DER MAßLOSE KONTINENT

Roosevelts Kampf um die Weltherrschaft

von Giselher Wirsing {1942}

Bilder und Links: Nikolas Dikigoros

TEIL III

Aufstieg und Verfall des New Deal

"Was ist Amerika? Wer kennt es? Ein Kontinent so vielfältig, daß es niemals gelingen wird, ihn auf eine Formel zu bringen. Eine ganze Welt liegt zwischen dem steifen Gentleman aus dem Süden, Cordell Hull, der im State Department mit der Geste eines englischen Ministers seine Besucher empfängt, und jenem Bürgermeister von Seattle an der pazifischen Küste, der seine Wahl dadurch durchsetzte, daß er auf den Einfall kam, in der Kleidung des Mahatma Gandhi aufzutreten. Aber man braucht nicht so weit zu greifen. Eine einfache Fahrt durch New York zeigt uns nebeneinander Unterschiede von einer Kraßheit, wie sie kaum irgendwo so unverbunden auf engem Räume bestehen. Setzen wir uns in einen Bus, der in Down-Town an der Südspitze Manhattans von der Battery Place erst den Broadway und dann die Fifth Avenue hinauffährt, die die ganze Insel Manhattan durchzieht. Zuerst sehen wir die gewaltigen Wolkenkratzer, die meist um die Jahrhundertwende entstanden, jene riesigen Bankungeheuer enthalten, deren Polypenarme das ganze Land und darüber hinaus einen wesentlichen Teil der Welt umspannen. Kurz vor der rührenden alten Trinity Church zweigt jene schmale und düstere Straße ab, deren Namen Wall Street zum Symbol für den Finanzkapitalismus Amerikas geworden ist. Unser Wagen rollt aus diesem bedrücken-

[95] Die Eingeweide der Metropolis

den Viertel, das von Tausenden von gleichförmig angezogenen, gleichförmig denkenden und sprechenden Bankclerks bevölkert ist, am Woolworth Building – mit seinen gotischen Fenstern bis empor zum sechzigsten Stockwerk – vorbei, durch einen charakterlosen und von mittelmäßigen Läden umsäumten Bezirk hinauf nach Uptown, bis er in der Gegend der Kreuzung der Fifth Avenue und der Zweiundvierzigsten Straße jenen berühmten Abschnitt erreicht, wo sich Luxusgeschäft an Luxusgeschäft drängt, wo die teuersten Pelze, Porzellane, Teppiche, wo die raffinierteste Kosmetik und alle Schätze feilgeboten werden, die in irgendeinem Teil der Welt Erde, Tier und Mensch hervorbringen.

Wir verlassen in der Achtundvierzigsten Straße den Bus, der dann am Central Park vorbei weiter nach Harlem in das trostlose Negerviertel mit seinen verwohnten, roten, von Ungeziefer und Schmutz starrenden Backsteinhäusern rollt. Wir beabsichtigen dabei keineswegs, von vornherein den Kontrasten nachzujagen. Sie werden sich von selbst heftig aufdrängen. Wir steigen auf die Stufen der Kathedrale St. Patrick und blicken auf das buntbewegte Bild zwischen dem schon im leichten Dunst verschwindenden Empire State Building und dem unmittelbar vor uns liegenden Rockefeller Centre mit seiner Anordnung von sich stufenartig überhöhenden Wolkenkratzern im modernsten und sachlichsten Baustil. Da an der Ecke ist Saks, eines der größten jüdischen Luxusgeschäfte der Welt. Ein vornehmer livrierter Diener behütet es als Wachtposten des Reichtums mit der gut eingelernten Miene eines englischen Butlers und reißt die Wagenschläge der eleganten Autos auf, hunderte und aberhunderte, aus denen die Damen und "Damen" mit hurtigem und energischem Schritt steigen, der verrät, wie sehr sie sich in diesem Augenblick, da sie den roten Teppich betreten, der hineinführt in das Paradies ihrer Luxuswünsche, wieder und wieder am Ziele ihrer ungestillten Lebenssehnsucht glauben. Wir gehen noch ein paar Schritte weiter. Hinunter zur Park Avenue, am Waldorf-Astoria-Hotel mit seinen Dutzenden von Bars und Dinnerräumen vorbei, zu jenen von außen so entsetzlich einfallslosen Wohnburgen, in denen eine kleine Vierzimmerwohnung dreitausend und viertausend, eine große Wohnung aber 50–100.000 Dollar

[96] Die Eingeweide der Metropolis

im Jahr kosten kann. Wir kehren dann zur Fifth Avenue zurück, vorbei am Netherlands-Hotel, wo man für ein Appartement für den Tag fünfzig oder auch hundert Dollar zahlt, und lassen uns von unserem ortskundigen Begleiter von jedem der folgenden Häuser die Geschichte erzählen. Hier leben die Vanderbilts, dort die Kahns, dort ist das Haus von Whitney, bis zum März 1937 Präsident der Börse von New York, heute als einer der größten Betrüger aller Zeiten in Sing-Sing, dort die Goulds und dort J. P. Morgan – und dann biegen wir in eine beliebige Straße ab, die von der Fifth Avenue, wo sie am teuersten und snobistischsten ist, nach Westen führt, nachdem wir uns eine schwache Vorstellung von der Macht und dem Glanz und der gewaltigsten Geldzusammenballung in wenigen Familien gemacht haben, die die Welt je sah.

Wir biegen in eine dieser Straßen ein und gehen nur wenige Schritte, ein paar Blocks, so stehen wir plötzlich vor blinden Fenstern, Spelunken, fliegenden Händlern, die Strumpfbänder, Apfelsinen und Hosenknöpfe anbieten, sehen herumlungernde Halbwüchsige, die noch niemals einen ordentlichen Beruf gehabt haben und wohl nie einen haben werden. Wir sind in den Slums von New York, noch nicht in den schlimmsten freilich, wie sie sich in Down-Town und an der Ostseite in Brooklyn und Bronx finden. Aber schon das, was wir hier gewahren, kann ein Menschenherz gefrieren lassen. Wir sehen nun fast nur noch mißgestaltete und verwachsene Menschen, gemischt aus allen Rassen der Erde. Wir sehen in hundert und tausend leere und hungrige Augen, und wir sehen die bis zum Spaßhaften und Spukhaften gehenden Versuche der Frauen dieser Welt der Slums, es den gemalten Prinzessinnen der Fifth Avenue, die doch nur fünf bis sechs Blocks weiter liegt, gleichzutun. Um welchen Preis? Um jeden Preis! Aber das gilt für die Geldprinzessinnen auch.

Unser ortskundiger Begleiter führt uns, als wir müde geworden sind, über ausgetretene Bananenschalen, weggeworfene Zeitungen, Unrat und Schmutz aller Art hinweg, und als wir unser Entsetzen über diese Gegend kundgetan haben, sagt er uns mit wissendem Lächeln, weder das eine noch das andere sei Amerika, was wir in diesen zwei Stunden gesehen hätten. Als wir einige Wochen später

[97] F. D. Roosevelts "Hundert Tage"

im Mittelwesten durch St. Louis eine Straße entlanggingen, die hinunter zum Mississippi führt, da sahen wir denselben Kontrast, nur dadurch etwas gemildert, daß der Reichtum der Prunkstraße auch schon mehr Mimikry ist. In jenem Viertel, dicht am Flusse jedoch, wo die Asphaltstraße plötzlich endet und neben dem holprigen Pflaster wieder dieselben ruinenhaften roten Backsteinhäuser mit den Feuerleitern an der Seite stehen, schauen uns dieselben blassen, hungrigen und zerquälten Bastardgesichter entgegen, die wir von den New-Yorker Slums her kennen und die uns in Chicago, Detroit und New Orleans wieder begegnen. Gewiß, wir haben auf einer Fahrt durch das Land in den mittleren und kleineren Städten Tausende von Häusern gesehen, in denen ein kleiner und solider Mittelstand lebt, aber wir haben auch im Süden zwischen verfallenen Negerhütten mitten in einem von Wasserlachen überfluteten Reisfelde weiße Farmer gesehen, die uns erzählten, daß dreißig oder vierzig Dollar im Monat eine Familie mit fünf Köpfen ernähren, kleiden und behausen müssen.

Dies ist der Hintergrund, vor dem Franklin D. Roosevelt 1933 den Versuch, das Gesellschaftssystem der Vereinigten Staaten umzuwandeln, unternahm. Die ersten hundert Tage seiner Präsidentschaft ließen nicht nur die Amerikaner, sondern die ganze Welt aufhorchen. Eine Fülle von Gesetzen, die auf den ersten Blick für Amerika von geradezu umwälzender Bedeutung zu sein schienen, prasselten wie ein Sturzbach aus dem Weißen Haus, und zwar buchstäblich aus dem Weißen Haus, weil der neue Kongreß, in kaum jemals erreichter Einmütigkeit, schon in den ersten Tagen der Sondersitzung, zu der ihn der Präsident zusammenberufen hatte, Roosevelt beinahe diktatorische Gewalt verliehen hatte. Diese ersten hundert Tage der Roosevelt-Regierung schienen damals nicht anders als die erste Phase einer Revolution. Roosevelt hatte bei den Wahlen im Herbst 1932 die Mehrheit in zweiundvierzig von achtundvierzig Staaten erhalten. Der Beginn seiner Präsidentschaft schien anzukündigen, daß das amerikanische Volk nun reif wäre, einen anderen Weg, einen neuen Kurs einzuschlagen, ein "New Deal".

Die Fülle der Gesetze in diesen ersten hundert Tagen, die Schärfe,

[98] F. D. Roosevelts "Hundert Tage"

mit der Roosevelt sich während des Wahlkampfes mit Big Business, insbesondere dem Finanzkapital, von dem Hoover beherrscht war, auseinandergesetzt hatte, vermittelten den Eindruck, daß der neue Präsident mit einem fertigen Reformprogramm in das Weiße Haus eingezogen war. Improvisationen, Experimente nahm das Land unter dem Eindruck der nochmaligen Verschärfung der Wirtschaftskrise und des Bankkraches in den letzten Wochen der Hoover-Regierung zunächst willig hin. Hinter dem Präsidenten, so erklärten alsbald die Schlagzeilen der Zeitungen, stehe der geheimnisvolle Gehirntrust, gerüstet und bereit, die Vereinigten Staaten einem neuen und besseren Schicksal entgegenzuführen.

Wenig von all diesen Hoffnungen ist bekanntlich erfüllt worden. Man muß sie sich jedoch ins Gedächtnis zurückrufen, wenn man verstehen will, wie tief der Absturz des unter so dramatischen Umständen geborenen New Deal den Präsidenten selbst, wie das ganze Land treffen mußte. Roosevelt ist durch jene stürmischen ersten hundert Tage, durch die Aktivität, die er entfaltete, und durch den Kontrast zu dem tatenlosen und einfallslosen Hoover auf lange Zeit hinaus als eine Persönlichkeit erschienen, die, weit über den Durchschnitt der amerikanischen Politiker hinausragend, auch alle jene Zeitgenossen in den Vereinigten Staaten in den Schatten zu stellen schien, die, wie man drüben sagt, aus "Präsidentenholz" geschnitzt sind. Das Auftreten großer überragender Figuren in Europa und Asien war zudem der Bildung einer Roosevelt-Legende günstig. Die Zeit schrie nach Männern, die das Außerordentliche, das Neue zu schaffen vermochten. Für die Vereinigten Staaten, so schien es, war ein solcher Mann mit Roosevelt an die Spitze des Staates gekommen.

I\\s Franklin Delano Roosevelt im Winter 1931/32 in den Vordergrund der demokratischen Präsidentschaftskandidaten rückte, war er Governor des Staates New York, ein Amt, das zwar nicht der Verfassung, wohl aber dem Einfluß nach mit Recht als das zweitwichtigste Amt der Vereinigten Staaten bezeichnet worden ist. Roosevelt hatte in der "Maschine" der Demokratischen Partei also

[99] Hyde Park am Hudson

bereits eine wichtige Kommandohöhe erklommen. Keinesfalls gehörte er, wie einige Präsidenten vorher, die unvermutet auf dem Parteikongreß als "dark horse" das Rennen gemacht hatten, zu den unbeschriebenen Blättern. Roosevelt war vielmehr damals in den Vereinigten Staaten bereits als ein routinierter, wendiger und in mannigfachen Parteikämpfen geschulter Politiker bekannt. Als ein "politician", nicht aber als ein Reformator oder gar als ein Revolutionär.

Die Familie Roosevelt war bereits im 17. Jahrhundert aus den Niederlanden eingewandert und im Staate New York ansässig geworden. Nicht viel später waren die Delanos, die Familie seiner Mutter, nach den Vereinigten Staaten gekommen. Beide Familien gehörten von Anfang an zu den wohlhabenden Mitgliedern der alten Gesellschaft, die in den Vereinigten Staaten während der Jahrzehnte vor dem Aufstieg der Riesenvermögen der Finanzpiraten die erste Rolle spielten. In der sanften, reizvollen Hügellandschaft am oberen Hudson, hundert Kilometer nördlich von New York, liegt, im englischen Kolonialstil erbaut, breit und einladend Hyde Park, der Landsitz der Roosevelts, auf dem Franklin 1882 geboren wurde. (Das Schicksal wollte es, daß er an einem 30. Januar zur Welt kam.) Hier lebten die Roosevelts das Leben von Country Squires, von "Landedelleuten", die sich, in gesicherten Verhältnissen, auf einen in der Metropole New York wohlgegründeten Reichtum stützen konnten. Jüdische Versippung in der Familie Roosevelt und Delano ist nachweisbar. Sie liegt indes in dem Zweig, dem Franklin Roosevelt entstammt, weit zurück und kann kaum wesentlich zur Erklärung seiner späteren Entwicklung herangezogen werden. Franklin Roosevelt ist ein Neffe 5. Grades von Theodore Roosevelt; seine spätere Frau Eleanor Roosevelt entstammt diesem anderen Zweig der Roosevelt-Sippe. Sie war die Lieblingsnichte des Präsidenten Theodore Roosevelt und ist mit Franklin Roosevelt ebenfalls weitläufig verwandt. Die jüdische Versippung des Roosevelt-Zweiges, aus dem Eleanor Roosevelt hervorging, ist unbestreitbar. Ihre Mutter ist die Jüdin oder Halbjüdin Rebekka Hall.

Frühe Verbindung Roosevelts mit jüdischer Finanz

Franklin Roosevelt genoß die übliche Erziehung der Schicht, der er entstammte. Er besuchte Groton School, eine dem Vorbilde Etons nachgebildete, exklusive und sehr teuere Erziehungsanstalt, in die die Söhne der reichen Familien der Neuengland-Staaten geschickt wurden. Später wird er Student an der Harvard-üniversität und studiert Jura. Bei seiner frühen Heirat ist Theodore Roosevelt Trauzeuge. Er tritt dann in ein New-Yorker Anwaltsbüro ein und wendet sich 1910 der Demokratischen Partei zu, die den zugkräftigen Namen Roosevelt gerne verwendet. Er wird in den Senat des Staates New York gewählt und spielt zwei Jahre später auf dem Demokratischen Konvent in Baltimore bereits eine gewisse Rolle hinter den Kulissen. Er setzt sich für die Wahl von Wilson ein und vermag auf Grund seiner umfangreichen Beziehungen in New York für Wilsons Wahl beträchtliche Summen in jenen New-Yorker Bankkreisen zu erwirken, die in Fehde mit dem Hause Morgan und seinen Republikanischen politischen Marionetten liegen. Aus dieser Zeit stammen die Beziehungen Franklin Roosevelts zu dem jüdischen Bankier Jakob Schiff vom Bankhaus Kühn, Loeb & Co., sowie zu dem reichen Grundstücksmakler Henry Morgenthau sen., dem Vater seines späteren Schatzsekretärs und anderen. Franklin Roosevelt wird zur Belohnung für seine Dienste von Wilson zum Unterstaatssekretär im Marineministerium ernannt. Er bekleidet dieses Amt zwischen 1913 und 1920 und wird damit bereits eines der wichtigeren jüngeren Mitglieder des Kabinettes Wilson. Schon vordem ist sein Beitritt zu einer einflußreichen Freimaurerloge in New York erfolgt, in der eine Anzahl jüdischer Bankiers die wichtigste Rolle spielt.

Die Jahre des Weltkrieges, in denen Roosevelt dem engeren Kreise Wilsons angehörte, sind für seine spätere Laufbahn wie für die Entwicklung seiner Gedankenwelt bedeutsam geworden. Innerpolitisch hatte Wilson seinen Wahlfeldzug unter die Parole "New Freedom" gestellt. Unter Anknüpfung an die Auseinandersetzung Theodore Roosevelts mit der Vertrustung der amerikanischen Wirtschaft hatte Wilson zunächst den Schlachtruf gegen das Monopolkapital erneuert. Roosevelts "New Deal" erscheint als die Fortsetzung von Wilsons "New Freedom". Gleichzeitig hatte Roosevelt aus der Periode Wilson den Schluß gezogen, daß man offenbar das Übergewicht des Großkapitals, der Schwerindustrie und der mit ihr verbundenen Bankengruppen nur durch die Gewinnung anderer Bundesgenossen in der Wirtschaft eindämmen könnte.

Wir sahen, wie bereits bei der Wahl Wilsons diejenigen Kreise der Hochfinanz mobilisiert wurden, die sich durch die von Jahr zu Jahr weiter ausweitende Macht der Morgan-Gruppe bedroht fühlten. Daß es vor allem die jüdischen Bankkreise waren, die sich hinter den Demokraten sammelten, nimmt nicht wunder, da die Demokratische Partei, hervorgegangen und gestützt auf den im Bürgerkrieg geschlagenen Süden, alle jene Gruppen in den Vereinigten Staaten an sich zog, die ursprünglich in einem gewissen Gegensatz zu der "reinen" Yankeetradition standen, die die Republikanische Partei verkörperte. Hierzu rechneten einerseits die Massen der Neueingewanderten, vor allem soweit sie süd- und osteuropäischen Ursprungs waren, andererseits aber auch die Juden, die bis in die Epoche Theodore Roosevelts hinein durch ein ungeschriebenes Gesetz aus dem gesellschaftlichen Leben der führenden Schicht ausgeschlossen blieben. So war es dem Bankier Schifi z. B. nicht möglich gewesen, Aufnahme in das "Social Register" zu finden, in dem nach Art des Gotha die "vornehmen" amerikanischen Familien verzeichnet wurden. Noch in der Epoche Theodore Roosevelts war das Social Register fast ausnahmslos arisch. Daher waren auch weniger die bekannten New-Yorker Klubs, sondern die Logen das Sammelbecken der unter der Oberfläche allmählich heranwachsenden Großmacht des Judentums in USA., da die Logen, jedenfalls soweit sie nach dem Muster des Pariser Grand Orient organisiert waren, von vornherein auf dem Prinzip der Gleichberechtigung von Juden und Ariern aufgebaut waren. Der Sieg der Demokratischen Partei im Jahre 1912, an dem wir Franklin Roosevelt bereits maßgeblich beteiligt sahen, bedeutete für das Judentum gleichzeitig eine Durchbruchsschlacht. 1916 ernannte Wilson den wichtigsten geistigen Repräsentanten des Judentums, seinen engen Freund Louis Dembitz Brandeis, einen gebürtigen Ostjuden, zum Mitglied des Obersten Gerichtshofs, und der Sturm, den diese bedeutsame Ernennung eines noch dazu als radikal bekannten Juden entfesselte, war das letzte Sichaufbäumen des

[102] Bedeutung der Beziehungen nach England

Amerikanismus alten Stils gegen das Vordringen der Semiten. Brandeis wird uns bald als einer der geistigen Väter des New Deal wieder begegnen. In jenen Jahren schon hatte er auf den jungen Roosevelt entscheidenden Einfluß ausgeübt. Auch der stillschweigende Antisemitismus, durch den ganze Wohngegenden als "restricted" für Juden praktisch nicht zugänglich waren, wurde nun allmählich als ein "unamerikanisches Vorurteil" beseitigt, ohne daß hierüber in der Presse oder sonst in der Öffentlichkeit Diskussionen geführt wurden.

Auch außenpolitisch sind diese Kriegsjahre die Vorstufe und Schule für Roosevelts spätere Anschauungen. Der englische Botschafter Sir Cecil Spring-Rice, dessen Aufgabe es war, die Vereinigten Staaten an der Seite Englands in den Krieg zu führen, fand in Roosevelt einen warmen Befürworter. Sir Cecil erzählt in seinen Memoiren, daß er sich in jener Zeit nirgends wohler gefühlt habe als im Hause Franklin Roosevelts, bei dem er zeitweise täglicher Gast war. Als 1915 und 1916 der Kampf um den Kriegseintritt der Vereinigten Staaten tobte, ist Roosevelt einer der überzeugtesten Fürsprecher der Alliierten in Washington. Nachdem das Ziel erreicht ist, wird Roosevelt von Wilson als ständiger Verbindungsmann der Delegation der englischen und französischen Außenminister zugeteilt, die 1917 nach Washington geeilt sind. Es war dies jener denkwürdige Besuch Balfours in Washington, bei dem Wilson unter dem Einfluß von Brandeis die Errichtung eines Judenstaates in Palästina als Voraussetzung für die volle Beteiligung der USA. am Weltkrieg forderte. Die Balfour-Deklaration über Palästina war das Ergebnis. Wir sehen Franklin Roosevelt hier also bereits an der Wiege einer der wichtigsten politischen Aktionen, die das Judentum in diesem Jahrhundert unternommen hat.

1918 wird Roosevelt als ständiger Verbindungsmann Washingtons nach London und Paris delegiert. Im darauffolgenden Jahre gehört er der amerikanischen Abordnung auf der Diktatkonferenz von Paris und Versailles an. Er gilt während der Pariser Diktatverhandlung als einer der wichtigsten jüngeren Berater Wilsons;

wir sehen ihn dort im Umkreis Bernard Baruchs, des Wirtschaftsdiktators der Wilson-Ära, und William C. Bullitts, der eben die

[103] Wilson-Ära formt Roosevelts Anschauungen

ersten politischen Sporen verdiente. Der Kreis der persönlichen Verbindungen, in die Roosevelt in jenen Jahren des ersten Höhepunktes der englisch-amerikanischen-jüdischen Allianz hineinwächst, zeigt bereits eine erstaunliche Vollständigkeit. Wir finden hier alle Keime, die beim zweiten Akt des großen weltgeschichtlichen Ringens sich entfalten werden. Roosevelt verfocht auch nach der Rückkehr aus Versailles noch die Linie Wilsons und trat dem Präsidenten bei seinem hoffnungslosen Feldzug für den Beitritt der Vereinigten Staaten zum "Völkerbund" zur Seite. Als er 1920 aus dem Marineministerium ausgeschieden war, wurde der nun 38jährige von der Demokratischen Partei als Kandidat für die Vizepräsidentschaft der USA. vorgeschlagen. Als Präsidentschaftskandidat wurde ein Zeitungsbesitzer und Industrieller – James Cox – nominiert. Cox und Roosevelt blieben gegenüber Harding und Coolidge mit neun gegen sechzehn Millionen Stimmen in der Minderheit. Das amerikanische Volk wollte von dem Internationalismus der Wilson-Ära nichts mehr wissen. Nicht einmal die Südstaaten stimmten geschlossen für die Demokraten.

Roosevelts siebenjährige Beteiligung am Kabinett Wilsons sollte weittragende Folgen für seine Amtszeit als Präsident zeitigen. Innerpolitisch gewann er die Überzeugung, daß der amerikanische Kapitalismus durch wesentliche Reformen zwar nicht auf eine prinzipiell andere Basis gestellt werden, wohl aber von den Auswüchsen des Finanzpiratentums befreit werden müsse. Wichtiger noch waren seine außenpolitischen Erkenntnisse. Roosevelt war aktiv bei der Schaffung des Versailler Diktats beteiligt gewesen. Er hatte Europa allein durch die englische Brille kennengelernt. Von dem besiegten Deutschland wußte er nichts. (Er ist nur gelegentlich als Knabe in Begleitung seines Vaters in Bad Nauheim gewesen.) Wie sein Lehrmeister Wilson war er davon überzeugt, daß, trotz aller während der Pariser Verhandlungen geschlossenen Kompromisse, Europa in Versailles seine dauernde politische Gestalt erhalten habe. Die mit dem Aufbau der Liga der Nationen festgelegte Machtordnung erschien ihm (abgesehen davon, daß er die Vereinigten Staaten gern an ihr beteiligt gesehen hätte) endgültig. Er teilt also mit den Engländern den eingangs dargestellten

[104] Anteil Roosevelts an Versailles

Glauben, daß der Sinn des großen Weltkampfes gewissermaßen in einem Ende der Weltgeschichte, d. h. in einer Stabilisierung der bestehenden Machtverhältnisse für unabsehbare Zeiten, gelegen habe. Daß die Generation Churchill und Chamberlain wie auch in Frankreich die der Briand und Barthou ihre wesentlichen Impulse aus dem Weltkrieg empfangen und hierüber niemals hinausgewachsen ist, ist allgemein bekannt. Daß diese Generation dem viel umfassenderen Ringen des zweiten Aktes der großen Weltkrise nicht mehr gewachsen sein konnte, ergibt sich hieraus beinahe von selbst. Daß aber auch Franklin Roosevelt dieser Generation als einer der Väter von Versailles zuzurechnen ist, daß sich für ihn genau dieselbe Begrenzung des Blickfeldes ergab wie für die entsprechenden Engländer und Franzosen, ist dagegen weitgehend unbekannt. Daß dieser Mann während des Weltkrieges völlig in die britische Gedankenwelt hineinwuchs, kurzum, daß er in dem für jeden Menschen so wichtigen vierten Jahrzehnt seines Lebens sich auf ein Weltbild festlegte, das mit den Illusionen der führenden Staatsmänner der Alliierten identisch war, dies alles bietet erst den Schlüssel für den späteren Präsidenten Roosevelt.

