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Die
Philosophin und der Latin Lover
ein
neues ebook von
Sabine
Scholz
Die
Marihuana-Schule
Ich
war zum ersten Mal beruflich im Ausland. Bisher kannte ich Italien nur von
überfüllten Stränden an der Adria her. Ich sollte als deutsche
Konversationslehrerin an einer Schule arbeiten, die den unglücklichen
Namen „Spinelli“ trug, was neben dem Gründer der Europäischen
Gemeinschaft auch noch „Joints“ bedeutete, weswegen die Schule von den
Schülern den Spitznamen „Marihuana-Schule“ erhalten hatte.
Es
war Oktober, als ich in der Piemontesischen Hauptstadt ankam. Ich fand in
einem Hotel im Zentrum Turins, dem „Principi“, Unterkunft. Ein Hoteldiener in Livree brachte meinen Koffer auf mein
Zimmer, das eher als Suite zu bezeichnen wäre, alles sehr nobel, aber ein
bisschen verstaubt. Geheizt wurde mit einem altmodischen Gasofen, was aber
nicht viel nützte, denn der Raum schien resistent zu sein gegen jede Art
von Erwärmung. Sogar im Kühlschrank
war es wärmer. Auf der Fahrt im Zug hatte ich mich in einem
Standardnachschlagewerk bereits über die italienischen Schulverhältnisse
informiert. Italien sei ein labyrinthisches Land, wozu das Alphabet
beitrage. Die italienischen ABC-Schützen würden zunächst nur ein
Alphabet mit 21 Buchstaben lernen. Die Buchstaben J, K, W, X und Y kämen
nur in Fremdwörtern vor, und deswegen würden sie kurzerhand ausgelassen.
Der Durchschnittsitaliener beherrsche daher nur unsicher das
Standardalphabet der lateinischen Schrift mit 26 Buchstaben, wie es in
anderen europäischen Sprachen benutzt werde. Wie nützlich diese Warnung
war, sollte sich gleich nach meiner Ankunft erweisen, als ich den
Hotelportier bat, mir auf der Karte die Lage der Schule zu zeigen, bei der
ich als Deutschlehrerin tätig sein sollte.
„Scuola Europea Altiero Spinelli, Via Johann Wolfgang von Goethe 33“
sagte ich nichtsahnend, auf was für ein langwieriges Abenteuer ich mich
da eingelassen hatte.
„Come, prego? Via Ioan Geete?“ fragte er und blätterte hektisch im
Straßenverzeichnis des Stadtplanes.
„No, Johann Wolfgang von Goethe, G-o-e-t-h-e. L´autore!“ wiederholte
ich.
„Ah, capisco, Volfgango, mit v?“
„No, mit w!“ antwortete ich.
„Also mit zwei v?“
„No, mit einem w!“
Nach einigen Minuten des ungeduldigen Buchstabierens ließ ich mir die
Karte geben, um selbst nach der entsprechenden Straße zu suchen, da ich
den Portier für inkompetent hielt. Doch auch mir gelang es nicht, sie zu
finden. Die Via Johann Wolfgang von Goethe stand entweder unter G oder
unter V, dachte ich. Weder noch. Dann blieb noch das J. Resigniert musste
ich feststellen, dass das J einfach ausgelassen worden war. Konnte es
sein, dass sie unter Goethes zweitem Vornamen aufgeführt war? Unter dem W
stand jedoch nur eine Straße, die Via Washington. Man musste sich nur in
die italienische Logik hineinversetzen, dann war es kein Rätsel mehr,
versuchte ich mir Mut zu machen. Moment mal! Da es hier kein J gab,
versuchte ich es mit dem I. In
der Tat, die Via Johann Wolfgang von Goethe stand unter I! Bingo! Ich
klopfte dem Portier auf die Schulter und ging voller Mitleid für
die italienischen Taxifahrer auf mein Zimmer. Ich ließ mir ein heißes
Bad ein und rief meinen Mann Hank an.
