Turin ist Turin. Es ist keine Stadt wie andere.
Giuseppe Culicchia

 

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Die Philosophin und der Latin Lover

ein neues ebook von Sabine Scholz

 

Die Marihuana-Schule

Ich war zum ersten Mal beruflich im Ausland. Bisher kannte ich Italien nur von überfüllten Stränden an der Adria her. Ich sollte als deutsche Konversationslehrerin an einer Schule arbeiten, die den unglücklichen Namen „Spinelli“ trug, was neben dem Gründer der Europäischen Gemeinschaft auch noch „Joints“ bedeutete, weswegen die Schule von den Schülern den Spitznamen „Marihuana-Schule“ erhalten hatte.

Es war Oktober, als ich in der Piemontesischen Hauptstadt ankam. Ich fand in einem Hotel im Zentrum Turins, dem „Principi“, Unterkunft.  Ein Hoteldiener in Livree brachte meinen Koffer auf mein Zimmer, das eher als Suite zu bezeichnen wäre, alles sehr nobel, aber ein bisschen verstaubt. Geheizt wurde mit einem altmodischen Gasofen, was aber nicht viel nützte, denn der Raum schien resistent zu sein gegen jede Art von Erwärmung.  Sogar im Kühlschrank war es wärmer. Auf der Fahrt im Zug hatte ich mich in einem Standardnachschlagewerk bereits über die italienischen Schulverhältnisse informiert. Italien sei ein labyrinthisches Land, wozu das Alphabet beitrage. Die italienischen ABC-Schützen würden zunächst nur ein Alphabet mit 21 Buchstaben lernen. Die Buchstaben J, K, W, X und Y kämen nur in Fremdwörtern vor, und deswegen würden sie kurzerhand ausgelassen. Der Durchschnittsitaliener beherrsche daher nur unsicher das Standardalphabet der lateinischen Schrift mit 26 Buchstaben, wie es in anderen europäischen Sprachen benutzt werde. Wie nützlich diese Warnung war, sollte sich gleich nach meiner Ankunft erweisen, als ich den Hotelportier bat, mir auf der Karte die Lage der Schule zu zeigen, bei der ich als Deutschlehrerin tätig sein sollte.
„Scuola Europea Altiero Spinelli, Via Johann Wolfgang von Goethe 33“ sagte ich nichtsahnend, auf was für ein langwieriges Abenteuer ich mich da eingelassen hatte.
„Come, prego? Via Ioan Geete?“ fragte er und blätterte hektisch im Straßenverzeichnis des Stadtplanes.
„No, Johann Wolfgang von Goethe, G-o-e-t-h-e. L´autore!“ wiederholte ich.
„Ah, capisco, Volfgango, mit v?“
„No, mit w!“ antwortete ich.
„Also mit zwei v?“
„No, mit einem w!“
Nach einigen Minuten des ungeduldigen Buchstabierens ließ ich mir die Karte geben, um selbst nach der entsprechenden Straße zu suchen, da ich den Portier für inkompetent hielt. Doch auch mir gelang es nicht, sie zu finden. Die Via Johann Wolfgang von Goethe stand entweder unter G oder unter V, dachte ich. Weder noch. Dann blieb noch das J. Resigniert musste ich feststellen, dass das J einfach ausgelassen worden war. Konnte es sein, dass sie unter Goethes zweitem Vornamen aufgeführt war? Unter dem W stand jedoch nur eine Straße, die Via Washington. Man musste sich nur in die italienische Logik hineinversetzen, dann war es kein Rätsel mehr, versuchte ich mir Mut zu machen. Moment mal! Da es hier kein J gab, versuchte ich es mit dem I.  In der Tat, die Via Johann Wolfgang von Goethe stand unter I! Bingo! Ich  klopfte dem Portier auf die Schulter und ging voller Mitleid für die italienischen Taxifahrer auf mein Zimmer. Ich ließ mir ein heißes Bad ein und rief meinen Mann Hank an.
