DER MAßLOSE KONTINENT

* Roosevelts Kampf um die Weltherrschaft *

von Giselher Wirsing [1942]

ergänzende Links: Nikolas Dikigoros

TEIL II

Die Erstarrung des amerikanischen Mythos

Oskar Wilde hat am Ende einer langen Vortragsreise durch die Vereinigten Staaten gesagt: "Amerikas Jugend ist seine älteste Überlieferung." Er mag sich kaum bewußt gewesen sein, daß er mit diesem Wort einen richtigen Schlüssel für das Problem des Amerikanismus in der großen weltgeschichtlichen Krise eines späteren Zeitalters liefern würde. Von kaum einem anderen Land gibt es so sehr wie von Nordamerika ein bestimmtes und fertiges Vorstellungsbild. Bei den Amerikanern selbst besteht es ebenso wie beim "Mann auf der Straße" irgendwo in Europa. Dieses Bild, das die Amerikaner von sich selbst, das die ganze Welt von ihnen hat, ist der amerikanische Mythos. Er ist zum bewußten und unbewußten Propagandamittel im Kampfe der Kontinente geworden.

"Ich werde nach Amerika gehen" – das hatte erst in England, Irland, Deutschland, Skandinavien und später in Italien, Spanien, auf dem Balkan bis an die Grenzen Rußlands einen ganz bestimmten Sinn. Dies Wort stand dafür, daß man die engen heimischen Verhältnisse hinter sich lassen, daß man die weiten, die unbegrenzten Möglichkeiten suchen wollte, daß man bereit war, das Abenteuer auf sich zu nehmen, alle Brücken hinter sich abzubrechen, daß man bereit war, viel Arbeit zu leisten, aber mit der gewissen Hoffnung, daß, wenn man nur selbst etwas tauge, sie schließlich auch Erfolg bringen müsse.

Pathos des Amerikanismus - "Neue" und "Alte" Welt

Amerika – das war die "Neue Welt". Ursprünglich hatte diese Bezeichnung nur eine geographische Bedeutung. Sehr bald schon verband sich jedoch damit der Unterton von "alt" und "jung". Goethes berühmter Vers: "Amerika, du hast es besser …" ist für dieses Gefühl die klassische Formulierung des "alten" Europa gewesen. Auch in der asiatischen Welt gab und gibt es hierfür Entsprechungen. Unbelastet durch jahrtausendalte Traditionen halte man auf diesem Kontinent ganz von vorne anfangen können. Aus der Entstehungsgeschichte der Vereinigten Staaten schien hervorzugehen, daß sich dieses Land ganz selbstverständlich für jede große und fortschrittliche revolutionäre Bewegung einsetzen würde, die irgendwo in der Welt mit dem Ziele entsteht, die Schlacken überalterter Herrschaftsformen und Herrschaftsschichten zu durchbrechen. Der amerikanische Unabhängigkeitskrieg war als die erste große moderne Revolution empfunden worden. Mit Recht galt er nicht nur als der Vorläufer, sondern auch als ein Anreger für die französische Revolution. Die Vereinigten Staaten waren das erste Land, das damals das revolutionäre Frankreich anerkannte. In Mount Vernon, dem ehrwürdigen Gutshaus Washingtons, nahe der jetzigen Hauptstadt, werden noch die Schlüssel der Bastille gezeigt, die Lafayette hier später zur ewigen Aufbewahrung abgab. Dieses Pathos des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges und die ihm folgenden ersten Schritte der amerikanischen Außenpolitik haben jenes Vorstellungsbild von Amerika geschaffen, das bis in das wundervolle Lied hineinreicht, das Hanns Johst in seinem Drama "Thomas Paine" die Soldaten Washingtons mit dem unvergeßlichen Refrain von den Flüssen Amerikas singen läßt. Die Jugend des amerikanischen Kontinents, des amerikanischen Staates und der amerikanischen Nation schien dafür zu bürgen, daß dieses Land immer dort stehen würde, wo um die Zukunft gekämpft wird. Dies war und ist ein wesentlicher Teil des amerikanischen Mythos.

Wenn nun aber Oskar Wilde recht hätte? Wenn dieser Mythos der Jugend wirklich nur noch eine Überlieferung wäre, wenn unsere axiomatische Behauptung, Amerika sei zum Zentrum der "Alten Welt" geworden, also auf Wahrheit beruht – welche außerordentlichen Konsequenzen müssen sich daraus für den Ideenkampf ergeben, in den die Kontinente seit dem Ausbruch der großen Weltkrise verstrickt sind! Dies würde allerdings allen Vorstellungen widersprechen, die man sich seit 150 Jahren von Amerika gemacht hat. Es würde bedeuten, daß die "Alte Welt" und die "Neue Welt" nicht mehr geographisch zu bestimmen sind, sondern nur nach der vorwärts stürmenden, der revolutionären Kraft, die in den Völkern und Erdräumen heute, jetzt und hier ruht. Wer für eine bessere Zukunft des ganzen Menschengeschlechtes kämpft und wer hoffnungslos der Vergangenheit verhaftet bleibt, bestimmte sich demnach nach vitalen Gesetzen der Schöpfungs- und Zeugungskraft beständig neu. Sollte es sich wirklich so verhalten, so stünden wir wahrhaftig vor einer Entdeckung, deren Folgen im Ideen- und Machtkampf der Gegenwart und der Zukunft fast unabsehbar sind. Die Kraft des Amerikanismus, jenes amerikanischen Mythos, der auf die Weltgeschichte der Jetztzeit so großen Einfluß gewonnen hat, würde dann allerdings nicht nach vorwärts, sondern nach rückwärts gerichtet erscheinen. Bei einem so wichtigen Gegenstand wäre jede Gedankenspielerei unerlaubt. Wir müssen umsichtig zu Werke gehen, um diesen amerikanischen Mythos in seiner Entstehung und in seiner heutigen Wirkung zu erfassen. Wir müssen prüfen, ob seine Propheten sich mit machtvoll erhobenen Armen an die Kreuzwege stellen dürfen, wo sich die Schicksale der Völker und Erdräume gabeln, oder ob sie vielleicht nur noch die Rolle spielen, die den wasserspeienden Teufeln an den Simsen der mittelalterlichen Kathedralen zukam – ob sie etwa nur noch falsche Propheten sind.

Zeitalter der Grenzenlosigkeit

Die amerikanische Soziologie hat in weitverzweigter Forschungsarbeit selbst herausgefunden, was die bewegenden Kräfte für diesen American Dream gewesen sind. Dieses Bild von Amerika, das die Amerikaner von sich selbst und das mit ihnen die ganze Welt besaß, war das Bild des Kontinents ohne Grenzen. Bereits vor zwei Jahrzehnten hat der amerikanische Soziologe Frederic J. Turner als erster systematisch die Ursachen dieses fortgesetzten Rauschzustandes untersucht, in dem sich die amerikanische Nation durch beinahe 150 Jahre hindurch befunden hat. Seine Untersuchungen führten zu der richtigen Erkenntnis, daß das ganze Land stärkstens davon beeinflußt war, daß der größere Teil der werdenden Nation unausgesetzt in der Situation des Grenzpioniers gelebt hat. Zuerst waren die Appalachen der Grenzwall, hinter dem Rothäute und teilweise auch Franzosen ihre Welt verteidigten; dann stieß man gleichzeitig von Neuengland und Virginia ins Mississippital vor, nachdem Frankreich am Ende des Siebenjährigen Krieges seine Ansprüche zum größten Teil abgetreten und damit an das Angelsachsentum den wichtigsten seiner Kriege verloren hatte. Im Süden überfluteten die Siedler die Nordprovinzen Mexikos und besiedelten das Gebiet des heutigen Bundesstaates Texas. Schließlich wurde Kalifornien in den großen Mahlstrom hineingerissen. Präsident Polk führte gleichzeitig den Krieg gegen Mexiko, durch den die Territorien Tcxas, Neumexiko und als wichtigstes Kalifornien um das Jahr 1848 Besitz der Union wurden. Die Grenze am Rio Grande war erreicht. Gleichzeitig erzwang Polk die Abtretung des späteren Bundesstaates Oregon von Kanada.

Aus einem Kontinent formte sich ein Staat. Immer war es die Grenze, die den Kräfteüberschuß aufnahm, im Guten wie im Bösen. Wem der Osten zu eng geworden war, wer die Chance des unbekannten Abenteuers auf sich nehmen wollte, der bestieg mit Weib und Kind den Planwagen und fuhr nach Westen. Bald begannen denn auch die ersten Eisenbahnen den ausgefahrenen Trails der sich in die Weite des Kontinents ergießenden Massen zu folgen. Um 1890 ist dieser Prozeß der ersten primitiven Landnahme beendet gewesen. Aber erst 1912 wird durch die Erhebung der Territorien Neumexiko und Arizona zu Bundesstaaten das heutige Bundesgebiet der 48 Staaten abgerundet.

Weißer Kulturdünger

In Wirklichkeit hat in jenem Jahrzehnt vor dem Ende des vorigen Jahrhunderts nur die sichtbare Grenze ihr Ende gefunden. Der Rauschzustand aber, in dem das Volk in diesem Lande leble, konnte trotz aller Krisen, die zeitweilig ausbrachen, trotz der sich nun bereits herausbildenden Absonderung der beherrschenden Geldaristokratie noch lange andauern. Das Jahr 1890, das die amerikanische Soziologie als den wichtigsten Wendepunkt der amerikanischen Geschichte ansieht, bedeutete in Wirklichkeit wenig. Zwar war nun nicht mehr ohne weiteres die Möglichkeit gegeben, daß man irgendwo im Westen Pflöcke in unbebautes Land schlug, es in Besitz nahm und viele Stunden zum nächsten Friedensrichter fuhr, um die staatliche Anerkennung für die Landnahme zu erreichen. Dies war zu Ende, aber die Grenze war deshalb noch lange nicht erreicht. Der American Dream konnte noch drei, ja vier Jahrzehnte lang fortbestehen, ohne daß dieser Traum der Wirklichkeit allzu kraß widersprochen hätte. Die "gleichen Chancen" für jeden, dieses lockende Zauberwort war freilich immer nur ein Propagandawort gewesen, denn es hat auch in früheren Jahrhunderten wahrscheinlich nie soviel Elend in Europa gegeben wie unter den "armen Weißen" Nordamerikas, den poor white, die in Wirklichkeit die weißen Sklaven waren, auf deren Schultern der neue Kontinent und die neue Nation sich aufbaute. Für den großen Zug der geschichtlichen Entwicklung war dies indes ohne Bedeutung. Der unheimliche, ja rasende Schwung, mit dem der Kontinent erschlossen wurde, mußte selbstverständlich sein Opfer an menschlichem Kulturdünger fordern. In den großen Darstellungen der Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft, wie in Charles und Mary Beards "Rise oj American Civilizatwn" kann man lesen, wie dieser mitreißende Vorgang der Durchdringung des nordamerikanischen Kontinents die Menschen die Schwierigkeiten, ja das Elend, in dem sie halb zu versinken schienen, um der Zukunft willen vergessen ließ, die sich vor jedem einzelnen machtvoll aufzutun schien.

Erfolg ist alles

Die ganze in der Bildung begriffene Nation war von dem Gedanken getragen, daß man Erfolg haben müsse. "To be a success" – keine Redewendung ist noch heute in den Vereinigten Staaten geläufiger. Jeder, wie immer er als Tellerwäscher oder Zeitungsjunge anfängt, oder ob sie als eine unter Zehntausenden in den billigen Boardinghäusern von Los Angeles auf ein Engagement in Hollywood wartet, jeder hofft inbrünstig, schließlich ein "success" zu werden, etwas zu bedeuten, aufzusteigen. So sah man Amerika von draußen, so sah es sich selbst. Freilich gab es, schon im vorigen Jahrhundert, Warnungen, daß das Gold nicht auf der Straße läge, selbst im Westen Amerikas nicht. Aber diese Warnungen spielten keine Rolle. Den Massen, die außerhalb von Amerika und in den \fcreinigten Staaten selbst den amerikanischen Traum von den unbeschränkten Möglichkeiten des Einzelnen träumten, lag ja durchaus nichts an Illusionen. Daß der "success" nur in den seltensten Fällen durch Zufall und Glück, im allgemeinen aber durch harte und bittere Arbeit zu erreichen war, war durchaus bekannt. Entscheidend allein war, daß, wenn man nicht gerade ausgesprochen Unglück hatte oder unterdurchschnittlich begabt war, in irgendeinem Rahmen der Erfolg schließlich erreichbar schien. Und so wurde denn der "Erfolg" alles – bis hin zu jenem Bestseller der zwanziger Jahre "Der Mann, den niemand kennt", in dem Christus als "schlagendes Beispiel für success" bezeichnet wurde.

Wie immer man diese eineinhalb Jahrhunderte der amerikanischen Grenzenlosigkeit im einzelnen beurteilen mag, sie bleiben eine der größten Gemeinschaftsleistungen, die der weiße Mann in der Geschichte vollbracht hat. Der amerikanische Mythos hat sie getragen und beflügelt. Auf ihm baut sich die auf Gewaltenteilung beruhende Verfassung der Vereinigten Staaten auf, wie auch der Glaube, daß der Staat im Prinzip keine andere Rolle zu spielen habe als die des vom einzelnen Individuum geduldeten Polizisten, der dafür zu sorgen hat, daß der Verkehr sich reibungslos abspielt. Der American Dream war nicht etwa eine Illusion, eine Erfindung weltverlorener Utopisten, er entsprach durch eineinhalb Jahrhunderte hindurch der Erfahrung von Millionen, die von der großen Welle hochgehoben und immer vorwärts getragen wurden.