Im Jahre 1921 widerfuhr Roosevelt ein furchtbares persönliches Mißgeschick. Durch ein zu kaltes Bad zog er sich eine spinale Kinderlähmung zu. Er wurde zum Krüppel und war von nun ab von den Hüften abwärts gelähmt. Sein mit Energie geführter Kampf gegen diese Krankheit dauerte Jahre. Die Heilbäder von Warm Springs schufen soweit Besserung, daß er später wenigstens an Krücken gehen konnte. Die psychologischen Folgen dieses unheilbaren körperlichen Gebrechens blieben indes bedeutend. In den sieben folgenden Jahren übt Roosevelt seine frühere Tätigkeit als Rechtsanwalt in beschränktem Umfange wieder aus, wobei nicht verschwiegen werden darf, daß er 1922 als Direktor einer in Kanada eingetragenen Gesellschaft "European Investors Company" Geschäfte mit der deutschen Inflationsmark macht, die, in höchstem Maße obskur, einerseits auf die Ausplünderung des von der Not der Inflation zerrütteten Deutschland, auf der anderen Seite auf die Verleitung seiner amerikanischen Mitbürger zu zweifelhaften Anlagen hinauslief.

[105] Geldgeber der Rooseveltwahlen

Roosevelt lebt nun als Squire am Hudson, in mannigfache Geldgeschäfte verstrickt, das Leben eines wohlhabenden Großbürgers. Schon 1924 greift er in die Politik wieder ein. Er schlägt AI Smith auf dem Demokratischen Parteikonvent in New York für den Posten des Governors vor. 1928 ist es Roosevelt, der auf dem Demokratischen Parteikonvent Smith als Präsidentschaftskandidaten durchsetzt, während Smith Roosevelt zum Kandidaten für den Governor von New York macht. Smith wird von Hoover geschlagen, Roosevelt dagegen wird gewählt und bezieht in Albany, der Regierungssladt des Staates New York, dieses wichtige Staatsamt. In der Zwischenzeit haben sich seine alten Beziehungen zu wirtschaftlich maßgebenden Kreisen New Yorks noch weiter gefestigt. In der Demokratischen Partei ist er wieder eine Macht, um die sich nun die unendlichen Verfilzungen des typischen amerikanischen politician schlingen.

Bereits um die Jahreswende 1931/32 konnte für den November 1932 ein Wahlsieg der Demokraten als sicher gelten. Von allen in Frage kommenden Kandidaten war Roosevelt die stärkste Persönlichkeit. Der Kampf um die Nominierung des Demokratischen Präsidentschaftskandidaten kann daher hier übergangen werden. Wichtig dagegen sind die kapitalistischen Kräfte, die wie bei jeder Präsidentenwahl als Geldgeber die Richtung der zukünftigen Präsidentschaft von vorneherein beeinflußten. Bei seiner zweiten Wahl als Governor von New York im Jahre 1930 (die Amtszeit des Governor beträgt nur zwei Jahre) waren als wichtigste Geldgeber drei große jüdische Finanziers aufgetreten. In erster Linie das New-Yorker Bankhaus Lehman (geschätztes Privatvermögen 169 Millionen Dollar), das 1932 in Herbert Lehman den Nachfolger Roosevelts als Governor von New York stellte. Sodann die Familie Straus, die Besitzer des größten Warenhauses von New York, R. H. Macy and Co., das durch die riesigen Anzeigen, die es täglich an die gesamte New-Yorker Presse zu vergeben hat, praktisch sämtliche New-Yorker Zeitungen beeinflußt. Und schließlich der große Grundstücks- und Börsenmakler Bernard Baruch (geschätztes Vermögen 37,5 Millionen Dollar), der Chef des Kriegsindustrieamtes der Wilson-Periode. Er wird später im Weißen Haus als engster Berater des Präsidenten ein- und ausgehen. Diese selben Kräfte wurden für die Präsidentschaftswahl 1932 mobilisiert. Baruch und sein Sohn gaben 65.000 Dollar, die Familie Straus 50.000 Dollar, der Beitrag des Hauses Lehman ist nicht bekannt, aber jedenfalls beträchtlich. Die von Lundberg zusammengestellte Liste der Geldgeber bei der ersten Wahl Roosevelts ist überaus bezeichnend. Neben diesen drei großen jüdischen Clans finden sich mit beträchtlichen Summen noch die jüdischen Familien Guggenheim (Kupfer), Filene (Warenhaus in Boston), Warner (von der bekannten Filmfirma Warner Brothers) und andere beteiligt. In dieser Liste findet sich ferner die reiche Gattin des späteren Unterstaatssekretärs Sumner Welles, der spätere Handelsminister Roosevelts, Jesse Jones, der Bankier Josef Kennedy, der spätere Botschafter in London, die Familie Bullitt, die Familie Drexel-Biddle, beide aus Philadelphia, die später die Botschafter in Moskau, Paris, bzw. Warschau stellten, während das Warenhaus Macy dadurch belohnt wurde, daß Roosevelt später Jesse Straus zum Botschafter in Paris ernannte. Die übrigen Geldgeber rekrutierten sich meist aus der Lebensmittel- und Warenhausindustrie, wobei vor allem die monopolisierte Zigarettenindustrie im Vordergrund stand.

Schon diese Liste der Geldgeber für Roosevelts Wahlkampf beweist, daß der Präsidentenwechsel im März 1933 niemals eine Revolution bedeuten konnte. Die Machtübernahme Roosevelts war in Wirklichkeit nichts anderes als ein Sieg der in der Periode Harding-Coolidge-Hoover politisch an die Wand gedrückten Leichtgüterindustrie über die Kapitalgüterindustrie und die mit ihr verbündeten Machtgruppen, vor allem das Bankhaus Morgan. Tatsächlich waren fast sämtliche Maßnahmen, die durch das New Deal Roosevelts in Gang gesetzt wurden, dazu geeignet, der Lebensmittel-, Warenhaus- und Leichtgüter-Industrie Vorteile auf Kosten der Schwer-Industrie (Stahl, Kohlen, Eisenbahn, Automobil-Industrie und Kraftwerke) zu verschaffen. Diese fundamentale Tatsache ist durch den alsbald vom Kreis des New Deal und gelegentlich von Roosevelt selbst erhobenen Schlachtruf gegen die Zusammenballung des Reichtums bei wenigen Familien übertönt worden. Daß dieser Schlachtruf niemals etwas anderes war als ein amerikanisches Ballyhoo, wird schon dadurch bewiesen, daß bei den Roosevelt-Wahlen von 1936 und 1940 annähernd dieselben mächtigen Kapitalgruppen den Präsidenten wiederum zur Finanzierung seines Wahlkampfes zur Verfügung gestanden haben. Hätten sie im Ernst befürchtet, daß Roosevelt, wie es die von Morgan und anderen finanzierte Presse behauptete, ein anderes sozialistisches Amerika heraufführen wollte, hätte er zum mindesten bei seiner zweiten und dritten Wiederwahl keinen Cent mehr von der Plutokratie bekommen.

Wir nehmen die Gefahr, den Leser zu ermüden, in Kauf und geben hier eine Auswahl der Geldgeber der zweiten Roosevelt-Wahl. Sie stellt nichts anderes als die Probe aufs Exempel dar und ist noch beweiskräftiger als die erste Liste, da die Plutokratie inzwischen ja vier Jahre lang Zeit gehabt hatte, die tatsächliche Auswirkung des New Deal zu prüfen. Einige Familien, wie z. B. die Du Ponts und der Verleger Hearst, hatten sich von Roosevelt allerdings abgewandt, andererseits finden wir unter den Geldgebern nach wie vor die Lebensmittelindustrie vorherrschend. Die Familie Straus (Warenhaus Macy) ist wiederum mit 20 000 Dollar vertreten, die American Tobacco Co. und Reynolds Tobacco Co. mit annähernd 80 000 Dollar, Kennedy gibt der Demokratischen Partei eine Anleihe von 37 000 Dollar. Neu hinzu kommen nun unter anderem die Besitzer des Warenhauses Woolworth und eine große Anzahl jüdischer Namen, unter denen Lawrence Steinhardt genannt sei, der später mit der Botschaft in Moskau belohnt wurde, sowie sein Vorgänger Davies, ein Eisschrankfabrikant, der 26 000 Dollar beisteuerte. Auch Robert Bingham, der Vorgänger von Kennedy als Botschafter in London hatte sich mit 10 000 Dollar in den diplomatischen Dienst eingekauft. Der Bankier Harriman, der später von Roosevelt zum Verkaufsagenten der amerikanischen Kriegsindustrie in London ernannt wird, findet sich in dieser Liste ebenso wie der spätere Schatzsekretär Morgenthau. Die jüdischen Namen überwiegen im übrigen bei der zweiten Roosevelt-Wahl. Zu

108] Geldgeber der Rooseveltwahlen

den bereits genannten erwähnen wir hier ohne weitere Bezeichnung eine Reihe von Namen: Marc Eißner, Emil Schwartzhaupt, John Turtletaub, Christian Feigenspan, Fred Pabst, L. Rosenthal, Samuel Felz und andere.

Neu bei der zweiten Wahl Roosevelts war allerdings, daß auch die Gewerkschaften zum erstenmal mit beträchtlichen Summen in den Wahlkampf eingriffen. Von dieser Seite flössen Roosevelt 770 000 Dollar zu. Der Anteil der Plutokratie am Wahlfonds überstieg diese Summe allerdings um das Vielfache.

Dies ist der Hintergrund, von dem aus man sowohl die Gesetzgebung wie die Schlagworte des New Deal betrachten muß. Wie stark sich der Einfluß der einzelnen Geldgebergruppen in diesem oder jenem Gesetz, in dieser oder jener Rede Roosevelts und seines engeren Kreises auswirkte, ist hierbei ziemlich gleichgültig. Die Abhängigkeit seines Reformwerkes von mächtigen plutokratischen Gruppen war vom ersten Augenblick an gegeben. Die stürmische Periode der ersten hundert Tage der Roosevelt-Ära hat dies verschleiert, die dann folgende Entwicklung aber bestätigt.

Versetzen wir uns nochmals in das Frühjahr 1932, in dem es für Roosevelt beschlossene Sache wurde, zum Kampf um die Präsidentschaft anzutreten. Als gewiegter, ja gerissener Taktiker spürte er, daß dieser Kampf nicht auf übliche Weise geführt werden konnte und daß weder die Unterstützung bestimmter Gruppen des Kapitals noch die Hilfe der Demokratischen politicians, über deren meist recht beschränkten Horizont er sich keiner Täuschung hingab, ausreichen würde. Als Governor von New York, als das politische und gesellschaftliche Zentrum der Metropolis des amerikanischen Ostens, befand sich Roosevelt indes in einer wesentlich anderen Lage als fast alle Präsidentschaftskandidaten vor ihm (vielleicht Wilson ausgenommen). Der Kreis seiner Beziehungen beschränkte sich nicht wie bei den meisten amerikanischen politicians auf andere Politiker und auf die Vertreter der großen Konzerne, Banken und Trusts, er war vielmehr gerade in New York

109] Gehirntrust tritt neben die Finanziers

mit jener spezifischen Intellektuellenschicht in Berührung gekommen, die etwa seit dem Ausgang der Epoche Theodore Roosevelts ziemlich unbemerkt von der großen Öffentlichkeit herangewachsen war. Insbesondere die Columbia-Universität in New York und die Harvard-Universität bei Boston hatten sich zu Pflanzstätten einer kritischen sozialen Gesellschafts- und Rechtsphilosophie entwickelt, ohne daß sich dies (die Epoche Wilson wieder ausgenommen) auf die praktische Entwicklung der amerikanischen Politik und Wirtschaftspolitik bisher wesentlich ausgewirkt hatte. Aus diesem Kreise nun beschloß Roosevelt sich die Hilfstruppen für seine Präsidentschaft zu rekrutieren. Hier hoffte er eine Schar von Männern zu finden, mit denen dem Land die neue Parole gegeben werden konnte, auf die es, verängstigt durch die Auswirkungen der furchtbaren Krise, sehnsüchtig wartete.

In diesen Pflanzstätten eines neuen kritischen Amerikanismus spielt das Judentum eine hervorragende Rolle. Sowie es einerseits seit der Jahrhundertwende in breiter Front in die Sphäre der Hochfinanz eingedrungen war, so hatte es seit der Ernennung von Brandeis zum Mitglied des Obersten Gerichtshofes auch in die Intellektuellensphäre eine breite Bresche geschlagen. In Harvard hatte ein Schüler und enger Freund von Brandeis, ein in Wien geborener jüdischer Professor, Felix Frankfurter, eine riesige "Schule" entwickelt, die schon seit WIlsons Zeiten das amerikanische öffentliche Leben allmählich zu durchdringen begann. Auf diesen Kreis der Harvard-Universität griff Roosevelt infolgedessen schon vor seiner ersten Präsidentenwahl zurück. Noch stärker war dies indes zunächst mit dem Kreis um die Columbia-Universität der Fall, zu dem ein anderer enger Freund Roosevelts, der Jude Samuel Rosenman (in Roosevelts Spitznamen Jargon "Sammy the Rose" genannt), die Verbindung schlug. Rosenman und Harry Hopkins, den Roosevelt in New York als Angestellten von Fürsorgeinstitutionen kennengelernt hatte, brachten ihn auf den Gedanken, daß einige der Professoren der Columbia-Universität zu der Vorbereitung der nun fällig werdenden Wahlreden herbeigezogen werden könnten. Rosenman, der von Roosevelt zum Oberrichter von New York ernannt wurde, und Hopkins sind im übrigen auch die ein-

110] Instruktionsstunden in Albany

zigen aus diesem ersten, aus Professoren der Columbia-Universität gebildeten "Brain Trust" geblieben, die von Roosevelt als engste Berater über alle Wechself alle des New Deal hinweg beibehalten wurden.

Die Entstehung des ersten Gehirntrusts entsprang der Notwendigkeit, ein neuartiges und umfassendes Wahlprogramm vorzubereiten. Roosevelt selbst bewegte sich in jener Zeit – wie übrigens auch später – in nur sehr allgemeinen Vorstellungen: "daß etwas anderes werden müßte." Was und wie, war ihm keineswegs klar. Professor Raymond Moley, der von Rosenman mit Roosevelt bekannt gemacht wurde, beschreibt in seinen Erinnerungen (erschienen 1939, nachdem er längst von Roosevelt abgefallen war), wie er mit ändern Kollegen der Columbia-Universität wöchentlich mehrfach nach Albany zum Governor Roosevelt fuhr, um dort "Instruktionsstunde" zu halten. Landwirtschaft, Industrie, das Bankensystem, die Außenhandels- und Zollpolitik, all dies wurde systematisch von den "brain-trusters" mit dem künftigen Präsidenten durchgegangen. Roosevelt selbst konnte zwar nicht alles aufnehmen, was die Schar seiner eifrigen Präzeptoren ihm allabendlich vortrug, aber mit dem praktischen Verstand des Politikers wußte er sie nun dort einzusetzen, wo er sie am notwendigsten benötigte: zur Abfassung seiner Wahlreden. Von Moley stammt der Begriff "New Deal". Selbst die wichtigste Programmerklärung Roosevelts, die Rede bei der Annahme seiner Kandidatur, war von den "Geisterhänden" (ghost writers) der Columbia-Professoren verfaßt.

Der erste Gehirntrust unter der Leitung von Moley war ziemlich zufällig entstanden. Seine Mitglieder hatten sich bei der Abfassung der Wahlreden Roosevelts etwas aufeinander eingespielt, aber sie vertraten keineswegs ein einheitliches Programm, und noch weniger besaßen sie Erfahrung in praktischer Regierungspolitik. Zunächst mußte Roosevelt bei der Bildung seines ersten Kabinetts darauf Rücksicht nehmen, daß die demokratische Parteimaschine durchaus nicht darauf vorbereitet war, eine durchgreifende Reform

111] Macht der Parteimaschine

des gesamten Staates in Szene zu setzen. Die maßgebenden Kräfte der Parteimaschine, vor allem die historische Domäne der Demokraten in den Südstaaten, waren vielmehr genau so traditionsbefangen wie die maßgebenden Republikaner. Roosevelt sah sich infolgedessen veranlaßt, repräsentative Vertreter des konservativen Südens in die Schlüsselposition seines Kabinetts zu berufen. Nance Garner, ein bärbeißiger mit allen Wassern gewaschener Parteimann aus Texas mit dem bezeichnenden Spitznamen "Cactus-Jack", wurde schon auf dem Parteikonvent als Vizepräsident ausersehen und Cordell Hall aus Tennessee, ein steifer Senator, der seit Jahr und Tag den Senat durch endlose Reden über eine Zollpolitik im Sinne von Adam Smith gelangweilt hatte, wurde Staatssekretär. Garner und Hull, dies war von vornherein klar, waren als alte Routinepolitiker gewiß nicht geneigt, einer wilden Reformpolitik zuzustimmen. Bis auf Moley, der Unterstaatssekretär im State Department wurde, auf den Innenminister Ickes und den als Landwirtschaftsminister aus der Schriftleitung einer westlichen Farmerzeitung geholten Henry Wallace blieb der Gehirntrust im Kabinett in untergeordneter Stellung. Dennoch war die stürmische Gesetzgebung der ersten hundert Tage sein Werk. Roosevelt hatte indes alles so eingerichtet, daß die Columbia-Professoren ihm möglichst nicht über den Kopf wachsen sollten. Vom ersten Augenblick seiner Regierung an gab es daher neben dem offiziellen Kabinett eine "Palastjunta", die einflußreicher war als die Minister selbst, die aber nach außen hin keinerlei wirkliche Verantwortung trug. Die Widersprüche dieses Systems, das dem opportunistischen Charakter des Präsidenten entsprach, haben später zum Zusammenbruch seiner innenpolitischen Konstruktion und zum Versanden des New Deal wesentlich beigetragen.

Der Kreis um Roosevelt, der den neuen kritischen und intellektuellen Amerikanismus vertrat, fühlte mit Unbehagen, daß der amerikanische Mythos und die amerikanische Wirklichkeit einander nicht mehr entsprachen. Sein Ziel, und dies war die eigentliche

112] Grundgedanken des New Deal

Absicht des New Deal, war, die Folgerungen daraus zu ziehen, daß die amerikanische Gesellschaft nunmehr in ein Stadium eingetreten war, in dem sie sich nicht mehr wesentlich von den hochkapitalistischen Nationen in Europa unterschied. Der Gehirntrust beabsichtigte infolgedessen mit der Tradition der negativen Regierungspolitik zu brechen und dem Staat jene Entscheidungsgewalt und Macht zu erobern, die er sogar in den liberalen Demokratien Europas besaß. Das, was in den Vereinigten Staaten beinahe wie eine Revolution wirken mußte, waren für europäische Begriffe die allerselbstverständlichsten Dinge. Wir sahen, wie es Hoover abgelehnt hatte, von der Bundesregierung aus etwas für die Unterstützung der Arbeitslosenarmee zu tun, die inzwischen auf fünfzehn Millionen Menschen – die Familienmitglieder mit eingerechnet auf etwa fünfundvierzig Millionen oder ein Drittel der amerikanischen Bevölkerung – angewachsen war. Der Gehirntrust wollte demgegenüber eine großzügige Unterstützung der Arbeitslosen teils direkt, teils durch produktive Arbeitslosenhilfe einführen.

Die Krise war zweifellos durch die völlige Anarchie der wirtschaftlichen Gewalten entstanden. Dem New Deal schwebte infolgedessen eine Politik der gemeinsamen Planung von Wirtschaft und Regierung vor, keineswegs aber etwa eine Planwirtschaft im eigentlichen Sinne. Auf dem Gebiete der Landwirtschaft sollte dies durch eine freiwillige oder, wenn es nicht anders ging, auch erzwungene Eindämmung der Überproduktion und damit verbunden durch eine stetige Hebung des katastrophal abgesunkenen Preisniveaus erreicht werden; in der Industrie durch einen Zusammenschluß der verschiedenen Industriezweige zur Vermeidung einer ständigen Preisunterbietung, die sich wiederum nur als eine Senkung des Lohnniveaus durch Kinderarbeit und unstabiler Arbeitsverhältnisse für die erwachsenen Arbeiter auswirken mußte. Daneben sollten die wilden Börsenspekulationen durch ein neues Börsen- und Bankgesetz unterbunden und der Willkür der Unternehmer dadurch gesteuert werden, daß man den Arbeitern prinzipiell das Gewerkschaftsrecht zugestand, das bis dahin von vielen Großbetrieben zum mindesten in der Praxis bestritten wurde.

Wie man sieht, war dieses Programm, gemessen an europäischen

113] Mangelnde Voraussetzungen für wirkliche Reformen

Verhältnissen, alles andere als radikal. Roosevelt, als ein Mitglied der plutokratischen Gesellschaft, die am oberen Hudson als Squires auf ihren Landgütern lebte, ihm, der schließlich durch das Kapital einer mächtigen Finanzgruppe zur Macht gekommen war, lag es gewiß fern, den Amerikanismus in die Richtung einer sozialistischen Planwirtschaft umformen zu wollen. Was das New Deal wollte, war also verhältnismäßig sehr bescheiden. Er beabsichtigte lediglich, das amerikanische kapitalistische System den veränderten Verhältnissen anzupassen, unter denen das amerikanische Volk nach der endgültigen Schließung der Grenze nunmehr leben mußte. Dies alles wollte er innerhalb des demokratischen Systems erreichen. Der Gedanke an eine Diktatur lag ihm in diesem ersten Stadium gewiß noch fein, wenn er für eine erhebliche Verstärkung der Bundesgewalt sowohl gegenüber den Einzelstaaten wie gegenüber dem Kongreß und dem Obersten Gerichtshof eintrat. Und dennoch – diese Angleichung des Amerikanismus an die neuen Gegebenheiten widersprach dem amerikanischen Mythos, in dem der größte Teil aller Amerikaner befangen war. Nur so überhaupt ist es zu erklären, daß die vom New Deal aufgestellten Prinzipien schon nach kurzer Zeit nicht nur von der plutokratischen Oberschicht, sondern auch von weiten Teilen des Volkes selbst als revolutionär empfunden wurden. Die Krise war da, unbestreitbar, sie hatte ein Drittel der amerikanischen Nation, wenn man die Farmer hinzunimmt, weit über die Hälfte an den Rand der Verzweiflung, des Hungers, der wirtschaftlichen Vernichtung gebracht. Als aber dagegen Abhilfe geschaffen werden sollte, stellte sich heraus, daß diejenigen Kräfte, die im Laufe der letzten Jahrzehnte die eigentlichen Nutznießer des amerikanischen Mythos, des freien Spiels der Kräfte, des Verzichts auf eine wenigstens regulierende Tätigkeit des Staates gewesen sind, so stark waren, daß sie jede Veränderung als eine Sünde gegen den amerikanischen Geist anprangerten.

Dem spielte allerdings die Unzureichendheit Roosevelts und seines Gehirntrusts sehr bald in die Hände. Schon nach wenigen Monaten sollte sich zeigen, daß die neue Verwaltung nicht nach einem einheitlichen Plan vorgehen konnte, zumal es hierfür überhaupt keinen zureichenden Apparat gab, sondern daß sie mit be-

114] Im Chaos der Organisationen

ständigen, oft wenig durchdachten Improvisationen von der Hand in den Mund leben mußte. Dem Chaos, in das die wildgewachsene hochkapitalistische Wirtschaft der Vereinigten Staaten hineingeraten war, mußte auf Seiten des New Deal nun zwangsläufig ein Chaos von schnell aufgeschossenen Organisationen entsprechen, die sich in ihren Kompetenzen überschnitten und durch das Fehlen eines geschulten Beamtenapparates, der, wie wir sahen, dem amerikanischen Mythos strikt widersprach, nun zwangsläufig zur Beute der lokalen Parteipolitiker und ihrer Cliquen wurden. Nur zu bald mußte es offenbar werden, daß allein mit einer kleinen Intelligenzgruppe (und noch dazu einer vornehmlich jüdischen) ein so gewaltiges Unternehmen wie der Staatsumbau des nordamerikanischen Kontinents gar nicht möglich war. Dort, wo in Europa ähnlich große Aufgaben zu meistern waren, konnten sie nur von einer Führerschicht übernommen werden, die von der mächtigen Woge einer Volksbewegung vorangetragen wurde. Diese aber fehlte in den USA. vollständig. Roosevelt konnte sich zwar auf die Unzufriedenheit der Massen stützen, aber dies war eine rein negative Kraft.