„Liebling, ein Labyrinth ist im Vergleich zum italienischen Straßennetz
ein Kinderspiel!“ Ich erzählte ihm mein Missgeschick.
„Aber wenn ich meiner neuen Bleibe eine Note geben müsste, würde ich für
eine Eins plädieren! Das Schulamt hat keine Ausgaben gescheut. Ich lebe
im reinsten Luxus.“
„Fehle ich dir schon ein bisschen?“ fragte mich Hank mit seiner Straßenbahnfahrerstimme,
die ich so liebte.
„Natürlich. Jeder Tag hier ohne dich ist so beunruhigend wie übergelaufene
Badewannen und fast explodierte Gasöfen. Ich rufe dich morgen wieder an.
Ein Gutenachtkuss, Amore!“ sagte ich zum Abschied.
Am nächsten Morgen nahm ich ein Taxi und ließ mich zum berühmten Café
Torino bringen, das sehr alt und vornehm ist und an der wunderschönen
Piazza San Carlo liegt, wo auch das Goetheinstitut seinen Sitz hat. Es
strahlt eine Atmosphäre aus, die mich an die beliebten Wiener Kaffeehäuser
erinnert. Der Ober stellte mir Gebäck und Pralinen hin, und ich bediente
mich bis ich satt war. Dazu trank ich Cappuccino. Es war sehr teuer dort,
und oft würde ich mir das mit meinem schmalen Lehrergehalt nicht leisten
können. „Toro“ bedeutet
Stier und den sieht man außer auf dem Wappen der Stadt überall, er ist
ihr Wahrzeichen. Auf jeder Piazza kann man einen Brunnen finden mit einem
Stierkopf. Die meisten Gebäude Turins stammen aus dem 17. und 18.
Jahrhundert, also aus der Barockzeit. Nur der Dom ist wesentlich älter,
er wurde im 15. Jahrhundert fertiggestellt. Er ist das einzige Beispiel für
die Baukunst der Renaissance in Turin. Außerdem gibt es noch die Überreste
eines römischen Stadttors zu sehen, die Porta Palatina. Turin hat Flair.
Die alten Häuser, manche mit schönen restaurierten Fassaden, andere auf
angenehme Art heruntergekommen, strahlen Nostalgie aus. Man fühlt sich
wie jemand, der unerlaubterweise der Vergangenheit einen Besuch abstattet.
Nach dem Frühstück fuhr ich weiter in die Via Johann Wolfgang von Goethe
zur Marihuana-Schule. Doch wie ich feststellte war sie nicht ganz leicht
zu finden, denn sie war offensichtlich hermetisch von der Außenwelt
abgeschlossen. Man musste eine lange Mauer entlang gehen bis man zu einem
Tor kam, das zu einem sumpfigen Gelände führte. Dieses trockenen Fußes
zu durchqueren, war so gut wie unmöglich. Doch ich ließ mich nicht
entmutigen, obwohl die Pfützen in meinen italienischen Slippern bequem
Unterkunft gefunden hatten. Schließlich erreichte ich ein altertümliches
Gebäude, das keinen Eingang zu besitzen schien. Ich schritt also weiter
bis ich auf einen Zettel mit einem Pfeil stieß. Aha, hier ging es zum
Sekretariat. Als ich um die nächste Ecke bog, erblickte ich in der Tat
eine offene Kellertür, die mich endlich an mein Ziel führte. Es standen
schon einige Leute herum und ich erfuhr, dass es sich um neue Kollegen
handelte, die wie ich heute zum ersten Mal die Ehre hatten, denn die
Supplenti, die sogenannten Aushilfslehrer, wurden vom Schulamt immer äußerst
spät nominiert, wenn das Schuljahr schon weit fortgeschritten war.