"Das amerikanische Wirtschaftswunder"

Die unsichtbare Grenze war, so sagten wir, mit dem Ende der Landnahme um das Jahr 1890 noch keineswegs erreicht. Die Möglichkeiten, die der nordamerikanische Kontinent bot, waren so außerordentlich, daß sie mit einem gewissen Recht noch immer als unbegrenzt gelten konnten. Der Rauschzustand, durch die wirtschaftlichen Krisen von 1893, 1901, 1907 und die ersten Jahre nach dem Weltkrieg nur flüchtig unterbrochen, hielt während der ganzen zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts noch an. Ein jüdischer Professor aus Deutschland schrieb damals ein Buch mit dem Titel "Das amerikanische Wirtschaftswunder". Dies entsprach nur der allgemeinen Auffassung. Fast in jedem Jahre wurden neue Reichtümer entdeckt und erschlossen, die man der übrigen Welt anbieten konnte. Gleichzeitig wuchs der innere Markt, wenn auch schon im vorigen Jahrhundert nicht im Verhältnis zur Aufschließung der natürlichen Reichtümer. Dort, wo der innere Markt aus regionalen Gründen sich eigenwillig zu verschließen begann, wurde er mit brutalen Zwangsmaßnahmen geöffnet.

Das Hauptbeispiel dafür ist uns heute der amerikanische Bürgerkrieg von 1861–65. Wohl hatte der puritanische Nordosten, vor allem die Neuenglandstaaten, die Sklaverei im Süden immer als eine Kulturschande empfunden, die seinem religiösen Gefühl widersprach. Aber zum vernichtenden Schlag holte er doch erst aus, als er sah, daß die großen Baumwollaristokraten des Südens gar nicht daran dachten, der im Norden entstandenen Industrie all das abzukaufen, was sie produzierte. Der Süden lieferte seine Baumwolle vor allem nach England und bezog dafür im Austausch englische Industriewaren. Das Verhältnis der Südstaaten zu England hatte sich also ähnlich wie in den letzten beiden Jahrzehnten etwa die argentinisch-britischen Wirtschaftsbeziehungen entwickelt. Es war darum auch England, das im geheimen den Abfall des Südens unterstützte. Für den Norden war der Bürgerkrieg vor allem ein Krieg um den inneramerikanischen Markt und ein Krieg gegen den englischen Kaufmann. Durch die Frage der Sklaverei war es indes möglich, diese erbitterte kriegerische Auseinandersetzung – es ist die erste Kriegführung mit modernen Waffen – mit dem amerikanischen Mythos sehr wohl zu vereinen. Man braucht nicht einmal zu unterstellen, daß die Parole des Kampfes gegen die Sklaverei nur Vorwand war. Der amerikanische Mythos schrieb den Nordstaaten ihr Handeln ganz automatisch vor.

Vernichtung der südlichen Aristokratie

Das Ergebnis war die Vernichtung der Pflanzer-Aristokratie der Südstaaten, der einzigen Schicht, die ein Kulturgefühl oder richtiger eine hochwertige kulturelle Lebensform aus Europa mitgebracht hatte, die in den entstehenden amerikanischen Massenalauben ein völlig anderes Element hätte einfügen können. Diese Aristokratie, die ihren Mittelpunkt in Virginia hatte, aus der übrigens auch George Washington und sein Kreis hervorgegangen sind, ist in den dem Bürgerkrieg folgenden Jahrzehnten der "reconstruction" so gut wie ausgerottet worden. Diese "Wiederaufbauperiode" machte den Süden für viele Jahrzehnte zum Ausbeutungsobjekt, ja geradezu zu einer Kolonie für den Norden. Die "Wiedervereinigung" hatte für den Preis der wirtschaftlichen und staatlichen Einheit dem amerikanischen Kontinent den Verlust dieser biologisch wie kulturell wertvollsten Schicht gekostet. Dröhnend schritt die Geschichte der amerikanischen Zivilisation hierüber hinweg. Der Bürgerkrieg war indes das erste weithin sichtbare Anzeichen dafür, daß die großen regionalen Einheiten innerhalb des neuen Kontinents einander stark entgegengesetzte Interessen besaßen; ein Problem war aufgeworfen, das sich später im Mittelwesten und im fernen Westen wiederholen und verdreifachen sollte. Nur der amerikanische Mythos vermochte diese auseinanderstrebenden regionalen Kräfte fest aneinanderzubinden.

Die "Grenze" schien ins Unendliche fortzuwandern. Sie begann sich nun auch über die Basis des amerikanischen Kontinents auszudehnen. Rockefeller, der sich zuerst durch Bestechung der Eisenbahngesellschaften billige Frachttarife verschafft und damit des größten Teiles der heimischen Konkurrenz im Ölgeschäft entledigt hatte, verfiel auf die Idee, die Chinesen mit Millionen von billigen Öllampen zu beliefern, auf daß sie des Glückes teilhaftig werden konnten, seine Ölprodukte verbrauchen zu dürfen. Auf allen Gebieten der Wirtschaft schössen neue Erwerbsmöglichkeiten hervor. Das Haus war gebaut, seine Inneneinrichtung bot nun die neuen Chancen.

Menetekel der Antitrustgesetzgebung

Genau zehn Jahre, nachdem die Grenze im geographischen Sinne erreicht war, wird im Jahre 1901 durch den älteren J. P. Morgan in der "United States Steel Corporation" das größte wirtschaftliche Unternehmen gebildet, das die Welt bis dahin kannte. 168.000 Arbeiter, die die Hälfte des Stahles herstellten, den die Vereinigten Staaten damals produzierten, waren in dieser einen Gesellschaft vereinigt, die von Wall Street 23, Morgans Stammhaus, geleitet wurde. Das Kapital des neuen Stahltrusts wurde auf 1,4 Milliarden Dollar festgesetzt. Der Monopolkapitalismus, der sich in den großen Raubzügen der im 19. Jahrhundert entstehenden amerikanischen Plutokratie angekündigt hatte, begann nun die Szene zu beherrschen. Die Rockefeller, Gould, Vanderbilt, Astor, Harriman und Baker hatten mit der Anhäufung ihrer ungeheuren Vermögen dem American Dream nicht widersprochen. Im Gegenteil, sie schienen ihn auf das glänzendste zu rechtfertigen. Die großen Geldpiraten waren skrupellos in ihren Mitteln gewesen. Korruption und brutale Niederschlagung weniger gerissener Konkurrenten hatten ihnen den Weg gebahnt. Doch daran stieß sich im Grunde niemand. Der phantastische Aufstieg dieser ersten Generation der großen Geldoligarchen wurde im Gegenteil als die Bestätigung für die "unbegrenzten Möglichkeiten" empfunden. Schule und Kirche, die schon im 19. Jahrhundert durch erhebliche Schenkungen der Geldpiraten nicht nur Vorteile, sondern oft geradezu die Lebensmöglichkeit erhielten, beeilten sich, sie der heranwachsenden Generation als Beispiel hinzustellen. Während diese ersten riesigen Vermögen entstanden, hatten sich von neuem die Schleusen der Einwanderung breit geöffnet. Waren es in den eraten zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts vornehmlich noch Skandinavier, Deutsche, Engländer und Iren, die in unversieglichem Strom über den Ozean kamen, so begannen nun die Massen der Südeuropäer, Slawen und bald auch Juden an die Tür zu pochen. Sie wurde bereitwillig aufgetan.

Theodore Roosevelt und Morgan

Die Entstehung des Stahltrusts unter Morgan zeigt indes einen ersten Wendepunkt an. Der amerikanische Mythos stieß zum ersten Male auf eine Erscheinung, die dem Ausgangspunkt des amerikanischen Lebens fremd sein mußte. War die Zusammenballung ungeheurer Kapitalkräfte in den Händen weniger Bankiers in Wall Street noch zu vereinbaren mit dem amerikanischen Traum von der gleichen Chance, der Freiheit des Einzelnen? Schon in den 1890er Jahren war die erste Antitrustgesetzgebung als Menetekel an der Mauer des amerikanischen Hauses erschienen.

Präsident McKinley war 1901 ermordet worden. Theodore Roosevelt war damit als Präsident in das Weiße Haus eingezogen, das er erst 1909 wieder verlassen sollte. In diesem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts entwickelt sich mit ungeheurer Schnelligkeit jene neue amerikanische Gesellschaft, die die für unser Zeitalter typische Lebens- und Denkform des Amerikanismus in eine weltgeschichtliche Kraft verwandelt. Sowohl die Epoche Theodore Roosevelts wie die seines Nachfolgers Taft (1909–1913) ist erfüllt von Kämpfen des Bundesstaates mit den schnell aus dem Boden schießenden Trustgiganten. Theodore Roosevelt ist in die Geschichte als der "Trust Buster" eingegangen, obwohl in Wirklichkeit in seiner Amtsperiode lediglich 25 Trusts und Holdinggesellschaften aufgelöst wurden. Der 1890 gegen die Vertrustung der amerikanischen Wirtschaft erlassene Sherman-Act stand im Mittelpunkt der Innenpolitik dieser Periode. Der Amerikanismus wird zum erstenmal problematisch. Der Zusammenstoß zwischen Staat und Finanzkapitalismus, der das ursprünglich agrarische Land binnen weniger Jahrzehnte überwuchert hatte, stellt indes die Verfassung und darüber hinaus den amerikanischen Mythos noch nicht in Frage. J. P. Morgan sen., der in dem Jahrzehnt Theodore Roosevelts sich zur unbestrittenen, ja schließlich fast " allein beherrschenden Finanzmacht der Vereinigten Staaten entwickelt hatte, befand sich noch kaum in der Minderheit, wenn er glaubte, daß es der amerikanischen Tradition sehr wohl entspräche, wenn der einzelne sich so viel er nur vermöge von dem Reichtum der Nation aneigne. Für ihn wie für die ganzen Finanzgewaltigen von Wall Street dieser Zeit galt noch immer uneingeschränkt das Wort des Finanzpiraten Cornelius Vanderbilt: "Der Teufel hole die Allgemeinheit." Er sah in dem Versuch Theodore Roosevelts, die Monopolisierung der amerikanischen Wirtschaft durch die Hochfinanz zu beschneiden, einen unberechtigten Eingriff des Staates und einen hassenswerten dazu, der mit allen Mitteln bekämpft werden mußte. Als Theodore Roosevelt nach der Amtsübergabe an Taft nach Afrika zur Jagd fuhr, hat Morgan öffentlich gesagt, er hoffe, daß der erste Löwe, auf den Roosevelt stoße, seine Pflicht tun werde.

Staat für Erhaltung der freien Konkurrenz

In Wirklichkeit versuchte Theodore Roosevelt den amerikanischen Mythos gegen Wall Street und Big Business zu verteidigen. Seine Antitrustpolitik, die, wie gesagt, sich in seinen Reden und Erklärungen stärker auswirkte als in den tatsächlichen Handlungen, war von dem Gedanken getragen, daß die freie Konkurrenz unter allen Umständen aufrecht erhalten werden müsse. Nicht die Konzentration ungeheurer Finanzkräfte in wenigen Händen, die dem amerikanischen Mythos in keiner Weise widersprach, war das Angriffsziel, sondern die Ausschaltung des sogenannten freien Spiels der Kräfte.

Hierfür ist der berühmteste Fall, der sich gleich in Theodore Roosevelts Anfangszeit als Präsident ereignete, bezeichnend. In einer ungeheuren Finanzspekulation, die gegen das Bankhaus Morgan gerichtet war, hatte Edward Henry Harriman, unterstützt von dem Juden Jakob Schiff, dem Beherrscher des Bankhauses Kühn, Loeb & Co., die Mehrheit der Aktien der "Northern Pacific"-Eisenbahn an sich gebracht. Es war hierbei zu einem Finanzskandal erster Ordnung gekommen, bei dem einige Tage lang die Hälfte aller Banken New Yorks in Gefahr gerieten, insolvent zu werden. Die Morgan-Gruppe und die Harriman-Schiff-Gruppe hatten schließlich einen Kompromiß geschlossen und eine gemeinsame Holding-Gesellschaft gegründet, die "Northern Securities Company", in der sich die Mehrheit der "Northern Pacific"- und der "Great Northern"-Eisenbahnlinien vereinten. Theodore Roosevelt erzwang die Auflösung dieser Holding-Gesellschaft durch eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofes. Bei diesem Vorgehen, das von der breiten Masse mit größtem Beifall begrüßt wurde, hat das Gefühl eine wesentliche Rolle gespielt, daß die unumschränkte Ausdehnung der Macht von Wall Street schließlich dem Staat selbst gefährlich werden müßte. Die Hochfinanz ließ darum Theodore Roosevelt als "Sozialisten" in den von ihr beherrschten Zeitungen angreifen. Nichts war falscher als dies.

Theodore Roosevelts Ziel war im Gegenteil die Erhaltung der freien Konkurrenz. Die beiden großen Eisenbahn-Gesellschaften "Northern Pacific" und "Great Northern" sollten und durften nach der amerikanischen Tradition nicht in der Lage sein, die Tarife durch eine Abmachung willkürlich zu stabilisieren. Das Konkurrenzverhältnis zwischen den großen Eisenbahn-Gesellschaften sollte vielmehr aufrechterhalten bleiben, obwohl diese Linien in den wilden Jahrzehnten des ausgehenden 19. Jahrhunderts ohne Sinn und Verstand, jedenfalls aber ohne einheitlichen Plan so angelegt worden waren, daß sie auf weiten Strecken einfach einander parallel liefen, ohne den Bedürfnissen der Landschaften, die sie durchzogen, zu dienen. Dies galt natürlich ebenso für alle anderen Eisenbahngesellschafetn im Osten. Nicht an dieser Planlosigkeit stieß sich indes die Regierung in Washington, sondern lediglich an der Gefahr, daß die amerikanischen Prinzipien durch den Monopolkapitalismus bedroht werden könnten. Auch starke Persönlichkeiten wie Theodore Roosevelt wichen also von der in der Zeit des Wilden Westens entstandenen "tradition of negative government" nicht ab. Niemals in der amerikanischen Geschichte ging der Staat planend oder ordnend voran. Immer war es entweder der Einzelne oder eine Gruppe, die in das Neuland wirtschaftlicher Expansionen vordrängte. Dem Staate konnte und sollte lediglich eine negative Rolle zufallen. Das war die Konsequenz des amerikanischen Mythos.

