»Muth fehlt den russischen Männern, und daher fehlt er auch den Helden der belletristischen Werke. Die Russen sind aber deswegen nicht muthig, weil sie nicht gewöhnt sind, an öffentlichen Angelegenheiten theilzunehmen.«»Wenn wir in eine Gesellschaft kommen, so sehen wir um uns Menschen in Uniform, oder im Rock, oder im Frack; einige von ihnen sind fünfeinhalb oder sechs Fuß hoch, andere noch höher; sie lassen die Haare wachsen, oder sie rasiren sich die Backen, die Oberlippe und das Kinn; und wir glauben Männer vor uns zu sehen. Das ist aber ein vollkommener Irrthum, eine optische Täuschung, eine Halluzination, nichts weiter. Unbekannt mit der Gewohnheit, an öffentlichen Angelegenheiten theilzunehmen, unvertraut mit den Gefühlen eines Bürgers, wächst ein Kind männlichen Geschlechts nur zu einem Wesen männlichen Geschlechts heran; es erreicht das mittlere Lebensalter, wird später ein Greis, aber ein Mann wird es nie, oder wenigstens wird es nie ein Mann von edlem Charakter.«
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Der Objektivität halber muß jedoch hinzugesetzt werden, daß unser Verfasser nicht allein die russischen Liberalen so verächtlich behandelte. In seinen vorzüglichen politischen Uebersichten, die er für den »Sowremennik« bis zu seiner Verhaftung schrieb, gab er der schonungslosesten Verachtung für alle europäischen Liberalen überhaupt Ausdruck. Die meisten Hiebe bekamen die österreichischen (d.h. die deutsch-liberale Partei in Oesterreich), die preußischen und die italienischen Liberalen. In seinen Abhandlungen über die französische Geschichte bekundet er auch keine große Achtung für die liberale Partei. Alles das konnte natürlich den Repräsentanten des russischen Liberalismus nicht gefallen und in ihrem Kampfe gegen ihn griffen sie zu dem Manöver, zu welchem die Liberalen aller Länder so oft ihre Zuflucht Männern gegenüber genommen haben, die in der Politik über sie selbst hinausgingen: sie warfen ihm vor, daß er die Freiheit nicht liebe, ja daß er zum Despotismus neige. Natürlich konnten solche Vorwürfe der Liberalen unseren Tschernischewsky nur zum Lachen reizen. Er fürchtete sie so wenig, daß er zuweilen seine Gegner gleichsam zu neuen Vorwürfen herauszufordern suchte, indem er die Richtigkeit ihrer früheren Vorwürfe scheinbar zugestand. »Nichts ergötzt uns so sehr, wie der Liberalismus« -- schreibt er in einer seiner letzten politischen Uebersichten -- »es kitzelt uns förmlich, ein paar Liberale aufzufischen, um uns über sie sattlachen zu können.«[Fußnote] Und nun beginnt er über die preußischen Liberalen zu spotten, die, wie er sich treffend ausdrückt, sich darüber ärgerten, daß die politische Freiheit in Preußen »sich nicht von selbst einführt«.[Fußnote] Aber solche »Ergötzungen« hinderten den aufmerksamen Leser nicht daran, zu begreifen, daß Tschernischewsky's Verachtung für die Liberalen nicht durch Mangel an Liebe zur Freiheit hervorgerufen sei. Man brauchte nur einige von seinen politischen Uebersichten zu lesen, um zu sehen, wie heiß er mit allen Freiheitsbewegungen sympathisirte, wo immer sie auch ausbrachen, sei es in Frankreich oder in Italien, in Amerika oder in Ungarn. Er glaubte nur, daß die Liberalen bei derartigen Bewegungen gewöhnlich eine recht unschöne Rolle spielten. Sie selbst thun sehr wenig, ja sie hemmen sogar oft die Anstrengungen Anderer, indem sie kühnere und entschlossenere Männer, als sie selbst sind, bekämpfen. Später aber, wenn dank diesen entschlossenen Männern der Kampf zu Ende geht und der Sieg als zweifellos erscheint, da suchen die Liberalen