Anscheinend haben die Italiener kürzere Lehrpläne. Wir stellten uns
ungeschickt vor. Jeder mit beschämtem Blick auf die morastigen Schuhe der
anderen. Ein Mann kam auf uns zu und fragte, was wir wollten. Er
verschwand in einem anderen Raum und kehrte mit einer Frau zurück, die
sich nicht vorstellte. Ob es sich um die Direktorin handelte? Sie war es
nicht, erfuhr ich später. Mit meinem lückenhaften Italienisch verstand
ich ungefähr Folgendes:
"Das Istituto Spinelli befindet sich im dritten Stock des Gebäudes,
das wir leider gezwungenermaßen mit zwei anderen Bildungsstätten teilen
müssen. Die beiden anderen Schulen verteidigen ihre Ur-Rechte, da sie
schon vor uns existiert haben und bezeichnen die Expansionsgelüste
unserer Direktorin als "faschistischen Kampf um mehr
Lebensraum", doch unsere Chefin hat das Ziel die Grundschule,
Mittelschule und Oberschule in einem Gebäude unterzubringen, was bis
jetzt noch nicht ganz realisiert ist. Wissen Sie schon, wie sie unsere
Schule erreichen können?" fragte die Dame resolut. Nein, keiner der
Neuen wusste es.
"Ja, erklären kann ich das nicht - Aldo, kommst du mal und zeigst
ihnen den Weg?" Vermutlich handelte es sich um den Pedell. Er war so
freundlich. Wir verließen den besagten Keller und gingen den Weg zurück,
den ich gekommen war. Eine Neue, die so dreist gewesen war, hochhackige
Schuhe zu tragen, bereute es in diesem Augenblick sehr, als sie im Morast
stecken blieb. Doch ihr gelang es, sich wieder zu befreien, und sie
humpelte uns hinterher. Aldo ging zügig voran. Wir traten also wieder auf
die Straße, gingen an der endlosen Mauer entlang, bogen um zwei Ecken und
befanden uns vor dem Eingang einer anderen Schule.
"Kümmern sie sich nicht um das Schild!" sagte der
Schulhausmeister mit bewundernswerter Souveränität. „Wir besitzen hier
das Durchgangsrecht!“
Wir traten unsicher ein und begaben uns zum Aufzug, während uns der Pförtner
des anderen Instituts feindselig beobachtete. Der Schuldiener drückte auf
einen Knopf :
"Wir müssen in den dritten Stock". Dort angekommen, befanden
wir uns in einer Art Dachboden. Das soll die Schule sein? Wunderte ich
mich. Der Pedell zeigt uns die Klassenzimmer, die ich unter normalen Umständen
als Rumpelkammern bezeichnet hätte.
Meine erste italienische Lehrerversammlung fand in einer Art Treppenhaus
statt, wo die Akustik äußerst schlecht war, da ständig irgendjemand
hoch- oder runterging. Die Direktorin, eine vollendete Dame um die 60, in Tailleur mit einer Designerbrille an der Kette, hieß hier
„Preside“ und begann mit dem Appell:
„Alberti“, „Presente!“, „Angiolini“, „Presente!“, „Bairo“.
Keine Antwort. Die Preside schob ihre Brille auf die Nasenspitze und
blickte prüfend in die Runde.
„Bairo?.........Kann jemand mal Bairo anrufen. Er hat den Termin
sicherlich vergessen.“ Anscheinend kam das bei den italienischen Pädagogen
öfter vor. Gutes Betriebklima, dachte ich für mich. Am Sympathischsten
war mir der Philosophielehrer Vinochiaro (Klarwein), der sehr langes Haar
trug und aussah wie Albrecht Dürer auf seinem Selbstporträt. Dottor
Klarwein legte seinem Unterricht kein Schulbuch zugrunde, sondern trug
ausschließlich seine eigenen Theorien vor, indem er häufig aus dem
„Kommunistischen Manifest“ zitierte. Der Bitte der Schüler nach
schriftlichen Unterlagen war er insofern nachgekommen, als er ihnen
vorschlug, die Mitschrift der Klassenbesten zu fotokopieren.
„Mein Großvater mütterlicherseits war Preuße. Ich basiere mich auf
die hegelsche Dialektik.“ ließ er hin wieder in seine Reden einfließen.