„Liebling, ein Labyrinth ist im Vergleich zum italienischen Straßennetz ein Kinderspiel!“ Ich erzählte ihm mein Missgeschick.
„Aber wenn ich meiner neuen Bleibe eine Note geben müsste, würde ich für eine Eins plädieren! Das Schulamt hat keine Ausgaben gescheut. Ich lebe im reinsten Luxus.“
„Fehle ich dir schon ein bisschen?“ fragte mich Hank mit seiner Straßenbahnfahrerstimme, die ich so liebte.
„Natürlich. Jeder Tag hier ohne dich ist so beunruhigend wie übergelaufene Badewannen und fast explodierte Gasöfen. Ich rufe dich morgen wieder an. Ein Gutenachtkuss, Amore!“ sagte ich zum Abschied.
Am nächsten Morgen nahm ich ein Taxi und ließ mich zum berühmten Café Torino bringen, das sehr alt und vornehm ist und an der wunderschönen Piazza San Carlo liegt, wo auch das Goetheinstitut seinen Sitz hat. Es strahlt eine Atmosphäre aus, die mich an die beliebten Wiener Kaffeehäuser erinnert. Der Ober stellte mir Gebäck und Pralinen hin, und ich bediente mich bis ich satt war. Dazu trank ich Cappuccino. Es war sehr teuer dort, und oft würde ich mir das mit meinem schmalen Lehrergehalt nicht leisten können.  „Toro“ bedeutet Stier und den sieht man außer auf dem Wappen der Stadt überall, er ist ihr Wahrzeichen. Auf jeder Piazza kann man einen Brunnen finden mit einem Stierkopf. Die meisten Gebäude Turins stammen aus dem 17. und 18. Jahrhundert, also aus der Barockzeit. Nur der Dom ist wesentlich älter, er wurde im 15. Jahrhundert fertiggestellt. Er ist das einzige Beispiel für die Baukunst der Renaissance in Turin. Außerdem gibt es noch die Überreste eines römischen Stadttors zu sehen, die Porta Palatina. Turin hat Flair. Die alten Häuser, manche mit schönen restaurierten Fassaden, andere auf angenehme Art heruntergekommen, strahlen Nostalgie aus. Man fühlt sich wie jemand, der unerlaubterweise der Vergangenheit einen Besuch abstattet. Nach dem Frühstück fuhr ich weiter in die Via Johann Wolfgang von Goethe zur Marihuana-Schule. Doch wie ich feststellte war sie nicht ganz leicht zu finden, denn sie war offensichtlich hermetisch von der Außenwelt abgeschlossen. Man musste eine lange Mauer entlang gehen bis man zu einem Tor kam, das zu einem sumpfigen Gelände führte. Dieses trockenen Fußes zu durchqueren, war so gut wie unmöglich. Doch ich ließ mich nicht entmutigen, obwohl die Pfützen in meinen italienischen Slippern bequem Unterkunft gefunden hatten. Schließlich erreichte ich ein altertümliches Gebäude, das keinen Eingang zu besitzen schien. Ich schritt also weiter bis ich auf einen Zettel mit einem Pfeil stieß. Aha, hier ging es zum Sekretariat. Als ich um die nächste Ecke bog, erblickte ich in der Tat eine offene Kellertür, die mich endlich an mein Ziel führte. Es standen schon einige Leute herum und ich erfuhr, dass es sich um neue Kollegen handelte, die wie ich heute zum ersten Mal die Ehre hatten, denn die Supplenti, die sogenannten Aushilfslehrer, wurden vom Schulamt immer äußerst spät nominiert, wenn das Schuljahr schon weit fortgeschritten war. Anscheinend haben die Italiener kürzere Lehrpläne. Wir stellten uns ungeschickt vor. Jeder mit beschämtem Blick auf die morastigen Schuhe der anderen. Ein Mann kam auf uns zu und fragte, was wir wollten. Er verschwand in einem anderen Raum und kehrte mit einer Frau zurück, die sich nicht vorstellte. Ob es sich um die Direktorin handelte? Sie war es nicht, erfuhr ich später. Mit meinem lückenhaften Italienisch verstand ich ungefähr Folgendes:
"Das Istituto Spinelli befindet sich im dritten Stock des Gebäudes, das wir leider gezwungenermaßen mit zwei anderen Bildungsstätten teilen müssen. Die beiden anderen Schulen verteidigen ihre Ur-Rechte, da sie schon vor uns existiert haben und bezeichnen die Expansionsgelüste unserer Direktorin als "faschistischen Kampf um mehr Lebensraum", doch unsere Chefin hat das Ziel die Grundschule, Mittelschule und Oberschule in einem Gebäude unterzubringen, was bis jetzt noch nicht ganz realisiert ist. Wissen Sie schon, wie sie unsere Schule erreichen können?" fragte die Dame resolut. Nein, keiner der Neuen wusste es.
"Ja, erklären kann ich das nicht - Aldo, kommst du mal und zeigst ihnen den Weg?" Vermutlich handelte es sich um den Pedell. Er war so freundlich. Wir verließen den besagten Keller und gingen den Weg zurück, den ich gekommen war. Eine Neue, die so dreist gewesen war, hochhackige Schuhe zu tragen, bereute es in diesem Augenblick sehr, als sie im Morast stecken blieb. Doch ihr gelang es, sich wieder zu befreien, und sie humpelte uns hinterher. Aldo ging zügig voran. Wir traten also wieder auf die Straße, gingen an der endlosen Mauer entlang, bogen um zwei Ecken und befanden uns vor dem Eingang einer anderen Schule.
"Kümmern sie sich nicht um das Schild!" sagte der Schulhausmeister mit bewundernswerter Souveränität. „Wir besitzen hier das Durchgangsrecht!“
Wir traten unsicher ein und begaben uns zum Aufzug, während uns der Pförtner des anderen Instituts feindselig beobachtete. Der Schuldiener drückte auf einen Knopf :
"Wir müssen in den dritten Stock". Dort angekommen, befanden wir uns in einer Art Dachboden. Das soll die Schule sein? Wunderte ich mich. Der Pedell zeigt uns die Klassenzimmer, die ich unter normalen Umständen als Rumpelkammern bezeichnet hätte.
Meine erste italienische Lehrerversammlung fand in einer Art Treppenhaus statt, wo die Akustik äußerst schlecht war, da ständig irgendjemand hoch- oder runterging. Die Direktorin, eine vollendete Dame um die 60,  in Tailleur mit einer Designerbrille an der Kette, hieß hier „Preside“ und begann mit dem Appell:
„Alberti“, „Presente!“, „Angiolini“, „Presente!“, „Bairo“. Keine Antwort. Die Preside schob ihre Brille auf die Nasenspitze und blickte prüfend in die Runde.
„Bairo?.........Kann jemand mal Bairo anrufen. Er hat den Termin sicherlich vergessen.“ Anscheinend kam das bei den italienischen Pädagogen öfter vor. Gutes Betriebklima, dachte ich für mich. Am Sympathischsten war mir der Philosophielehrer Vinochiaro (Klarwein), der sehr langes Haar trug und aussah wie Albrecht Dürer auf seinem Selbstporträt. Dottor Klarwein legte seinem Unterricht kein Schulbuch zugrunde, sondern trug ausschließlich seine eigenen Theorien vor, indem er häufig aus dem „Kommunistischen Manifest“ zitierte. Der Bitte der Schüler nach schriftlichen Unterlagen war er insofern nachgekommen, als er ihnen vorschlug, die Mitschrift der Klassenbesten zu fotokopieren.