Negative Regierungstradition

Wir sehen, wie diese negative Tradition des amerikanischen Regierungssystems die unmittelbare Folge der Grenzenlosigkeit des Kontinents im 19. Jahrhundert gewesen ist. Die Erschließung und Besiedelung Nordamerikas entsprach den Methoden der gleichzeitig vor sich gehenden kolonialen Erschließung Afrikas durch die Engländer. Bei diesen beiden großen Raubzügen tritt die Rolle des Staates weitgehend zurück, ja er kann, wie dies durch Cecil Rhodes geschehen ist, sogar für die privaten Interessen einer einzelnen mächtigen Finanzgruppe bis zum Krieg getrieben werden. Der schmähliche Burenkrieg ist hierfür das bekannteste Beispiel, der Opiumkrieg gegen China ein anderes. Ebenso wie sich die einzelnen Gesellschaften des britischen Handels und der britischen Hochfinanz wild über den sich öffnenden afrikanischen Erdteil herstürzten, um ihn ohne größeren Plan und ohne sinnvolle Zueinanderordnung auszubeuten und damit in weiten Gegenden eine Zerstörung des Kulturbodens anzurichten, für deren Wiederherstellung es Generationen bedürfen wird, ebenso stürzten sich die Amerikaner in Gemeinschaft mit den Neueingewanderten auf die Reichtümer des Westens. Nur langsam vermochte der Staat dieser scheinbar elementaren Bewegung zu folgen. Das Äußerste, was er zu tun vermochte, war eben jene negative Politik, durch die verhindert wurde, daß in den plötzlich an irgendeinem Kreuzweg aus dem Boden schießenden Gemeinschaften nur das Faustrecht herrschte. Eine positive staatliche Planung, wie wir sie auch in früheren Jahrhunderten in Europa ebenso wie in Ostasien kennen, fehlt völlig. Man braucht als Gegenbeispiel nur an die Kolonisation des Warthebruches durch Friedrich den Großen, an die systematische Ansiedlung der Schwaben durch Maria Theresia und Josef II. oder an die großen Kulturwerke der chinesischen Reiche des Mittelalters zu erinnern, um den gewaltigen Unterschied zu erkennen, der diese Lebensauffassungen trennt.

Von den 40 Jahren, die zwischen der Erreichung der geographischen Grenze um das Jahr 1890 und dem Ende der "unbegrenzten Möglichkeiten" im Jahre 1929 liegen, ist die Periode der Präsidentschaft Theodore Roosevelts vielleicht die aufschlußreichste, weil sich in ihr alle Keime der ungeheuren Widersprüche finden, durch die die amerikanische Nation später zerrüttet werden wird. Theodore Roosevelt war nicht, wie so oft fälschlich angenommen wurde, der Vorläufer eines neuen Amerika. Seine eckige Gestalt, der niemand Charakter und Kraft absprechen wird, ist vielmehr das letzte Symbol des wilden Amerikanismus, das aus der Zeit der unbeschränkten Expansion auf dem eigenen Kontinent in eine sich wandelnde Epoche hineinreicht. Die großen amerikanischen Finanzpiraten des 19. Jahrhunderts waren im ganzen genommen noch Einzelerscheinungen. In den anderthalb Jahrzehnten vor dem Weltkrieg beginnt sich indes jene Schichtung schärfer herauszubilden, die dem Amerika des 20. Jahrhunderts ihr besonderes Gepräge gegeben hat. In diesem Jahrzehnt werden die Vereinigten Staaten zur Plutokratie. Ebenso wie in England feiert die puritanisch-kalvinistische Weltanschauung in der Entstehung der amerikanischen Hochfinanz ihren größten Triumph. Die Ansammlung gewaltiger Reichtümer wird zum äußeren Zeichen der besonderen Gnade und des Wohlgefallens Gottes. Die mit dem amerikanischen Mythos eng verbundene kapitalistische Lehre erweist sich als der fruchtbarste Nährboden für den Überkapitalismus, der nun die Herren von Wall Street zu den eigentlichen Herren des ganzen Landes macht. Zu den "Herren der Schöpfung", wie Frederic Lewis Allen halb ironisch, halb ernsthaft eine Untersuchung über den amerikanischen Finanzkapitalismus genannt hat.

"Gott gab mir mein Geld"

Der alte John D. Rockefeller gab dem kurz und bündig Ausdruck, wenn er sagte: "Gott gab mir mein Geld." Daß dieses Geld Rockefellers durch eine ganze Kette von gemeinen Betrügereien, von Bestechungen und höchst zweifelhaften Machenschaften zusammengescharrt worden war, spielte dabei keine Rolle. Noch klarer drückt sich der Kohlenindustrielle George F. Baer aus, der bei einem Kohlenstreik im Jahre 1902 den Führern der Arbeiter mitteilt: "Die Rechte und Interessen des Arbeiters werden nicht durch Arbeiter-Agitatoren erzwungen, sondern durch jene christlichen Männer, denen Gott in seiner unendlichen Weisheit die Kontrolle über das Eigentum in diesem Lande übertragen hat."

Ich habe früher in meinem Buch über die englische Politik in Palästina darauf hingewiesen, in welch merkwürdigem Verhältnis die englische Religiosität und der Puritanismus der Briten zum Alten Testament stehen. Ein wesentlicher (und gerade der entscheidende) Teil der englischen Oberschicht fühlt sich schon das ganze vorige Jahrhundert hindurch als der unmittelbare Nachfolger des "auserwählten Volkes". Die Verbindung des Jüdischen mit dem Britischen erwies sich daher als weit tiefer, denn als eine zufällige oder nur oberflächliche Allianz. Ähnlich verhält es sich auch mit der amerikanischen Plutokratie. Der Zusammenhang des amerikanischen Mythos mit dem Puritanismus und Kalvinismus ist nicht minder stark als mit dem Alten Testament. So schreibt F. L. Allen:

"Die christliche Religion, wie sie von den Männern der Hochfinanz verstanden wurde, war nur teilweise die Religion von Jesus Christus. Das Alte Testament hatte wesentlichen Anteil in ihr, und das Alte Testament enthält eine große Zahl von Stellen, die die Forderung Auge um Auge, Zahn um Zahn erlauben. Die Religionen haben die Tendenz, die Farbe der Gemeinschaften anzunehmen, in denen sie ausgeübt werden. In der amerikanischen Gemeinschaft haben andere Philosophien die christliche Lehre allmählich aufgesogen und verändert. Da war zum Beispiel die Philosophie der Einfachheit von Benjamin Franklin, da war die puritanische Philosophie der Nüchternheit (das heißt der Enthaltung vom Alkohol), der Enthaltsamkeit und der Sonntagsheiligung. Da war die Tradition des Laissez-faire der wirtschaftlichen Konkurrenz. Diese Philosophien und Traditionen sind so vollständig in den amerikanischen Blutstrom aufgenommen worden, daß es dazu kam, daß, wenn ein rücksichtsloser Geschäftsmann hart arbeitete, wenn er Geld ersparte, wenn er sich vom Alkohol und sonstigen Ausschweifungen fernhielt, wenn er in einem dunklen Rock jeden Sonntag in die Kirche ging und Geld in den Klingelbeutel warf, er schließlich als Beispiel christlichen Verhaltens hingestellt werden konnte. Das waren die vorgeschriebenen Tugenden, und die Bibel wurde ein Arsenal, aus dem man die rhetorische Munition beziehen konnte, um sich gegebenenfalls zu verteidigen."

Puritanismus und jüdische Überlieferung

Schon Max Weber hat in seiner Religionssoziologie auf die enge Verwandtschaft zwischen Puritanismus und jüdischer Überlieferung hingewiesen1. Unter den großen Finanzpiraten, die im ausgehenden 19. Jahrhundert in Amerika hochkommen und in der Epoche Theodore Roosevelts ihre volle Macht entfalten und das Gesicht Amerikas bereits weitgehend bestimmen, finden sich zunächst noch verhältnismäßig wenige Juden. Der große Eisenbahnspekulant Jay Gould und der bereits erwähnte Jakob Schiff des jüdischen Bankhauses Kühn, Loeb & Co. sind, wenigstens was die ganz großen Finanzmagnaten angeht, zunächst noch Ausnahmen. Carnegie, Rockefeller, Harriman, Hill, Vanderbilt und Morgan, um nur die Wichtigsten zu nennen, sind Arier. Dennoch ist seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert die Entstehung der amerikanischen Finanzaristokratie durchsetzt mit Merkmalen, die dem an der Entstehung des Hochkapitalismus in England, Frankreich und Deutschland geschulten Blick als besonders jüdisch erscheinen müssen. Die Einstellung des Puritanismus zu Leben, Reichtum und zur Ewigkeit löst dieses Rätsel. Dem Kalvinismus und dem Puritanismus kommt es nicht auf die Werke und auch nicht auf die Gesinnung an, sondern allein auf die Erwählung. Diese Cnadenwahl Gottes, die der Mensch passiv hinnimmt, wirkt sich im irdischen Leben durch seine besondere Segnung mit Reichtum aus. So jedenfalls ist die primitive Auslegung, die der Puritanismus teilweise schon in England, in völliger Naivität aber später in Amerika, erfahren hat. Wie man sieht, steht diese Vorstellung der jüdischen vom "auserwählten Volk" überaus nahe. In Amerika heißt die Formel für diese Auserwähltheit "Gods own Country" – Gottes eigenes Land.

Tiefere Bedeutung von "Gods own Country"

Das kalvinistisch-puritanische Verhalten und die Einstellung zur Frage der Anhäufung von Reichtum ist in den amerikanischen Mythos eingegangen und hat ihn wie die Hefe den Sauerteig durchdrungen. Dieser von England nach Nordamerika verpflanzte puritanisch-kalvinistische Geist bestimmte die Geistes- und Glaubenshaltung der gesamten führenden Schicht. Die Mehrzahl der deutschen und skandinavischen Einwanderer paßten sich ihm vortrefflich an. Die katholischen Iren, Süd- und Osteuropäer, die später die Hauptmasse der Einwanderer stellten, fanden die puritanische Grundlage des amerikanischen Mythos schon mit den anderen Elementen, die den American Dream ausmachen, fest zusammengeschmolzen vor, als sie ankamen. Sie konnten sich entweder nur sektenhaft abschließen – dies war lange die Rolle der katholischen Kirche in den Vereinigten Staaten – oder sich bedingungslos dem herrschenden Geist unterordnen.

So erklärt sich denn auch, warum es weder im 19. noch im beginnenden 20. Jahrhundert in Amerika einen Klassenkampf im europäischen Sinne gegeben hat. Die Wurzeln der Arbeiterbewegung reichen freilich auch in den Vereinigten Staaten tief in das 19. Jahrhundert hinein. Trotzdem war für den Marxismus oder seine Abwandlungen kein Platz. Die puritanische Glaubenslehre schloß ihn aus. Diejenigen, bei denen sich sagenhafter Reichtum anzusammeln begann, waren auch für die Masse des Volkes die besonders Erwählten. Die weniger Glücklichen, d. h. die weniger Brutalen, Rücksichtslosen und Schlauen, waren dennoch fest überzeugt, daß auch ihnen die gleiche Chance winkte und daß die leicht zu erhaschende Göttin Fortuna für sie oder ihre Kinder schon um die nächste Ecke am Saum ihres Kleides zu fassen sein werde. Die verschiedenen christlichen Kirchen und Sekten mußten darum ein fester Bestandteil dieses Amerikanismus werden. Ihre Vorschriften der Nüchternheit, Enthaltsamkeit und Sonntagsheiligung wurden ebenso zur Voraussetzung eines gottgefälligen Lebens, wie ihre Aufforderung zu möglichst gesteigertem Gelderwerb, die schließlich in die Verherrlichung der großen Finanzmagnaten als den wahren Verkörperungen der reinen Lehre einmündete. Dies war lange Jahrzehnte hindurch die amerikanische Lösung der sozialen Frage.

Amerikas Lösung der sozialen Frage

Charles und Mary Beard haben aus der besonders wichtigen Epoche um die Jahrhundertwende elf. Frederic L. Allen aus derselben Zeit zehn führende Finanzmagnaten nach ihrem Herkommen und ihren Gewohnheiten analysiert. Die beiden Listen überschneiden sich nur teilweise. Von der von den beiden Beard untersuchten Gruppe waren zehn von elf überzeugte Mitglieder der Kirche. (Nur Carnegie wird in dieser Gruppe als Skeptiker bezeichnet.) Alle waren gleichzeitig auch freigebig in ihren Spenden an die verschiedensten Kirchen. In der von Allen untersuchten Gruppe sind sieben von zehn Finanzmagnaten regelmäßige Kirchenbesucher, sechs zeigen außerdem noch aktives Interesse an der Entwicklung der kirchlichen Angelegenheiten. John T. Flynn hat festgestellt, daß die Hälfte der 75 Multimillionäre New Yorks um die Jahrhundertwende aktive Mitglieder der protestantischen Bischofskirche waren. J. P. Morgan sen. zum Beispiel nahm regelmäßig als Laiendelegierter von New York an den Generalkonventen der Kirche teil und erbaute die Kathedrale St. John. Als er im Sommer 1908 in seinem Londoner Palast drei amerikanische Bischöfe eingeladen hatte, wurde jeder Tag mit Gebeten begonnen, die einer der Bischöfe im Morganschen Familienkreise verlas. Die Verbindung zwischen Finanz- und Kirchengeschichte der USA. ist eines der Fundamente, auf dem sich diese Gesellschaft aufbaut.

Ursprünge der Plutokratie

Wohl wuchs um diese Zeit der Jahrhundertwende und in der Periode Theodore Roosevelts vor allem im agrarischen Westen und Mittelwesten bereits heftiges Mißtrauen gegen Wall Street heran. Instinktiv fürchtete das Volk, daß der nun entstehende Trust- und Monopolkapitalismus irgendwie dem American Dream entgegenstehen müsse. Schon einmal hatten die Vereinigten Staaten im 19. Jahrhundert mit der Erwählung von Andrew Jackson zum Präsidenten eine kalte Revolution erlebt. Damals war es die Revolution des neuen Westens und Südens gegen den konservativen und in gewissem Sinne intellektuellen Osten. Es war die erste Revolution der "Grenze", des jungen Amerikanertums jenseits der Appalachen, gegen die sich bereits verfestigende Gesellschaftsform der Gründungsstaaten gewesen. Kurz vor der Jahrhundertwende war abermals unter der Führung von Bryan eine für den schnell aufgeschossenen Hochkapitalismus des Ostens beinahe gefährliche revolutionäre Bewegung der Farmer des Westens bis hart an die Stufen des Weißen Hauses gebrandet. Bryan kämpfte für die Silberwährung, aber dies war nur ein Symbol. "Gold stand dagegen als der Ausdruck einer Macht, die der gemeine Mann als den Feind seiner selbst und des Amerikanismus empfand, seines Traumes von Volksherrschaft und von den Rechten des Menschen gegen die Ansprüche der Privilegierten1."