„Ich bin gegen jede Art von koordinierenden Notengremien!“ sagte er
und faltete demonstrativ das kommunistische Presseorgan "Il Manifesto"
zusammen, das er ständig bei sich trug.
"In diesem Land herrscht immer noch die Freiheit der Lehre und ich
lehre, was ich für richtig halte. Ich bin Hegelianer!"
Die Direktorin wandte sich lächelnd an mich:
„Carissima collega, die Deutschen lieben die Italiener seit langem, aber
sie schätzen sie nicht, und die Italiener schätzen die Deutschen, aber
sie lieben sie nicht. Das soll sich jetzt ändern. Ich begrüße unsere
deutsche Kollegin aus Norimberga sehr herzlich!" Alle applaudierten,
und ich war ganz verlegen. Extra für diesen Anlass hatte ich eine
raffinierte kurze Einführung in die deutsche Phonetik vorbereitet, um
meine neuen Kollegen von meiner linguistischen Qualifikation zu überzeugen.
„Mille grazie! Die deutsche Aussprache bereitet Italienern nicht selten
große Schwierigkeiten. Das "v" wird im Deutschen wie
"f" gesprochen, im Italienischen wie "w" . Es besteht
also ein großer Unterschied zwischen "wir" und
"vier", was zu fatalen Verwechslungen führen könnte. Besondere
Schwierigkeiten präsentieren die palatal-dorsalen
Reibelaute wie "ich" und "ach", wobei die Lippen und
Zahnreihen leicht geöffnet sind. Die Zunge liegt in der (i:)-Position.
Der hintere Zungenrücken hebt sich gegen den weichen Gaumen...Die
entstehende Enge bewirkt beim Ausströmen der Luft den stimmlosen
Reibelaut...“ Ich unterbrach kurz und ließ meinen Blick genüsslich über
das Publikum schweifen. Sie saßen alle mit versteinertem Gesichtsausdruck
da, als hätte ich soeben in Mittelhochdeutsch aus dem Nibelungenlied
vorgetragen.
„Tante grazie, carissima
collega, davvero, La ringrazio moltissimo!“ rief die Preside und
forderte die Kollegen zum frenetischen Applaus auf.
„Ich bin sicher, dass unsere Schüler bei Ihnen große Fortschritte
machen werden in der deutschen Aussprache nach dem Motto: Steter Tropfen höhlt
den Stein. Haben Sie etwas von meinen Ausführungen verstanden, oder haben
Sie in Gedanken schon die Versetzung beantragt?"
Meine erste Unterrichtsstunde in einer terminalen Klasse, wie man hier die
Abiturklassen zu bezeichnen pflegte, verlief äußerst vielversprechend.
„Buon Giorno, Ragazzi!. Mein Name ist Susanne Herr, ich bin sozusagen
Frau Herr!“ sagte ich selbstsicher mit einem Grinsen. Die Klasse bog
sich vor Lachen. Das Eis war gebrochen. Meine neuen Schüler trugen größtenteils
Indienlook und Rastafrisuren. Ich hatte zwanzig sogenannte "Asteriscati",
Sternchenträger, in der Klasse. Meine Aufgabe war es, dass sie das
Sternchen wieder los wurden. Diese Schüler konnten keine Vokabeln, keine
Grammatikregeln und hervorragend schwätzen. Sie konnten ununterbrochen
mit dem Handy SMS schreiben, witzige Lehrerkarikaturen skizzieren und die
Nichtsahnenden spielen. Diese Schüler waren zwar versetzt worden, hatten
aber in Deutsch keine ausreichende Zensur, d.h. auf dem Notenbogen
erschien ein Ausreichend, das mit einem Sternchen versehen war, weswegen
sie "Asteriscati" hießen.
