Zweiten Weltkriegs, die im letzten Jahr veröffentlicht wurden.

Der Pferdeschädel in der „Blechtrommel“

Die Literatur des Zweiten Weltkriegs ist voll von Bildern sterbender und gestorbener Pferde, Bildern des Pferdes als Kombattant und Kadaver; man denke an die Szenen vom Ende der Kavallerie bei Claude Simon, an den finnischen See voller eingefrorener Pferde bei Curzio Malaparte oder an den Pferdeschädel in der „Blechtrommel“, aus dem die fetten Aale quellen. Wenn die Literatur des 19. Jahrhunderts voll ist von geschlagenen Pferden und gequälten Kreaturen, so transportiert die des 20. das Bild der getöteten und langsam verwesenden Pferde.

Selbst Ernst Jünger, in den 1920er Jahren einer der Miterfinder der literarischen Sachlichkeit, füllt seinen Fotoband über den Weltkrieg, „Das Antlitz des Krieges“, mit erstaunlich vielen Bildern getöteter Pferde: So als wollte er, vielleicht unbewusst, im Bild der Kreatur eine Wahrheit über den Krieg zum Ausdruck bringen, die ihm der kalte Stil seiner Kriegsprosa sonst verwehrt.

Ein sterbendes Pferd habe ich nie gesehen, wohl aber eines, das lange Zeit dem Tod näher war als dem Leben. Es war ein großer, starker Kaltblüterhengst, ein Belgier, ein junges Tier von ungestümem Temperament und Bärenkräften. Bis zu dem Tag im Juni 1954, als er beim Mähen einer Wiese, an deren Rand eine Steinmauer die Sonnenwärme speicherte, auf den Schwanz einer schlafenden Kreuzotter trat. Es war die letzte Giftschlange, die in diesen Tälern des südlichen Westfalens jemals gesehen wurde, nach ihr sollten sich nur noch harmlose Ringelnattern und Blindschleichen zeigen.

Das sieche Pferd stand stumm in seiner Box

Die letzte Kreuzotter Westfalens fuhr auf wie der Leibhaftige und biss den Hengst in die Brust; er schaffte es noch aus eigener Kraft bis zurück ins Haus, dann stand er in seiner Box, mehr tot als lebendig, schwankend, aber unfähig, sich hinzulegen, zu schwach, eine Handvoll Hafer zu fressen, zu matt, einen Schluck zu trinken.

Vier Wochen stand das schwere Tier, siech, elend, vergiftet bis in die Haarspitzen seiner gelben Mähne, selbst der mit Großtieren erfahrene Veterinär zweifelte an seinem Überleben; der Besitzer erwachte mitten in der Nacht und ging nachsehen, ob sein Pferd noch lebte. Der Hengst, bei Nacht noch größer wirkend als bei Tage, dieser Berg von einem Pferd stand stumm in seiner Box, schwankte und starrte aus trüben Augen ins Leere.

Nach vier Wochen stöhnte das Tier eines Morgens tief auf, an der Stelle, wo die Schlange zugebissen hatte, brach seine Brust auf, und aus der tiefen fauligen Wunde schoss explosionsartig ein Schwall schwarzen Bluts und Eiter, mehrere Eimer Wundsekret. Der Hengst bewegte sich und ließ sich langsam, immer noch benommen, aus der Box führen, hinaus ins Freie, ins Licht, wo er wieder stehen blieb, geblendet und zu schwach, noch einen Schritt zu tun. Er hatte überlebt.

Das Ende des Pferdezeitalters kam nicht mit einem Schlag wie ein Unfall oder eine Naturkatastrophe. Es vollzog sich wie das Spleißen und allmähliche Abreißen eines unter starker Spannung stehenden Taus. Man kann zusehen, wie ein Faden nach dem anderen reißt, bis endlich die letzten Bänder nachgeben. Auch nach dem Pferdezeitalter lebten dessen Namen und Ausdrücke in unserer Sprache fort. Ich weiß nicht, wann ich zum ersten Mal das Wort „Limousine“ aufschnappte und wann ich lernte, dass das Limousin eine Landschaft in der Mitte Frankreichs ist.

Irgendwann begriff ich, dass dort ein bestimmter Kutschentyp hergestellt worden war, nach dem später ein Autotyp benannt wurde - ein Autotyp, der sich wiederum von Cabriolets und Coupés unterschied, die ebenfalls Kutschentypen gewesen waren.

Ich erinnere mich an die Zeit, als die Taxis noch Droschken hießen und mein Vater dem lokalen Autohändler, mit dem er um den Preis für einen Wagen stritt, an den Kopf warf, er sei schlimmer als die Pferdehändler. Ich sah, wie sich die letzten Fäden des Taus lösten und rissen. Ich sah das Ende des Pferdezeitalters, und hinter ihm sah ich das Ende des langen 19. Jahrhunderts, das erst damals, in den 50er Jahren des 20., wirklich zu Ende ging.


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