\V ir müssen hier noch kurz bei der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Philosophie verweilen, die dem New Deal ursprünglich zugrunde lag. Die Reformversuche in der Ära Theodore Roosevelts und Wilsons beschränkten sich auf einen im ganzen genommen theoretischen Kampf gegen die Vertrustung der amerikanischen Wirtschaft und gegen die Monopolstellung, die Wall Street seit der Jahrhundertwende endgültig an sich gerissen hatte. Der Schlachtruf gegen die Trusts hatte zwischen 1890 und 1933 die Konzentration der Wirtschaftskraft des gesamten Landes bei wenigen Banken und Trusts nicht verhindert. Er beruhte auf einer, vor allem von Brandeis entwickelten, Philosophie, nach der "alle Probleme des amerikanischen Lebens gelöst wären, wenn Amerika wiederum eine Nation von kleinen Besitzern" und, wie sich Moley skeptisch ausdrückt, "von Gemischtwarenhändlern an der Ecke der

115] "Partnerschaft" zwischen Staat und Wirtschaft

Hauptstraße und Schmieden unter blühenden Kastanienbäumen" werden würde. Bis zum Auftreten des New Deal war diese von Brandeis entwickelte These der Notwendigkeit der Zerschlagung der Großbetriebe zur Rettung des "american dream" das A und 0 des radikalen Liberalismus in USA. Wilson, der diese Theorie übernahm, mußte infolgedessen mit seinem Reformversuch des "New Freedom" scheitern.

Der Gehirntrust ging im Gegensatz hierzu von der Tatsache aus, daß die Großbetriebe und die Massenproduktion aus dem amerikanischen Leben nicht mehr wegzudenken waren. Er verwarf die These von Brandeis als romantisch. Da aber auf der ändern Seite Roosevelt und der Gehirntrust nicht daran dachten, vom Staate her Vorkehrungen zu treffen, durch die die politische Macht der Finanzoligarchie wirklich im Kern getroffen worden wäre, mußten sie einen mittleren Weg suchen und nach dem Grundsatz: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß, verfahren. Aus diesem Dilemma entstand die Halbheit der Maßnahmen wie auch die Verworrenheit der Grundsätze des New Deal. Hierüber konnten auch gelegentliche rednerische Ausbrüche gegen den Finanzkapitalismus nicht hinwegtäuschen. So entstand die unklare Theorie der Partnerschaft von Regierung und Wirtschaft, wie sie Roosevelt am 17. Mai 1933 in einer von Moley verfaßten Rede umriß:

"Es ist vollständig falsch", so sagte er, "wenn man die Maßnahmen, die wir getroffen haben, als Regierungskontrolle über die Landwirtschaft, die Industrie oder über das Verkehrswesen bezeichnet. Es handelt sich vielmehr um eine Teilhaberschaft (partnership) zwischen der Regierung einerseits und der Industrie, der Landwirtschaft und dem Verkehrswesen andererseits. Nicht um eine Teilhaberschaft, was die Profite angeht, da die Gewinne nach wie vor dem Unternehmer zugute kommen sollen, sondern um eine Teilhaberschaft in der Planung und eine Teilhaberschaft in der Kontrolle der Ausführung der Pläne." Moley bemerkte hierzu, daß Roosevelt allerdings die Unterschiede zwischen der Philosophie von Brandeis – der Zerschlagung von Big businesa – und der Philosophie von Partnerschaft von Regierung und Industrie niemals richtig verstanden habe.

116] Klassenkampf durch Gesetz befohlen

Die dem am meisten umstrittenen Gesetzesakt des New Deal, dem "National Industrial Recovery Act" (NIRA), zugrunde liegende Theorie mußte sich geradezu als eine Sanktionierung der Vertrustung der amerikanischen Wirtschaft auswirken und damit der Hochfinanz recht eigentlich ihre Machtstellung garantieren. Es war das Tragikomische, daß dies weder Roosevelt noch der Gehirntrust, noch die Hochfinanz und der in ihrem Sinne arbeitende Oberste Gerichtshof bemerkten. Die NIRA sah vor, daß die einzelnen Betriebe der verschiedenen Wirtschaftszweige sich einem "Gesetz der fairen Konkurrenz" (Code of fair competition) unterwerfen sollten, durch den eine einheitliche Preis- und Lohnregulierung in den verschiedenen Wirtschaftszweigen erreicht werden sollte. In knapp zwei Jahren wurden tatsächlich Dutzende solcher Codes aufgestellt. Wäre das Gesetz durch den Obersten Gerichtshof nicht außer Kraft gesetzt worden, so hätte dies zwangsläufig zu einer Erdrückung der noch bestehenden Mittelbetriebe in den durch Codes zusammengefaßten Wirtschaftszweigen geführt.

Alle Maßnahmen des New Deal bauten auf der von der amerikanischen Volkswirtschaftslehre entwickelten Theorie der Kaufkraftsteigerung als dem Allheilmittel wirtschaftlicher Krisen auf. Henry Ford hatte schon längst vordem seine Theorie der hohen Löhne entwickelt. Durch eine Senkung des Geldwertes, die durch die Abwertung des Dollars erreicht werden sollte, hoffte man mit Hilfe der damals modernen monetären Konjunkturpolitik schließlich jene Kaufkraftsteigerung erreichen zu können, durch die das breite Publikum wieder in die Lage versetzt werden sollte, die Massenkonsumgüter, die die amerikanische Industrie anzubieten hatte, in gesteigertem Maße aufzunehmen. Wir können hier auf die Irrtümer der monetären Konjunkturlehre und der Kaufkrafttheorie nicht näher eingehen. Der Hinweis mag genügen, daß die Erhöhung des Lohnniveaus durch die Maßnahmen des New Deal ebensowenig wie der Gedanke der Teilhaberschaft zwischen Regierung und Wirtschaft zu der vom nationalsozialistischen Deutschland geförderten Gemeinschaft zwischen Betriebsführung und Arbeiterschaft führte. Es handelte sich im Gegenteil darum, daß die Roosevelt-Regierung die Technik des Klassenkampfes im europä-

117] CIO und AFL

ischen Sinne gewissermaßen durch Gesetz einführen und dekretieren wollte. Ein höchst merkwürdiges Unterfangen, das überhaupt nur verständlich wird, wenn man sich daran erinnert, daß der Unternehmer in Amerika, das heißt vor allem die Direktoren der Riesentrusts, bis dahin in ihren Betrieben unumschränkte Diktatoren waren, die nach eigenem Ermessen die Löhne festsetzen und je nach der Konjunkturlage Arbeiter in Massen einstellen oder entlassen konnten.

J~Lenry Ford hatte durch das Prinzip der hohen Löhne, das allerdings nur sehr relativ zu verstehen war, weil seine Betriebsorganisation einen entsetzlichen Verschleiß der Arbeitskraft bedeutete, aus freien Stücken die Willkür der Lohnfestsetzung in einem für den Arbeiter scheinbar günstigeren Sinne gehandhabt. Wenn man indes zu Zeiten der Depression durch die endlosen Hallen der Ford-Werke gegangen ist und gesehen hat, wie nur noch ein kleiner Bruchteil der Arbeiter beschäftigt war, während Zehntausende in den Arbeitervierteln von Detroit dem Elend preisgegeben waren, so ergab sich, daß selbst bei diesem berühmten Musterbeispiel des "sozialen Unternehmers" die Lage der Arbeiterschaft oft verzweifelt schlecht war. Der Gehirntrust glaubte nun dieser Verelendung der Massen durch eine künstliche Kaufkraftsteigerung und die Legalisierung des Gewerkschaftsrechtes entgegentreten zu können. Zum erstenmal wurde als Folge der "NIRA"-Gesetzgebung die industrielle Reservearmee der Millionen ungelernter, meist neu zugewanderter Arbeiter in dem Committee of Industrial Organisation (CIO) von John Lewis erfaßt, das sich von der AFL abspaltete. Durch eine große Zahl von überall im Lande schnell aufgezogenen Schlichtungsausschüssen für Arbeitsstreitigkeiten sollte durch die Regierung die alte Macht des Finanzkapitalismus mit der neu entstandenen Macht der Gewerkschaften zum Ausgleich gebracht werden.

Dieses System mußte indes versagen, da nun die Gewerkschaften ihre neue Lage durch wilde Streiks ausnützten – die CIO wurde

118] CIO und AFL

zur Erfinderin des Sitzstreiks – während die Unternehmer mit ebenso wilden Betriebsschließungen und Arbeiterausschließungen antworteten. Was hier also letztlich erreicht wurde, war auch auf dem Gebiet der Arbeitsverfassung lediglich die Nachholung eines in Europa längst vorhandenen Zustandes, der sich indes in den kapitalistischen europäischen Ländern bereits ad absurdum geführt und den Weg für die nationalsozialistische Arbeitsverfassung schließlich frei gemacht hatte. Das New Deal legte zwar den staatlichen Eingriff in die Arbeitsstreitigkeiten fest, aber der Staat wurde auf eine Schlichter- und Polizistenrolle beschränkt, durch die er im Grunde sowohl dem Finanzkapitalismus wie den Gewerkschaften gegenüber machtlos blieb. Er war darauf angewiesen, im Konfliktsfalle beiden Teilen gut zuzureden, was selbstverständlich bei den großen Massenstreiks oder Massenausschließungen wirkungslos bleiben und die amerikanische Gesamtproduktion jährlich viele Millionen von verlorenen Arbeitstagen kosten mußte.

Die Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung in USA. in der bereits 1886 gegründeten "American Föderation of Labour" haben wir bereits erwähnt. Die AFL wurde die Organisation der "Aristokratie" der Arbeiterschaft. Sie wollte sich ebenso gegen die Unternehmer wie noch weit mehr gegen die hereinstromenden Einwanderer schützen – gegen die "dirty foreigners", die schmutzigen Ausländer, wie das Kosewort noch heute heißt, das dem mittellosen Einwanderer so liebreich entgegenhallt, sobald er den Schrecken der Polizeiuntersuchung in Ellis Island entronnen ist. An sozialer Gesetzgebung war die AFL als Selbstschutzorganisation der bereits bodenständigen gehobenen Arbeiterschicht wenig interessiert, weil diese sich ja nur auf die große Masse beziehen konnte, nicht aber auf diese oberste Schicht der gelernten Arbeiter, die ohnedies von jedem vernünftigen Unternehmer in einem Lande rücksichtsvoller behandelt wurde, in dem es immer Überfluß an ungelernten, aber immer Mangel an gelernten Arbeitern gab. Von jeher war es daher eine nordamerikanische Eigenart, daß es eine Art Klassenkampf innerhalb der Arbeiterschaft gab. Jay Gould, einer der großen Finanzpiraten um die Jahrhundertwende, pflegte mit echt jüdischem Zynismus zu sagen, daß er jederzeit die eine

119] John Lewis

Hälfte der Arbeiter anstellen könne, um die andere totzuschlagen! Die Konzentration des Großkapitals machte nun die Masse der Arbeiter vollends rechtlos, da gerade die meisten Riesentrusts der Stahl- und Autoindustrie einen gewerkschaftlichen Zusammenschluß ihrer Arbeiter verboten. 1929 beschäftigten 8 v. H. aller industriellen Unternehmungen in den USA. 70 v. H. aller Industriearbeiter! Nur drei Gesellschaften beschäftigten 70 v. H. aller Arbeiter der Automobilindustrie, und die United States Steel Corporation allein 45 v. H. aller Arbeiter in der Stahlindustrie. Durch die New-Deal-Gesetzgebung trat nun allmählich eine große Gewerkschaftsfront der Kapitalfront entgegen.

John Lewis war als Vorsitzender der Vereinigten Kohlenbergarbeiter schon beinahe zwei Jahrzehnte der wichtigste Gewerkschaftsführer der AFL, ehe er mit seiner CIO 1935 aus der AFL ausschied, um sie von nun ab auf das heftigste zu bekämpfen. 1925 schon hatte ihm Coolidge das Arbeitsministerium angeboten, und 1932 trug ihm Hoover die republikanische Kandidatur für die Vizepräsidentschaft an. Lewis lehnte jedoch beide Anerbieten ab, um sich nach 1933 in einem Zweckbündnis mit Roosevelt zusammenzufinden. Es hat die zweite Präsidentschaftswahl nicht überlebt. 1937 schon trat ein ernsthaftes Zerwürfnis zwischen Roosevelt und Lewis ein, da für den Präsidenten eine starke Macht in der Nähe des "Thrones" keineswegs erwünscht war. Lewis verlangte vom wiedergewählten Präsidenten ein klares soziales, antikapitalistisches Programm. Roosevelt wollte dies keineswegs und weigerte sich, Miß Perkins, seinen schwachen und Kompromissen zuneigenden Arbeitsminister, durch einen Mann zu ersetzen, der wirklich Front gegen das Finanzkapital gemacht hätte. Der Riß zwischen Lewis und Roosevelt wurde dadurch so groß, daß der Präsident beschloß, Lewis nicht mehr ins Weiße Haus einzuladen. 1940 trat Lewis dann offen gegen die Kandidatur Roosevelts und die Kriegspolitik des Präsidenten auf. Er beschuldigte den Präsidenten, daß er die Sache der Arbeiterschaft an die britische Plutokratie und ihre amerikanischen Helfer verrate.

Als Roosevelt wiedergewählt wurde, überließ Lewis infolgedessen den Platz des Präsidenten der CIO dem Vorsitzenden der

120] John Lewis

Gewerkschaft der Arbeiter der Stahlindustrie Philip Murray, einer wesentlich blasseren Figur. Nach wie vor ist Lewis der ungekrönte König der CIO, nach wie vor ist er der Vorsitzende der Kohlenarbeitergewerkschaft. Seine charakteristische Erscheinung mit den buschigen Augenbrauen und der mächtigen Löwenmähne wird vielleicht in der amerikanischen Innenpolitik auch später noch eine Rolle spielen, zumal er sich mit Charles Lindbergh zur Bekämpfung der Kriegshetze in den USA. zusammengefunden hat.

Der Kampf um die innere Linie der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung ist durch Lewis' Haltung zum Kriege noch schärfer geworden. Die Gegner, die ihm in der CIO selbst erwachsen sind, sind bezeichnenderweise zwei Ostjuden, David Dubinsky und Sidney Hillmann, die sich beide in die Führung der Gewerkschaften der Bekleidungsindustrie emporgearbeitet haben. Roosevelt benutzte die zwischen Hillmann und Lewis bestehenden Spannungen und setzte im Winter 1940/41 Hillmann an eine wichtige Schlüsselstellung seines neuen Aufrüstungsapparates. Dies brachte naturgemäß Lewis erst recht in Harnisch. Neben die Spaltung der Gewerkschaftsbewegung zwischen AFL und CIO ist infolgedessen seitdem auch eine Spaltung der CIO selbst in einen Lewis-Flügel und einen Hillmann-FlügeI getreten.

Die Persönlichkeit von Lewis ist außerhalb Amerikas viele Jahre hindurch sehr falsch eingeschätzt worden. Man verwechselte ihn und sein Programm wegen seines scharfen Radikalismus mit kommunistischen Unterströmungen, die es zweifellos in der CIO auch gegeben hat. Der Radikalismus von Lewis hat indes mit Kommunismus nicht das geringste zu tun. Ihm schwebt vielmehr ein neugeordnetes Amerika vor, in dem unter allen Umständen die Macht des Finanzkapitalismus gebrochen sein muß. Dies sind auch die Gründe, die seine temperamentvolle Ablehnung der Außenpolitik Roosevelts mitveranlaßt haben, da Lewis in der Verbindung Roosevelts mit der britischen Finanzoligarchie nur den Versuch sieht, die ursprünglich vom New Deal aufgestellten Ziele zugunsten der Hochfinanz in Amerika in den Hintergrund treten zu lassen. Die konsequente Haltung, die er von 1937 ab gegenüber dem Präsidenten einnahm, bewies jedenfalls, daß es sich hier

121] John Lewis

um einen Mann von starkem Charakter handelt, der den naheliegenden Verlockungen, die ihm eine Kompromißpolitik geboten hätte, nicht erlegen ist. Ware er seiner innersten Überzeugung nach Kommunist, hätte das Finanzkapital leichtes Spiel gegen ihn. Gerade aber weil er dies nicht ist, sieht es in John Lewis vielleicht die einzige wirklich ernste Gefahr, die ihm vorläufig unter den zersplitterten inneramerikanischen Kräften droht. Es wittert, daß hier nicht nur innerpolitische Taktik verborgen sein könnte, sondern der Ansatz zu einer Idee, der weder das Finanzkapital noch Roosevelt etwas entgegenzusetzen hätten.

Nachdem die CIO sich als Massenorganisation auftat, folgte ihr auch die AFL bis zu einem gewissen Grade auf diesem Wege. Anfang 1940 behaupteten beide Organisationen über etwa vier Millionen Mitglieder zu verfügen, v/as ungefähr 19 v. H. der erwerbstätigen Bevölkerung der USA. entsprach. Die größte Zahl der CIO-Mitglieder rekrutiert sich aus der Stahl-, Automobil-, Hotel- und Transportindustrie. Die Folge dieses Anwachsens der Gewerkschaften war ein ebenso starkes Anwachsen der Streiks. 1930 wurden 637, 1937 dagegen 4740 Streiks gezählt.

Die Schwerindustrie gab infolgedessen nicht weniger als achtzig Millionen Dollar für ihre Streikbrechagenturen, für die Anschaffung von Tränengasapparaten, Hochspannungsumzäunungen, Gewehren und Munition für die Fabrikwächter und schließlich für die Bezahlung ihres Spionagesystems innerhalb der Arbeiterschaft aus. Wenn man diese achtzig Millionen Dollar und andererseits die Methode der Sitzstreiks als einen Beitrag zur Lösung der sozialen Fragen verstehen will, wie dies Roosevelt offenbar tut, wenn er die Welt über die einzigartigen Errungenschaften der Vereinigten Staaten belehrt, muß man allerdings eine bescheidenere Vorstellung von einem modernen volksregierten Gemeinwesen besitzen als wir.

A

lle sozialen Maßnahmen des New Deal dienten dazu, das nachzuholen, was in Europa und insbesondere in Deutschland an sozialer Gesetzgebung schon seit vielen Jahrzehnten erreicht ist. Dies

122] Deutsche und amerikanische Sozialversicherung

gilt zum Beispiel für die Sozialversicherung, die im Social Security Act (SSA) im August 1935 eingeführt wurde. Da Roosevelt mit den meisten wichtigsten New-Deal-Gesetzen zu jenem Zeitpunkt bereits durch den Einspruch des Obersten Gerichtshofes gescheitert war, mußte er die Sozialversicherung den Einzelstaaten übertragen. Es kam nur zur Rahmenlegung durch den Bund. Diese verzettelte sich später in endlose Kämpfe zwischen den Einzelstaaten und dem Schatzamt in Washington um den Finanzausgleich der für die Sozialversicherung aufzubringenden Summen. Das deutsche Sozialversicherungswerk unter Bismarck ist unendlich weitgreifender als das des SSA und erfaßt von vornherein die gesamten arbeitenden Schichten, während der SSA sich nur auf die Industriearbeiterschaft bezieht, die Landarbeiter, die Hausangestellten und der größte Teil der Büroangestellten hingegen ausgeschlossen bleiben. Die tatsächlich geleisteten Versicherungsbeiträge für die über 65 jährigen bleiben weit hinter den deutschen Sätzen zurück. Der Mindestsatz wurde auf zehn Dollar im Monat festgesetzt. Praktisch liegt er zwischen zehn und dreißig Dollar. Dabei ist weder von einer Knappschaftsversicherung noch gar von der Errichtung der unzähligen Erholungsheime oder einer Organisation wie "Mutter und Kind" die Rede, wie sie in Deutschland teils schon seit langem besteht, teils von der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt ins Leben gerufen und sogar während des Krieges auf eine immer breitere Grundlage gestellt v/urden. Die Naivität, mit der diese kümmerlichen Ansätze einer sozialen Versicherung als eine "einmalige Errungenschaft des New Deal" Amerika und der übrigen Welt dargeboten wurde, war kaum zu übertreffen.

Von den großen Problemen, die der Gehirntrust 1933 vorfand, erwies sich die Beschränkung des Monopolkapitalismus der Finanzoligarchie von vornherein für Roosevelt als unmöglich. Das einzige, was auf diesem Gebiet erreicht wurde, war eine gewisse Beschränkung der Spekulation durch den Exchange and Security Act und ein neues Bankgesetz, wodurch, um mit Roosevelts eigenen Worten zu sprechen, "die Sparer in die Lage versetzt werden sollten, ihre Ersparnisse auf den Banken so anzulegen, daß sie gegen die spekulative Verwendung ihres Geldes durch andere Leute gesichert

123] Notlösung der WPA

sind und Kapitalanlagen in Wertpapieren tätigen können, ohne durch Spekulation getäuscht und betrogen zu werden". Schon das zweite Ziel ist nicht erreicht worden, wie die große Zahl betrügerischer Bankrotte bewies, von denen nur der des mit dem Bankhaus Morgan verbundenen Präsidenten der New-Yorker Börse Richard Whitney erwähnt sein.

Das Problem der Arbeitslosigkeit fand eine ebenso unzureichende Lösung. Die Wirtschaftsankurbelung durch Dollarabwertung und NIRA-Gesetzgebung vermochte nur einen verhältnismäßig kleinen Teil der 13–15 Millionen Arbeitslosen aufzusaugen, die es 1933 gab. Das New Deal mußte infolgedessen eine ganze Reihe von sich teilweise überschneidenden Organisationen schaffen, die für die Unterstützung der Arbeitslosen bestimmt waren. Die zuerst geschaffene Federal Emergency Relief Administration beruhte auf dem primitiven Prinzip der Natural- und Geldunterstützung der Arbeitslosen ohne jede Gegenleistung. Durch diese Verwaltungsbehörde, deren Leitung Harry Hopkins übertragen wurde, wurden zunächst nur Volksküchen und Kleiderbeschaffungsämter für die Linderung der äußersten Not eingerichtet. Es konnte sich hier nur um eine vorübergehende Maßnahme handeln. Die Ausführung wurde den lokalen Verwaltungsbehörden überlassen, woraus sich sofort eine Anzahl von Korruptionsskandalen ergab.

An die Stelle dieser Organisationen trat 1935 ebenfalls wieder unter Leitung von Harry Hopkins die Works Progress Administration. Diese später durch ihre politische Korruption berüchtigt gewordene WPA war der große Versuch des New Deal, durch produktive Erwerbslosenfürsorge die Arbeitslosigkeit, die von der Wirtschaft offensichtlich nicht beseitigt werden konnte, durch den Staat zum Verschwinden zu bringen. Bereits ein Jahr nach der Errichtung des WPA im März 1936 wurden 3,8 Millionen WPA-Arbeiter gezählt, die für die verschiedensten Aufgaben zu Löhnen eingesetzt wurden, die weit unter dem Existenzminimum lagen. Im Durchschnitt der ersten drei Jahre erhielten die WPA-Arbeiter

124] Notlösung der WPA

55 Dollar im Monat. Sie konnten davon weder leben noch sterben, waren aber vollständig in Abhängigkeit der WPA-Organisation geraten, die über keinerlei Stab von vorgebildeten und eingearbeiteten Mitarbeitern in der Sozialverwaltung verfügte, so daß die lokalen WPA-Organisationen zwangsläufig unter die Herrschaft der korrupten Parteimaschine gerieten, die in den WPA-Arbeitern das willkommene Material lür Wahlkämpfe sowohl im lokalen Bereich wie im Bundesausmaß sahen. Harry Hopkins, der als engster Freund und gefügiges Werkzeug des Präsidenten die WPA beherrschte, hatte damit gleichzeitig ein Mittel in der Hand, widerspenstigen Senatoren, Abgeordneten und auch Governors der Einzelstaaten zu drohen, in ihre Gebiete würden, wenn sie die Regierung im Kongreß nicht unterstützten, keine WPA-Aufträge gelegt, was zu schweren lokalen Mißhelligkeiten führen mußte. Sind doch die Senatoren und Abgeordneten in erster Linie die Anwälte ihrer Staaten und Wahlbezirke, die dafür zu sorgen haben, daß sie einen möglichst großen Anteil des zu verteilenden Kuchens nach Hause bringen.

Die Industrie war der WPA selbstverständlich feindlich gesinnt, zumal unter der Leitung von Innenminister Ickes alsbald die Public Works Administration (PWA) errichtet wurde, der die Durchführung großer Hoch- und llefbauunternehmungen übertragen wurde, zu denen teilweise private Firmen, teilweise aber auch die weit billigeren WPA-Arbeiter herangezogen wurden.