Die Popularität des Trustbusters Theodore Roosevelt entsprang derselben Wurzel, obwohl sie nur teilweise berechtigt war. Dem stand aber entgegen, daß fast alle diese Finanzmagnaten tatsächlich als kleine Angestellte, als Buchhalter und Boten jungen angefangen hatten. Von den zehn Finanzleuten der von F. L. Allen untersuchten Gruppe hatte nur der alte Morgan eine Universitätserziehung genossen. Er hat zwei Jahre in Göttingen studiert. Allein Morgan und Vanderbilt waren bereits Söhne reicher Eltern, die den Grundstock zu den Riesenvermögen dieser Familie schon in den 1850er Jahren gelegt hatten. Insofern also entspricht diese Generation der Finanzpiraten, die von der verherrlichenden amerikanischen Literatur als "Empirebuilder" bezeichnet werden, noch durchaus dem amerikanischen Mythos. Allmählich aber begann sich nun aus ihnen eine Schicht heranzubilden, die weder mit dem Geist noch mit den rauhen Sitten des amerikanischen Grenzertums mehr etwas zu tun hatte. Diese neue Plutokratie vermag nun aber durch die ungeheure Macht, die sie durch ihr Geld automatisch ausübt, auf den gesamten Gesellschaftsaufbau, auf die wirtschaftliche Entwicklung wie auch auf die Politik im engeren Sinne entscheidend einzuwirken. Lange ist noch diese Geldaristokratie vom amerikanischen Mythos verklärt; schließlich aber wird sie der Anlaß zu der großen Wendung sein, durch die Mythos und Wirklichkeit der Vereinigten Staaten gleichzeitig mit dem Ende der Grenze immer stärker auseinanderzutreten beginnen.

Geldoligarchie britischem Einfluß zugänglich

Die Folge der ungeheuren Geldanhäufung in wenigen Familien ist, daß Amerika nun plötzlich eine Schicht erhält, die exklusiv ist. Für sie gelten die Regeln der Demokratie bald nur noch bedingt. Eine Geldoligarchie bildet sich heraus. Die alte virginische und louisianische Aristokratie des Südens ist durch Bürgerkrieg und Rekonstruktionsperiode zerschlagen und bedeutungslos geworden. Die bis dahin führenden bürgerlichen Schichten in Boston und New York, die ihre Tradition auf die erste Gründungszeit, wenn möglich auf die "Mayflower" zurückführen, treten in den Hintergrund, soweit sie nicht zufällig, wenigstens in bestimmten Grenzen, an dem großen Raubzug, den die Erschließung des Westens darstellt, beteiligt waren und selbst Reichtümer erworben haben. (Dies trifft z. B. auf die Familie Roosevclt zu.) Bis an das Ende des 19. Jahrhunderts hatten diese "alten Familien" sich ein unvergleichliches gesellschaftliches Prestige bewahrt. Nun aber sind es fast allein noch der Reichtum, die Anzahl der Millionen, die Rang und Einfluß bestimmen.

Aus diesen Reihen rekrutieren sich nun die exklusiven Klubs in New York, und gerade diese Schicht der Hochfinanz wird nun zum willigen Bannerträger eines plötzlich wieder eindringenden englischen Einflusses. Im Volk herrschte bis hinauf in die Universitäten um jene Zeit und noch bis weit in den Weltkrieg, ja, noch bis in unsere Tage hinein, eine lebhafte und instinktive Abneigung gegen alles Englische. Der Befreiungskampf der heroischen Zeit um 1776 war der Kampf gegen England. Noch 1812 haben die Engländer von Kanada aus eine Invasion in die Vereinigten Staaten unternommen und das Kapitol niedergebrannt. Der amerikanische Mythos war, wenn auch manche Züge, wie der Puritanismus, ursprünglich aus dem Englischen kamen, weitgehend aus der Abneigung gegen die Herrschaft der englischen Aristokratie entstanden. Die Finanzpiraten, die nun die Oberschicht der Vereinigten Staaten zu bilden begannen, fallen indes geistig zwangsläufig in den englischen Kulturkreis zurück, ja, sie werden sogar von ihm geradezu aufgesogen, wie dies bei dem alten Morgan und noch mehr bei seinem Sohn, J. P. Morgan jun., dem Finanzier des Weltkrieges und des jetzigen Krieges, der Fall ist. In diesen Familien haben sich in kurzer Zeit ungeheure Reichtümer angestaut. Sie selbst sind Emporkömmlinge, die im Grunde nicht wissen, was sie mit ihrem so schnell erworbenen Gelde nun eigentlich anfangen sollen. Zunächst lassen sie sich durch ihre Agenten in Europa die Gemälde alter Meister eintreiben, ja, sie transportieren ganze Kirchen und Schlösser Stein für Stein in "Gottes eigenes Land". Dann aber bemerken sie auf Reisen durch Europa und England, daß ihr Reichtum ihnen dort auch die exklusivsten Türen aufzuschließen beginnt. Sie versuchen nun, sich english style and english manners anzueignen und sie so echt wie möglich anzuwenden. Die gemeinsame Sprache tut ein übriges und nicht weniger der englische Snobismus, zu dessen vollgültiger Ausübung bekanntlich Geld gehört. Geld hat man, ein Snob kann man also werden. Es ist somit die Plutokratie, die sich, ohne es selbst zu bemerken, aus dem amerikanischen Mythos allmählich herausentwickelt, durch den sie hochgekommen und zur Macht gelangt ist. All dies beginnt sich in der Epoche Theodore Roosevelts anzubahnen. Die Auswirkungen sollen sich später in größtem weltpolitischem Maßstab zeigen. Während die breite Masse des amerikanischen Volkes von England nichts wissen will, wird in jenen Jahren für die Finanzaristokratie alles erstrebenswert, ja nachahmenswert, ist alles fashionable, was englisch ist.

Töchterexport nach Europa

Vor allem auch die Titel. In dieser Zeit bereits beginnt die amerikanische Finanzaristokratie einen lebhaften Export ihrer jüngeren Tochter. Um gerecht zu sein, muß man allerdings zugeben, daß dieses Exportgeschäft nicht mit einer Frau beginnt, sondern mit einem amerikanischen Botschafter: mit William Waldorf Astor, dessen Mutter in den letzten beiden Jahrzehnten des ausgehenden 19. Jahrhunderts die maßgebende gesellschaftliche Rolle in New York gespielt hat. Er wurde zunächst amerikanischer Botschafter in Rom, übersiedelte nach England, wurde 1899 britischer Staatsangehöriger und starb als Viscount. Daß auf diese Weise eine englische Institution wie die Londoner "Times" in die Hände einer ursprünglich amerikanischen Familie (noch dazu von deutscher Herkunft) gelangen konnte, machte auf die Zurückgebliebenen größten Eindruck. Schon vorher hatte in den 1870er Jahren Jenny Jerome, die Tochter eines zu Geld gekommenen New Yorker Börsenmaklers, Lord Randolf Churchill zu heiraten vermocht. Dies war damals eine Sensation gewesen, die so nachhaltig war, daß der Sohn dieser Ehe, Winston Churchill, sich noch 65 Jahre später als das Ideal englisch-amerikanischen Gemisches in einer Rundfunkrede anpreisen konnte. Im Jahre 1895 heiratete die Tochter William K. Vanderbilts den Herzog von Marlborough, also ebenfalls einen Churchill. Die Tochter des berüchtigten Spekulanten Gould wurde die Frau des Lord Decies. Lord Curzon erwarb die Tochter eines der größten Fleischfabrikanten von Chicago. Um 1909 schätzte man, daß über 500 amerikanische Mädchen der Finanzoligarchie die Frauen von adeligen Ausländern geworden waren. Sie sollen 220 Millionen Dollar in die geleerten Kassen des europäischen Adels eingebracht haben. So war diese neue amerikanische Geldoberschicht plötzlich mit den besten Namen aus dem alten Europa verwandt. Man besuchte sie in England, sie kehrten gelegentlich hoheitsvoll in die alte Heimat zurück. Bis zur Fuchsjagd und bis zu dem aus England bezogenen Butler wurde nun auf Grund all dieser Verflechtungen das englische Vorbild in Amerika getreulich nachgeahmt. Diese britischen Adelstitel haben sich als dasjenige Kapital erwiesen, das sich für England am besten verzinst hat. Soziologisch gesehen, war der Einbruch in den amerikanischen Mythos mit diesem Töchterexport und der Ausrichtung der amerikanischen Oberschicht auf den englischen Lebensstil endgültig erfolgt. Die Internationalisierung dieser Schicht fiel zusammen mit dem Zeitpunkt, zu dem sie allmählich das gesamte Wirtschaftsleben der Vereinigten Staaten monopolartig zu beherrschen begann.

Konzentration der wirtschaftlichen Macht

Wie groß diese Macht war, die sich in dem Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende in diesen wenigen Familien zusammenballte, kann hier nur durch einige Ziffern angedeutet werden. Noch um die Zeit der ersten Wahl von Lincoln lebte nur ein Sechstel der Bevölkerung in Städten mit mehr als 8.000 Einwohnern. Um die Jahrhundertwende war die Stadtbevölkerung auf ein Drittel der Gesamtbevölkerung angewachsen. Rechnete man aber zur Landbevölkerung nur die eigentlichen Farmer, so betrug sie nur mehr zwei Fünftel der Gesamtbevölkerung. Ungefähr im gleichen Entwicklungstempo hatten die großen Finanzmächte die mittleren und kleineren Betriebe überwältigt. Sie waren zu den tatsächlichen Herren der Vereinigten Staaten geworden. Das Pujo-Untersuchungskomitee (genannt nach dem Abgeordneten Arsen Pujo von Louisiana), das im Winter 1912/13 im Auftrage des Repräsentantenhauses die Bankverhältnisse in den Vereinigten Staaten untersuchte, kam zu dem Ergebnis, daß das Haus Morgan, die First National Bank, die National City Bank, die Bankers Trust Company und die Guaranty Trust Company in Wirklichkeit eine einzige Interessengemeinschaft bildeten, die kurz vor dem Tode des alten J. P. Morgan praktisch dem Einfluß dieses einen Mannes unterstanden. Die Direktoren dieser Bankengruppe verfügten zusammen über 341 Aufsichtsratssitze in 112 Konzernen, deren Kapital zusammengenommen über 22 Milliarden Dollar betrug. Dies war am Vorabend des Weltkrieges, zu einem Zeitpunkt, da die Vereinigten Staaten im ganzen zusammen noch immer ein Schuldnerland waren. Um welche Summe es sich dabei handelt, mag der einfache Vergleich zeigen, daß die jährliche Reparationssumme, die Deutschland schließlich durch das Young-Abkommen abgezwungen wurde, rund zwei Milliarden Reichsmark betrug, deren Abzahlung zum Ruin der deutschen Finanzen führte.

Im einzelnen beherrschte die Morgan-Gruppe:

118 Aufsichtsratsposten in 34 Banken und Finanztrusts mit einem Kapital von über 2 ½ Milliarden Dollar;
30 Aufsichtsratssitze in 10 Versicherungsgesellschaften mit einem Kapital von über 2 Milliarden Dollar;
105 Aufsichtsratssitze in 32 Eisenbahn- und Schiffahrtskonzernen mit einem Kapital von über 11 Milliarden Dollar;
63 Aufsichtsratssitze in 24 Industrie- und Handelsgesellschaften mit einem Kapital von über 3 Milliarden Dollar (unter ihnen die United States Steel Corporation);
25 Aufsichtsratssitze in 12 Gas-, Wasser- und Elektrizitätskonzernen mit einem Kapital von über 2 Milliarden Dollar.

Zu ganz ähnlichen Ausmaßen hatte sich der Rockefeller-Konzern und einige andere entwickelt. Der amerikanische Mythos bestand weiter, das gewaltige Wirtschaftssystem der Vereinigten Staaten aber war bereits in diesem Jahrzehnt vor dem Weltkrieg in den Händen einer kleinen Gruppe von Finanzmagnaten vereinigt.

In dem Buche "100 Familien beherrschen das Empire" hat der Verfasser auf der Grundlage einer Arbeit von Simon Haxey dargestellt, wie sich in England eine ganz ähnliche Zusammenballung der finanziellen Macht während des "britischen Zeitalters" ergeben hat. Noch im Mai 1941 ist die Quintessenz dieser Untersuchung im amerikanischen Repräsentantenhaus sogar mit Beifall in die politische Debatte geworfen worden. Zwischen der Macht- und Geldzusammenballung in England und der in den Vereinigten Staaten bestehen jedoch erhebliche Unterschiede. Unsere Untersuchung über die britische Plutokratie förderte zutage, daß 181 Unterhausmitglieder des während des jetzigen Krieges tagenden Parlaments zusammen 775 Aufsichtsratsstellen besitzen, die ein Gesamtkapital von annähernd 3 Milliarden Pfund aufweisen. In England stehen die herrschenden Wirtschaftsmächte also gleichzeitig in der vordersten Frontlinie der politischen Führung. Fast alle konservativen Premierminister der letzten Jahrzehnte sind z. B. aus großen Firmen der britischen Rüstungs- und Schwerindustrie hervorgegangen. Baldwin und Chamberlain sind hierfür bezeichnende Beispiele.

Hochfinanz herrscht nur indirekt

In den Vereinigten Staaten dagegen entstand ein wesentlich anderes System, das allerdings zum selben Ergebnis der unbedingten Machtstellung der Plutokratie führte. Der amerikanische Mythos schloß es von jeher aus, daß ein Mitglied einer der herrschenden Bank- oder Industriedynastien etwa zum Präsidenten gewählt wurde. Dies hätte im Widerspruch zu der Tradition der "gleichen Chance" gestanden. Die Durchsetzung eines solchen Kandidaten auf einem Parteikongreß wäre daher niemals möglich gewesen. (Eine der wenigen Ausnahmen war 1940 Wendell Willkie, aber er wurde wenigstens als Selfmademan angepriesen.) Die amerikanische Hochfinanz übte ihre Herrschaft vielmehr die längste Zeit indirekt aus. Sie hatte und hat nicht um ein Lot weniger politisches Gewicht als die britische Plutokratie, nur mußte sie sich entsprechend den amerikanischen Tradition anderer Herrschaftsformen bedienen. Sie bedurfte der Präsidenten als ihrer Marionetten.