„Mein Großvater mütterlicherseits war Preuße. Ich basiere mich auf die hegelsche Dialektik.“ ließ er hin wieder in seine Reden einfließen.
„Ich bin gegen jede Art von koordinierenden Notengremien!“ sagte er und faltete demonstrativ das kommunistische Presseorgan "Il Manifesto" zusammen, das er ständig bei sich trug.
"In diesem Land herrscht immer noch die Freiheit der Lehre und ich lehre, was ich für richtig halte. Ich bin Hegelianer!"
Die Direktorin wandte sich lächelnd an mich:
„Carissima collega, die Deutschen lieben die Italiener seit langem, aber sie schätzen sie nicht, und die Italiener schätzen die Deutschen, aber sie lieben sie nicht. Das soll sich jetzt ändern. Ich begrüße unsere deutsche Kollegin aus Norimberga sehr herzlich!" Alle applaudierten, und ich war ganz verlegen. Extra für diesen Anlass hatte ich eine raffinierte kurze Einführung in die deutsche Phonetik vorbereitet, um meine neuen Kollegen von meiner linguistischen Qualifikation zu überzeugen.
„Mille grazie! Die deutsche Aussprache bereitet Italienern nicht selten große Schwierigkeiten. Das "v" wird im Deutschen wie "f" gesprochen, im Italienischen wie "w" . Es besteht also ein großer Unterschied zwischen "wir" und "vier", was zu fatalen Verwechslungen führen könnte. Besondere Schwierigkeiten präsentieren die  palatal-dorsalen Reibelaute wie "ich" und "ach", wobei die Lippen und Zahnreihen leicht geöffnet sind. Die Zunge liegt in der (i:)-Position. Der hintere Zungenrücken hebt sich gegen den weichen Gaumen...Die entstehende Enge bewirkt beim Ausströmen der Luft den stimmlosen Reibelaut...“ Ich unterbrach kurz und ließ meinen Blick genüsslich über das Publikum schweifen. Sie saßen alle mit versteinertem Gesichtsausdruck da, als hätte ich soeben in Mittelhochdeutsch aus dem Nibelungenlied vorgetragen.
 „Tante grazie, carissima collega, davvero, La ringrazio moltissimo!“ rief die Preside und forderte die Kollegen zum frenetischen Applaus auf.
„Ich bin sicher, dass unsere Schüler bei Ihnen große Fortschritte machen werden in der deutschen Aussprache nach dem Motto: Steter Tropfen höhlt den Stein. Haben Sie etwas von meinen Ausführungen verstanden, oder haben Sie in Gedanken schon die Versetzung beantragt?"
Meine erste Unterrichtsstunde in einer terminalen Klasse, wie man hier die Abiturklassen zu bezeichnen pflegte, verlief äußerst vielversprechend.
„Buon Giorno, Ragazzi!. Mein Name ist Susanne Herr, ich bin sozusagen Frau Herr!“ sagte ich selbstsicher mit einem Grinsen. Die Klasse bog sich vor Lachen. Das Eis war gebrochen. Meine neuen Schüler trugen größtenteils Indienlook und Rastafrisuren. Ich hatte zwanzig sogenannte "Asteriscati", Sternchenträger, in der Klasse. Meine Aufgabe war es, dass sie das Sternchen wieder los wurden. Diese Schüler konnten keine Vokabeln, keine Grammatikregeln und hervorragend schwätzen. Sie konnten ununterbrochen mit dem Handy SMS schreiben, witzige Lehrerkarikaturen skizzieren und die Nichtsahnenden spielen. Diese Schüler waren zwar versetzt worden, hatten aber in Deutsch keine ausreichende Zensur, d.h. auf dem Notenbogen erschien ein Ausreichend, das mit einem Sternchen versehen war, weswegen sie "Asteriscati" hießen.