sich in den Vordergrund zu drängen, um die Kastanien zu genießen, die die »Fanatiker« aus dem Feuer geholt haben. Wer weiß es nicht, daß diese Leute in der Politik dieselben Ausbeuter sind, wie in der Oekonomie, wo sie gewöhnlich zu der Klasse der Geschäftsleute und Unternehmer gehören? Eben dieser ausbeuterischen Neigungen wegen verabscheute sie Tschernischewsky. Und dieser Haß gegen die Ausbeuter ist es auch, den jede Zeile seiner politischen Uebersichten athmet. Wir unsererseits beklagen nicht, daß er sich in dieser Hinsicht klar und bestimmt ausgesprochen hat, sondern vielmehr nur, daß nach ihm keiner unter den politischen Rundschauschreibern Rußlands desgleichen that. Die politischen Begriffe der tonangebenden russischen Journalistik sind überhaupt in den letzten fünfundzwanzig Jahren ungemein verworren und seicht geworden. Daher gab es auch später in keiner einzigen russischen periodischen Zeitschrift so ausgezeichnete politische Uebersichten, wie sie Tschernischewsky für den »Sowremennik« schrieb. In diesen Uebersichten offenbart sich mit besonderer Kraft sein hervorragender Geist und seine nüchterne Auffassung der Dinge. In ihnen weicht er fast niemals von dem unumstößlichen Grundsatze ab, daß »der Gang der Geschichte von den realen Machtverhältnissen bestimmt wird«,[Fußnote] und davon ausgehend analysirt er genau die inneren Triebfedern des damaligen politischen Lebens der zivilisirten Länder. Nur Eins ist an seinen Uebersichten auszusetzen. Er hat die hervorragende politische Rolle nicht vorausgesehen, welche die Arbeiterklasse aller fortgeschrittenen Länder in sehr naher Zukunft (seit der Begründung der Internationale im Jahre 1864) übernehmen sollte. Dieser Revolutionär aus Prinzip, der behauptete, daß alle wichtigen Streitpunkte innerhalb jedes Staates, ebenso wie zwischen verschiedenen Staaten, schließlich durch den Krieg zum Austrag gebracht würden,[Fußnote] sah noch nicht, wie sehr alle revolutionären Kräfte in den modernen zivilisirten Gemeinwesen einzig in der Arbeiterklasse sich konzentriren. Er war immer noch zu geneigt, übertriebene Hoffnungen auf die »besten Männer« aus den anderen Gesellschaftsklassen zu setzen. Da wurde sein gewohnter Scharfblick durch die Verwechslung des Proletariats mit dem »gemeinen Volk« getrübt.
Zu bemerken ist noch, daß die reaktionäre Partei von Tschernischewsky fast ebenso sehr verachtet wurde, wie die liberale Partei. Mit den russischen »Aristokraten« stand er in keinem unmittelbaren Verkehr. »Er verkehrte nie selbst auch nur in den niederen Salonkreisen, von den höheren, vornehmen schon gar nicht zu sprechen. Aber welche Stadt, welches Städtchen war denn nicht voll von dem Ruhm ihrer Thaten? Er kannte sie von Kindheit auf als freche Krakehler«, -- so spricht Tschernischewsky im »Prolog zum Prolog« von Wolgin, d.h. von sich selbst. Zur Zeit der Bauernreform stand Alles, was jene Leute für ihre wichtigsten Interessen hielten, auf dem Spiel. Sie frondirten und schrieen laut: »Wir werden es nicht erlauben, es nicht zulassen! Wollen wir nicht, so wird man es nicht wagen! -- Möge man es nur wagen -- und man wird erfahren, was es heißt, den russischen Adel aufzubringen!« Kaum hatte aber die Regierung sie angeschrieen, da wagten sie nicht mehr zu mucksen, »sie wurden so ruhig, als wären sie vom Schlage gerührt«. »Als einem Demokraten« erschien Tschernischewsky diese Metamorphose zugleich lächerlich und angenehm. »Er liebte den Adel nicht, es gab aber Momente, da er gegen denselben keine Feindschaft hegte. Kann man denn elende Sklaven hassen?«[Fußnote]