Das amerikanische politische System ist, wie wir gesehen haben, aus zwei Wurzeln entsprungen: einmal den theoretischen Überlegungen und den Überzeugungen der Gründer des amerikanischen Staatswesens, die in der auf der Gewaltenteilung aufbauenden Verfassung eines der Grundelemente des amerikanischen Mythos schufen, und dann aus den Erfahrungen der "grenzenlosen" Westwärtsbewegung, durch die der nordamerikanische Kontinent im 19. Jahrhundert erschlossen wurde. Beide Elemente wirkten gemeinsam dahin, daß eine starke Regierung tunlichst vermieden werden sollte. Die Männer, die 1787 in Philadelphia über die Verfassung berieten, wünschten "einen Kongreß, der nicht unterwürfig und einen Präsidenten, der nicht despotisch sein soll". Sie schufen daher in der Gewaltenteilung von Verwaltung, Gesetzgebung und oberster Gerichtsbarkeit jenes merkwürdige Kompromiß, durch das die Tradition der negativen Regierungsform entstanden ist. Der Kongreß wurde durch diese Verfassung im allgemeinen zum natürlichen Gegner des Präsidenten, da er aus Erfahrung wußte, daß die Rolle des Parlaments um so geringer sein würde, je stärker der Mann im Weißen Haus ist. In der Zeit des Wilden Westens wurde nun vollends der Staat in eine untergeordnete Rolle zurückgedrängt. Es entsprach infolgedessen nicht der amerikanischen Tradition, daß die eigentlich beherrschenden und stärksten Persönlichkeiten und auch Machtgruppen politisch in die vorderste Linie traten. Dies ist immer nur in wenigen Ausnahmefällen, in Zeiten eines nationalen Notstandes möglich gewesen. Lincoln ist von der amerikanischen Geschichtsschreibung z.B. stets als eine Ausnahmeerscheinung unter den Präsidenten angesehen worden.

Amerikanisches Regierungssystem persönlichkeitsfeindlich

So erklärt sich, weshalb die um die Jahrhundertwende sich endgültig formierenden Finanzdynastien, die zu den eigentlichen Herrschern der Vereinigten Staaten werden, ihre Mitglieder nur selten in Regierungsämter entsenden. Der amerikanische Mythos hat das amerikanische Volk über ein Jahrhundert lang dazu erzogen, im Staat und seinen Einrichtungen nur ein notwendiges Übel zu sehen. Wahrend die britische Oberschicht meist die zweiten und dritten Söhne in die Verwaltungs- und Offizierslaufbahn entsandte, war die amerikanische Finanzoligarchie dem Staat gegenüber durchaus vom Mythos der Nation beeinflußt. Sie wollte den schwachen Staat und die schwache Regierung, die dann um so leichter ihren eigenen Zwecken unterworfen werden konnten.

Wir sind hier an einem sehr wichtigen Punkt dieser Analyse der praktischen Auswirkungen des amerikanischen Mythos angelangt.

Geringes Ansehen der Politiker

So erklärt es sich nämlich, daß der Politiker in den Vereinigten Staaten seit eh und je und auch heute noch eine anrüchige Rolle spielt. Das Wort "politician" hatte immer den Beigeschmack des Gentleman-Verbrechers. Die große Masse des Volkes sieht in Amerika in der Politik nichts als eine andere Form des Geschäfts, das zur persönlichen Bereicherung derjenigen dient, die ihm obliegen. Die Politik ist ein Racket wie vieles andere auch. Ja, dieses schwer übersetzbare Wort "racket" bedeutet geradezu einen Betrug, der durch die Täuschung argloser Menschen herbei geführt wird, gegen die in irgendeiner Form eine überlegene Macht ausgespielt werden kann. Wer immer in den Vereinigten Staaten geweilt hat, wird diese niedrige Einschätzung des "politician" im Volke, beim Arbeiter und Farmer sowohl wie in den kultivierteren Schichten als eines der erstaunlichsten Phänomene festgestellt haben. Selbst Männer, die eine große Popularität zu genießen scheinen, sind hiervon nicht ausgenommen. Die Finanzpiraten, die in der Epoche Theodore Roosevelts endgültig die Macht an sich rissen, hatten denn auch von ihren Gegenspielern auf der Seite des Staates eine äußerst geringe Meinung. Sie sahen in ihnen eine untergeordnete Abart der Spezies des Homo Americanus.

Hier zwei Beispiele für viele: Als Morgan mit Theodore Roosevelt wegen der bereits erwähnten großen Eisenbahn-Holding-Gesellschaft, der Northern Security Company, zusammenstieß, schrieb er an den Präsidenten: "Sollten wir irgend etwas falsch gemacht haben, so senden Sie doch Ihren Mann [gemeint war der Generalstaatsanwalt der amerikanischen Regierung] zu meinem Mann [gemeint war ein Rechtsanwalt Morgans]; die beiden können die Sache dann in Ordnung bringen." Dies war allerdings die Sprache entweder eines Souveräns zu einem anderen oder, wenn man will, eines Souveräns zu seinem Untergebenen. Theodore Roosevelt antwortete lakonisch: "That can't be done." Als der berühmte Eisenbahnkönig Hill, der mit der Morgan-Gruppe eng verbunden war, diese Geschichte hörte, tat er den überaus bezeichnenden Ausspruch: "Es erscheint wirklich ziemlich hart, wenn wir auf all das zurück blicken, was wir getan haben, daß wir gezwungen sein sollten, um unser Leben gegen politische Abenteurer zu kämpfen, die niemals etwas anderes getan haben, als sich auf ihren Stuhl zu setzen und ein Gehalt einzustreichen."

Hier haben wir in einem Satz die Grundeinstellung der amerikanischen Hochfinanz zu den politischen Führern, die schließlich für das Schicksal des ganzen Landes verantwortlich waren. Man braucht sich indes kaum darüber zu wundern, wenn man weiß, daß dieselben Politiker ja jeweils durch die Wahlfonds zur Macht gelangen, die ihnen von der Hochfinanz zur Verfügung gestellt werden. Es ist bekannt, daß zu dem Wahlfonds von Theodore Roosevelt J. P. Morgan sen. 150,000 Dollar, die Standard-Oil-Gruppe 100,000 Dollar, J. Gould ebenfalls 100,000 Dollar, Harriman 50,000 Dollar unter vielen anderen beigesteuert haben. Infolgedessen betrachtete die Hochfinanz in den schließlich aus den Wahlen hervorgehenden Politikern, selbst wenn sie Persönlichkeiten vom Range Theodore Roosevelts waren, doch nichts anderes als Geschöpfe, die ihr willfährig zu sein hatten. Jede eigene Regung der höchsten Instanzen des Staates erschien der Finanz-Oligarchie als eine Rebellion. Sie war bereits vor dem Weltkrieg zum eigentlichen Nutznießer der staatsfremden, ja, staatsfeindlichen Grundlagen des amerikanischen Mythos geworden.

Die "unsichtbare" Regierung

Ferdinand Lundberg, dessen 1937 in New York erschienenes Buch über die politische Rolle der amerikanischen Millionäre wie ein Volltreffer wirkte, behauptet sogar, auch Theodore Roosevelt sei in Wirklichkeit auf das engste mit dem Hause Morgan verbunden gewesen, und sein berühmter Kampf für die Auflösung der Northern Securities Company sei in Wirklichkeit nur ein Scheinkampf gewesen, da Morgan selbst die Wiederauflösung dieser Gesellschaft gewünscht habe. Lundbergs Beweise sind indes nicht ganz schlüssig. Fest steht allerdings, daß, wie wir schon erwähnten, Theodore Roosevelt gegen die Trusts weit mehr Theaterdonner inszenierte, als den darauffolgenden Handlungen der Regierung entsprach. Doch war Theodore Roosevelt überhaupt eine Persönlichkeit, deren Impulsivität einer Innenpolitik des goldenen Mittelweges nicht entgegenstand. Ob hierbei das Wort Gold im buchstäblichen Sinne zu verstehen ist, wie Lundberg behauptet, ist unwesentlich. Richtig ist, daß Theodore Roosevelt beim Volk den Eindruck zu erwecken vermochte, er sei ein grimmiger Gegner von Wall Street, während in Wirklichkeit in seiner Regierungsepoche keinerlei konstruktive Gesetzvorlagen vorgelegt oder gar durchgeführt wurden, die die nunmehr übermächtig gewordene Plutokratie in ihre Schranken verwiesen hätte. Im Gegenteil, gerade in der Epoche Theodore Roosevelts festigt sich die Macht der Hochfinanz und insbesondere des Bankhauses Morgan so sehr, daß sie nun unbestreitbar die unsichtbare Regierung bildet – the invisible government.

Noch ein letztes Moment aus der Epoche Theodore Roosevelta muß erwähnt werden, das für die spätere Entwicklung überaus bezeichnend ist. Während seiner Präsidentschaft taucht zum erstenmal seit dem Bürgerkrieg das Problem der weitgehenden Selbständigkeit der Einzelstaaten in ihrer Gesetzgebung als eine den ganzen Bund berührende Frage mit größter Schärfe auf. Auch im Verhältnis zwischen Bund und Einzelstaaten ist die Grundlage der amerikanischen Verfassung in erstaunlichem Maße negativ. Dies hängt wiederum mit der Entstehung der Vereinigten Staaten zusammen. Auf dem Konvent in Philadelphia mußte ein sehr schwieriges Kompromiß zwischen den bundesstaatlich ausgerichteten und den für eine Selbständigkeit der Einzelstaaten eintretenden Kräften der Gründungsstaaten geschlossen werden. Die Abneigung gegen eine starke zentrale Gewalt war in den Gründungsjahren der Union so groß, daß nach dem gewonnenen Unabhängigkeitskampf gegen England zeitweise sogar die Gefahr des Zerfalls der in der Konföderation von 1776 zusammen geschlossenen dreizehn ehemals englischen Kolonien bestand. Die gegenseitige Eifersucht schien unüberwindlich. Alle dreizehn Staaten hatten verschiedene Konstitutionen, die auf dem Kongreß von Philadelphia wenigstens notdürftig auf einen einheitlichen Nenner gebracht werden mußten. Als dann der Kompromißvorschlag in Philadelphia ausgearbeitet war, wurde die neue Konstitution in vielen Staaten mit sehr knapper Mehrheit angenommen. Nur das Notwendigste war infolgedessen der zentralen Bundesgewalt übertragen worden. Die Selbständigkeit und Stärke der Einzelstaaten gegenüber der Zentralgewalt ging damit in den amerikanischen Mythos ein. Sie wurde zum ungeschriebenen Gesetz, nach dem sich jeder Präsident zu richten hatte.

Übergewicht der Einzelstaaten

Im X. Zusatzartikel zur Verfassung wurde schon 1791 festgelegt, daß "Befugnisse, die den Vereinigten Staaten durch die Verfassung nicht übertragen oder den Einzelstaaten durch sie nicht entzogen sind, den einzelnen Staaten oder dem Volke vorbehalten bleiben". Eine durchaus negative Formulierung! Der Bund kann nur die Rechte ausüben, die ihm ausdrücklich übertragen sind. Nun hat sich zwar in der geschichtlichen Entwicklung zwangsläufig eine immer größere Stärkung der Zentralgewalt heraus gebildet, aber dieser Weg zum einheitlich geleiteten Staat konnte immer durch Kräfte aufgehalten werden, die sich der Einzelstaaten um ihrer eigenen Zwecke willen zu bedienen wußten. Und gerade diese Kräfte hatten den amerikanischen Mythos für sich, auch wenn es sich darum handelte, daß riesige Kapitalgesellschaften den Partikularismus der Einzelstaaten für ihre Zwecke gegen die Zentralgewalt des Bundes mißbrauchten. F. D. Roosevelts New Deal ist nicht zum wenigsten an dieser Tradition gescheitert.

In der Periode Theodore Roosevelts hätte sehr wohl die Möglichkeit bestanden, diesen sich mit der allmächtig werdenden Hochfinanz verbündeten Partikularismus der Staaten zu brechen, weil das Volk jede energische Maßnahme des Präsidenten gegen Wall Street unterstützt hätte. Aber auch hier blieb die Regierung Theodore Roosevelts auf halbem Wege stecken. Im Staate New Jersey z. B. war bereits 1880 -ein Governor auf die Idee gekommen, zum Zwecke der Hebung der Staatsfinanzen eine Gesetzgebung einzuführen, durch die in New Jersey Holdinggesellschaften gegründet werden konnten; das heißt der Staat New Jersey erlaubte bei ihm eingetragenen Gesellschaften das Kapital anderer Gesellschaften zu übernehmen. Diese Praxis widersprach ohne Zweifel der im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts beginnenden Antitrust-Gesetzgebung. Andere Staaten folgten dem aufmunternden Beispiel. Die Bundesgewalt versuchte mehrfach mit Hilfe von Urteilen des Obersten Gerichtshofes, diese Ausnützung des Partikularismus der Einzelstaaten durch die Hochfinanz zu brechen, doch blieb ihr der Erfolg versagt.

So kündigten sich bereits in den anderthalb Jahrzehnten vor dem Weltkrieg immer unausweichlicher die großen Probleme an, vor die die Vereinigten Staaten nach der Machtergreifung der Hochfinanz gestellt werden sollten. Der amerikanische Mythos ist indes noch ungebrochen. Noch immer sind die Nordamerikaner überzeugt, sie bewohnten das "freieste Land" der Welt. Die Geschichte der großen Finanzpiraten scheint geradezu zu beweisen, wie die amerikanische Demokratie dem "Tüchtigen freie Bahn gibt". Die

[59] Verkrustung der amerikanischen Tradition

"unbegrenzten Möglichkeiten" finden auch nach der Schließung der physischen Grenze ihren Ausdruck in einer ungeheueren Steigerung der amerikanischen Produktion auf allen Gebieten. Kleine unbedeutende ehemalige Grenznecken schießen zu Millionenstädten empor. Der Wohlstand auch der breiteren Massen hebt sich. wobei die schon länger Ansässigen in der Lage sind, den Neueinwandernden jeweils die unterste Stufe im Wirtschaftsleben zu überlassen und dadurch selbst weiter aufzusteigen. Hand in Hand damit gehen, wie wir später noch sehen werden, die ersten Versuche eines nordamerikanischen Imperialismus. Die vorbereitenden Schritte, um Amerika als Weltmacht zu einem neuen Faktor der Geschichte werden zu lassen, sind bereits getan.