Die WPA hat im Durchschnitt der Jahre 1935–39 jeweils 2,1 Millionen Menschen beschäftigt und hierfür sechs Milliarden Dollar ausgegeben, wobei sich der bereits erwähnte Durchschnitt von 55 Dollar pro Kopf und Monat ergibt. Unzählige Häuser, Straßen und Tausende von verschiedenen Projekten sind auf diese Weise gebaut und durchgeführt worden. Dennoch hat dieses System auch für die Arbeiter der WPA keinen wirklichen Vorteil gebracht, und zwar aus zwei Gründen: einmal weil die Beschäftigung bei der WPA im allgemeinen ein bis höchstens zwei Jahre nicht überschreiten darf. Danach fallen die WPA-Arbeiter der lokalen Fürsorge anheim. Sodann aber, und dies ist der wichtigere Grund, weil die gelernten Arbeiter bei der WPA in die einfachste und

125] Notlösung der WPA

gröbste Arbeit zurückgezwungen werden, durch die zum Beispiel ein Feinmechaniker, dessen Arbeit von einer gewissen Fingerfertigkeit abhängig ist, schon im Laufe einer kurzen Zeit seine bisherige Gewandtheit verliert und sozial endgültig zurücksinkt. Aus diesem Grunde konnte das WPA-System höchstens für die unterste Stufe des ungelernten Arbeiters einen zeitweisen Nutzen bringen, während sie den höher entwickelten Arbeiter für die Zukunft in Anbetracht der scharfen Konkurrenz, der er sich bei einer Neueinstellung gegenübersieht, ruinierte. Es war auch in Europa eine Erfahrungstatsache, daß Arbeiter, die erst einmal einige Jahre von ihrer normalen Beschäftigung ausgeschlossen waren, nur sehr schwer, ja oft überhaupt nicht mehr in ihre frühere Tätigkeit wieder eingeschaltet werden konnten. Die Statistiken der WPA haben dieses bestätigt, ohne daß man in der Lage gewesen wäre, durch die Zuteilung von qualifizierter Arbeit Abhilfe zu schaffen.

Diese Maßnahmen der Roosevelt-Regierung bedeuteten im Prinzip zweifellos den Bruch mit der überlieferten Tradition der Vereinigten Staaten. Der Staat wurde unversehens zu einem Riesenunternehmer, der für WPA und PWA Milliardenbeträge auswarf und von dem Millionen Arbeiter direkt abhängig waren. Da aber gleichzeitig die Fiktion der freien Wirtschaft aufrechterhalten und in der Machtsphäre der Hochfinanz eine wirkliche Reform nicht durchgeführt wurde, da Big Business vor allem im industriellen Mittelwesten, im Gebiet der großen Seen die Regierungsmaßnahmen durch einen "Kapitalstreik" blockierte und sich weigerte, Investierungen vorzunehmen, durch die Arbeiter aufgesaugt worden wären, mußte dieser Versuch in einem heillosen Chaos enden, das große Ähnlichkeit mit dem Zustand Deutschlands während der Epoche Brüning zeigt. Das Prinzip der Teilhaberschaft von Staat und Wirtschaft an der Planung, wie es Roosevelt ursprünglich vorgeschwebt hatte, erwies sich als undurchführbar. Richtige Ansätze hatten durch falsche Handhabung die erhofften Ergebnisse nicht gezeitigt. Eine Abgrenzung der staatlichen von der privaten Sphäre erwies sich als unmöglich. Die Berater Roosevelts, die den ursprünglichen Gehirntrust gebildet hatten, wurden daher zu Ende der ersten Regierungsperiode des Präsidenten ent-

126] Farmbusiness in der Katastrophe

lassen. Moley und General Johnson, der bei der Führung der NIRA verantwortlich gewesen war, wechselten nach dem zweiten Wahlkampf zur Opposition über.

IN och drängender als auf dem industriellen Sektor waren bei der Amtsübernahme Roosevelts die Probleme in der Landwirtschaft. Wir haben bereits gezeigt, wie der Aufbau der kapitalistischen amerikanischen Wirtschaft sich auf den Schultern der Farmer vollzog, die während der Epoche Harding-Coolidge-Hoover zum Stiefkind der USA. herabgesunken waren, nachdem im Weltkrieg infolge des Bedarfs der Alliierten eine ungeheuere Ausweitung der landwirtschaftlich genutzten Fläche im Mittelwesten erfolgt war. Weit über ein Drittel der Bevölkerung der Vereinigten Staaten lebte in unvorstellbarem Elend unter dem Existenzminimum, gleichzeitig aber war der Überfluß der landwirtschaftlichen Produktion, die für den nach dem Weltkrieg plötzlich ausgefallenen Weltmarkt gedacht war, so groß geworden, daß die Farmer buchstäblich in ihrem Weizen, ihrer Baumwolle und ihren sonstigen Agrarprodukten erstickten. Die 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise hatte für sämtliche Agrarprodukte einen Preissturz um annähernd 50 v. H. gebracht, so daß die ohnedies schon überschuldeten Farmer keinen Ausweg mehr vor sich sahen. Die Gesamthypothekenlast der amerikanischen Landwirtschaft betrug 1910 3,3 Milliarden, 1932 aber 10–12 Milliarden Dollar. Gleichzeitig war das landwirtschaftliche Gesamteinkommen von 12 auf 5 Milliarden Dollar zusammengeschrumpft.

Eine Farm nach der ändern kam unter den Hammer, aber die versteigernden Banken fanden schließlich nicht einmal mehr Käufer. Eine einzige Versicherungsgesellschaft, die Metropolitan Life Insurance Co., mußte in diesen Jahren 9600 unverkäufliche überschuldete Farmen mit 2 Millionen Acres übernehmen. Im Mittelwesten und im Süden mehrten sich die Gebiete, in denen über Dutzende und aber Dutzende von Meilen alle Farmhäuser verlassen oder völlig verkommen waren. Die Wildnis, die im

127] Farmer äußerste Ausprägung des Amerikanismus

19. Jahrhundert bis zum Weltkrieg allmählich in dem großen Zug nach dem Westen zurückgedrängt worden war, stand plötzlich wieder auf und erhob sich drohend gegen den Menschen. In einem Land, in dem selbst der Pfarrer seine Tätigkeit als "Job" bezeichnet und ganz unbekümmert von "Church business" spricht, war selbstverständlich die Landwirtschaft und die Bebauung des Bodens und die Fürsorge für ihn niemals etwas anderes gewesen als ein Geschäft, das man ebensogut betreiben konnte wie jedes andere auch. Dies ist nicht etwa die kritische Ansicht des Europäers, sondern die amerikanische Ansicht selbst. "Die gesamte amerikanische Geschichte ist durch den Kampf zwischen Stadt und Land beeinflußt worden. Aber dies war nicht wie in vielen ändern Ländern ein Kampf zwischen verschiedenen Typen der Zivilisation. In den Vereinigten Staaten ist der Farmer ein Teil des industriellen Systems. In den Vereinigten Staaten betrachtet der Farmer seinen Boden, sein Haus und seine Scheune als Business, aus dem er seinen Profit in barem Geld zu ziehen hat."1

Noch 1910 betrug der Anteil der landwirtschaftlichen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung der USA. 33 v. H., 1940 war er auf 24 v. H. abgesunken. Kaum irgendv/o in der Welt hatte der Verstädterungsprozeß in einem solchen Umfange eingesetzt. Der Anteil der Landwirtschaft am Nationaleinkommen hatte sich gleichzeitig von 25 v. H. im Jahre 1910 auf 15 v. H. 1940 vermindert. Es war die große Frage an den New Deal und darüber hinaus an den Amerikanismus überhaupt, ob es gelingen würde, die allmähliche Vernichtung der amerikanischen Landwirtschaft aufzuhalten und ein Agrarprogramm durchzuführen, das die Grundlagen der amerikanischen Gesellschaft, die noch immer agrarisch sind, retten würde. In der Landwirtschaft und im Typus des amerikanischen Farmers hat der Amerikanismus seine äußerste Ausprägung erfahren; in ihm hat die Rationalisierung der amerikanischen Gesellschaft ihren Höhepunkt erreicht. Mit Stolz hatten die Nordamerikaner darauf hingewiesen, daß ihr Farmsystem dazu geführt hatte, daß die USA. 52 v. H. des in der Welt erzeugten Getreides und 42 v. H. der Baumwolle hervorbrachten, daß ihre Fleisch-,

1 Fortune, Februar 1940

128] Negative Agrarpolitik

Zucker- und Tabakproduktion die obersten Plätze in der Weltstatistik erreicht hatte. Also, so war die Schlußfolgerung, hatte sich die Angleichung der Landwirtschaft an die Industrie wunderbar bewährt, war dieser Farmer das Spitzenprodukt landwirtschaftlicher Betätigung in der Welt. Die Produktionszahlen schienen, wenn irgendwo, so auf dem Gebiete der Landwirtschaft zu beweisen, daß amerikanische Methoden, amerikanischer Lebensstil und die amerikanische Einstellung zum Grund und Boden die Zukunft für sich hat.

Gerade auf diesem Felde aber sollte das New Deal seine stärkste moralische Niederlage erfahren, obwohl Henry Wallace, Roosevelts Landwirtschaftsminister (der 1941 zum Vizepräsidenten der USA. aufrückte), in scharfer Analyse die Defekte des amerikanischen Agrarsystems aufgedeckt hatte. Weder er noch seine Berater aus dem Gehirntrust konnten die drängenden Probleme lösen. Die Agrarpolitik des New Deal wurde zu einem System aneinandergestückter Aushilfen, durch die zwar kurzfristige Milderungen der Agrarkrise, niemals aber ihre wirkliche Behebung erreicht werden konnten. Wallace sah als das Grundproblem der mechanisierten amerikanischen Landwirtschaft die Überproduktion an, nachdem der Weltmarkt im Zuge der über die ganze Erde gehenden Autarkiebestrebungen unversehens zusammengeschrumpft war. Das New Deal wollte infolgedessen nicht eine Erzeugungsschlacht der Landwirtschaft in Gang setzen, sondern im Gegenteil, er begann den Kampf gegen die Erzeugung. Dies war der Grundgedanke des 1933 in Kraft getretenen Agricultural Adjustement Act (AAA). Eine wirklich aufbauende Wirtschaftspolitik hätte sich niemals auf eine solch rein negative These festlegen lassen, solange dem Übernuß auf dem Lande in den Städten die furchtbarsten Mangelerscheinungen gegenüberstanden. An keiner Stelle ist klarer zu sehen als in dieser Agrarpolitik, daß das New Deal nicht ein Plan zur Neuformung der nordamerikanischen Gesamtwirtschaft und zu ihrer Angleichung an die Bedingungen dieses Jahrhunderts gewesen ist, sondern ein unzusammenhängendes Konglomerat von Einzelgesetzen, die immer nur von den scheinbaren Bedürfnissen eines bestimmten Teilsektors ausgingen, nie aber von der amerikanischen Wirtschafts- und Sozialverfassung als Gesamterscheinung.

129] Dürre als Bundesgenosse des New Deal

Nur so war es verständlich, daß Wallace in seiner Agrarpolitik ebenfalls ganz mechanistisch von der Kaufkrafttheorie ausging. Er stellte fest, daß der amerikanische Farmer auf allen Gebieten zu viel produzierte, daß infolgedessen ein hemmungsloser Verfall der Preise eingetreten war und durch die Verschuldung der Landwirtschaft das gesamte Agrarsystem erdrückt werden mußte. Wallace zog daraus den Schluß, daß die landwirtschaftliche Produktion radikal bis zu jenem Punkt eingeschränkt werden müsse, bis zu dem sich das Angebot soweit verknappt hätte, daß es der tatsächlichen Nachfrage gleichkomme. Wie man sieht, entsprach also die Theorie, die hinter dieser Agrarpolitik stand, völlig dem klassischen Liberalismus. Dessen waren sich indes die Schöpfer dieser amerikanischen Agrarpolitik durchaus nicht bewußt. Da sie den Farmer durch eine Reihe von Zwangsmaßnahmen und staatlichen Eingriffen veranlaßten, seine Felder nicht mehr zu bebauen und seine Ernten zu vernichten, da sie staatliche Gelder als Prämien dafür aussetzten, daß ein Farmer, der zweihundert Acres besaß, davon nur noch siebzig bebaute, kamen sie sich außerordentlich fortschrittlich, ja revolutionär vor. Tatsächlich gelang es auch, das Nettoeinkommen der Landwirtschaft von 4,3 Milliarden Dollar im Jahre 1933 auf 7 Milliarden Dollar 1935 zu heben. Das schnelle Ansteigen der Preise war allerdings zu einem wesentlichen Teil auf die katastrophale Dürre 1935 und die ihr folgenden Staubstürme und Überschwemmungen 1936/37 zurückzuführen. Es ist unglaublich, aber Roosevelt sah in der Dürre seinen willkommensten Bundesgenossen, der zusammen mit der AAA dieses "Wunder" der Kaufkraftsteigerung der amerikanischen Landwirtschaft vollbracht hatte. Erinnern wir uns hier daran, daß vor allem das Kapital der Konsumgüterindustrie hinter Roosevelt stand und seine Wahlen finanzierte, so konnten diese Auftraggeber mit dem zunächst erzielten Ergebnis in der Tat zufrieden sein. Für drei Milliarden Dollar konnten die Farmer mehr Waren aus den großen Kaufhäusern der Industriestädte, mehr Zigaretten, Radios usw. beziehen, mit Stolz wies man darauf hin, daß es 1933 bereits gelungen war, 7,6 Millionen Acres Weizenfläche von der Bebauung auszuschalten – und dies stets vor dem Hintergrund einer städti-

130] Henry Wallace

sehen Bevölkerung, unter der Millionen nicht wußten, wie sie das tägliche Brot beschaffen sollten! Der Farmer wehrte sich instinktiv gegen diese Politik. Als aber Dürre und Staubstürme der Regierung zu Hilfe kamen, gab er den Widerstand auf und wurde zum willenlosen Objekt der Weisen des New Deal, zumal er zunächst ja auch mit mehr Bargeld in der Tasche klimpern konnte.

In Wirklichkeit war diese Agrarpolitik von Henry Wallace nur eine Fortsetzung der Tradition der negativen Regierungspolitik mit ändern Mitteln, mit den Mitteln des Staatseingriffs, der indes nur sinnvoll sein kann, wenn er von gesamtwirtschaftlichen Erwägungen geleitet wird, wie dies zur gleichen Zeit in Deutschland geschah. Wallace, der in jener Zeit außenpolitisch noch nicht der allgemeinen späteren Verblendung anheimgefallen war, hat den erstaunlichen Erfolgen des Reichsnährstandes in den ersten Jahren nach der nationalsozialistischen Machtübernahme auch entsprechende Achtung gezollt, ohne daß er freilich begriff, daß diese Erfolge nur deshalb möglich waren, weil die deutsche Agrarpolitik gerade nicht den kurzsichtigen Interessenstandpunkt eines Standes zugrunde legte.

Nur zu bald sollte sich denn auch herausstellen, daß durch die Agrarpolitik des New Deal, selbst wenn sie nicht vom Obersten Gerichtshof verworfen worden wäre, prinzipiell an der Lage des amerikanischen Farmers wenig geändert worden ist. Die Verschuldung war durch die staatliche Kreditgewährung zwar zurückgegangen. Schon 1937 setzte indes ein neuer Verfall der Agrarpreise ein, da der kurze Aufschwung nur zu einer weiteren Mechanisierung der landwirtschaftlichen Produktion geführt hatte, ohne daß die Grundfrage, nämlich eine prinzipielle Reform des Verteilungsapparates, geregelt gewesen wäre. Einige Jahre nach dem Beginn des New Deal sah man sich demselben Problem wieder gegenüber wie im Jahre 1933. Drohend und düster aber tauchte dahinter das Gespenst der völligen Vernichtung des amerikanischen Bodens durch den furchtbaren Gegner der Wasser- und Winderosion auf.

131] The man made desert

äs die Erosion in Nordamerika bedeutet, kann wohl niemand ganz ermessen, der nicht in den Südstaaten oder in den Prärieländern des Westens selbst auf jene trostlosen Einöden gestoßen ist, die oft plötzlich aus grünen Wiesenlandschaften als furchterregende Zeugen der Zivilisation herauswachsen. Der Amerikaner nennt diese vom Tode bedrohte oder schon erstorbene Landschaft "the man made desert" – die vom Menschen hervorgebrachte Wüste. Als wir an der Grenze von Tennessee und North Carolina zum erstenmal auf eine solche Wüste trafen, war es schon Nacht. Der Mond war aufgestiegen und beleuchtete mit silbrigem Schimmer die sanften Hänge und Wiesen zu beiden Seiten unserer gewundenen Bergstraße. Wir hatten den Tag über die herrlichen Steineichenwälder, die riesigen wilden Rosenbüsche und hohen Jukasträuche, die den Südabhang der Smoky Mountains zu einem der schönsten Gebiete der Vereinigten Staaten machen, nach langen Autotagen in sengender Hitze genossen. Am Abend waren wir an traurigen Farmhäusern vorbeigekommen, deren trostlose öde uns nach der wilden Üppigkeit der Smokies melancholisch berührt hatte.

Da mit einemmal, vom Auto aus erst allmählich erkennbar, verwandelte sich die Landschaft in einer fast unheimlichen Weise. Die Wiesen hatten aufgehört, an ihrer Stelle war ein Gewirr von Kratern und Trichtern getreten. Für den ersten Blick sah es aus, als ob wir mitten in ein von schweren Granaten aufgewühltes Schlachtfeld geraten seien. Die Meilen zogen sich hin. Wir hielten immer wieder an, um vom Straßenrand aus beim unsicheren Licht des Mondes besser sehen zu können, um was es ich hier eigentlich handeln könne. Je weiter wir kamen, desto unheimlicher wurde diese Trichterlandschaft. Nun waren die Gräben schon weit über mannshoch. Wir beschlossen, daß wir dieses eigenartige Bruchfeld bei Tage sehen müßten, und übernachteten in einem kleinen Ort, der mit seiner einen grell beleuchteten Straße und seinem etwas windschiefen Gasthof wirkte, als läge er am Ende der Welt. Als wir am nächsten Morgen das stickige Hotelzimmer verließen, sahen wir, daß wir mitten in einer Wüste waren. Soweit

132] Erosion als Todfeind

das Auge reichte, nichts als kahler, vom Regenwasser ausgewaschener rotbrauner Lehm. Graben neben Graben. Kein Baum, kein Strauch, kein Grashalm. Selbst die arabische Wüste schien uns damals in der Erinnerung verglichen mit dieser Landschaft noch von lieblicher Freundlichkeit. Wir waren in einem Gebiet des "man made desert", das sich, wie wir nun erfuhren, über 130 Quadratkilometer erstreckte.

Die ungeheuren Regenmengen im Gebiet der südlichen Appalachen und der Smoky Mountains waschen unerbittlich den Humus weg, wenn die Erdrinde nicht einen Pflanzenwuchs trägt, der den Boden bindet – also Gras, Wald oder Klee. Wo überall man in dieser Mittelgebirgsgegend die Abhänge gepflügt und Mais oder Weizen gebaut hat, entstehen alsbald jene Rinnen an der Erdoberfläche, die zuerst noch unscheinbar in den Feldern auftreten, sich von Jahr zu Jahr erweitern, bis die menschliche Bodenkultur von den zahllosen Bachbetten Quadratmeter um Quadratmeter zurückgedrängt und allmählich vernichtet wird. Der Tod jedes Pflanzenwuchses und das Ende jeder menschlichen Lebensmöglichkeit ist das Schicksal einer solchen Landschaft.

Rund zwölftausend Quadratkilometer, das entspricht der Größe von Sachsen, sind im Süden in der näheren Umgebung des Tennesaeetales durch schwerste Erosion bereits unkultivierbar geworden. VIerzigtausend Quadratkilometer, das entspricht einem Gebiet von Württemberg, Baden und Hessen zusammengenommen, zeigten dort 1938 Erosionserscheinungen, die mit Sicherheit ebenfalls zum Tod der Kulturlandschaft führen müssen, falls nicht in diesen Jahren entscheidende Gegenmaßnahmen getroffen werden. Nicht selten kommt es vor, daß ein einziger schwerer Regenfall in den Mais- und Baumwollgebieten eine 2,5 cm dicke Humusschicht fortschwemmt. Die Farmer haben hier im Süden ebenso wie in den Präriestaaten des Mittelwestens nach der wilden Abholzung Anbaumethoden angewandt, die zum Kulturtod und Untergang ganzer amerikanischer Großlandschaften führen müssen, wenn nicht sofortige Hilfe eingreift. Dazu kommen die Hochwasser des Tennessee, des Ohio und des Mississippi, die bereits Millionenwerte vernichtet haben, ehe überhaupt der Entschluß ge-

133] Ein Drittel der landwirtschaftlichen Fläche bedroht

faßt wurde, den Kampf gegen die Naturgewalten im großen Stile aufzunehmen.

Die Ausdehnung des insgesamt in den Vereinigten Staaten durch die Erosion von Wasser und Wind bedrohten Gebiets, das durch falsche Bodenkulturen vom Menschen selbst in Gefahr gebracht worden ist, grenzt ans Phantastische. 200 000 Quadratkilometer sind durch die Wassererosion bereits zerstört, weitere 200 000 Quadratkilometer sind bereits so weit ausgewaschen, daß sie produktiven Zwecken nur noch bedingt zugeführt werden können und in weiteren 400 000 Quadratkilometern zeigt die Humusschicht durch die Wassererosion bereits bedenkliche Austrocknungserscheinungen. Dazu kommen im Nordwesten 20 000 Quadratkilometer, die durch die Staubstürme bereits völlig ausgeblasen und zerstört sind, und weitere 240 000 Quadratkilometer, für die die Winderosion eine ernste Gefahr bedeutet. Insgesamt sind weit über eine Million Quadratkilometer in Gefahr, sich in "man made desert" zu verwandeln: das entspricht einem Gebiet von zweimal der Größe Frankreichs. Es ist ein Siebentel der Gesamtoberfläche der Vereinigten Staaten. Die gesamte landwirtschaftlich genutzte Fläche einschließlich der Weiden ist 1930 auf etwas über drei Millionen Quadratkilometer berechnet worden. Rund ein Drittel dieser Fläche ist in diesen Jahren entweder schon unbenutzbar geworden oder befindet sich in der schwersten Gefahr, durch den Wind ausgeblasen und durch den Regen ausgewaschen oder durch die Überschwemmungen zerstört zu werden.

Man sollte glauben, daß ganz Amerika, seit die tödliche Gefahr erkannt ist, sein gesamtes nationales Leben nur auf das eine Ziel gerichtet hat, sie rechtzeitig zu bannen und durch eine gewaltige Kraftanstrengung die Rettung seines Kulturbodens zu erzwingen. Das Erstaunliche jedoch ist, daß in den großen Städten, die oft hart am Rande der gefährdeten Gebiete liegen, mit Ausnahme der Fachleute, sich kaum jemand für diese Dinge interessiert. Die Zeitungen und Zeitschriften, die für jeden Eheskandal eines leidlich reichen Mannes Spalten und Spalten zur Verfügung haben, die Tag für Tag ihre Leser durch verzerrte Berichte aus Europa unterhalten, rühren dieses Problem nur dann an, wenn es durch

134] Ein richtiger Anlauf –

eine Diskussion in Washington zur innerpolitischen Sensation wird. Daß aber die tödliche Bedrohung Amerikas durch die Rache der sinnlos ausgebeuteten Natur die eigentliche Sensation ist, die dies Land dem objektiven Beobachter bietet, nehmen sie nicht wahr. Auch dies ist eine Folge des amerikanischen Mythos, unter dessen Bann der Mensch nun auf einen scheinbar unendlichen Fortschritt ausgerichtet war, den er durch Raub und Ausbeutung zu erreichen hoffte, während er allein durch Pflege und Planung zu erreichen gewesen wäre.