Doch wo erfuhr ein neuer Lehrer, noch dazu eine Ausländerin, die die Klasse natürlich nicht kannte, welche Schüler mit einem Sternchen versetzt worden waren? Und welche Lücken besaßen sie? Davide, Cristina, Monica, Barbara, Fedra, Tommaso und ihre Kameraden taten ihr Möglichstes, um mich zu verwirren. Mir war schnell klar, dass auf diese Weise bei den Pädagogen sehr schnell die Spreu vom Weizen getrennt wurde. Kollegen ohne Phantasie und Intuition hatten hier schlechte Karten. Die betreffenden Schüler waren in der Regel kaum motiviert, ihren Makel offen zuzugeben. Sie führten ein Schattendasein und es gelang ihnen nicht selten, den ahnungslosen Pädagogen bis zum Schluss zu täuschen.  Aus diesem Grund traf ihn die Enthüllung um so härter, wenn ihm die Direktorin schließlich die Augen öffnete:
"Theoretisch kann der Schüler auch am letzten Schultag vor den Sommerferien zu dir kommen und verlangen, dass du ihn prüfst. Wenn du ihm keine Chance gegeben hast, die fehlenden Kenntnisse nachzuholen, können die Eltern vor Gericht gehen, und du musst zahlen." Nichts terrorisiert einen italienischen Lehrer so sehr wie eine Geldstrafe. Manch einer hat deswegen schon keinen anderen Ausweg gesehen als den Freitod.
Bei dieser unvergesslichen ersten Deutschstunde drangen herrliche Laute an mein Ohr, so z.B. „Hoisen“ (eigentlich Häuser) oder „Weinakten“ (Weihnachten) oder „Wolkswagen“ (VW). Ich war entzückt und beschloss, diese wundervollen Sprengkörper nicht zu entschärfen. Al diavolo mit den Sternchenträgern!
„Professoressa, wie schreibt man Pechvogel?“ fragte die aufmerksamste Schülerin Deborah. Sie wurde meine Lieblingsschülerin, weil sie alles notierte, was ich sagte, sogar die Pausen.
„Bravisssima.“ antwortete ich, schrieb Pechvogel an die Tafel und fragte sie: „Wo hast du denn dieses Wort aufgeschnappt?“
„Ich chatte mit einem Jungen aus Österreich und er nannte sich einen Pechvogel.“
„Aha, das scheint ein netter Junge zu sein. Bleib nur im Kontakt mit ihm. Ragazzi, eure Hausaufgabe für nächste Woche: Verliebt euch in einen Deutschen! Ihr werdet sehen, dass eure Sternchen wie von selbst verschwinden!“ Ich war selbst erstaunt über meine pädagogischen Fähigkeiten.
Ein großes Problem stellen die Schulbücher dar. In Italien geben die Familien pro Kind ungefähr 250 Euro pro Schuljahr für Bücher aus. Die Lehrer können sich aus der Vielfalt des Angebotes die Lehrmittel aussuchen, die ihnen am meisten zusagen. Die Verlage versuchen natürlich, jedes Jahr eine Neuauflage ihrer Lehrwerke herauszugeben, doch es kommt hin und wieder vor, dass sie es nicht schaffen, den zweiten Band eines Lehrwerks rechtzeitig herauszugeben, d.h. die Schüler bleiben ewig auf dem Niveau des ersten Bandes. Manche Sprachlehrwerke werden extra deswegen eingesetzt, weil der Vertreter des Verlages wunderbares Material auf Hörkassetten und Videokassetten versprochen hat. Doch wenn die Schüler die entsprechenden Bücher und Kassetten dann bestellen wollen, heißt es: Die Kassetten sind leider im Moment nicht verfügbar, was sie dem Lehrer mit gespielter Trauermiene am nächsten Tag unterbreiten. Der Lehrer nimmt also die Bürde auf sich, jede Woche entnervt beim Verlag anzurufen, um höflich nachzufragen, wann denn mit der Auslieferung der Kassetten oder des Lehrerhandbuches gerechnet werden könne. Auf Grund solcher widrigen Umstände haben sich schon diverse Kollegen bis zum Ende des Schuljahrs die Haare gerauft. So erklärt sich manche pädagogische Kahlheit.