Während weniger Jahrzehnte ist ein Industrieproletariat entstanden, das zwar innerhalb des Landes sich noch in einer dauernden Bewegung befindet und von Ort zu Ort zieht, um die jeweils beste Chance ausnützen zu können, das aber zwangsläufig damit beginnen muß, seinen Anteil an dem ungeheueren Anwachsen des Reichtums stärker und stärker zu fordern. Die kalvinistisch-puritanischen Grundlagen des amerikanischen Mythos verhindern freilich vorläufig ein Eindringen des Marxismus im europäischen Sinne. Alles überschattend muß sich indes nun die Konzentration der wirtschaftlichen und finanziellen Macht in wenigen Riesentrusts auf den Gesellschaftsaufbau auswirken. Die Tradition der Geringschätzung der zentralen Bundesgewalt, die Tradition der negativen Regierungsform, die Tradition der Verachtung des Beamten oder im besten Fall seiner Gleichsetzung mit dem Angestellten irgendeines wirtschaftlichen Unternehmens und schließlich das niedrige moralische Niveau, die durchschnittliche Korruptheit und die geringe Einschätzung des "politician" – alle diese Elemente, die die verschiedenen Seiten des amerikanischen Mythos widerspiegeln, müssen nun für die allgewaltig werdende Hochfinanz Ansatzpunkte für eine endgültige Stabilisierung ihrer Macht werden. Gesellschaftlich bildet diese Hochfinanz bereits eine exklusive Kaste, die auf sich selbst naiv die Sitten der englischen Oberschicht überträgt und sich von der von ihr abhängigen Presse feiern und beschreiben läßt, wie dies in England mit den Herzoginnen und Herzögen, ihren Töchtern und gesellschaftlichen Zirkeln seit langem geschah. Eine Verkrustung der amerikanischen Tradition tritt ein. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, ob die scheinbare Grenzenlosigkeit schließlich doch auf eine Grenze stoßen wird, durch die das ganze Land in den Wirbel einer Krise getrieben werden muß, durch die dann die ganze bisherige Lebensform und Ideologie der Vereinigten Staaten in Frage gestellt wird.

Scheinprosperity nach dem Weltkrieg

Wir können hier die sozialen Folgen des Weltkrieges übergehen, da wir hierauf in anderm Zusammenhang zu sprechen kommen, und uns der Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft in dem Jahrzehnt zwischen Versailles und dem Ausbruch der großen Krise im Jahre 1929 zuwenden. Nichts Prinzipielles ist über diesen Zeitraum auszusagen, wofür nicht schon in der Epoche zwischen der Schließung der geographischen Grenze und dem Ausbruch des Weltkrieges die Wurzeln gelegt gewesen wären. Nur finden wir in dieser Epoche alle Einzelzüge, die den Wandel der Machtverhältnisse in den Vereinigten Staaten und die Veränderung des Gesellschaftsaufbaues bereits ankündigen, noch stärker ausgeprägt. Das wirtschaftliche Leben befindet sich nach einer kurzen und schmerzhaften Periode der Umstellung aus der Kriegswirtschaft nochmals in rapidem Aufschwung. Die Prosperity des Abzahlungsgeschäftes schließt zunächst jeden Pessimismus gegenüber einer scheinbar ungehemmten Aufwärtsentwicklung aus. Autos, Eisschränke, Radioapparate, selbst die kleinsten Gegenstände des täglichen Bedarfs, alles wurde den Amerikanern und vor allem den Amerikanerinnen auf Abzahlung angeboten. Eine Kreditinflation setzte ein, die in keinem Verhältnis mehr zu der tatsächlichen Kaufkraft stand. Das Abzahlungssystem schuf den babylonischen Turm des amerikanischen Überkapitalismus. Von hier aus setzte später auch die Krise ein.

Einwanderungsstop als erster Wendepunkt

In dieser Periode tritt zum erstenmal eine Erscheinung auf, die für die nun mit voller Macht einsetzende Versteinerung des amerikanischen Mythos typisch ist: die Einwanderung, die eine der Grundlagen der bisherigen "grenzenlosen" amerikanischen Entwicklung gewesen ist, wird beschränkt. Damit wird zum erstenmal zum Ausdruck gebracht, daß trotz der wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung die Vereinigten Staaten sich nun. als eine "fertige Nation" zu fühlen beginnen und daß man den "unbeschränkten Möglichkeiten der Grenzenlosigkeit" nicht mehr traut.

Nach der offiziellen Statistik sind von 1820 bis 1920 26,3 Millionen Menschen nach den Vereinigten Staaten eingewandert. Hiervon kam der größte Teil in den 40 Jahren zwischen 1880 und 1920 in das Land. In dem Jahrzehnt zwischen 1870 und 1880 beträgt die Einwanderung noch 2,5 Millionen, um in dem Jahrzehnt zwischen 1880 und 1890 auf 4,2 Millionen zu steigen. Zwischen 1890 und 1900 sind es 3,2 Millionen, zwischen 1900 und 1910 wird mit 5,5 Millionen der Höhepunkt erreicht, zwischen 1910 und 1920 wandern noch immer 3,4 Millionen ein. In den Jahren 1917, 1921 und 1924 werden die Grundlagen der neuen Einwanderungsgesetzgebung geschaffen, durch die sowohl die absolute Zahl der Einwanderer erheblich herabgemindert, wie vor allem durch die Einführung eines Quotensystems nach der rassischen Zugehörigkeit die Zusammensetzung der Einwanderung reguliert wird. 1924 wird die Gesamtzahl der jährlichen Einwanderer auf 165.000 beschränkt, von denen 86,6% den nordischen Ländern vorbehalten bleiben sollen, während für die Südeuropäer, Mexikaner und Slawen nur 13,4% zur Verfügung stehen. Die Einwanderung der Japaner und Chinesen wird völlig unterbunden.

Dies war ein bewußter Akt zur Verhinderung der Bildung eines Elendsproletariats, für das man bereits Aufstiegsmöglichkeiten im früheren Sinn nicht mehr sah. Auf der ändern Seite sollte durch das Quotensystem der angelsächsische Charakter der Vereinigten Staaten unter allen Umständen erhalten und die "Überfremdung" durch katholische Einwanderer aus dem Süden und Osten Europas verhindert werden. Das Land, das später die deutsche Rassengesetzgebung zum Anlaß wütender Ausfälle machen wird, beginnt praktisch mit einer Rassenschutzgesetzgebung, die über das Quotensystem in der Einwanderungspolitik hinaus sogar in manchen Einzelstaaten bereits rasseneugenische Maßnahmen vorwegnimmt, wie sie später in Deutschland zum Gesetz werden. Zum l. Juli 1927 wurde die Gesamtzahl der Einwanderer schließlich auf 150.000 festgesetzt, wobei jeder Nation ein Anteil, der dem Verhältnis zur Gesamtbevölkerung der Union im Jahre 1920 entsprach, eingeräumt wurde.

Der bekannte amerikanische Rassenhygieniker Madison Grant erklärt hierzu: "Die Einwirkung der Masseneinwanderung der jüngsten Zeit und deren Nachkommenschaft wird sich in genügender Stärke geltend machen, um die Bevölkerungszunahme in den Vereinigten Staaten noch für einige Zeit zu sichern, aber alle Anzeichen deuten darauf hin, daß, falls überhaupt keine Einwanderung mehr geduldet wird, das zahlenmäßige Wachstum der Vereinigten Staaten nach zwei oder drei Generationen zum Stillstand kommt, wahrscheinlich schon, bevor eine Bevölkerungsziffer von 150 Millionen erreicht sein wird – und mehr sind auch gar nicht nötig."

Wir können hier auf das Rassenproblem in den Vereinigten Staaten nicht näher eingehen. Praktisch ist im letzten Jahrzehnt vor 1939 die Einwanderung so gut wie überhaupt gestopt worden, bis auf die Scharen der Emigranten und vor allem der Juden, die sich naturgemäß der besonderen Begünstigung der Regierung Franklin Roosevelts erfreuten. Im dritten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts beginnt also einer der wichtigsten Impulse der bisherigen amerikanischen Entwicklung, die Einwanderung, plötzlich zu versiegen, wobei man versucht, das rassische Verhältnis so zu stabilisieren, daß von den weißrassigen Einwohnern etwa 70% nordischen Ursprungs bleiben. Ein Verhältnis, das sich allerdmgs auch bei völliger Unterbindung der Einwanderung zugunsten der Slawen und Südeuropäer, die auch in den Vereinigten Staaten eine größere Fruchtbarkeit aufweisen, verschieben dürfte. Die Vereinigten Staaten wollen nunmehr die koloniale Periode bewußt als abgeschlossen ansehen, in der sie beinahe unbeschränkte Aufsaugemöglichkeit neuer Einwanderer besaßen. Und dies geschah, obwohl Amerika als Land des Überflusses unendlich viel mehr zu produzieren vermochte, als seine Bevölkerung selbst in den damals noch günstigen Jahren zu verbrauchen imstande war. Die Beschränkung der Einwanderung deutet infolgedessen als erstes Mahnzeichen darauf hin, daß ein Amerika im Entstehen im Begriff war, das sich von der Überlieferung des American Dream wesentlich zu unterscheiden begann.

Jene große Wendung, die sich auf dem Gebiete der Einwanderungspolitik in den 1920er Jahren in Amerika ankündigt, hat auf den übrigen Feldern der politischen Entwicklung keine Entsprechung. Diese Zeitspanne erscheint vielmehr als die unbeschränkte Vorherrschaft der Hochfinanz, die nun auch im Gegensatz zu ihrer bisherigen Tradition dazu übergeht, gelegentlich sogar wichtige Staatsämter – unter sorgfältiger Aussparung des Präsidentenpostens – zu besetzen. In der Periode Harding-Coolidge-Hoover reiht sich gleichzeitig ein Skandal an den ändern. Der beherrschende Einfluß der Hochfinanz auf die Politik zeitigt seine Folgen.

Aushöhlung der Präsidentschaft

Die Präsidentschaft Hardings gilt als eine der dunkelsten Perioden der amerikanischen Geschichte. Dieser unbedeutende, aus Ohio stammende Senator, der der amerikanischen Öffentlichkeit bis kurz vor seiner Nominierung so gut wie unbekannt gewesen war, wurde von der Rockefeller-Gruppe "entdeckt" und mit ihrer Hilfe auf dem Republikanischen Parteikonvent 1920 in den Sattel gehoben. Lundberg hat eine Liste von Großkapitalisten, die eine ganze Seite füllt, zusammengestellt, die zum Wahlfonds Hardings beigesteuert haben. Er soll zehn Millionen Dollar betragen haben. Diese Liste ist mit einer Aufzählung der hervorstechendsten Persönlichkeiten der amerikanischen Hochfinanz jener Periode identisch. In Harding schien das Großkapital also jenen Typus der völlig unbedeutenden Puppe gefunden zu haben, durch die das Amt des Präsidenten innerlich völlig ausgehöhlt werden sollte. Der von dem Finanzkapital bereits seit zwei oder drei Jahrzehnten angestrebte Idealzustand schien erreicht zu sein. Coolidge, der Harding als Vizepräsident beigegeben wurde, war der Kandidat der Morgan-Gruppe gewesen, deren Einfluß gegenüber der Rockefeller-Gruppe mit ihrem Kandidaten Harding auf diese Weise auf gewogen wurde. Schon die Präsidenten Taft und McKinley sind von kritischen Beobachtern der damaligen Zeit als "Standard-Oil-Präsidenten" bezeichnet worden. Harding sollte schließlich im Ölgeruch, mit dem sich das Weiße Haus seit seinem Betreten erfüllt hatte, ersticken. Er ernannte Andrew W. Mellon zum Schatzsekretär. Damit zog zum erstenmal in ein wichtiges Staatsamt ein Mitglied der ersten Reihe der Finanzoligarchie ein. Hoover erhielt das Handelsministerium. So waren in diesem Kabinett Hardings die drei Präsidenten dieser Periode bereits versammelt.

Es ist kaum nötig, hier die schmutzige Geschichte der Skandale wiederzugeben, in deren schlimmstem, dem sogenannten Teapot Dome, Harding schließlich unterging. Der Skandal gipfelte darin, daß der Innenminister Fall durch die verschiedenen ölgesellschaften, vor allem durch die Sinclair Oil Company, ungefähr eine halbe Million Dollar Bestechungsgelder erhalten hatte, wofür Fall mit Hilfe des Sohnes des Präsidenten Theodore Roosevelt und dessen Bruder, Archibald Roosevelt, Ölländereien abtrat, die der amerikanischen Marine gehörten. Die Zahl der in den Skandal verwickelten Persönlichkeiten der Hochfinanz war beträchtlich. Präsident Harding selbst starb gerade rechtzeitig (ob durch Selbstmord, ist nicht geklärt). Fall wurde nach langjähriger Untersuchung 1931 wegea Bestechung zu Gefängnis verurteilt. Die Stufen des Weißen Hauses waren durch den Skandal reichlich befleckt.

Dennoch hatte die Explosion, mit der die kurze Präsidentschaft Hardings endete, keine grundsätzlichen Folgen. Vizepräsident Coolidge zog in das Weiße Haus ein, wo er nach seiner Wiederwahl im Jahre 1924 bis zum März 1929 verblieb. Persönlich sauber und ein Mann der kalvinistischen Tradition, war er gleich Harding nichts anderes als ein Geschöpf der Hochfinanz. Seine durchschnittliche Begabung war den Intrigen seiner Umgebung kaum gewachsen. Nüchtern und bar jeder staatsmännischen Phantasie, huldigte er der Tradition der schwachen, der negativen Regierung. Der Generalnenner seiner Überzeugungen bestand darin, daß er glaubte, "in den Vereinigten Staaten gäbe es viel zuviel Gesetze." Er wollte infolgedessen "nicht versuchen, neue hinzuzufügen". Noch einmal schien eine goldene Periode des Laissez-faire angebrochen zu sein. Die Macht der Präsidentschaft der Vereinigten Staaten schien überhaupt gebrochen.