Die Kreise des New Deal beschäftigten sich selbstverständlich vom Amtsantritt Roosevelts an mit der Gefahr der Erosion. Wallace schlug ein umfassendes Reformprogramm vor. Es war jedoch bezeichnend, daß in einem Bericht an den Präsidenten1 zwar die Gefahr zugegeben, aber gleichzeitig betont wurde, sie sei nicht so ernsthaft, weil selbst in den am meisten gefährdeten Gebieten noch genügend ungenutztes Land vorhanden sei, so daß die Nahrungsmittel- und Faserversorgung der USA. keineswegs bedroht sei. 1934 wurde von dem dem Innenministerium unterstehenden "Land Resources Board" ein Plan zur Aufforstung vorgelegt, und schon vorher war das "Civilian Conservation Corps" (CCC), der im wesentlichen nach deutschem Muster organisierte Arbeitsdienst, in den bedrohten Gebieten zur Anlage von Terrassen in den erodierten Hügellandschaften eingesetzt worden. 1936 schließlich wurde vom Kongreß der "Soil Conservation and Domestic Allotment Act" beschlossen, durch den den Farmern der bedrohten Gebiete Mittel zum Kampf gegen die Bodenerosion zur Verfügung gestellt wurden. Sowohl die 500 Millionen Dollar, die zunächst für diesen Zweck bewilligt wurden, wie die Maßnahmen des Innenministeriums und der Einsatz der CCC standen jedoch in keinem Verhältnis zu dem wahrhaft gigantischen Ausmaß der Gefahr. Der Generalstab des New Deal vermochte mit Hilfe der Wissenschaft-

1 Report of the Presidents Research Committee on Social Trends, New York 1933.

135] – bleibt Stückwerk

lichen Vorarbeiten der landwirtschaftlichen Hochschulen die Bedrohung, die bis dahin von keinem USA.-Präsidenten als nationales Ereignis angesehen worden war, wohl zu erkennen, er vermochte auch die richtigen wissenschaftlichen Methoden anzuwenden, aber im ganzen genommen blieben die Gegenmaßnahmen im Stadium des Experiments stecken.

Schon in seinen Wahlreden hatte Roosevelt auf all diese drängenden Probleme hingewiesen, ein richtiger Anlauf war erfolgt, aber das durchgreifende nationale Programm der Bodenerhaltung blieb aus. Im Kongreß weigerten sich die Vertreter derjenigen Staaten, die nicht zu den dringendsten Notgebieten gehörten, die Bodenfrage als so vordringlich anzusehen, wie sie in Wirklichkeit war. Der Oberste Bundesgerichtshof bestritt, daß landwirtschaftliche Probleme durch Bundesgesetz geregelt werden dürften, und behauptete, dies sei nach der Verfassung den Einzelstaaten vorbehalten. Infolgedessen mußte man sich entschließen, die Durchführung des "Soil Conservation Act" ab Januar 1938 den einzelnen Governors zu überlassen, wodurch ein schnelles und großzügiges Handeln selbstverständlich nicht mehr möglich war. Die regionalistischen und partikularistischen Tendenzen, mit denen das New Deal auf allen Gebieten zu kämpfen hatte, traten vielleicht nirgends krasser als bei der Bodnnfrage in Erscheinung. Wenn weite Gebiete plötzlich von einem neuen Unheil bedroht wurden, wie etwa der Mittelwesten von den Staubsturmkatastrophen 1934/35 oder die Staaten des Mississippibeckens von den verheerenden Hochwassern des Jahres 1937, war der Kongreß wohl zu bewegen, gelegentlich auch große Geldmittel zur Verfügung zu stellen; ein sinnvolles Ineinandergreifen der einzelnen Maßnahmen durch eine alle Widerstände brechende Gesamtplanung wurde jedoch durch das System der Demokratie immer wieder verhindert. Für den objektiven Beobachter mag die Engstirnigkeit des Kongresses, gewisser oppositioneller Governors der Einzelstaaten und der Interessentengruppen unverständlich erscheinen. Tatsächlich aber ist die Roosevelt-Regierung niemals in der Lage gewesen, diese Schranke zu überspringen, die ihrem Reformprogramm, auch dort, wo es dringendsten Notwendigkeiten entsprach, den Weg versperrten.

136] Experiment im Tale des Tennessee

Dies sollte sich nirgends, fast wäre man geneigt zu sagen, tragischer erweisen als bei dem einzigen Projekt des New Deal, das seiner ganzen Anlage nach dazu geeignet schien, die erstarrten politischen und wirtschaftlichen Lebens- und Denkformen in den Vereinigten Staaten mit einem gewaltigen Ruck wirklich revolutionär zu durchbrechen. Wir meinen den großen Versuch einer modernen Landschaftsgestaltung, der im Tale des Tennessee 1933 durch die "Tennessee Volley Authority" (TVA) begonnen wurde. Das Einzugsgebiet des Tennessee, das mit 41 000 Quadratmeilen ungefähr so groß ist wie die Ostmark, Oberbayern und Niederbayern zusammen, war seit langem das schlimmste Notstandsgebiet der USA. Die Lebensbedingungen, die wir in dieser Gegend noch fünf Jahre nach dem Einsetzen der TVA-Arbeit sahen, waren erschütternd. Das Schicksal der "Poor White", der armen Weißen in dieser Gegend, unterschied sich nicht mehr von dem der Neger, ja Tausenden von Negern in anderen Gegenden dürfte es weit besser gehen als vielen der zwei Millionen Einwohner des Tennesseegebietes. Hier nun beschloß der New Deal ein Probestück, ein "Metermaß" ("Yardstick") seiner Planung zu schaffen, das für die Landschaftsgestaltung des gesamten nordamerikanischen Kontinents vorbildlich und bahnbrechend sein sollte.

Am Mittellauf des Tennessee befand sich noch aus dem Weltkrieg das damals vom Bund errichtete Kraftwerk und die Stickstofffabrik von Muscie Shoals. Der Kongreß hatte zweimal beschlossen, daß dieses Werk als Staatseigentum weiterbetrieben werden sollte. Coolidge und Hoover hatten dies aber durch ihr Veto verhindert, da sie der Überzeugung waren, daß die Bundesregierung keine Industriebetriebe in Besitz haben dürfte. Roosevelt übernahm sofort beide Werke, übertrug sie der TVA und stellte ihr die Aufgabe, ein ganzes System von Staudämmen zu errichten, die, hintereinander gestaffelt, von den Quellnüssen des Tennessee bis dicht an seine Mündung in den Ohio einander folgen sollten. Elf solcher Riesendämme sollten die immer wiederkehrende Überschwemmung an der Mündung des Ohio und des Mississippi verhindern, die zu einem wesentlichen Teil auf die Wassermassen zurückzuführen sind, die der Tennessee beiden Strömen zubringt.

137] Schicksal einer Großlandschaft

Dies war der Anlaß. Bis zur Errichtung der TVA war die Sorge für die Regulierung des Flusses und der Erosionsschäden rings an seinen Ufern den sieben Staaten zugefallen, die er durchläuft. Das wurde nun der TVA übertragen. Als unabhängige Bundesbehörde sollte sie praktisch für das ganze Schicksal einer Großlandschaft verantwortlich sein. Neben die Aufgabe der Hochwasserregulierung traten nämlich sofort andere, nicht minder wichtige Aufgaben. Als man in Washington mit dem Aufbau des TVA-Programms begann, sagte man sich, daß man es kaum verantworten könne, 500 Millionen Dollar für die Erbauung der elf Dämme auszugeben, wenn man nicht gleichzeitig die dabei anfallende Wasserkraft ausnützen würde. Damit aber wurde das Problem politisch; denn die Erzeugung von Elektrizität war bisher ausschließlich Sache von Privatgesellschaften, die Staudämme (unter anderem auch einen am Tennessee) nach ihrem privaten Gutdünken errichteten, um die gewonnene Elektrizität in der umliegenden Gegend verkaufen zu können. Diese Privatgesellschaften sahen in der TVA plötzlich eine staatliche Konkurrenz entstehen. Sie beschlossen sie um jeden Preis zu bekämpfen.

Die TVA begann alsbald mit dem Schlagwort "Elektrizität für alle" in ihrem Gebiet eine gewaltige Propaganda zu entfalten. Die Strompreise ihrer ersten fertiggestellten Kraftwerke unterboten die privaten um mehr als 50 v. H. Dies Schlagwort "Elektrizität für alle" kann man nur verstehen, wenn man im Tennesseetal mehrfach nachts größere Strecken mit dem Auto gefahren ist. Fast nirgends in jenen armseligen Farmerhütten kann man elektrisches Licht entdecken. Hier herrscht noch die ölfunzel. Neun Millionen Farmhäuser hatten 1937 in den Vereinigten Staaten noch keinen Anschluß an elektrische Leitungen. In den Staaten des Tennesseegebiets waren nach einer Zählung von 1930 weniger als drei v. H. der Farmer elektrifiziert! Zu den Strompreisen der Privatgesellschaften war eine Ausdehnung der Elektrifizierung so gut wie ausgeschlossen; das bedeutete, daß eine zeitgemäße Verwertung der Milchprodukte in diesem heißen Klima nur bedingt möglich war, und dies war wiederum einer der Gründe, weshalb man von der die Erosion verhütenden Gras- und Viehwirtschaft zu dem

138] Schicksal einer Großlandschaft

gefährlichen Mais- oder Baumwollanbau übergegangen war, durch den die Vernichtung so weiter Landstrecken durch Wassererosion möglich geworden ist. So schließt sich der Kreis. Ohne Elektrizität keine Viehwirtschaft, ohne Viehwirtschaft kein Grasanbau, ohne Gras: Erosion und Kulturtod.

Um die TVA gruppierte sich infolgedessen ein ganzer Stab von Sonderorganisationen für die planmäßige Aufforstung, Terrassierung (nach diesen Plänen würden weite USA.-Landstriche später einmal den Terrassenkulturen der chinesischen Lößgebiete gleichen), für die Beratung der Landwirte zur Einführung einer richtigen Fruchtfolge und für die Heranziehung neuer Handwerker und von Kleinindustrie auf Grund des billigen Stromes. Hier schien in der Tat ein neues, zukunftsreiches Amerika entstehen zu wollen. Nirgends in den Vereinigten Staaten sind wir auf einer ausgedehnten Reise auf einen ahnlichen Einsatzwillen gestoßen. Ein Unternehmen war mit der TVA im Entstehen begriffen, das im Rahmen des übrigen New Deal wie ein eigenartiger Fremdkörper wirkte. Nur ein Bruchteil der Amerikaner war sich darüber klar, daß dieses "Probestück", in dem zum erstenmal der Versuch einer wirklichen Gemeinschaftsleistung gemacht wurde, die weittragendsten Folgen hätte haben können. Das Gebiet der TVA begann sich etwa um das Jahr 1938 zu einer "Bundesprovinz" zu entwickeln.

Schon hatte der greise Senator Norris, der vor allem hinter dem TVA-Projekt stand, einen Gesetzesvorschlag eingebracht, der auf die Einteilung der Vereinigten Staaten in ein System von sieben großen Bundeskraftprovinzen hinauslief. Ebenso wie das Tennesseetalgebiet die Grenzen der Einzelstaaten überschneidet, sollten diese sieben Kraftprovinzen nun auch nach dem Gesichtspunkt der großen natürlichen Landschaften zueinandsrgeordnet werden. In jeder dieser Kraftprovinzen sollte eine riesige Staudammanlage Lebensnerv und Zentrum der künftigen wirtschaftlichen Entwicklung sein. Die im Westen entstandenen großen Dammanlagen schienen eine solche Entwicklung vorzubereiten. Aussichten eröffneten sich, vor denen das bisherige Programm des New Deal als kümmerliches Stückwerk erscheinen mußte.

Hier aber setzte daa Großkapital zum entscheidenden Angriff

139] Gegenangriff des Finanzkapitals

an. Und, um das Ergebnis vorwegzunehmen, es siegte auf der ganzen Linie. Roosevelt, der entweder die Konsequenzen des TVA-Programms nicht begriffen hatte, oder aber, was weit wahrscheinlicher ist, diese Konsequenzen überhaupt nicht wünschte, wich zurück. Die für einen Augenblick über dem dunkel verhangenen amerikanischen Himmel gelichteten Wolken schoben sich dichter denn je zusammen. Das Probestück sollte für unabsehbare Zeiten ein Bruchstück bleiben, das für die Gesamtentwicklung der USA. ohne wesentliche Bedeutung ist. Das Finanzkapital der Elektrizitätsindustrie vertritt die Interessen von mindestens zwölf Milliarden Dollar. Es ist in gewaltigen Holdinggesellschaften zusammengefaßt, in denen die Betriebe ohne Rücksicht auf ihre geographische Lage und auf die sonstigen allgemeinwirtschaftlichen Bedingungen miteinander verbunden sind. In der Periode Hoovers erst war die phantastischste dieser Holdinggesellschaften der Elektrizitätswirtschaft, die des Juden Snmuel Insull, der nicht weniger als 61 einzelne Gesellschaften kontrollierte, in einem gewaltigen Skandal verkracht. Trotzdem konnten es die Kapitalisten der Elektrizitätsindustrie wagen, sich dem TVA-Programm unter Einsatz ihrer ganzen Macht entgegenzustellen, ohne daß sie von der Empörung des Volkes zurückgeschlagen wurden!

Aber gibt es in unserem Sinne überhaupt ein Volk in USA? Die Roosevelt-Regierung jedenfalls entschloß sich zum Paktieren. Das Elektrizitätskapital bestach zunächst den von Washington eingesetzten Vorsitzenden der TVA, einen gewissen Arthur E. Morgan. Seine Mitdirektoren bezichtigten ihn vor einer Kongreßkommission offen der Sabotage an der TVA im Interesse der privaten Kraftgesellschaften1. Morgan (er hat mit der Bankierfamilie Morgan nichts zu tun) erklärte plötzlich, der billige Strompreis der TVA sei eine rein propagandistische Maßnahme und beruhe auf keiner Rentabilitätsrechnung. Nachdem auf diese Weise der Boden vorbereitet war, führte Wendell Willkie, der Präsident der mächtigen "Commonwealth and Southern"-Elektrizitätsgesellschaft, den entscheidenden Schlag gegen die TVA und die staatliche Planung der Elektrizitätswirtschaft. Er erklärte sich bereit, an die TVA einige

1 New York Times vom 27. Mai 1938.

140] Willkies erstes politisches Auftreten

von seiner Gesellschaft kontrollierte Kraftwerke im Tennesseetal zu verkaufen, um dadurch in diesem Gebiet eine einheitliche Planung zu ermöglichen, aber nur unter der Bedingung, daß die Regierung zustimmte, daß weder eine weitere Ausbreitung der TVA, noch eine Wiederholung des Experiments in anderen Gegenden in Betracht käme1. Der Handel kam tatsächlich im Frühsommer 1938 zustande. Die Regierung erklärte sich mit den von Willkie – als dem Interessenvertreter der zwölf Milliarden Dollar Elektrizitätskapital – aufgestellten Bedingungen einverstanden. Die Reichweite der TVA wurde endgültig begrenzt. Das große Projekt des Senator Norris, der Errichtung von sieben Kraftprovinzen, versank lautlos in den Archiven des Kongresses.

Roosevelt, der nach seinem zweiten Amtsantritt 1937 im Prinzip für dieses Projekt eingetreten war, ließ plötzlich nichts mehr von sich hören. Warum und weshalb wird wohl eine spätere Geschichtsschreibung erst völlig aufdecken. Im Tennesseetal wurde die bereits bestehende Organisation nach dem vorhandenen Plan weiter ausgebaut, aber dabei hatte es sein Bewenden. Willkie schließlich erreichte es, daß die "Commonwealth and Southern" für ihre Kraftwerke im Tennesseetal 78,6 Millionen Dollar erhielt, obwohl die Schätzer der Bundesregierung ihren Wert nur auf 55 Millionen beziffert hatten. Diese 23 Millionen Dollar mehr, die der amerikanische Steuerzahler an die Gesellschaften des Mr. Willkie bezahlen mußte, haben nicht gehindert, daß zwei Jahre später derselbe Mann als Republikanischer Präsidentschaftskandidat auftrat. Es war im höchsten Maß eigenartig, daß die Demokraten die Rolle Willkies im Kampf gegen die TVA im Wahlkampf nur sehr geringfügig auswerteten. Alles spricht dafür, daß das Probestück TVA ein Probestück dafür gewesen ist, daß die maßgebenden Kräfte des New Deal den Mitteln und Lockungen nicht widerstehen konnten, die die Hochfinanz auszuspielen wußte. Das höchst eigenartige Verhältnis RooseveIt-Willkie, das sich dann 1940/41 vor den Augen der erstaunten Öffentlichkeit zu entwickeln begann, mag Hintergründe haben, die die Amerikaner sehr erstaunen würden, wüßten sie sie.

1 New York Times vom 15. Mai 1938.

141] Die Wüste wächst weiter

Anfang Juli 1937 hatte Roosevelt in einer Botschaft an den Kongreß über regionale Planungen erklärt: "Die Wasserkräfte der Nation müssen vor privaten Monopolbetrieben geschützt und zum Wohle des Volkes verwandt werden." Ein Jahr später ließ er es zu, daß die kraftvollen Ansätze einer neuen regionalen Planung, für die er selbst eingetreten war, durch das private Monopolkapital vernichtet wurden. 1936, vor der zweiten Roosevelt-Wahl, hatte Wallace geschrieben: "Vielleicht die schärfste Anklage, die gegen das kapitalistische System erhoben werden kann, ist die Art und Weise, in dar der entfesselte Individualismus sich bei der Ausbeutung der natürlichen Grundlagen auswirkt: So nämlich, daß die physischen Unterlagen des ewigen nationalen Lebens zerstört werden." Wallace erinnerte damals an Nordwestchina und Kleinasien als warnende Beispiele1. Im Jahre 1940 aber stellten Albertson und Waver, zwei amerikanische Gelehrte, fest, daß sich der Staubkessel im amerikanischen Mittelwesten in den vier letzten Jahren um Hunderte von Quadratmeilen vergrößert und daß die am schlimmsten mitgenommenen Gegenden einen völlig wüstenartigen Charakter angenommen hatten. Im Mittelpunkt der sich neubildenden Wüste sei der Erdboden mit drei Fuß hohen Staubdünen bedeckt, Disteln und Kakteen seien die einzigen Pflanzen, die dort noch wachsen. Dieser Bericht der "American Association for the Advancement of Science" war in der Tat ein vernichtendes Urteil über sieben Jahre New Deal. Programme waren entworfen worden. In kleinem Stil und manchmal auch in größerem Ausmaß hatte man hier und dort experimentiert, aber die entscheidenden Grundprobleme waren kaum einen Schritt der Lösung näher gekommen. Es war dies just jene Zeit, in der die Führung der Vereinigten Staaten sich anschickte zu verkünden, daß der amerikanische Lebensstil der erstrebenswerteste Zustand für alle Welt sei.

Doch sind wir der Entwicklung der Dinge vorausgeeilt. Um die Jahreswende 1936/37 schon traf das Ereignis ein, durch das Prä4 Henry Wallace, Whose Constitution], a. a. O.

142] Oberster Gerichtshof verwirft New Deal

sident Roosevelt sich endgültig gezwungen sah, den bisherigen Weg des New Deal zu verlassen, um sich als Matador auf die Bühne der Weltpolitik zu begeben.

Die Gesetzgebung des New Deal besaß im ganzen, wie wir gezeigt haben, nichts Revolutionäres oder gar Außerordentliches. Mit dürren Worten gesagt, handelte es sich lediglich darum, daß die Vereinigten Staaten im großen Umformungsprozeß, der über die Welt ging, sich den Bedingungen angleichen mußten, unter denen sie nun zu leben gezwungen waren. Daß der Staat hierbei sich beständig größere Rechte sichern mußte, war nicht mehr als selbstverständlich. Das Ergebnis der Eingriffe des New Deal in die Wirtschaft entsprach nur etwa dem Zustand, der in den liberaldemokratischen Staaten Europas längst bestand. Und dennoch widersprach dieses Experiment offensichtlich der zum amerikanischen Mythos verdichteten Tradition. Das Volk sowohl wie der Kongreß, die nur das Nächstliegende sahen – die Überwindung der Krise – waren sich dessen in den ersten Jahren des New Deal nur unklar bewußt. Hier aber trat nun der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten in die Schranken und warf sich zum Hüter der Verfassung, der Tradition und damit schließlich des erstarrten amerikanischen Mythos auf. Fast die gesamte Gesetzgebung der ersten vier Jahre New Deal wurde vom Obersten Gerichtshof unerbittlich verworfen. Das auf der Lehre der Gewaltenteilung von Montesquieu aufgebaute Verfassungsprinzip der Vereinigten Staaten fiel dem Präsidenten und seinem Kreis machtvoll in den Arm. Dem. Präsidenten ist die Exekutive übertragen, dem Kongreß die Gesetzgebung und dem Obersten Gerichtshof die staatsrechliche Überwachung, ob Verwaltung und Gesetzgebung sich mit der Verfassung in Einklang befinden. Alle großen staatsrechtlichen Fragen, wie die Streitigkeiten zwischen Bund und Einzelstaaten sowie zwischen den Einzelstaaten untereinander, und vor allem die Frage, wie weit die Zuständigkeit der Bundesgesetzgebung reicht, wird von ihm entschieden. Seine neun Mitglieder haben sich im Laufe von anderthalb Jahrhunderten ein derartiges Ansehen erworben, daß sie gewissermaßen die Verfassung selbst verkörpern.

Der Oberste Gerichtshof, den Roosevelt vorfand, als er ins Weiße

143] Chief Justice Ch. E. Hughes

Haus einzog, bildete indes keine Einheit. Auf der einen Seite standen vier alte Herren, die in der Tradition der Vereinigten Staaten etwas Unantastbares sahen. Als sture Republikaner hatten sie alle eine Vergangenheit, die sie in irgendeiner Form mit dem schnellen Emporwachsen des Finanzkapitalismus verband. Auf der anderen Seite stand eine Minderheit von drei Bundesrichtern, von denen zwei durch Wilson in den Obersten Gerichtshof entsandt worden waren: die Juden Brandeis und Cardozo. Der dritte, Harlan Stone, war von Coolidge ernannt worden (er ist von Roosevelt im Juni 1941 zum Chief Justice, zum Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofs befördert worden). In der Mitte stand der Chief Justice Hughes zusammen mit dem ebenfalls gemäßigteren Bundesrichter Roberts. Da der Oberste Gerichtshof mit Mehrheitsbeschluß entscheidet, war die Stellungnahme von Hughes und Roberts ausschlaggebend. Viele Urteile gegen das New Deal wurden mit fünf gegen vier Stimmen vom Obersten Gerichtshof entschieden. Ein einigermaßen groteskes System, das allen Zufällen Tür und Tor offen läßt! Und dies um so mehr, als die obersten Bundesrichter ja schließlich ebenfalls aus den beiden Parteimaschinen hervorgegangen sind.

Einer von Hughes Vorgängern war der frühere Republikanische Präsident Taft. Hughes selbst war vordem Governor von New York, später Republikanischer Präsidentschaftskandidat und unter Harding und Coolidge Staatssekretär (1921–1925) gewesen. Eine majestätische und respektheischende Erscheinung, wußte er während der nun folgenden heftigen Kämpfe eine olympische Atmosphäre um sich zu schaffen, die die Auseinandersetzung zwischen dem Obersten Gerichtshof und Roosevelt noch schwieriger gestaltete. Wie Donnerkeile fielen denn auch die Schläge aus dem tempelartigen Gebäude des Obersten Gerichtshofs, dessen marmorene Prunkfassade die überladene Symbolik des dekadenten Rom mit plutokratisch-amerikanischem Geschmack vereinigt. In Hughes schien sich noch einmal die ganze Kraft des amerikanischen Traditionalismus zusammenzuballen. Es darf dabei allerdings nicht übersehen werden, daß er 1916 als Republikanischer Präsidentschaftskandidat von der Morgan- und Rockefeller-Gruppe gemeinsam finanziert worden war und daß er nach seiner Niederlage

144] Donnerkeile gegen das Weiße Haus

prompt zum Ersten Rechtsberater der Standard-Oil-Gesellschaften ernannt wurde. Hoover hatte ihn 1930 zum Chief Jusiice erhoben, nachdem er nach seiner Tätigkeit als Staatssekretär sogar noch einmal den Weg zur Standard Oil zurückgefunden hatte. Seine Karriere war also eng mit dem Finanzkapital verbunden gewesen.

Nachdem im Februar 1935 das sogenannte Goldklauselurteil dem Obersten Gerichtshof bereits als Auftakt der New Deal-feindlichen Entscheidungen gedient hatte, wurde am 6. Mai ein Pensionsgesetz für Eisenbahnbeamte für ungültig erklärt, und zwar, weil es einen Gegenstand behandelte, der nach Ansicht des Obersten Gerichtshofs nur durch die Einzelstaaten, nicht durch den Bund geregelt werden durfte. Dieses Prinzip sollte dann in allen späteren Urteilen des Obersten Gerichtshofs wiederholt werden. Es warf sich zum Beschützer der Rechte der Einzelstaaten auf, da sie für all das zuständig seien, was nicht ausdrücklich in der Verfassung dem Bund vorbehalten sei. Wir haben dieses Prinzip bereits als einen ständig wiederkehrenden Bestandteil des amerikanischen Mythos kennengelernt. Der Oberste Gerichtshof wollte also unter allen Umständen die bisher herrschende Tradition der negativen Regierungspolitik aufrechterhalten. Im übrigen sah die Mehrheit der Bundesrichter ihren Auftrag darin, amerikanische Bürger vor einer Beeinträchtigung ihres Eigentumsrechtes zu schützen. Im Falle des Eisenbahnpensionsgesetzes waren diese "amerikanischen Bürger" die riesigen kapitalistischen Eisenbahngesellschaften. Der Oberste Gerichtshof behauptete, das Gesetz sei "der Versuch, eine bestimmte Klasse von Arbeitnehmern vor Alterssorgen zu bewahren, indem man die Rechte des privaten Eigentums in einer Weise beeinträchtige, durch die die Eisenbahngesellschaften ihre Pflichten dem Publikum gegenüber im zwischenstaatlichen Verkehr nicht mehr erfüllen könnten". Diese Gesetzgebung lag also auf derselben Linie wie Hoovers Ablehnung einer Arbeitslosenunterstützung, als das Land bereits über zwölf Millionen Arbeitslose hatte.