Doch wo erfuhr ein neuer Lehrer, noch dazu eine Ausländerin, die die
Klasse natürlich nicht kannte, welche Schüler mit einem Sternchen
versetzt worden waren? Und welche Lücken besaßen sie? Davide, Cristina,
Monica, Barbara, Fedra, Tommaso und ihre Kameraden taten ihr Möglichstes,
um mich zu verwirren. Mir war schnell klar, dass auf diese Weise bei den Pädagogen
sehr schnell die Spreu vom Weizen getrennt wurde. Kollegen ohne Phantasie
und Intuition hatten hier schlechte Karten. Die betreffenden Schüler
waren in der Regel kaum motiviert, ihren Makel offen zuzugeben. Sie führten
ein Schattendasein und es gelang ihnen nicht selten, den ahnungslosen Pädagogen
bis zum Schluss zu täuschen. Aus
diesem Grund traf ihn die Enthüllung um so härter, wenn ihm die
Direktorin schließlich die Augen öffnete:
"Theoretisch kann der Schüler auch am letzten Schultag vor den
Sommerferien zu dir kommen und verlangen, dass du ihn prüfst. Wenn du ihm
keine Chance gegeben hast, die fehlenden Kenntnisse nachzuholen, können
die Eltern vor Gericht gehen, und du musst zahlen." Nichts
terrorisiert einen italienischen Lehrer so sehr wie eine Geldstrafe. Manch
einer hat deswegen schon keinen anderen Ausweg gesehen als den Freitod.
Bei dieser unvergesslichen ersten Deutschstunde drangen herrliche Laute an
mein Ohr, so z.B. „Hoisen“ (eigentlich Häuser) oder „Weinakten“
(Weihnachten) oder „Wolkswagen“ (VW). Ich war entzückt und beschloss,
diese wundervollen Sprengkörper nicht zu entschärfen. Al diavolo mit den
Sternchenträgern!
„Professoressa, wie schreibt man Pechvogel?“ fragte die aufmerksamste
Schülerin Deborah. Sie wurde meine Lieblingsschülerin, weil sie alles
notierte, was ich sagte, sogar die Pausen.
„Bravisssima.“ antwortete ich, schrieb Pechvogel an die Tafel und
fragte sie: „Wo hast du denn dieses Wort aufgeschnappt?“
„Ich chatte mit einem Jungen aus Österreich und er nannte sich einen
Pechvogel.“
„Aha, das scheint ein netter Junge zu sein. Bleib nur im Kontakt mit
ihm. Ragazzi, eure Hausaufgabe für nächste Woche: Verliebt euch in einen
Deutschen! Ihr werdet sehen, dass eure Sternchen wie von selbst
verschwinden!“ Ich war selbst erstaunt über meine pädagogischen Fähigkeiten.
Ein großes Problem stellen die Schulbücher dar. In Italien geben die
Familien pro Kind ungefähr 250 Euro pro Schuljahr für Bücher aus. Die
Lehrer können sich aus der Vielfalt des Angebotes die Lehrmittel
aussuchen, die ihnen am meisten zusagen. Die Verlage versuchen natürlich,
jedes Jahr eine Neuauflage ihrer Lehrwerke herauszugeben, doch es kommt
hin und wieder vor, dass sie es nicht schaffen, den zweiten Band eines
Lehrwerks rechtzeitig herauszugeben, d.h. die Schüler bleiben ewig auf
dem Niveau des ersten Bandes. Manche Sprachlehrwerke werden extra deswegen
eingesetzt, weil der Vertreter des Verlages wunderbares Material auf Hörkassetten
und Videokassetten versprochen hat. Doch wenn die Schüler die
entsprechenden Bücher und Kassetten dann bestellen wollen, heißt es: Die
Kassetten sind leider im Moment nicht verfügbar, was sie dem Lehrer mit
gespielter Trauermiene am nächsten Tag unterbreiten. Der Lehrer nimmt
also die Bürde auf sich, jede Woche entnervt beim Verlag anzurufen, um höflich
nachzufragen, wann denn mit der Auslieferung der Kassetten oder des
Lehrerhandbuches gerechnet werden könne. Auf Grund solcher widrigen Umstände
haben sich schon diverse Kollegen bis zum Ende des Schuljahrs die Haare
gerauft. So erklärt sich manche pädagogische Kahlheit.