Coolidges Interesse konzentrierte sich darauf, daß die Parteimaschine der Republikaner möglichst reibungslos lief. In jener Zeit wurde der schon früher übliche Begriff der "Maschine" für das Parteisystem zur klassischen Formel. Ich habe in Amerika bemerkt, daß dabei der Durchschnittsamerikaner zwischen "machine" und "gang" nur einen sehr unbedeutenden Unterschied sieht. Die Parteipolitik wurde nun vollends zum Racket, durch das die Politiker durch den Mißbrauch ihrer lokalen Macht in den Gemeinden, auf den Posten der Governors und schließlich in den zentralen Stellen der Bundesbehörden ihre eigenen oder die Taschen ihrer Freunde füllten. Die berühmten Verhältnisse im Chicago jener Zeit, in dem die Gangster mit den Polizeichefs und deren Untergebenen gemeinsame Sache machten, waren nur das am meisten bekannte Beispiel für den Zustand, in den das gesamte Staatswesen geraten war. Das Judentum, das noch unter Theodore Roosevelt nur einen kleinen Anteil an der inneramerikanischen Entwicklung hatte, schob sich nun immer sichtbarer in den Vordergrund. Coolidge selbst wurde von dem Morgan-Partner Dwight Morrow und von Andrew Mellon, den er als Schatzsekretär beibehielt, geleitet. "Coolidge betete die reichen Männer an, weil sie reich waren; und Mellon war einer der reichsten Männer der Vereinigten Staaten. Seine Ansichten über die Finanzprobleme waren vorsintflutlich, und er hatte nicht die geringste Idee, wie man eine Gesetzgebung handhabt – in der Tat ein Gegenstand, mit dem er keinerlei Erfahrung hatte, es sei denn durch seine Verbindungen zur Republikanischen Parteimaschine von Pennsylvania. Coolidge aber nahm an, daß ein reicher Mann von Natur aus sich als erfolgreicher Schatzsekretär erweisen müsse …", schreibt sogar der jüdische Professor Laski über jene Periode.

Dies ist indes noch ein harmloses Urteil. Die Meilen-Gruppe kontrollierte 35 Banken und 40 Industrie- und Handelsgesellschaften mit einem Gesamtkapital von 4,2 Milliarden Dollar. Durch

[66] Enrichissez-vous

zahlreiche Querverbindungen war sie wieder mit dem Hause Morgan und mit Kühn, Loeb & Co. und anderen Großbanken verknüpft. Die Politik Mellons im Schatzamt war infolgedessen allein darauf gerichtet, den Monopolkapitalismus der Hochfinanz nun auch durch die oberste Bundesbehörde endgültig zu legalisieren. Sein wichtigster Berater im Schatzamt war der in Deutschland als Reparationsagent bekannt gewordene Parker Gilbert, der später ebenso wie Owen D. Young, der Verfasser des Young-Planes, in das Bankhaus Morgan als Partner aufgenommen wurde. Eine der ersten Maßnahmen Mellons war eine Korrektur der Einkommensteuer, durch die von einem auf den anderen Tag die großen Finanzgesellschaften und Banken sechs Milliarden Dollar weniger Steuern zu zahlen brauchten. Obwohl der Reichtum der Finanzoligarchie ungeheuer angewachsen war, zahlten die hohen Einkommen von mehr als 300 000 Dollar schon im Jahre 1922 nur 366 Millionen Dollar Steuern, während sie 1916, noch vor der Einführung der Kriegsgesetze, eine Milliarde gezahlt hatten. So wurde die Entsendung Mellons in das Schatzamt zur offenen Diktatur der Hochfinanz. Schließlich wuchs sich seine Amtsführung – Mellons Bildergalerie ist noch 1941 mit feierlich-preisenden Reden von Franklin Roosevelt in Staatsbesitz übernommen worden – zum offenen Racket aus. Dies geschah vornehmlich durch Zurückzahlung von angeblich zuviel gezahlten Steuerbeträgen. Die Liste dieser Steuerrückzahlungen füllte beim Ausscheiden Mellons aus dem Amt siebzehn Foliobände mit über zwanzigtausend Seiten. 1,2 Milliarden Dollar Steuerbeträge wurden während seiner Amtszeit an das Finanzkapital zurückerstattet. Mellon selbst ließ sich sieben Millionen Dollar Steuern zurückvergüten, seine Gesellschaften 14 Millionen und Morgans United States Steel Corporation 27 Millionen.

Praktisch gab es am Ende der Amtsperiode Coolidge-Mellon-Morrow überhaupt keine Macht mehr in den Vereinigten Staaten, die gegen die unbeschränkte Vorherrschaft des Großkapitals hätte Widerstand leisten können. Zwischen den Interessen der Hochfinanz und denen des Staates schien kein Unterschied mehr zu bestehen. Die Parteimaschine in allen Staaten und Gemeinden befand

[67] Demokratie wird Fassade

sich völlig in ihrer Hand. Die Wahlen, die schon längst nur noch eine Angelegenheit der Wahlfonds geworden war, wurde vollends zur Farce. Der Oberste Gerichtshof, dem nach dem Prinzip der Gewaltenteilung in der amerikanischen Verfassung eine besondere Bedeutung zukam, war ebenfalls nach dem Wunsche des Großkapitals umgeformt worden, nachdem William Howard Taft, der Präsident der USA. von 1909 bis 1913, von Harding zum Obersten Bundesrichter ernannt worden war. Sechs unter den neuen Bundesrichtern standen einhellig auf der Seite des Finanzkapitals, wodurch bei fast allen Zweifelsfragen und auch Skandalprozessen, die in der letzten Instanz vor den Obersten Bundesgerichtshof kamen, die Mächte der Hochfinanz recht bekamen.

Die Wahlen im Herbst 1928 waren von den Demokraten und Republikanern wiederum mit der Aufbietung außerordentlicher Geldmittel vorbereitet worden. Den Republikanern standen etwa neuneinhalb Millionen, den Demokraten sieben Millionen Dollar zur Verfügung, die durch Beiträge des Großkapitals aufgebracht worden waren. Wie üblich ist die Liste der Spender für die Wahlfonds identisch mit einer Aufzählung der bekanntesten Namen dea Finanzkapitals. Interessant ist, daß diesmal das jüdische Kapita. bereits eine wesentlich größere Rolle spielte als in früheren Wahlkämpfen. So finden sich u.a. drei Brüder Guggenheim, Mortimer Schiff, Otto Kahn, Herbert Strauß, Eugene Meyer, Julius Rosenwald auf der Republikanischen Spendenliste. Auf der Demokratischen Bernard Baruch, Herbert Lehman, Samuel Untermyer, Jerome Hanauer vom Bankhaus Kühn, Loeb & Co., Samuel Lewisohn und andere. Der Republikanische Parteikonvent in Kansas City stand unter dem Zeichen eines heftigen Kampfes zwischen einer Gruppe, die den bewährten Sachwalter des Großkapitals, den Schatzsekretär Mellon, zum Präsidenten vorgeschlagen hatte, und der Morgan-Gruppe, die in Herbert Hoover einen willfährigen Anwalt ihrer Interessen zu besitzen glaubte. Der Kampf wurde durch einen Morgan-Partner, Thomas Cochran, entschieden. Mellon erhielt die Zusage, daß er weiterhin das Schatzamt behalten sollte. Das System der amerikanischen Demokratie hatte sich nun hervorragend eingespielt. Es kam vor den Volkswahlen nur darauf an,

[68] Ein Morgan-Kabinett in Washington

daß die einzelnen Finanzgruppen sich schließlich darüber einig wurden, welche Posten ihre jeweiligen Vertreter in der künftigen Regierung einnehmen sollten.

In dem Trio Harding-Coolidge-Hoover ist der Präsident von 1929 bis 1933 die stärkste Persönlichkeit gewesen. Harding haben wir bereits als unbedeutenden Strohmann kennengelernt, Coolidge war ein farbloser Anbeter der Finanzoligarchie. Hoover erscheint als die lebendige Verkörperung der Prosperity jener Zeit. Er war während des Wellkrieges als der Nahrungsmitteldiktator der USA. in die vorderste Reihe der Politiker gerückt. Zwanzig Jahre lang hatte er vordem im britischen Weltreich als Vertrauensmann einer Londoner Bankengruppe in Afrika, Australien und Asien gearbeitet. In dieser Bankengruppe spielte die Londoner Zweigfiliale Morgan-Grenfell & Co. die wichtigste Rolle. Aus jener Zeit stammte die Verbindung zu Morgan und seinen Partnern Lamont und Dwight Morrow, die Hoover den Präsidentenposten endgültig sichern sollten. Zum Staatssekretär wählte er Henry L. Stimson, der ebenfalls mit dem Bankhaus Morgan in enger Verbindung stand. Schatzsekretär wurde entsprechend der Vereinbarung vor den Wahlen Mellon, Marineminister ein Direktor der American Telephone and Telegraph Co., die wieder dem Bankhause Morgan gehörte. Der Marineminister war außerdem noch der Schwiegervater von Henry Sturgis Morgan – dem Sohn von J. P. Morgan jun. Bis auf den Multimillionär Mellon war also das Kabinett Hoovers praktisch die Morgan-Filiale in den Staatsräumen in Washington. Noch krasser als in der Periode Harding-Coolidge trat Hoovers Kabinett von vornherein als der Sachwalter der Hochfinanz in Erscheinung.

In der Rede, in der Hoover in Kansas City die Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten annahm, erklärte er: "Die Chance ist gegeben, im Sinne der Politik der letzten acht Jahre fortzufahren. Mit der Hilfe Gottes werden wir bald den Tag sehen, an dem von dieser Nation überall der Fluch der Armut gewichen sein wird." Sein Wahlsieg über den Demokratischen Governor von New York, Al Smith, wurde als bedeutendes Ereignis gefeiert. Smith, der erste katholische Präsidentschaftskandidat, hatte indes ebenso wie Hoover eine Gruppe des Finanzkapitals hinter sich, von der insbesondere das jüdische Bankhaus Lehman in New York zu erwähnen ist, das später in der Roosevelt-Epoche in Herbert Lehman den Governor von New York stellen sollte. In der damallgen Zeit schien der Kampf zwischen Smith und Hoover grundsätzliche Bedeutung zu haben, in Wirklichkeit waren es nur zwei einander bekämpfende Finanzgruppen, die diesen Kämpfen um die Präsidentschaft ihr besonderes Gepräge gaben. Die Demokratische Partei, die macht- und geldmäßig den Republikanern lange unterlegen war, hatte sich in der Prosperity-Zeit allmählich ihre Hilfstruppen gesammelt. Schon sehen wir diejenigen Kräfte aufmarschieren, die später unter Roosevelt eine hervorragende Rolle spielen werden. Neben Herbert Lehman, der 1928 insgesamt eine Million Dollar für die Demokratische Partei aufgewandt hatte, trat damals bereits der aus Texas stammende Bankier Jesse Jones, später ein wichtiges Mitglied der Regierung Franklin Roosevelts, und der mächtige Industriekonzern Du Pont, in den ein Sohn Franklin D. Roosevelts später einheiratete (was nicht hinderte, daß ab 1936 die Du Ponts das New Deal erbittert zu bekämpfen begannen).

Der Zusammenbruch - 30 Milliarden Dollar in 19 Tagen verloren

Die Amtsperiode Hoovers brachte den entscheidenden Wendepunkt. Die Börse hatte auf seine Wahl mit einem neuen Boom reagiert. Die Aktienkurse befanden sich in schwindelndem Aufstieg. Im September 1929 kletterten sie auf den höchsten bisher bekannten Stand. Das Versprechen Hoovers, daß er den unbegrenzten Wirtschaftsaufschwung der letzten acht Jahre weiter und immer weiter führen werde, schien sich voll zu bewahrheiten. In Wirklichkeit dominierte in diesem Jahr 1929 nur noch die Spekulation. Die Kaufkraft der Massen, insbesondere aber der Farmer, war in keiner Weise mit der sprunghaften Aufwärtsentwicklung der Aktien und Obligationen gewachsen. Die Irrealität dieser Prosperity vermochte indes niemand zu sehen. Der große Krach kam infolgedessen völlig unvermutet. Er begann am 24. Oktober 1929 zwischen 10 und 11 Uhr morgens. Innerhalb weniger Stunden gab es plötzlich für eine große Anzahl von Aktien an der New-Yorker Börse keine Käufer mehr. Unter Thomas Lamonts Vorsitz (Morgan) wurde noch am selben Tag ein Konsortium der Hochfinanz gegründet, um den so überraschend ausgebrochenen Börsenkrach aufzuhalten. Vergeblich. Zwischen dem 24. Oktober und dem 12. November waren 30 Milliarden Dollar durch den Sturz aller Papiere an den Börsen der USA. verloren worden – die Summe entsprach den Gesamtkosten, die die Vereinigten Staaten im Weltkrieg gegen Deutschland aufgewandt haben. Sie war zehnmal so groß als die Gesamtkosten des Bürgerkrieges. Wir können uns in diesem Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Gründen der im Jahre 1929 unabwendbar einsetzenden Krise nicht näher befassen. Wichtig für uns sind nur ihre psychologischen Auswirkungen und ihre politischen Folgen.

Der Verlust dieser 30 Milliarden Dollar an der Börse hatte selbstverständlich die ungeheuerlichsten Folgen auf die amerikanische Gesamtwirtschaft. Zehntausende, ja Hunderttausende hatten innerhalb weniger Tage ihr in Aktien angelegtes Vermögen zu zwei Dritteln, ja oftmais ganz verloren. Die Rückwirkung insbesondere auf die Luxusindustrie, auf den Verkauf von Autos, Radios, Eiaschränken und all den anderen Bedarfsgütern der Zivilisation, auf deren Verbrauch die Ausweitung der "unsichtbaren Grenzen" im ersten Nachkriegsjahrzehnt in den Vereinigten Staaten vor allem beruhte, mußte katastrophal sein. Ganze Käuferschichten fielen bereits nach diesen drei Wochen der sich jagenden Kursstürze mit einem Schlage aus.