Ebenfalls im Mai 1935 wurde dann aus Anlaß eines belanglosen Einzelfalles die NIRA-Gesetzgebung durch den Obersten Gerichtshof einstimmig außer Kraft gesetzt. In diesem Falle

145] Selbstvernichtung der Demokratie

stimmte auch Brandeis mit den übrigen Richtern, da dieser Teil des New Deal, wie wir bereits ausgeführt haben, seiner Theorie von der Notwendigkeit der Auflösung der amerikanischen Wirtschaft in Kleinbetriebe widersprach. Anfang Januar 1936 wurde dann der "Agricultural Adjustment Act" als ungesetzlich erklärt. Auch hier sprach sich die Mehrheit des Gerichtshofs dahin aus, daß die Regulierung und Kontrolle der landwirtschaftlichen Produktion ausschließlich den Einzelstaaten zustehe und daß der Kongreß für derartige Zwecke kein Geld für Prämien ausgeben dürfe, das aus allgemeinen Steuermitteln aufgebracht worden sei. Diese Entscheidung erfolgte in einem Augenblick, in dem ein erheblicher Teil der amerikanischen Farmer durch die Überschuldung nicht mehr Eigentümer ihres Landes, sondern tatsächlich nur noch Pächter waren, die in ihren verfallenen Farmhäusern von den Banken und Versicherungsgesellschaften gerade noch geduldet wurden.

Der Gerichtshof beschuldigte Präsident und Kongreß der ungesetzlichen Verfassungsüberschreitung durch eine Ausdehnung der Bundesgewalt, die dem Geist der Verfassung widerspreche, die auf den Rechten der Einzelstaaten aufgebaut sei. Die Demokratie führte sich damit selbst ad absurdum. Ein Staat, in dem die letzte Entscheidungsgewalt schließlich auf ein Richterkollegium fällt, das noch dazu unabsetzbar ist und dessen Mitglieder auf Lebenszeit gewählt sind, kann den komplizierten Tatbeständen unserer heutigen Zeit niemals gerecht werden. Roosevelt mußte plötzlich erkennen, daß ihm durch die olympischen Donnerkeile aus dem Marmorgebäude am anderen Ende der Pennsylvania-Avenue der Weg für eine Reform überhaupt versperrt wurde. Grollend erklärte er auf seiner Pressekonferenz, der Oberste Gerichtshof habe die Verfassung im Lichte der "horse and buggy"-Tage ausgelegt, im Lichte einer Epoche also, in der Pferd und Planwagen das amerikanische Leben beherrschten.

Der Oberste Gerichtshof war gewiß in seiner Mehrheit mit jenem Teil des Finanzkapitals verbündet, der in Roosevelt eine Gefahr für die herrschenden Schichten sah, so wenig berechtigt dies auch in Wirklichkeit war. Darüber hinaus aber entstanden diese

146] Felix Frankfurter

Urteile aus der Überzeugung, daß prinzipiell überhaupt jede Angleichung der amerikanischen Gesetzgebung an den Zustand, in dem die Nation jetzt lebte, zu verwerfen war. Die alten Herren glaubten, daß die Krise nur eine Oberflächenerscheinung sei, die automatisch durch das freie Spiel der Kräfte wieder verschwinden würde. Das milde Reformprogramm des New Deal erschien ihnen bereits als "unamerikanisch". Der Zusammenstoß Roosevelts mit dem amerikanischen Mythos war nunmehr erfolgt. Ehe er sich versehen hatte, war er an die Grenzen gestoßen, die die amerikanische Demokratie, die der "American dream" vor jeglichen neuen Gedanken, auch wenn sie sich aus unausweichlichen Zwangslagen ergeben, aufgerichtet hat. Durch das New Deal selbst wären auch ohne das Zwischentreten des Obersten Gerichtshofes die grundlegenden Fragen der Neuformung der amerikanischen Wirtschaft und Gesellschaft niemals gelöst worden. Nun aber kam zu allem Überfluß noch hinzu, daß das New Deal ein Opfer des erstarrten Amerikanismus wurde.

Um die Zeit, da Roosevelt im Jahre 1936 die Vorbereitungen für seinen zweiten Wahlkampf traf, verschwanden die bis dahin maßgebenden Mitglieder des Gehirntrusts aus der Umgebung des Weißen Hauses. Sie wurden durch radikalere Berater abgelöst. Zunächst noch unbemerkt vom breiten Publikum entstand der zweite Gehirntrust. Ungefähr von diesem Zeitpunkt ab gewinnen die Schüler des jüdischen Professors Felix Frankfurter in der Verwaltung in Washington und in der Umgebung des Weißen Hauses das Übergewicht. Dies beruhte nicht auf Zufall. Es ist vielmehr das Ergebnis eines seit langem sorgfältig ausgedachten Planes, durch den sich Frankfurter eine der wichtigsten Schlüsselpositionen in den Vereinigten Staaten zu sichern wußte.

Felix Frankfurter, seit Januar 1939 Mitglied des Obersten Gerichtshofs der USA., ist 1882 in Wien geboren. 1894 kam er nach New York. Zwölf Jahre später verläßt er die Harvard-Universität, wo ihn Brandeis als brauchbaren Zögling entdeckt hatte. Im

147] Felix Frankfurter

Jahre 1906 bereits wurde Henry L. Stimson, der spätere Staatssekretär unter Hoover und Kriegsminister unter Roosevelt, auf ihn aufmerksam. Stimson war damals gerade Staatsanwalt in New York geworden. Im Auftrage Theodore Roosevells, dem Frankfurter ebenfalls bald zugeführt wurde, baute er dieses Amt zu einer umfangreichen Institution aus, die bei dem Kampf gegen die Trusts, der damals geführt wurde, eine Rolle spielte. Stimson kam auf diese Weise mit dem Hause Morgan, das er bekämpfen sollte, in Berührung, wurde aber alsbald einer der politischen Sachwalter der Morgan-Gruppe. Frankfurter fuhr in seinem Kielwasser. Als Stimson 1911 Kriegsminister wurde, nahm er Frankfurter in das Ministerium mit sich. Schon damals war sein Einfluß als der engste Berater des Kriegsministers bedeutend.

Als Frankfurter dann 1914 zum Professor in Harvard ernannt wurde, begann er bereits alle Amter in Washington mit seinen Schülern zu durchsetzen und hieraus ein System zu machen. 1917 wurde er selbst Beigeordneter Staatssekretär im Kriegsministerium und schließlich Vorsitzender des Kriegsarbeitsamtes. Um diese Zeit trifft er mit Franklin Roosevelt zusammen und zieht ihn in den Umkreis des Salons, den er mit Frau Frankfurter in Washington unterhielt und in dem sich zu jener Zeit schon die wichtigsten Minister wie auch englische Diplomaten und reiche jüdische Bankiers trafen.

Die Freundschaft zwischen Frankfurter und Roosevelt ist seitdem niemals mehr unterbrochen worden. War es der Jude Rosenman, der den ersten Gehirntrust auswählte, so fiel Frankfurter die viel umfassendere Aufgabe zu, nicht nur für den Präsidenten, sondern für alle großen Regierungsämter in Washington geeignete Berater auszusuchen. Hierauf aber war Frankfurter seit langem eingerichtet. Schon vor dem Weltkrieg war er zu dem Schluß gekommen, daß die amerikanische Beamtenorganisation denkbar ungenügend war. Er nahm sich als maßgebendes Vorbild den britischen Civil Service, den er mit Unterstützung von Harold Laski, einem jüdischen Professor in London, studierte. Er erkannte hierbsi, daß in einem großen Beamtenapparat demjenigen riesige Macht zufallen müsse, der die Schlüsselpositionen zu besetzen ver-

148] Stellenvermittlung schafft Macht

mag. In England war dies durch die "hundert Familien" der Hocharistokratie seit langern mit Geschick geschehen. Konnte der Aufbau eines neuen Verwaltungssystems in USA. nicht demjenigen, dem diese Aufgabe zufiel, einen fast unbeschränkten Einfluß sichern? Einen Einfluß, der selbst den der Hochfinanz in den Schatten Stellen konnte?

Frankfurter beschloß seine theoretischen Studien praktisch anzuwenden. Sein Seminar in der Harvard-Universität wurde eine Kükenfarm für fähige junge Leute, die Frankfurter auf Grund der ihm nun zur Verfügung stehenden Beziehungen in wichtige Positionen schob. Dadurch, so rechnete er sich aus, konnte er im Laufe der Zeit wie eine Spinne im Netz seine Fäden nach allen Seiten ausdehnen. Zuerst versorgte er Brandeis und andere oberste Bundesrichter mit Sekretären. Als der Jude Eugene Meyer 1932 von Hoover zum Präsidenten der Reconstruction Finance Corporation gemacht wurde, mit der damals die Depression bekämpft werden sollte, stellte ihm Frankfurter beinahe seinen gesamten Stab. Die bereits unter Henry Stimson begonnene Praxis der Stellenvermittlung dehnte sich unabsehbar aus und – dieses Stellungsvermittlungsbüro verschaffte dem scheinbar harmlos hinter seinen Büchern vergrabenen Harvard-Professor eine unheimliche Bedeutung. Seine Leute saßen überall, und die meisten seiner Leute waren Juden.

So übernimmt Frankfurter für Roosevelt die Doppelrolle des Ratgebers und des geheimen Personalchefs für das New Deal. Wo immer neue Leute gebraucht wurden, wandte man sich an Frankfurter, und Frankfurter hatte sie zur Verfügung. Die beiden besten Pferde in seinem Stall waren zwei junge Rechtsanwälte: Tom Corcoran, ein blauäugiger, temperamentvoller Ire (Jahrgang 1900), und Ben Cohen, ein schweigsamer, etwas professoral wirkender Jude ungefähr des gleichen Alters. Nach verschiedenen Umwegen "verkaufte" Frankfurter diese beiden an den damaligen intimsten Berater Roosevelts, den Professor Moley, der sie alsbald für die Abfassung von Präsidentenreden und von Gesetzentwürfen einsetzte. Corcoran und Cohen arbeiteten wie siamesische Zwillinge:

Corcoran geschäftig im Vordergrund, Cohen als die Gedanken-

149] Corcoran und Cohen

maschine im Hintergrund. Ungefähr zwei Jahre nach ihrer Bekanntschaft mit Moley hatten sie ihn mit Frankfurters Hilfe aus dem Weißen Hause verdrängt. "Tommy the Cork", wie er von Roosevelt genannt wird, war nun zum ständigen Berater des Präsidenten aufgestiegen. Zusammen mit Hopkins, Innenminister Ickes und Generalstaatsanwalt Jackson (jetzt ebenfalls im Obersten Gerichtshof) bildeten sie den innersten Kreis des New Deal. Frankfurter sparte sich selbst (ebenso wie Rosenman) für große Aufgaben auf. Es genügte, daß seine jungen Leute täglich das Ohr des Präsidenten hatten.

Corcoran und Cohen sind indes nur die bekanntesten von Frankfurters "Young Boys", die die Organisation des New Deal zu beherrschen begannen. Die amerikanischen Journalisten Alsop und Kintner schätzen, daß mindestens drei- bis vierhundert "Frankfurter Würstchen" in die wie in einem Treibhaus aufschießende Bürokratie des New Deal hineingesetzt wurden. In allen Ministerien wie in den neuen New Deal-Organisationen nehmen sie im allgemeinen den Posten des an zweiter und dritter Stelle Verantwortlichen ein. Nach außen hin werden bekannte Politiker der Demokratischen Partei vom Präsidenten aus taktischen Gründen vorgeschoben, die Richtung aber bestimmen diese dreihundert bis vierhundert New-Dealer, deren Mittelpunkt Corcoran ist, der wiederum seine allgemeinen Richtlinien von Frankfurter erhält. Einige Namen mögen als Beispiel für die Zusammensetzung dieser Avantgarde Frankfurters genügen: Isador Lubin wird der wichtigste Mitarbeiter von Frau Perkins im Arbeitsministerium, der ebenfalls jüdische James Landis wird in die Reconstruction Finance Corporation geschoben. Der Jude Oliphant wird die rechte Hand des Schatzsekretärs Henry Morgenthau, dem der Kreis des New Deal trotz seiner jüdischen Abstammung nicht ganz traut. Mordecai Ezechiel kommt zu Wallace ins Landwirtschaftsministerium, in dem er alsbald die wichtigsten Agrargesetze entwirft.

In das Innenministerium placieren Frankfurter und Corcoran ganze Scharen ihrer Leute, vor allem in die Public Works Administration. Dasselbe gilt natürlich für die WPA und schließlich sogar für das konservative State Department, wo Hull, kein Freund des

150] "Der mächtigste Mann der USA."

New Deal, sich allerdings verhältnismäßig zugeknöpft zeigt. Ihm wird als Beigeordneter Unterstaatssekretär der vordem bereits in der Finanzpolitik des New Deal bewährte Berle zugeteilt, der ebenso wie der spätere Botschafter in London G. Winant zum engsten Schülerkreise Frankfurters gehört. Wir könnten diese Liste über Seiten fortsetzen. Das System tritt indes deutlich genug hervor. Roosevelt selbst verlor natürlich sehr bald den Überblick über diese zahllosen Pflanzstätten Frankfurters. Durch sein Amt und die Macht aus der Schar der New-Dealer herausgehoben, wurde er in vielen Fällen zum Spielball der Intrigen seiner Untergebenen und Berater. Die Atmosphäre von Washington, die früher durch die Lobbies der Hochfinanz und von Big Business bestimmt war, wurde nun vollends undurchsichtig. In einem kleinen roten Haus an der Ecke von R-Street, in dem Corcoran sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte, wurde die Politik entworfen, die der Präsident später ausführte. Die Machtstellung, die sich Frankfurter auf diese Weise geschaffen hat, kann kaum groß genug eingeschätzt werden. Man hat ihn den mächtigsten Mann in den USA. genannt – mit Recht! Der Präsident war von früh bis spät mit seinen Leuten umgeben, die ihm seine Meinung ins Ohr bliesen.

Die geistige Unselbständigkeit Roosevelts, seine Abneigung gegen scharfe gedankliche Durcharbeitung schwieriger Probleme, seine Gewohnheit, sich Reden durch Dritte schreiben zu lassen, dies alles war den Bestrebungen Frankfurters, der geheime Herrscher der Vereinigten Staaten zu werden, überaus dienlich. Wir wissen nicht genau, welche Rolle den Logen hierbei zukommt, doch dürfte sie nicht gering sein. Tatsache war jedenfalls, daß schon bald für jeden, der beim Präsidenten etwas erreichen wollte, die Notwendigkeit bestand, sich mit Frankfurter gut zu stellen.

Dieses System mußte selbstverständlich den Senatoren und Abgeordneten der Demokratischen Parteimaschine mit der Zeit unheimlich werden. Sie sahen den Präsidenten inmitten einer Gruppe von Männern, die bis auf wenige Ausnahmen keinerlei politische Verantwortung trugen, die aber dennoch die Politik des Landes völlig beherrschten. Das mußte zu Schwierigkeiten führen, wie auch das hinter Roosevelt stehende Großkapital der Warenhäuser und der

151] Volksführer?

Leichtindustrie mißtrauisch zu werden begann, soweit es nicht zu den "Eingeweihten" gehörte, da eine große Zahl der von Frankfurter nach Washington gebrachten Rechtskundigen gleichzeitig eine führende Rolle in politischen Organisationen spielten, deren kommunistische Neigungen allgemein bekannt waren. Wir haben damit jenes Stadium erreicht, in dem Roosevelt für kurze Zeit den Versuch machte, seine eigene Machtstellung und das New Deal durch das Aufgreifen von antikapitalistischen Parolen vor dem drohenden Zerfall zu bewahren. Corcoran und Cohen, Hopkins und Ickes waren weit extremere Ratgeber als Moley und der erste Gehirntrust. Es war dieser Kreis, der den Präsidenten anstachelte, er solle den Kampf mit dem lästigen Obersten Gerichtshof, koste was es wolle, aufnehmen.

Als Roosevelt im November 1936 von Hvde Park nach der Wahl nach Washington zurückkehrte, glich sein Einzug in der Hauptstadt beinahe einem altrömischen Triumph. Hatte er 1932 eine Mehrheit von 7 Millionen Stimmen erreicht, so war sie nun auf 11 Millionen gestiegen. Es hätte nur noch gefehlt, so schrieb damals ein amerikanischer Beobachter, daß der geschlagene republikanische Präsidentschaftskandidat Landon in Ketten hinter dem Wagen des Präsidenten dem jubelnden Volke gezeigt wurde. Die Demokraten besaßen die stärkste Mehrheit, über die seit dem Bürgerkrieg jemals eine Partei verfügt hatte. Nur in zwei Staaten waren die Republikaner bei der Präsidentenwahl in der Überzahl gewesen. Roosevelt sah in diesem überwältigenden Wahlerfolg das Mandat der amerikanischen Nation, den mit dem New Deal begonnenen Kurs unbeirrt weiter zu steuern. Er glaubte nun ähnlich wie die europäischen Volksführer ein geeintes Volk hinter sich zu haben. Theoretisch gab es kaum mehr eine Macht in den Vereinigten Staaten, die ihn hindern konnte, das Reformtempo der ersten hundert Tage von 1933 auf die nun vor ihm liegenden vier Jahre auszudehnen. Durch die Wahl von 1936 fühlte sich Roosevelt zum erstenmal als der unumschränkte Herr des nordamerikanischen

152] Diktator!

Kontinents. Das Volk, so glaubte er, hatte bestätigt, daß seine Präsidentschaft ein Wendepunkt in der amerikanischen Geschichte werden sollte.

Den kurzen Zwischenraum bis zum neuen Amtsantritt benützte er zu einer Reise nach Südamerika, die unter dem Schlagwort der "guten Nachbarschaft" als ein riesiges Propagandaunternehmen in Szene gesetzt wurde. Nach seiner Rückkehr schwirrten die intimen Berater eifriger denn je um das Weiße Haus. Auf einer kurzen Sitzung teilte er den demokratischen Parteiführern mit, daß die Session des neuen Kongresses das größte Reformwerk durchzuführen haben werde, das die Vereinigten Staaten bisher gesehen haben. In kurzen Strichen skizzierte er sein Programm. Die erstaunten Parteiführer nahmen zur Kenntnis, daß der Präsident keine Diskussion darüber zuließ, ja, daß er auch keine Einzelheiten bekanntgab. In dem wiedergewählten Roosevelt sahen sie sich unvermutet einem Diktator gegenüber. Und in dieser Richtung gingen auch unbestreitbar die wichtigsten Gesetze, die Roosevelt binnen weniger Monate durchpeitschen wollte. Neben der bereits erwähnten Ausdehnung des Prinzips der TVA auf die ganzen Vereinigten Staaten sollte ein Lohn- und Arbeitszeitgesetz, ein neues Landwirtschaftsgesetz an Stelle des außer Kraft gesetzten AAA und schließlich zwei Gesetze angenommen werden, die den Mittelpunkt des ganzen neuen Systems darstellen sollten: Ein Gesetz zur Reorganisation der Verwaltung, durch das die Präsidentschaft gegenüber dem Kongreß an Macht außerordentlich gewonnen hätte. Roosevelt verlangte, daß der Kongreß seine Kontrolle über die Verwaltung vollständig aufgebe. Gleichzeitig wünschte er eine Verwaltungsreform, die durch die wie Pilze aus der Erde geschossenen zahllosen, in ihren Kompetenzen sich überschneidenden New Deal-Organisationen unerläßlich schien. Über den wichtigsten seiner Gesetzesvorschläge schwieg sich indes der Präsident zunächst noch aus.

Anfang Februar 1937 fand im Weißen Haus der übliche feierliche Jahresempfang für den Obersten Gerichtshof statt. Es war dies die einzige Gelegenheit, bei der der Präsident mit den Mitgliedern des Obersten Gerichtshofs persönlich zusammenkam. Ein schon

153] Roosevelts mißglückter Staatsstreich

während der ersten Präsidentschaft unternommener Versuch, den Chief Justice zu regelmäßigen gemeinsamen Besprechungen der großen politischen Fragen zu veranlassen, war damals von Hughes als "ungesetzlich" abgelehnt worden. Bei diesem Essen nun saßen die alten Herren um Roosevelt und einige Mitglieder des neuen Gehirntrusts versammelt. Niemand ahnte, daß zwei Tage später der Präsident zum großen Schlag ausholen wollte. Selbst sein Kabinett, selbst die wichtigsten Parteiführer im Kongreß waren völlig uninformiert. In aller Stille hatte Roosevelt mit dem Justizminister Cummings, Corcoran und Cohen den Plan ausgearbeitet. Das Kabinett erfuhr ihn eine halbe Stunde bevor er dem Kongreß und der Presse zugeleitet wurde. All dies entsprach dem neuen "Präsidentialstil", den Roosevelt nun glaubte einführen zu könneii.

Diese äußeren Umstände sind deshalb besonders wichtig, weil sich aus ihnen zweifelsfrei ergibt, daß Roosevelt nach der Wahl von 1936 genau das anstrebte, was er später, als er eine schwere Niederlage erlitten hatte, außenpolitisch in jeder seiner Reden leidenschaftlich verdammte: ein autoritäres System. Das Durcheinander, das in der ersten New Deal-Periode durch die Gewaltenteilung zwischen Präsident, Kongreß und Oberstem Gerichtshof entstanden war, schien nach einer autoritären Lösung geradezu zu schreien. Roosevelt war entschlossen sie zu wählen. Durch das Wahlergebnis glaubte er auch, für eine völlige Veränderung der bisherigen Verfassungsgrundlage der USA. die Macht zu besitzen.

Für den europäischen Betrachter wäre eine solche Entwicklung wohl ganz natürlich erschienen, wenn nicht Roosevelt später jenes selbe demokratische System als die einzige Heilsmöglichkeit für die ganze Menschheit angepriesen hätte, das er Anfang 1937 in den Vereinigten Staaten außer Kraft zu setzen suchte (wobei berücksichtigt werden muß, daß die Gesetzesvorschläge über den Obersten Gerichtshof und über die Verwaltungsreform nur den Anfang für noch viel weitergehende Gesetze bilden sollten). Roosevelts Haß gegen das autoritäre Prinzip beruht daher auf seiner Enttäuschung, daß er selbst sich dieses Prinzips nicht hat bedienen können.

Sein am 5. Februar 1935 veröffentlichter Gesetzentwurf über die Neugestaltung des Obersten Gerichtshofes sah vor, daß jedem

154] Roosevelts mißglückter Staatsstreich

Richter, der das siebzigste Lebensjahr erreicht hat und der nicht freiwillig zurücktritt, ein Ersatzmann beigegeben werden sollte, der dann praktisch das Amt zu übernehmen hätte. Dem Präsidenten schwebte dabei offenbar das System der katholischen Kirche vor, die zu alten (oder unbequemen) Bischöfen einen Koadjutor beizugeben pflegt, durch den der residierende Bischof zur Attrappe wird. Da die Obersten Bundesrichter auf Grund der Verfassung unabsetzbar sind, wollte Roosevelt durch diesen Trick um die kaum durchführbare und sich auf Jahre erstreckende Prozedur einer Verfassungsänderung hinwegkommen. (Eine Verfassungsänderung muß, abgesehen von einer Zweidrittelmehrheit im Kongreß, auch von drei Vierteln der Parlamente aller Einzelstaaten ratifiziert werden.) Drei Richter im Obersten Bundesgericht waren dem New Deal zugeneigt; infolgedessen schlug Roosevelt vor, daß der Präsident bis zu sechs solcher Koadjutoren ernennen dürfe. Auf diese Weise, so hoffte er, würde er die sechs unbequemen alten Herren alsbald durch sechs willfährige Werkzeuge ersetzt haben. Die Begründung des Gesetzes war mit Vorwürfen gegen die Unfähigkeit des Alters durchsetzt, die inzwischen, da Roosevelt sich den 74jährigen Stimson zum Kriegsminister geholt hat, besonders eigenartig anmuten. "To pack the Court" – den Gerichtshof parteiisch nach seinem eigenen Willen zusammensetzen, dies war der Schlachtruf des Weißen Hauses. Es war der Versuch eines Staatsstreiches.