Am Abend telefonierte ich mit Hank:
„Amore mio, ich bin todmüde und schicke Dir nur schnell drei Küsse
durch die Leitung...“ Dann sank ich erschöpft in die Kissen, und Hank
sang mir einen Song von Johnny Cash vor, bis ich eingeschlafen war.
Eines Tages kam der Schuldiener auf mich zugestürzt:
„Professoressa, heute Morgen ist ihr Mann verhaftet worden!“ Ich
erschrak zu Tode.
„Es scheint sich um eine Drogengeschichte zu handeln!“ Mehr konnte ich
jedoch nicht erfahren, weil plötzlich Bombenalarm gegeben wurde. Die
Marihuana-Schule wurden unter der Leitung eines Carabiniere mit
Pilotensonnenbrille sachkundig aus dem Gebäude evakuiert. Dieser
Gesetzeshüter erregte die Gemüter der Lehrkräfte, weil er seelenruhig
das Rauchverbot in der Schule ignorierte.
"Ich nehme momentan wieder in industriellen Mengen Antihistamine
gegen meine Katzenallergie." sagte Michela, eine Kollegin, während
wir die Treppe hintergedrängt wurden.
"Und ich bin vollgepumpt mit Beruhigungsmitteln." antwortete
Maurizio, der Mathelehrer, und wäre beinahe gestolpert.
"Bei einem Dopingtest wären wir alle positiv!" fügte Michela
laut lachend hinzu. Inzwischen waren wir im eiskalten Hof angekommen, wo
sich alle Schüler versammelt hatten. Jeder Lehrer füllte sein
Evakuierungsblatt aus. Nach einer Weile versuchte der sympathische
Polizist die Schüler zu beruhigen:
"Das Ultimatum ist seit 20 Minuten abgelaufen. Ihr könnt also
unbesorgt in die Klassenzimmer zurückkehren."
"Ja, haben Sie denn überhaupt genügend nach der Bombe suchen
lassen?" fragte eine Schülerin zaghaft.
"Mein Kind, wenn ich hier jeden Winkel absuchen lassen würde, dann wären
wir in drei Tagen noch nicht fertig!"
Die Schüler kehrten widerwillig in die Aulen zurück.
"In dieser Schule gibt es nicht den geringsten Respekt für das
menschliche Leben!" meinten sie. Daraufhin entgegnete meine Kollegin
Michela:
"Das war doch offensichtlich ein blinder Alarm!"
"Wie können Sie da so sicher sein?"
"Sonst wäre die Bombe ja explodiert!
Am nächsten Tag bat ich die Direktorin um eine Woche Urlaub und fuhr zurück
nach Nürnberg, um Hank im Knast zu besuchen. Auf einen Mann, der Straßenbahnen
fahren konnte, würde ich ewig warten, obwohl ich wusste, dass Hank
langsam oder überhaupt nie ans Ziel zu kommen pflegte. Unter Aufsicht
eines Beamten fielen wir uns in der Arme, und er sagte:
„Viel lieber würde ich jetzt mit dir Zitronen pflücken, Cappuccino
trinken und in Bars herumsitzen, Amore mio.“
Die Woche verging wie im Flug. Ich
brachte Hank jeden Tag frisches Obst in den Knast und kaufte ihm
die neueste Johnny Cash-CD und einen kleinen CD-Player. Auf diese Weise
sollte er sich nicht so einsam fühlen, wenn ich wieder in Italien war.
In der ersten Dezemberwoche flog ich wieder nach Turin und nahm den Dienst
in der Marihuana-Schule wieder auf.
Sabine
Scholz
Die Philosophin und der Latin Lover
138 Seiten
Das
Buch ist im New
E-Book-Verlag erschienen
Preis: 6,40 Euro
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