Am Abend telefonierte ich mit Hank:
„Amore mio, ich bin todmüde und schicke Dir nur schnell drei Küsse durch die Leitung...“ Dann sank ich erschöpft in die Kissen, und Hank sang mir einen Song von Johnny Cash vor, bis ich eingeschlafen war.
Eines Tages kam der Schuldiener auf mich zugestürzt:
„Professoressa, heute Morgen ist ihr Mann verhaftet worden!“ Ich erschrak zu Tode.
„Es scheint sich um eine Drogengeschichte zu handeln!“ Mehr konnte ich jedoch nicht erfahren, weil plötzlich Bombenalarm gegeben wurde. Die Marihuana-Schule wurden unter der Leitung eines Carabiniere mit Pilotensonnenbrille sachkundig aus dem Gebäude evakuiert. Dieser Gesetzeshüter erregte die Gemüter der Lehrkräfte, weil er seelenruhig das Rauchverbot in der Schule ignorierte.
"Ich nehme momentan wieder in industriellen Mengen Antihistamine gegen meine Katzenallergie." sagte Michela, eine Kollegin, während wir die Treppe hintergedrängt wurden.
"Und ich bin vollgepumpt mit Beruhigungsmitteln." antwortete Maurizio, der Mathelehrer, und wäre beinahe gestolpert.
"Bei einem Dopingtest wären wir alle positiv!" fügte Michela laut lachend hinzu. Inzwischen waren wir im eiskalten Hof angekommen, wo sich alle Schüler versammelt hatten. Jeder Lehrer füllte sein Evakuierungsblatt aus. Nach einer Weile versuchte der sympathische Polizist die Schüler zu beruhigen:
"Das Ultimatum ist seit 20 Minuten abgelaufen. Ihr könnt also unbesorgt in die Klassenzimmer zurückkehren."
"Ja, haben Sie denn überhaupt genügend nach der Bombe suchen lassen?" fragte eine Schülerin zaghaft.
"Mein Kind, wenn ich hier jeden Winkel absuchen lassen würde, dann wären wir in drei Tagen noch nicht fertig!"
Die Schüler kehrten widerwillig in die Aulen zurück.
"In dieser Schule gibt es nicht den geringsten Respekt für das menschliche Leben!" meinten sie. Daraufhin entgegnete meine Kollegin Michela:
"Das war doch offensichtlich ein blinder Alarm!"
"Wie können Sie da so sicher sein?"
"Sonst wäre die Bombe ja explodiert!
Am nächsten Tag bat ich die Direktorin um eine Woche Urlaub und fuhr zurück nach Nürnberg, um Hank im Knast zu besuchen. Auf einen Mann, der Straßenbahnen fahren konnte, würde ich ewig warten, obwohl ich wusste, dass Hank langsam oder überhaupt nie ans Ziel zu kommen pflegte. Unter Aufsicht eines Beamten fielen wir uns in der Arme, und er sagte:
„Viel lieber würde ich jetzt mit dir Zitronen pflücken, Cappuccino trinken und in Bars herumsitzen, Amore mio.“ 
Die Woche verging wie im Flug. Ich  brachte Hank jeden Tag frisches Obst in den Knast und kaufte ihm die neueste Johnny Cash-CD und einen kleinen CD-Player. Auf diese Weise sollte er sich nicht so einsam fühlen, wenn ich wieder in Italien war.
In der ersten Dezemberwoche flog ich wieder nach Turin und nahm den Dienst in der Marihuana-Schule wieder auf.

Sabine Scholz
Die Philosophin und der Latin Lover
138 Seiten
Das Buch ist im New E-Book-Verlag  erschienen
Preis: 6,40 Euro

 

 

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