Der Plan war kaum veröffentlicht, als etwas Erstaunliches geschah. Nicht die schwache Republikanische Opposition im Kongreß erhob alsbald ihre Stimme gegen den Entwurf des Präsidenten, sondern eine Reihe einflußreicher Demokratischer Senatoren waren es, die schon nach wenigen Tagen öffentlich Widerstand leisteten. Ein Kampf hüb an, von dem die zeitgenössische amerikanische Publizistik nicht mit unrecht gesagt hat, daß es die schärfste Auseinandersetzung seit dem Bürgerkrieg war. Fünfeinhalb Monate lang versuchte der Präsident sein bedrohtes Prestige zu retten, bis er schließlich gezwungen wurde, seinen Vorschlag zurückzuziehen. Die heiße Augustsonne brütete schon über Washington, als die Opposition im Senat den Sieg über das Weiße

155] Roosevelts mißglückter Staatsstreich

Haus endgültig davontrug. Dieser Kampf um die "Supreme Court Bill" wurde zum innerpolitischen Wendepunkt der Präsidentschaft Roosevelts. In ihm stieß der Schöpfer des New Deal an die Grenzen, die ihm das amerikanische System zog.

Die Kräfte, die sich gegen den Präsidenten stellten, umfaßten beinahe das gesamte Volk. Er hatte fest auf die Unterstützung der Farmer und der Gewerkschaften gerechnet. Die Organisationen der Farmer sahen indes in diesem Versuch einer kalten Revolution und einer Aushöhlung der Verfassung einen unerwünschten Bruch mit der amerikanischen Tradition. John Lewis, der Führer der CIO-Gewerkschafien, stimmte zwar im Prinzip mit Roosevelt überein, wollte aber nicht zulassen, daß Roosevelt selbst sich eine fast unbeschränkte Machtfülle aneignete. Er hatte erhebliche Summen zur Wahl beigesteuert und sah daher in Roosevelt sein Geschöpf, außerdem wollte er sich seine eigenen Aussichten auf die Präsidentschaft nicht dadurch verbauen, daß er Roosevelts zweifelhaftes Sozialprogramm unterstützte. Die Farmer, die Gewerkschaften und auch der Mittelstand, die wenige Monate vorher den Wahlsieg Roosevelts getragen hatten, fielen offen von ihm ab. All diese Gruppen sahen in der Verfassung das einzige Bindeglied, das die auseinanderstrebenden regionalen und klassenpartikularistischen Tendenzen zusammenhält. Die Verfassung wird dem Amerikaner in der Schule als das zweite Heilige Buch neben die Bibel gestellt. In ihr fließen alle Kräfte zusammen, die den amerikanischen Mythos ausmachen. "Die großen Prinzipien, die in der Heiligen Schrift, die in der Verfassung der Vereinigten Staaten und in der Unabhängigkeitserklärung enthalten sind, die die Bibel und das Grundgesetz unserer Freiheiten sind, sind heute ebenso wahr wie an dem Tage, an dem sie geschrieben wurden", erklärte in jenen Monaten ein Abgeordneter.

Im Senat waren es vor allem die Demokratischen Senatoren aus dem Süden und Mittelwesten, die das Stopzeichen für den Vormarsch des New Deal gaben. Im Süden ist die Oligarchie der Demokratischen Partei der unbestrittene Alleinherrscher. Bei den Wahlen stellten dort schon seit Jahrzehnten die Republikaner nicht einmal Kandidaten auf. Die Berufspolitiker des Südens sind rauhe

156] Der große Wendepunkt

Gesellen. Seit langem schon mißtrauten sie der "Palastclique" um das Weiße Haus. Frankfurters Leute waren ihnen, die sich nach Sitte, Manieren und Sprache von der jüdischen Intelligenz New Yorks wesentlich unterschieden, höchst widerwärtige Erscheinungen. Diese Clique aber bildete die eigentlich" Regierung, während die traditionellen Berufspolitiker aus dem Süden zuletzt nicht einmal mehr in die Pläne eingeweiht wurden, die man im Weißen Hause schmiedete. Es kam hinzu, daß die konservativen Elemente sich über die Begünstigung des Sitzstreiks der CIO durch Roosevelt immer mehr beunruhigt fühlten und daß sie von der Lohn- und Arbeitszeitgesetzgebung befürchteten, die auf den Negern aufgebaute Arbeitsverfassung des Südens könne durch die schematische Einführung eines gleichen Mindestlohnes bedroht werden.

An die Spitze der oppositionellen Demokraten trat im geheimen Einverständnis mit Vizepräsident Jack Garner der Senator Burton Wheeler (Montana), der einst wesentlich zur Wahl Roosevelts beigetragen und dafür Einfluß auf das Weiße Haus erhofft hatte, den er nie erhielt. Es ist derselbe Wheeler, der später auch die Opposition der Friedenspartei gegen Roosevelts Kriegspolitik anführen sollte. Er erreichte es, daß sich die Republikaner auf eine Verschwörung des Schweigens einigten, um dem Präsidenten die Möglichkeit zu rauben, die ganze Frage auf die Ebene der Parteidisziplin zu schieben. Die Republikanischen Stimmen waren jedoch der Demokratischen Opposition sicher. Das Großkapital der Banken und der Schwerindustrie finanzierte die Propaganda. So kam es schließlich, daß nach heftigsten Kämpfen der Verfassungsausschuß des Senats mit knapper Mehrheit das Projekt Roosevelts verwarf. In ihrem Bericht erklärt diese Senatskommission, der erschlag des Präsidenten sei "unnötig, nichtig, er bedeute eine höchst gefährliche Verletzung des konstitutionellen Prinzips ohne Vorgang und ohne Berechtigung; er verletze die heilige Tradition der amerikanischen Demokratie; unter dem Anschein des Rechts suche er in Wirklichkeit etwas Verfassungswidriges zu erreichen;

und dies sei noch dazu durch beinahe betrügerische Methoden ins Werk gesetzt worden".

So stark waren die Leidenschaften aufgewühlt worden, daß dem

157] Ein geschlagener Mann

Präsidenten der Vereinigten Staaten vom Senat und noch dazu von seinen eigenen Parteianhängern derartiges gesagt werden konnte. Mit Ausnahme des Lohn- und Arbeitszeitgesetzes wurden auch später, als der Präsident durch seine nun alsbald einsetzende Kriegshetze die Kontrolle über den Kongreß wiedererlangte, fast alle seine innerpolitischen Gesetzesvorschläge nicht mehr weiterbehandelt. Vor allem der Gesetz verschlag über die Verwaltungsreform, von der Opposition als "Dictator Bill" bezeichnet, verschwand nunmehr in der Versenkung. Roosevelt, im Winter 1936/37 vielleicht der mächtigste Präsident der USA., war im Sommer 1937 ein geschlagener Mann. Nicht nur der Kongreß, sondern das ganze Land hatte sich gegen ihn gewandt. Der Ruhm des Unbesiegbaren war von ihm genommen. Plötzlich war er wieder nur Politiker unter anderen Politikern. Ein dramatischer Absturz mit schlimmen Folgen!

JL-/as New Deal vermochte sich vom Schlag des Sommers 1937 auch dann nicht zu erholen, als das Problem des Obersten Gerichtshofes längst in den Hintergrund getreten und auf ganz natürliche Weise gelöst wurde, nämlich zum Teil durch den Rücktritt, zum Teil durch den Tod der meisten der neun alten Herren. Bereits im Spätsommer 1937 konnte Roosevelt die erste, durch einen Rücktritt freigewordene Lücke füllen. Bis zum Sommer 1941, als auch der Chief Justice Hughes das Feld räumte, waren acht von den neun Richterstellen durch Vertraute Roosevelts besetzt. Der neunte, Harlan Stone, der einzig Überlebende der drei von vornherein New Deal-freundlichen Richter, wurde Chief Justice. Frankfurter, wie eine Reihe anderer persönlicher Freunde Roosevelts, bestimmte nun das Gesicht des Obersten Gerichtshofes. Von dieser Seite her wäre dem New Deal infolgedessen schon bald keine Gefahr mehr erwachsen. Wie oft im politischen Leben, war jedoch der Anlaß längst hinter den Auswirkungen des Kampfes zurückgetreten. Nicht die Frage des Obersten Gerichtshofes war mehr entscheidend, sondern die Tatsache, daß der Präsident öffent-

158] Folgen der Niederlage

lich vor dem Lande bloßgestellt und daß die Opposition in der Demokratischen Partei zu einer Dauereinrichtung geworden war, die sich nun auch anderer strittiger Fragen bemächtigte. Als entscheidend hatte sich herausgestellt, daß der Wahlsieg des Jahres 1936 keineswegs die Bedeutung halte, die ihm Roosevelt und vor allem Corcoran, Cohen, Hopkins und Ickes zugeschrieben hatten. Der Präsident war eben nicht, wie er geglaubt hatte, von einer großen und echten Volksbewegung getragen, von einer Erneuerungsbewegung, mit der sich auch der erstarrte amerikanische Mythos hätte überwinden lassen. Die Wahlmassen waren vielmehr ein Konglomerat von Interessenten, genau wie die Demokratische Fraktion im Kongreß. Diese ganz verschiedenen Interessen aber ließen sich nicht in einer großen Kraftanstrengung auf ein einheitliches Ziel ausrichten. Der Versuch war von Roosevelt zunächst mit demokratischen Mitteln gemacht worden. Diese hatten versagt. Dann hatte er den Sprung zur Diktatur gewagt, und auch dies war mißglückt, weil dies innerhalb des demokratischen Systems niemals möglich sein konnte.

Roosevelt versank nun nach dem schweren Rückschlag vollends im Strudel der Parteipolitik. Als 1938 die Zwischenwahl für den Kongreß herannahte, versuchte er mit Hilfe von Corcoran und Hopkins die Senatoren und Abgeordneten, die ihm beim Streit um den Obersten Gerichtshof entgegengetreten waren, von der Wiederwahl auszuschließen. Das Volk kümmerte sich indes nicht darum, und sämtliche Gegner Roosevelts in der Demokratischen Partei wurden wiedergewählt. Gleichzeitig aber zeigte der neue Kongreß eine für den Präsidenten weit weiliger günstige Zusammensetzung. Die Republikaner erhöhten die Zahl ihrer Sitze im Repräsentantenhaus von 89 auf 170, im Senat gewannen sie ebenfalls an Sitzen. In den Einzelstaaten siegten 18 Republikaner als Governors. Der Kongreß besaß zwar immer noch eine Demokratische, aber keine New-Deal-Mehrheit mehr.

Der Sommer 1937 war nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich der große Wendepunkt. Ungefähr gleichzeitig mit der Niederlage des Präsidenten in der Frage des Obersten Gerichtshofs begann eine neue scharfe Abwärtsentwicklung der gesamten

159] Das Ende des New Deal

nordamerikanischen Wirtschaft. Das Grundprinzip des New Deal, die auf der Kaufkrafttheorie beruhende Erhöhung der Preise, wurde auf das schärfste bedroht. Sowohl auf dem landwirtschaftlichen wie auf dem industriellen Sektor kündigte sich ein allgemeiner Preisverfall an. Industrie und Handel hatten sich in Erwartung weiterer Preissteigerungen und Lohnerhöhungen mit Vorräten stark eingedeckt. Gleichzeitig hatte der Präsident unter dem Druck von Big Business und des Kongresses die Ausgaben der Bundesregierung wesentlich gesenkt und die Unterstützungs- und Ankurbelungsgelder, die in dem Zeitraum 1934–1936 vier Milliarden Dollar ausgemacht hatten, wesentlich zusammengestrichen. Alle diese Faktoren ergaben nun zusammen eine neue Wirtschaftskrise: die Roosevelt-Depression. Im Frühjahr 1938 zählte man bereits wieder zehn bis zwölf Millionen Arbeitslose. Das innerlich unzusammenhängende Gesetzeswerk des New Deal erwies sich nicht nur grundsätzlich, sondern nun auch praktisch gegenüber den schweren strukturellen Mißständen in allen Teilen der amerikanischen Wirtschaft als wirkungslos. Bereits um die Jahreswende 1937/38 zeigte es sich, daß man auf keinem Gebiet einen wesentlichen Schritt weiter war als 1933. Der Wirtschaftsindex der New York Times1, der vor dem Ausbruch der Krise von 1929 auf 115 gestanden hatte, war 1933 auf 65 abgesunken. Bis August 1937 war er unter verschiedenen Schwankungen wieder auf 110 angestiegen, um dann an der Jahreswende 1937/38 bis auf 85 und im Sommer 1938 auf 76 abzusinken.

So war die Lage völlig verfahren. Das New Deal war tot. Eine Möglichkeit weit ausholender größerer Reformen bestand nicht mehr. Die Gesetze der zweiten New Deal-Periode zeigen nur eine gedankenlose Wiederholung derjenigen Maßnahmen, die sich bereits in der ersten Periode als unwirksam erwiesen hatten. Man pumpte einfach neuerdings gewaltige Summen in die WPA, die PWA und die Reconstruction Finance Corporation. Allein im Mai 1938 bewilligte der Kongreß neuerdings drei Milliarden Dollar

1 Bei diesem Index wird ein "normaler" Beschäftigungsstand gleich hundert gesetzt. Der Index wird aus einem Durchschnitt sämtlicher Industrien einschließlich der Landwirtschaft errechnet und gilt als zuverlässig.

160] Statistik des Grauens

für diese Organisationen. In der Landwirtschaft wurde ein neuer Agricultural Adjustment Act eingeführt, der auf denselben Prinzipien beruhte wie der frühere, nämlich auf einer drastischen Beschränkung des Anbaus. Die Farmer, die im vorhergehenden Jahre 80 Millionen Acres bebaut hatten, durften nur noch 52 Millionen Acres anbauen. Das Lohn- und Arbeitszeitgesetz schließlich wurde unter dem Druck der Abgeordneten der Südstaaten derart verwässert, daß es ebenfalls keine entscheidenden Neuerungen brachte. Die Einführung des ursprünglich vorgesehenen Mindeststundenlohnes von 40 Cents wurde auf das Jahr 1945 gesetzlich vertagt. Die Zwischenregelungen, die bis dahin gelten sollten, waren ohne wesentliche Bedeutung.

Das entscheidende Kriterium für den Aufstieg und den Zerfall des New Deal ist und bleibt die Frage der Arbeitslosigkeit. "Fortune", die Zeitschrift der Großindustrie, schätzte 1940 die Gesamtausgaben, die der Bund, die Einzelstaaten und die Gemeinden für die Behebung der Arbeitslosigkeit und für die Unterstützung und die Sicherung des nackten Lebens der Arbeitslosen gemacht haben, auf die nahezu unfaßbare Summe von neunzehn Milliarden Dollar. Diese gewaltige Summe ist in einem Zeitraum von sieben bis acht Jahren durch die zahllosen Organisationen des, New Deal ausgegeben worden, ohne daß es gelungen wäre, irgend etwas Prinzipielles zu erreichen. Es gibt in den Vereinigten Staaten Statistiken für alles. Für Schweine, für die Stahlproduktion und für die Anzahl der jungen Mädchen, die sich einem Schönheitswettbewerb gestellt haben. Nur über die Zahl und Entwicklung der Arbeitslosigkeit gibt es keine offizielle Statistik. Die von der "American Föderation of Labour" durchgeführte monatliche Zählung, die wir hier wiedergeben, liegt z. B. meist niedriger als die des "Hamilton Instituts". Sie ist indes die gebräuchlichste. Nach Ansicht der maßgebenden volkswirtschaftlichen Institute muß diesen Ziffern jedoch in den meisten Jahren eine Zahl von ein bis zwei Millionen Arbeitslosen zugerechnet werden, die von der Statistik nicht erfaßt worden sind.

161] Statistik des Grauens

Die Statistik der AFL gibt folgen des Bild der Entwicklung der Arbeitslosigkeit:

1929 =  1,8 Millionen
1930 =  4,7 Millionen
1931 =  8,5 Millionen
1932 = 12,8 Millionen
1933 = 13,2 Millionen
1934 = 11,4 Millionen
1935 = 10,6 Millionen
1936 =  9,3 Millionen
1937 =  8,3 Millionen
1938 = 11,0 Millionen
1939 = 10,4 Millionen
1940 =  9,2 Millionen

Auch nach dieser unvollständigen Statistik hat Roosevelt also in keinem Jahr ein Absinken der Arbeitslosigkeit unter die Achtmillionengrenze erreicht. Im Durchschnitt der Jahre 1934/40 hielt sich die Arbeitslosigkeit auf einem Stand von neun bis zehn Millionen. Hiervon sind nach Schätzung der "Fortune" mindestens sechs Millionen nicht auf Rationalisierungsmaßnahmen in der Industrie und Landwirtschaft zurückzuführen. Diese sechs Millionen haben also in all diesen Jahren niemals eine Arbeitsstelle besessen; dies entspricht etwa dem Zuwachs der arbeitenden Bevölkerung in den letzten zehn Jahren! 1939 stellte der National Youth Administrator Williams fest, es gäbe in den Vereinigten Staaten vier bis sechs Millionen junge Menschen im Alter von 16 bis 24 Jahren, die überhaupt noch niemals Arbeit gefunden hätten. Dreißig bis vierzig Millionen Menschen haben also, wenn man die Familienmitglieder der Arbeitslosen mitzählt, auch während der Zeit der bombastischen Programmankündigungen des New Deal beständig das bittere Los des gerade noch am Leben erhaltenen Unterstützungsempfängers erfahren. Eine Jugend wuchs heran, die sich außerhalb der amerikanischen Gesellschaft befand. "Für ein Drittel der Bevölkerung gibt es kein wirtschaftliches System, und von dem anderen Bevölkerungsteil bekommt dieses Drittel keine Antwort auf seine anklagenden Fragen", schrieb "Fortune" 1940. Sie fuhr fort:

"Die meisten dieser Ausgestoßenen werden jetzt durch öffentliche Mittel unterhalten. Die Wirtschaft der USA. hat bewiesen, daß sie ausgezeichnete Profite machen kann, ohne diese zehn Millionen zu beschäftigen. Die Tatsache bleibt bestehen, daß sie ausgestoßen sind. Die Tatsache bleibt bestehen, daß vom Standpunkt

162] Einkommenspyramide als Anklage

der Wirtschaft aus kein Grund besteht, warum sie überhaupt am Leben sind. Die Tatsache bleibt bestehen, daß keine der bisherigen 'Lösungen' aufrechterhalten werden kann, wenn derjenige Teil unseres Wirtschaftssystems, der funktioniert, seinen eigenen Reichtum und seine Selbstachtung erhalten will." Dieses schrieb das führende Organ des New Deal-freundlichen Teils von Big Business1. Es ist in der Tat das Todesurteil für das New Deal, für Roosevelta gesamtes innerpolitisches Reformwerk wie auch für die ebenso ideenlose Opposition des Finanzkapitals und der Schwerindustrie. Es ist das Todesurteil über das amerikanische System, über die amerikanischen Ideale, über den amerikanischen Mythos.

Aber diese Kehrseite des "unbeschränkten Fortschritts", des "immer glücklicheren Lebens" unter dem Gesetz der Demokratie, zu dem die ganze Weil bekehrt werden soll, beschränkt sich nicht auf die zehn Millionen Ausgeschlossenen allein. Wir haben in dem Abschnitt "Die Erstarrung des amerikanischen Mythos" die Einkommensverhältnisse von USA. vor dem Ausbruch der Krise skizziert2. Für das Jahr 1936, also vier Jahre nach dem Einsetzen des New Deal, hat das National Resources Committee eine Untersuchung über die Verteilung des Nationaleinkommens in den Vereinigten Staaten angestellt, aus der sich ergibt, daß ein Drittel des beschäftigten Teiles der amerikanischen Nation ein Jahreseinkommen von weniger als 750 Dollar bezogen hat, wobei wiederum 17 v. H. weniger als 500 Dollar im Jahre verdienten. Dreizehn Millionen Familien und Einzelpersonen rechnen zu dieser Gruppe, von denen nur vier Millionen durch die WPA oder PWA beschäftigt wurden; während 70 v. H., darunter 5,9 Millionen Familien mit zwei oder mehr Personen, sich ohne die geringste Beihilfe vom Staat oder den Gemeinden durchzuschlagen haben. 471 Dollar betrug der durchschnittliche Jahresverdienst dieses einkommensmäßig untersten Drittels der amerikanischen Nation! Dabei ist zu berücksichtigen, daß von dieser Summe in rund sechs Millionen Fällen mehrköpfige Familien zu ernähren waren.

Ein weiteres Drittel der amerikanischen Nation bezog ein Durchschnittseinkommen von 1076 Dollar. Es zeigt sich also, daß auch

1 Fortune, Februar 1940, Seite 94.
2 Vgl. S. 90.

163] Die Krise des Amerikanismus

das Einkommen der amerikanischen Mittelklasse im Durchschnitt wesentlich unter dem Einkommen der deutschen Mittelklasse liegt. Auf der anderen Seite stehen an der Spitze dieser auf den Kopf gestellten Einkommenspyramide 87 Familien und Einzelpersonen, die zusammen ein Jahreseinkommen von 157 Millionen Dollar bezogen haben. Die am besten verdienenden 44 727 Familien und Einzelpersonen der Vereinigten Staaten haben zusammen über drei Milliarden Dollar Jahresemkommen bezogen, das ist um eine ganze Milliarde mehr, als die 7,6 Millionen Amerikaner zusammen verdient haben, die im Durchschnitt weniger als 500 Dollar im Jahre erhielten. Dies also ist das Amerika des New Deal.

Das "National Resources Committee" hat die gesamte Bevölkerung der USA. schematisch in zehn zahlenmäßig gleiche Teile zerlegt, durch die zehn Einkommensgruppen geschaffen wurden. Hierbei ergab sich, daß die 10 v. H., die 2600 Dollar jährlich und darüber verdienten, 36 v. H. des Nationaleinkommens erhielten, was ungefähr dem Anteil entspricht, den 70 v. H. aller Einkommensbezieher der kleinen und mittleren Einkommen zusammen bezogen haben.

Vvir haben hierbei noch nicht einmal die besonderen Probleme, die die Neger für die amerikanische Demokratie darstellen, erwähnt, die in den Südstaaten von den Bürgerrechten praktisch ausgeschlossen sind. Wir haben nicht erwähnt, daß in neun Südstaaten des "freiesten aller Länder" Wahlsteuern bestehen, durch die die Unterschicht der Bevölkerung überhaupt verhindert wird, ihre Stimme abzugeben. Wir haben es uns versagen müssen, auch nur einen Bruchteil der sozialen Elendszustände zu schildern, in denen ganze Staaten leben, wie im Gebiet der südlichen Appalachen, im berühmten Cotton-Belt, dem Baumwollgürtel, in dem nur noch ein Drittel der Farmer auf ihren eigenen Farmen sitzt, während der Rest in den Stand von armseligen Pächtern herabgesunken ist. Wir haben auch nicht erwähnt, daß in Cleveland im Winter 1939/40 ein Drittel der Bevölkerung von Unterstützungen

164] Die Krise des Amerikanismus

abhängig war und daß der Governor von Ohio in diesem Winter eines Tages beschloß, an 1600 hungrige Arbeitslose für drei Wochen keine Unterstützung auszuzahlen, weil er Republikaner war und mit der WPA nicht zusammenarbeiten wollte. Wir haben schließlich nicht erwähnt, daß uns einer der maßgeblichsten Industriellen im Mittelwesten, dessen fast völlig stillgelegten Riesenbetrieb wir einige Monate vor den Wahlen von 1938 besuchten, seelenruhig erklärte, er könnte natürlich Tausende von Arbeitern einstellen, wenn er sich entschließen würde auf Vorrat zu arbeiten, aber er tue dies nicht, weil er hoffe, eine vermehrte Arbeitslosigkeit sei ein zugkräftiges politisches Propagandamittel für die Republikaner. Dies alles ist das Amerika des New Deal, wie auch der ebenso ideenlosen Opposition gegen das New Deal. Als die Roosevelt-Depression 1937 einsetzte, gab es auf der Liste der WPA z. B. in Detroit 12 000 Arbeitslose. Sechs Monate später waren es 100 000. Das System der halben Maßnahmen hatte sich als ein amerikanisches Ballyhoo, als ein reiner politischer Propagandatrick erwiesen, hinter dem kein wirklicher Gemeinschaftsgeist stand. Es war die gleiche Zeit, zu der der jüdische Governor von New York, der Millionär Lehman und der halb jüdische Bürgermeister von New York LaGuardia mit den ersten massiven Angriffen gegen Deutschland an die Öffentlichkeit traten.

Wenn die Roosevelt-Depression in der zweiten Hälfte des Jahres 1938 einem allmählichen Wiederansteigen der Konjunktur wich, so war dies nur zum geringen Teil eine Folge der Regierungspolitik. Um jene Zeit, da sich die Kriegsgefahr in Europa immer stärker zusammenballte, begannen sämtliche Provinzen der Weltwirtschaft die Auswirkungen einer nahen Kriegskonjunktur zu spüren. Die europäischen Mächte, voran England, tätigten ungeheure Vorratskäufe. Hiervon blieb selbstverständlich auch die amerikanische Wirtschaft nicht unberührt. Hierüber waren sich auch die Weisen in Washington klar. Hatten sie bisher wenigstens in der Illusion gelebt, das New Deal bedeute ein einheitliches Reformwerk, dessen einzelne Teile sinnvoll ineinandergriffen, so wurden sie nun drastisch darüber belehrt, daß die verschiedenen Maßnahmen nur die Oberfläche des amerikanischen Problems geritzt hatten.

165] Die Krise des Amerikanismus

Das einzige Ergebnis dieser fünf Jahre war, daß man wenigstens die Fundamente einer Verwaltung, wie sie ein moderner Massenstaat benötigt, gelegt hatte. Washington war, um eine Bemerkung von Colin Roß wiederzugeben, zu einer Art Peking von Nordamerika geworden, zu einer Beamtenstadt, in der sich die neuen Viertel der Bundesbehörden von Jahr zu Jahr weiter ausbreiteten. Von der stillen Residenz von einst war nichts mehr übriggeblieben. Aber die Energien verpufften in einem Leerlauf ohnegleichen.

Auch ein Republikaner als Präsident hätte, das war die allgemeine Meinung, viele der Maßnahmen des New Deal gewiß nicht rückgängig gemacht, weil sie zum Teil einfach dem Zwang der eisernen Notwendigkeit entsprachen. Wenn man indes in jener Zeit Amerika bereiste, traf man in allen Schichten der Bevölkerung und in allen Teilen des Landes auf eine tiefe Niedergeschlagenheit, ja auf Hoffnungslosigkeit. Die Anhänger des New Deal fühlten, soweit sie eine gewisse Übersicht besaßen, daß das Experiment gescheitert war. Die Gegner sprühten von Haß gegen den Präsidenten und die ihn umgebende Clique, aber auch sie wußten, nach einem positiven Programm befragt, nichts zu sagen als die alten Sprüchlein von dem Automatismus der Wirtschaft und dem freien Spiel der Kräfte. Nirgends gab es eine Idee, nirgends einen Glauben, nirgends sogar eine wirkliche Überzeugung.

Und der Präsident? Ging es ihm anders? Nicht um ein Haar! Auch er wußte, daß er sich auf seinem bisherigen Wege hoffnungslos in einer Sackgasse befand. Er war mit dem erstarrten Mythos zusammengestoßen. Der Mythos hatte sich als stärker erwiesen als der Versuch einer Neuordnung, die keine wirkliche neuordnende Kraft in sich hatte. An den Symptomen der Krise, die das amerikanische Volk so tief befallen hatte, hatte man wohl herumkuriert. Einiges war auch richtig gesehen worden. Aber im ganzen waren die eigentlichen Probleme, um die es sich handelte, von der Eindämmung des wilden Finanzkapitalismus angefangen, bis zur Erweckung eines echten Nationalgefühls und eines Verantwortungsgefühls für die Gesamtheit, unberührt geblieben. Die Juden um Roosevelt hatten die meisten Pläne des New Deal entworfen. Es zeigte sich indes mit dem Zusammenbruch des ganzen Versuches,

166] Die Krise des Amerikanismus

daß die jüdische Intelligenz nicht imstande ist, wirklich weitschauend und schöpferisch zu planen. Sie ist nur in der Lage, zu analysieren und kurzfristige Heilmittel zu erfinden, die indes eine bereits ausgebrochene Krankheit nicht an der Wurzel treffen. Die Grenze, die der jüdischen Intelligenz durch den Mangel an wirklichem Schöpfertum gesetzt ist, beweist das Fiasko des New Deal geradezu schlagend. Kein Diskussionsklub kann das Genie ersetzen. Darin aber verloren sich Frankfurters junge Leute schon bald nach den ersten Fehlschlägen.

Daß nach den Hoffnungen des Jahres 1933, die damals die Vereinigten Staaten durchzogen, alle scheinbar so entwicklungsfähigen Keime in diesem moralischen Zusammenbruch endeten, hatte tiefere Gründe. Es wäre billig, würde man dies einfach auf die Unzulänglichkeit der Menschen allein zurückführen, die das New Deal getragen haben. Zweifellos waren diese Menschen unzureichend, aber es war eben kein Zufall, daß Erscheinungen wie Frankfurter und seine meist jüdische Gefolgschaft schließlich die Szene beherrschten. Die Krise war 1929 plötzlich wie ein Tropengewitter über den nordamerikanischen Kontinent hereingebrochen. Sie hatte diese Nation, die in Wirklichkeit noch immer erst im Begriffe ist, überhaupt eine Nation zu werden, die mit den Problemen des "Schmelztiegels", der Aneinandergewöhnung der verschiedenen Einwandererschichten wie auch der verschiedenen Landschaften noch längst nicht fertig war, in einem Zustand überrascht, in dem die Voraussetzungen für eine neue Gemeinschaftsentwicklung einfach noch nicht vorhanden waren. Man darf nicht vergessen, daß die Vereinigten Staaten zwar einen riesigen zivilisatprischen Apparat aufgebaut hatten, daß sie aber bis vor kurzem doch noch alle wesentlichen Symptome eines Koloniallandes zeigten. Wohl gab es eine eigene amerikanische Tradition, deren Macht und Beharrungsvermögen wir so stark in den Mittelpunkt unserer Darstellung rückten, weil sich gerade hierüber der Europäer am wenigsten im klaren ist. Aber diese Tradition war dennoch nicht ein eigenes Gewächs oder doch nur zum Teil, sie war Leihgut von Europa und vor allem von England. So wie sie einstmals über den Ozean gelangt war, blieb sie unwandelbar stehen. Die schöpfe-

167] Die Krise des Amerikanismus

rischen Kräfte der Amerikaner warfen sich auf die wirtschaftliche Entwicklung des Kontinents (dies ist auch der Grund, weshalb jede Betrachtung über Amerika wenigstens im Vordergrund weitgehend wirtschaftlich orientiert ist). Eine eigene amerikanische Kultur war gerade erst in schüchternen Anfängen im Entstehen begriffen. Die Hinneigung der Finanzoligarchie, der durch ihr Geld das ganze Leben beeinflussenden Oberschicht also, zur Nachahmung des britischen Lebensstils war zudem einer eigenständigen amerikanischen Kulturentwicklung hinderlich.

So war es nur natürlich, daß die emotionalen Kräfte der Nation sich immer wieder an das klammerten, was im Flusse der stürmischen Entwicklung des Kontinents das einzig Feststehende zu sein schien, eben an die Tradition. Die starke Vorherrschaft der Frau, des grundsätzlich konservativen Elements, wirkte noch besonders in dieser Richtung. Nicht das amerikanische Girl, das durch den Film und zahllose Amerikanismen als der vorherrschende Typ der Amerikanerin im Ausland erscheint, ist ja der eigentliche Träger dieser Vorrangstellung des weiblichen Geschlechts. Es ist vielmehr die Klubfrau von der Mitte der Dreißig bis ins biblische Alter, die im Mittelpunkt fast aller Erscheinungen und Entwicklungen in den Vereinigten Staaten steht. Diese "Tochter der Revolution" mögen sich engherzig und puritanisch, wie in den Kleinstädten des Mittelwestens zeigen, oder aber hemmungslos extravagant bis zum Geschmacklosen wie die "First Lady" im Weißen Haus, immer wirken sie in der Richtung einer Erhaltung der bestehenden Einrichtungen, da sie ihre Vorrangstellung diesen Einrichtungen zu verdanken glauben.

Auf einen ins Unendliche verlängerten Notstand war daher die amerikanische Nation in keiner Weise eingerichtet. Ebensowenig wie die beherrschenden Figuren des Finanzkapitals Hoover nach dem Einbruch der Krise einen vernünftigen Rat geben konnten, da es sich um Tatbestände handelte, die weit über den Horizont dieser Kreise hinausgingen, ebensowenig vermochte etwa die Arbeiterschaft oder gar das Farmertum mit einem Programm hervorzutreten, das auf die Entwicklung neuer Gemeinschaftskräfte gerichtet gewesen wäre. Die amerikanische Tradition hatte jeden

168] Die Krise des Amerikanismus

einzelnen Amerikaner und jede Interessengruppe gelehrt, im Falle der Not zuerst und nur an sich selbst zu denken. So tat man dies denn auch.

Dies waren die geradezu idealen Voraussetzungen für das Vordringen des Judentums auf die Kommandobrücke des Staates, zu der es bis dahin so gut wie keinen Zugang hatte. Da die emotionalen Kräfte, die bis dahin mit Wucht das amerikanische Leben, ja die geschichtliche Entwicklung des nordamerikanischen Erdteils vorwärtsgetragen hatten, nun plötzlich nach rückwärts gebunden waren, glaubte man die sich unvermutet auftürmenden Probleme auf rein rationale Weise lösen zu können. Ein Mann wie Roosevelt brachte hierfür natürlich nicht die Voraussetzungen mit. Er ist kein Genie, sondern ein Taktiker, der höchstens allgemeine nebelhafte Vorstellungen über die Zukunft Amerikas besitzt. Ein solcher Politiker mußte für das Judentum, dem er sich durch die Freimaurerloge schon seit früher Jugend verbunden fühlte, ein geradezu idealer Ansatzpunkt werden. Beweglicher als der Durchschnitt seiner Nation sah er in dem ebenfalls weit beweglicheren Judentum und dem aus der jüdischen Schule Hervorgegangenen eine geistige Überlegenheit, mit deren Hilfe er glaubte, die Reform durchführen zu können. Er selbst blieb Dilettant, gleichgültig ob seine Reden von Moley und Rosenman, von Corcoran und Cohen oder von Berle verfaßt wurden. Der jüdische Rationalismus erwies nun überall, wo er an die Bedienung der entscheidenden Hebel herankam, seine atomisierende Kraft. Es entstanden Dutzende, ja Hunderte von Einzelplänen, meist nicht völlig falsch, oft, vor allem in der Landwirtschaft, allerdings durchaus vom verkehrten Ende aufgezäumt, die zusammengenommen nun kein sinnvolles Ganze, sondern ein halb autoritäres, halb freiwirtschaftliches Chaos ergaben. Die meisten dieser Planungen waren nicht auf weite Sicht, sondern als Augenblickslösungen von Notständen gedacht, wie dies der Mentalität des Taktikers Roosevelt entsprach. Der Vergleich mit der Notverordnungspolitik Brünings in Deutschland drängte sich uns schon auf. Nur handelte es sich bei Amerika um einen ganzen Kontinent, dessen Neuformung auf diese Weise noch weniger möglich war.

169] Roosevelt als psychologisches Problem

Wäre es gelungen, die emotionalen Kräfte der Nordamerikaner von ihrem erstarrten Mythos weg auf ein neues schöpferisches Ziel zu lenken, hätten sich große Entwicklungen vollziehen können. Eine Neugeburt Amerikas wird auch erst erfolgen können, wenn ein Mann aufstehen wird, der sich an diese jetzt erstarrten Seelenkräfte wendet und sie neu erweckt. Das New Deal vermochte dies nicht, es bot kein schöpferisches Ziel, das die Phantasie der ganzen Nation angeregt und beflügelt hätte. Es war nicht einmal eine geschlossene Winschaftslehre, sondern das Produkt einiger jüdischer Gelehrtenschulen, die nun endlich die Gelegenheit fanden, auf Grund ihrer Theorien in der Praxis zu experimentieren. Es konnte nicht ausbleiben, daß dies zu einem vernichtenden Fehlschlag führte. Als er eintrat, gab es niemand, der nun noch versucht hätte, sich für die Ideen des New Deal einzusetzen. Sie waren innerhalb eines Jahrfünfts nicht nur abgenützt, sie waren gar nicht mehr vorhanden.

JXooseveIt hat instinktiv nach seiner Niederlage im Streit um den Obersten Gerichtshof erkannt, daß seine eigenen schöpferischen Kräfte nicht ausreichten, um einen neuen amerikanischen Mythos zu begründen. Er sah im Gegenteil, daß sein eigener Mythos als Führer erschöpft und in Gefahr geraten war. Das einzige Argument, das er in jener Zeit gebrauchte, war die Berufung auf das Wahlergebnis: "Das Volk ist mit mir", war die ständige Formel, die er damals allen warnenden Stimmen gegenüber gebrauchte. Als kurz darauf die Arbeitslosigkeit wieder auf zehn bis zwölf Millionen anstieg, wußte er, daß dies Argument nicht mehr lange. zu gebrauchen war. Von jenem Zeitpunkt an suchte er infolgedessen geradezu fieberhaft nach einem neuen Betätigungsfeld, auf dem schließlich doch noch bewiesen werden konnte, daß er der "große demokratische Führer" war, der "große weiße Vater", der berufen ist, die Geschicke seines Landes, ja der Welt, machtvoll in die Hand zu nehmen. "Ein früherer Vertrauter des Weißen Hauses", stellt Alsop fest, "wußte zu berichten, Roosevelt habe

170] Roosevelt als psychologisches Problem

einen geradezu mystischen Glauben in seine eigene Fähigkeit, seine Rolle mit vollkommener Richtigkeit auszufüllen." R. Moley schreibt in seinen Erinnerungen aus der Zeit vor der Wahl 1936:

"In diesem Wahlkampf, so sagte Roosevelt zu mir, gibt es nur einen Gegenstand des Kampfes, und das bin ich selbst." "Dies", schreibt Moley, "war die Quintessenz des Wahlkampfes von 1936. In ihm wurde der Wähler nicht aufgefordert, einem bestehenden Regierungskurs zuzustimmen, er sollte lediglich seinen Glauben an einen Mann ausdrücken."

So sahen die nächsten Mitarbeiter Roosevelts ihren Chef. Ea war vorauszusehen, daß er sich mit der Niederlage des New Deal nicht zufriedengeben würde. Er wollte vielmehr dem amerikanischen Volk, seinen Freunden und sich selbst beweisen, daß es dennoch einen Ausweg gab. Es ist nicht zu bestreiten, daß für diese seine mystische Überzeugung von sich selbst psychologisch seine körperliche Lähmung eine überaus wesentliche Rolle gespielt hat. Er, der eigentlich ein Krüppel ist, hatte es dennoch vollbracht, das höchste Staatsamt der USA. zu erreichen. Seine schwere physische Behinderung hatte naturgemäß einen starken Minderwertigkeitskomplex in diesem Mann erzeugt, den er dadurch überzukompensieren suchte, daß er sich in Rollen hineinsteigerte, die die tatsächlichen Kräfte seines geistigen Haushalts weit überstiegen. Nichts ist hierfür bezeichnender als der Glaube, man könne sich durch irgendwelche Fachleute die Reden machen und die Gedanken einflößen lassen, wenn man dann nur selbst die Kraft habe, sie überzeugend vorzutragen. Ich habe Roosevelt persönlich nur einmal im Weißen Haus in jenem bekannten ovalen, mit Bildern von Schiffsmodellen geschmückten Empfangsraum beobachten können. Der bestimmende Eindruck war, daß man sich einer Schauspielernatur gegenüber befand, die hinter scheinbarer Nonchalance beständig gespannt ihre Wirkung auf die Umwelt beobachtet. Roosevelt sitzt bei seiner Pressekonferenz auf einem Schaukelstuhl, auf dem er ununterbrochen hin- und herwippt, um den Eindruck größter Beweglichkeit zu erwecken, während er in halb scherzhaftem Tone die Fragen des Tages mit den Journalisten bespricht, die dichtgedrängt seinen Schreibtisch umringen.

171] Roosevelt als psychologisches Problem

Es ist nicht der Geltungsdrang, der für einen Politiker von Genie gefährlich wird, wohl aber muß die Übersteigerung des Geltungsdranges für einen Menschen von durchschnittlichem Format, in dessen Händen sich Macht angesammelt hat, schlimmste Folgen haben. Pompejus, der Zar Alexander I., in der neuesten Geschichte Poincare, sind, um nur einige besondere typische Fälle zu nennen, Beispiele, bei denen das Mißverhältnis zwischen Wollen und Sein, zwischen Geltungstrieb und eigener Fähigkeit zum Mißerfolg führte, ohne daß dies den Charakter der Tragödie angenommen halte, die immer nur dann eintritt, wenn das Genie die Grenzen seiner Zeit zu weit hinter sich gelassen hat und in eine neue Epoche hineingestürmt ist, der die Zeitgenossen erst allmählich zu folgen vermögen. Roosevelt rechnet dem ersten Typus zu. Das in den Vereinigten Staaten für ihn gefundene Witzwort des "Emergency-Franklin", des "Notstands-Franklin", trifft das Wesentliche genau. Die politische Existenz dieses Mannes leitet sich aus einer Kette von Notständen her, von denen nicht einer gelöst wird, die aber Roosevell das suggestive Gefühl geben, "daß es ohne ihn nicht geht", "daß man nicht mitten in der Furt die Pferde wechselt".

Es ist eine bekannte Erfahrung in der Geschichte der USA, daß ein Präsident in seiner zweiten Amtsperiode den Kongreß und selbst das Volk nicht mehr willig findet, seiner Führung zu folgen, weil nun, kaum hat er sein Amt zum zweitenmal angetreten, alle Politiker bereits an den Nachfolger und an die Möglichkeit denken, daß in wenigen Jahren sämtliche wichtige politische Posten ausgewechselt werden. Insofern war die an und für sich erstaunliche Niederlage Roosevelts nach seinem großen Wahlsieg nur eine Erscheinung, die in der Geschichte der amerikanischen Präsidentschaft häufig ist. Nun war Roosevelt mit dem Ehrgeiz zur Macht gekommen, nicht nur einer der größten amerikanischen Präsidenten, sondern darüber hinaus eine der großen weltgeschichtlichen Figuren zu werden, die machtvoll in die Geschicke der "Völker eingreifen. Dieser Ehrgeiz hatte sich während der ersten fünf bis sechs Jahre seiner Präsidentschaft immer weiter gesteigert, die Neigung zur Autokratie war insbesondere in Anbetracht der geringen Fähigkeit und persönlichen Anziehungskraft der meisten seiner innerpolitischen Gegner immer noch weiter gestiegen, und er war mächtig dadurch angestachelt worden, daß er erst am Beispiel Mussolinis und dann am Beispiel Adolf Hitlers Männer in Europa am Werke beobachtete, die ihre Ziele mit ungleich größerer Durchschlagskraft anstrebten. Zum Ehrgeiz gesellte sich nun in schneller Steigerung eine ungestillte Eifersucht und ein Konkurrenzgefühl, das ihm den Gedanken, 1940 abtreten und wieder als Squire in der Stille des Hudsontales leben zu müssen, vollends unerträglich machte. Das innerpolitische Reformwerk war tot, und es bestand keine Aussicht, es in großem Stile wieder zum Leben zu erwecken. Das New Deal stellte sich nun als eine jener vielen Bewegungen heraus, mit denen überall in der Welt nach der Katastrophe des Weltkrieges die Anpassung an die neuen Verhältnisse versucht wurde, und nicht einmal als eine der erfolgreichen. Die furchtbaren Mißstände in den Vereinigten Staaten bestanden fort, aber ohne diktatorische Gewalt waren sie offensichtlich nicht zu beheben. Der Versuch, die diktatorische Gewalt durch eine kalte Revolution zu erlangen, war mißglückt. Infolgedessen, und hier sind wir nun am Kernpunkt angelangt, beschloß Roosevelt zuerst instinktiv, bald aber schon mit vollstem Bewußtsein, eine noch viel größere "emergency" herbeizuführen, einen Notstand von einem Ausmaße, bei dem ihm dann das Volk die Gefolgschaft nicht mehr verweigern könnte.

Bereits im Jahre 1936 war das neue Kriegswirtschaftsgesetz der Vereinigten Staaten vom Kongreß verabschiedet worden. Es sah vor, daß der Präsident im Falle der "National Emergency" unumschränkte Macht über das gesamte innere Wirtschaftsleben der USA. erhalten sollte. Das kleine braune Heftchen, in dem dieses Gesetz niedergelegt ist, lag vom Herbst 1937 ab, wie viele Besucher des Weißen Hauses bezeugten, stets auf dem Schreibtisch des Präsidenten. Es war die große Verlockung. Wurden sich nicht durch eine Ausnützung der sich ständig verdüsternden europäischen Entwicklung für die Vereinigten Staaten ganz andere, ungeahnte Möglichkeiten ergeben? Würde der Präsident, wenn es in Europa zum Konflikt käme, nicht sehr bald in der Lage sein, jenen nationalen Notstand zu erklären, durch den er all die Vollmachten bekommen würde, die er so bitter entbehrt hatte? Würde eine, wenn auch nur bedingte Einmischung der Vereinigten Staaten in diesen europäischen Konflikt nicht ganz von selbst eine Lage herbeiführen, durch die sich die strikte amerikanische Tradition, daß niemand länger als acht Jahre Präsident sein soll, durchbrechen ließe? Wäre dann nicht das bis dahin unerhörte Ereignis einer dritten Kandidatur von vornherein gesichert?

All diese Erwägungen haben Roosevelt vom Sommer 1937 ab unablässig beschäftigt. Je peinlicher die Rückschläge im Jahre 1938 sich auswirkten, desto mehr wurde auch Roosevelt von den Möglichkeiteil fasziniert, die ein Bruch mit der bisherigen außenpolitischen Tradition der Vereinigten Staaten – dem Isolationismus – und eine Rückkehr zur Politik Wilsons bedeuten konnte. Daß es sich hierbei um das Schicksal zahlloser Völker, um den Tod von Hunderttausenden, ja vielleicht von Millionen handeln müsse, daß eine solche Politik nur unsägliches Unglück in die Welt bringen mußte, dies spielte dabei schon keine Rolle mehr. Der Zynismus, der das besondere Kennzeichen des "aufgeklärten" Kreises um das Weiße Haus ist, ließ solche Erwägungen gar nicht zu. Und nicht nur der Zynismus allein, sondern der eifersüchtige Haß gegen den erfolgreichen Führer des deutschen Volkes und schließlich der Glaube, daß der amerikanische Kontinent dazu berufen sei, die bisherige Weltordnung, die offenbar England allein nicht mehr aufrecht erhalten konnte, unter allen Umständen zu sichern. All diese Momente trugen dazu bei, daß sich der innerpolitisch geschlagene, ja erledigte Roosevelt nun auf das weltpolitische Spiel stürzte. Hier, so hoffte er, wären die Lorbeeren zu gewinnen, die ihm im Inland versagt blieben, und im Endergebnis könnte damit auch die innerpolitische Situation gewandelt werden.

Von jeher war Roosevelt, wie wir gesehen haben, Anhänger der "internationalistischen", d. h. nach England gerichteten Schule gewesen. Als einer der Väter des Diktats von Versailles, als der Betreuer der Kommission der alliierten Außenminister im Weltkrieg in den Vereinigten Staaten, war es für Roosevelt ganz natürlich dort wieder anzuknüpfen, wo er 1920 am Ende der Wilson-Epoche aufgehört hatte. Die puritanische Überzeugung, daß man selbst die "reine Lehre" gegen die Häresie der totalitären Staaten vertrete, wie sie in Wilsons berüchtigtem Wort "make the worid safe for Democracy" ihren ersten Triumph gefeiert hatte, stand plötzlich wieder auf. Wie jene Aristokraten des ancien regime hatten diese Verfechter der demokratischen Heilslehre nichts gelernt und nichts vergessen. Die antisemitische Politik Deutschlands hatte zudem die engsten Berater des Präsidenten, voran Felix Frankfurter, längst zu dem Entschluß gebracht, daß die Macht der Vereinigten Staaten zum geeigneten Zeitpunkt gegen Deutschland ausgespielt werden müsse. Frankfurter aber, der sich während des Streits um den Obersten Gerichtshof weislich zurück gehalten hatte, war nun als "Kenner der europäischen Verhältnisse" in diesen entscheidenden Monaten zwischen dem Herbst 1937 und dem Winter 1938/39 öfter Gast im Weißen Hause als zuvor. Ein deutscher Beobachter, der um jene Zeit mit Frankfurter zusammen traf, berichtet, daß, als er Frankfurters Zimmer betrat, ihm dieser vor Haß beinahe an die Kehle sprang.

Noch immer lebten, wie Roosevelt am Beginn seiner ersten Amtsperiode gesagt hatte, ein Drittel der Amerikaner in Elendswohnungen, war ein Drittel der Amerikaner im Lande des Überflusses unterernährt, war ein Drittel der Amerikaner schlecht bekleidet und der Kälte ausgesetzt. Präsident Roosevelt aber predigte zum Kreuzzug, um die ganze Welt für die amerikanischen Ideen zu retten! Kaum jemals in der Geschichte hat sich etwas Widersinnigeres zugetragen, aber das Volk der Vereinigten Staaten bemerkte es nicht. Die Maschine, von dem geheimen Kreis um das Weiße Haus gesteuert, begann zu stampfen. Die Haßpropaganda schwoll an. Der nordamerikanische Kontinent schickte sich an, in rasender Fahrt die Katastrophe in Europa zu beschleunigen und seiner eigenen entgegenzueilen.

zurück zu TEIL II

weiter zu TEIL IV