Entscheidend ist nun, daß weder Hoover noch seine Auftraggeber im Kreise der Hochfinanz den grundsätzlichen Charakter der Krise erkannten. Hochfinanz und Regierung glaubten, daß es sich um eine jener Krisen handele, wie sie den Aufschwung und die Ausweitung des nordamerikanischen Wirtschaftslebens ständig in regelmäßigen Abständen begleitet haben. Im Weißen Haus wurde daher eine Konferenz abgehalten, auf der Hoover die Parole "Business as usual" ausgab. Er empfahl den Banken, ihre Käufe einfach wie üblich fortzusetzen, das "Gleichgewicht" werde sich

[71] Charakter der Krise von Hoover verkannt

dann alsbald von selbst wiederherstellen. Hoover und die Hochfinanz handelten zweifellos im Sinne des amerikanischen Mythos. Krisen mochte es geben, das war unbestreitbar. Durch die unbegrenzten Wirtschaftskräfte mußten sie sich indes wieder selbst regulieren. In der Umgebung Hoovers wurde daran erinnert, daß auch der Präsident van Buren im Jahre 1838 kurz nach seinem Amtsantritt von einer scharfen Krise überrascht worden war, die er mit folgender Rede beantwortete: "Alle Gemeinschaften sehen immer viel zuviel auf die Regierung. Selbst in unserm eigenen Land, wo die Macht und die Pflichten der Regierung so scharf begrenzt sind, sind wir geneigt, dies zu tun, insbesondere in Perioden einer plötzlichen wirtschaftlichen Abwärtsentwicklung. Dies darf jedoch nicht sein. Die Schöpfer unserer ausgezeichneten Verfassung und das Volk, das sie mit ruhiger Überlegung annahm, handelten nach einem gesünderen Prinzip. Sie urteilten weise, daß es um so besser für die allgemeine Prosperity ist, je weniger die Regierung sich in dsn Gang der privaten Wirtschaft einmischt. Ihre einzige Pflicht ist es, ein System von allgemeinen Gesetzen aufzustellen, durch die jeder Bürger und alle Interessengruppen einen Schutz genießen, der es ihnen ermöglicht, den Lohn für ihre Tugend, ihren Fleiß und ihre Klugheit in Empfang zu nehmen."

Der Präsident von 1929 bemühte sich, nach dem Ausbruch der Krise nach demselben Prinzip wie der Präsident von 1838 zu handeln. Fast ein Jahrhundert war seit den Worten van Burens verflossen. Nichts aber, so glaubte man, hatte sich grundsätzlich für die Vereinigten Staaten geändert. Man mußte nur die bereits zur Tradition, zur amerikanischen Tradition, gewordenen Spielregeln einhalten, alles würde sich dann wieder von selbst in gesunden Bahnen und in ewigem Fortschritt vorwärts bewegen.

Van Burens Rede fuhr folgendermaßen fort: "Wenn ich daher davon absehe, dem Kongreß einen besonderen Plan für die Regulierung der Währung des Landes, für die Milderung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten vorzuschlagen, wenn ich nicht geneigt bin, in die übliche Entwicklung des Außenhandels oder des Binnenhandels einzugreifen, so beruht dies auf der Überzeugung, daß der

[72] Amerikanische Tradition gegen neue Ideen

artige Maßnahmen nicht in Einklang mit den verfassungsmäßigen Pflichten der Regierung stehen und daß ihre Anwendung nicht der tatsächlichen und dauernden Wohlfahrt derjenigen dienen würde, die sie gegenwärtig wünschen." Genau so verhielt sich H. Hoover. Für kurze Monate schien ihm die Entwicklung auch recht zu geben, da im Winter 1929/30 eine Erholung der Börsenkurse eintrat, bis im Frühjahr 1930 ein neuer und noch schärferer Absturz erfolgte, durch den die amerikanische Gesamtwirtschaft, durch die Oktoberkrise von 1929 schon tief getroffen, noch stärker in Mitleidenschaft gezogen werden mußte. Bereits im Jahre 1930 wurde von verschiedenen Seiten dem Präsidenten der Plan für den Aufbau einer produktiven Arbeitslosenunterstützung vorgetragen. Das Weiße Haus lehnte dies als Verstoß gegen die Grundsätze und die Tradition des Amerikanismus strikt ab. Es waren jene Jahre, in denen Hoover unzählige Reden hielt, die stets in den Worten gipfelten: die Prosperity liege "just around the corner". Es könne nicht mehr lange dauern und alles sei wieder wie vorher, und die bei seinem Amtseintritt verheißene Aufwärtsentwicklung werde eintreten.

Die Wirtschaftskrise in den USA. zog binnen kurzem weitere und weitere Kreise. Die "Weltwirtschaftskrise" entstand. Dem Zusammenbruch der österreichischen Kreditanstalt folgte der Bankenkrach in Deutschland und die Ablösung Englands vom Goldstandard. Hoover erklärte ein allgemeines Zahlungsmoratorium für die Kriegsschulden. Nur die Verzinsung der privaten Schulden, insbesondere derjenigen, die Deutschland zur Bezahlung der Reparationskosten hatte aufnehmen müssen, sollten weiterlaufen. Dies entsprach dem Rat, den ihm Thomas Lamont gegeben hatte. Mellon verließ das Schatzamt und wurde Botschafter in London. Die Entstehung der sogenannten Weltwirtschaftskrise, die in Wirklichkeit nichts anderes war als die Dämmerung des hochkapitalistischen Systems überhaupt, gab in den Vereinigten Staaten der Regierung eine verhängnisvolle Möglichkeit, Ursachen und Wirkungen miteinander zu verwechseln. Von 1931 ab wies Hoover darauf hin, daß die Krise ja nun weltweit sei und daß infolgedessen die Vereinigten Staaten von Bedingungen abhängig seien, auf die sie nicht mehr allein Einfluß hätten. Amerika, so behauptete man nun, sei

[73] Dämmerung der negativen Regierungsmethode

wie alle anderen Länder auch nur ein Opfer der allgemeinen Weltkrise. Mit dieser Parole zog denn auch Hoover 1932 in den Wahlkampf, den er gegen Franklin Roosevelt verlor. Von den vier Jahren seiner Präsidentschaft waren dreieinhalb Jahre von der sich ständig vertiefenden und ausweitenden Krise erfüllt gewesen. Um die Zeit des Wahlkampfes im Jahre 1932 war die Zahl der Arbeitslosen auf zwölf bis fünfzehn Millionen angestiegen. Statistisch sind sie niemals genau erfaßt worden.

Der Apparat, den die Zentralregierung in Washington zur Verfügung hatte, war durch die Ereignisse vollständig überrannt worden. Mit Ausnahme des Zahlungsmoratoriums für die Weltkriegsschulden hatte die Regierung so gut wie nichts unternommen, um regulierend in die immer kritischer werdende Lage einzugreifen. Das einzig Erwähnenswerte ist die 1932 erfolgte Gründung der Reconstruction Finance Corporation, die durch großzügige Kreditgewährung die notleidenden Banken und Industriefirmen über Wasser halten sollte. Nicht nur ein Gesetz zur Arbeitslosenunterstützung war indes von Hoover abgelehnt, sondern ebenso ein Gesetz zur Stabilisierung der landwirtschaftlichen Preise. Doch war die Landwirtschaft, die bis zum Weltkrieg immer die solide Grundlage der industriellen Weiterentwicklung gewesen war, in den zwölf Jahren Harding-Coolidge-Hoover ohnedies das verachtete Stiefkind der Bankenregierungen gewesen, die nicht einmal so klug waren, die bis dahin geltenden Grundregeln des amerikanischen Wirtschaftssystems zu beachten, nach denen die Landwirtschaft als die wichtigste geschlossene Käuferschicht für die Industrieprodukte wenigstens notdürftig vor den Schäden einer allzu weiten Preisspanne zwischen landwirtschaftlichen und industriellen Produkten bewahrt worden ist.

Ebenso wie der Präsident hatten sich auch seine Berater aus der Hochfinanz als völlig machtlos gegenüber diesem Zusammenbruch erwiesen. Der Kongreß veranstaltete Untersuchungsausschüsse, aber keiner der Finanzgewaltigen, der hier Aussagen machen sollte, wie man helfen könnte, vermochte mehr als ein unzusammenhängendes Gestammel vorzubringen. Die Finanzoligarchie New Yorks hatte sich in diesem Jahrzehnt der zwanziger Jahre als der

[74] Hilflosigkeit der Hochfinanz gegenüber der Krise

Herr der Welt gefühlt. Nun stellte sich heraus, daß sie sich nicht einmal über die Struktur ihrer eigenen nationalen Wirtschaft im klaren war. Die Verhandlungsberichte dieser Untersuchungsausschüsse des Kongresses sind die schlagenden Dokumente dafür, daß auch die gerissensten Köpfe der Hochfinanz über den Horizont ihrer Finanzmanipulationen nicht hinauszusehen vermochten. Sie wußten ausgezeichnet, wie man mit verhältnismäßig geringem Kapital eine ganze Pyramide von Holdinggesellschaften aufbauen konnte, durch die schließlich weite Bezirke der amerikanischen Wirtschaft unter den Einnuß einer einzigen Finanzgruppe kam, aber über die Bedeutung all dieser Vorgänge für die Gesamtwirtschaft waren sie sich nicht im klaren. Verzweifelt wandte sich Hoover an Morgan, Lamont und Morrow, fragte er Mellon oder den Finanzberater Kemmerer, der die Währung einer ganzen Reihe von europäischen und asiatischen Staaten in Ordnung gebracht hatte: es fiel ihnen einfach nichts ein. Ihr Latein, oder richtiger gesagt, ihr Amerikanisch war zu Ende. Fassungslos starrten sie auf die Kurszettel, die sich wie dunkle Hiobsbotschaften lasen. Einige der wichtigsten Aktien hatten sich an der New-Yorker Börse bis zum Ende der Periode Hoover folgendermaßen entwickelt:

Höchste Notierung
am 3. Sept. 1929
Niedrigste Notierung
im Jahre 1932
American Telephone & Telgraph
General Electric
General Motors
New York Central
Radio Corporation
United States Steel
304
396 1/4
723 3/4
256 3/8
101
261 3/4
70 3/4
34
7 5/8
8 3/4
2 1/2
21 1/4

Noch niemals hatte eine Krise länger als einige Monate gedauert. Der Kurszettel des Jahres 1932 war in der Tat das Todesurteil über diese ganze Epoche. Weder das amerikanische Volk, noch der Kongreß, noch das Weiße Haus, noch gar die Hochfinanz, hatten aber irgendeine Vorstellung, aus welchen Wurzeln sich dieser Zusammenbruch herleitete. Stimmen der Kritik, die durch lange Jahre hindurch kaum mehr aufzutreten gewagt hatten, wurden laut. Aber diese Kritik richtete sich nur gegen Einzel-

[75] Todesurteil über eine Epoche

erscheinungen, gegen die Allmacht des Bankhauses Morgan z. B., gegen die Schwindelgeschäfte, die von der Regierung und vom Obersten Gerichtshof gedeckt worden waren oder auch dagegen, daß Hoover und der bewährte Schatzsekretär Mellon unmittelbar nach dem Ausbruch der Krise im Jahre 1929 als einziges Hilfsmittel eine abermalige Herabsetzung der Einkommensteuer durchgeführt hatten, und zwar in einer Form, durch die gerade die Hochfinanz am besten bedacht worden war – der von ihr beherrschte Staat hatte, als die Krise begann, die Kursverluste wenigstens durch Steuerkürzungen wieder einigermaßen auszugleichen versucht!

Wir schreiben dieses Buch im Jahre 1941. Die Krise von 1929, ja selbst das Jahr 1932 scheinen weit zurückzuliegen. Dennoch sind es nur zwölf, beziehungsweise neun Jahre. Dem Zeitgenossen, der die außerordentliche Entwicklung der dreißiger Jahre miterlebt hat, mögen sie freilich wie Jahrzehnte erscheinen. Im Leben der Völker sind sie es dennoch nicht. Die Entwicklung der amerikanischen Politik vor und während des jetzigen Krieges könnte kaum verstanden werden, wenn man sich den Zustand am Ende dieser Periode nicht genauer vor Augen führt. Er bildet die Grundlage für die Präsidentschaft Franklin Roosevelts. In dieser Zeit entwickeln sich im Keime bereits die meisten jener Probleme, die uns heute beschäftigen.

Der Weltkrieg hatte im inneren Gefüge der Vereinigten Staaten tiefe Spuren zurückgelassen. Zum ersten Male waren die USA. in einer weltweiten Auseinandersetzung als geschlossener Machtfaktor aufgetreten. Die herrschende angelsächsische Gruppe hatte einen Nationalismus amerikanischer Prägung entfaltet, durch den zwangsläufig die übrigen nationalen Gruppen in den Vereinigten Staaten entweder, wie die Deutschen, zu Bürgern zweiter Klasse degradiert oder aber, wie teilweise die Iren und die Süd- und Osteuropäer, zur rückhaltslosen Anerkennung des herrschenden Systems gezwungen worden waren. Weltpolitisch endete der Weltkrieg mit

[76] Merkmale des ersten Nachkriegsjahrzehnts

einer Isolierung, die in der Ablehnung der Wilsonschen Ideen vom "\Slkerbund", einer ewigen Allianz mit England und Frankreich und des Internationalen Gerichtshofs ihren Ausdruck fand. Das Pendel schwang außenpolitisch zu den Traditionen der Abschließung Amerikas von der übrigen Welt zurück. Die Wirkungen im Innern kündigten indes bereits eine neue Entwicklung in den Vereinigten Staaten an.

Betrachtet man das erste Nachkriegsjahrzehnt als Ganzes, so sind es drei Erscheinungen von nationaler Bedeutung, die die Entwicklung der Vereinigten Staaten kennzeichnen: einmal die Herabsetzung und Sperrung der Einwanderung, sodann die Prohibition und schließlich die vollständige Machtergreifung der Hochfinanz und die ebenso vollständige Aushöhlung der Demokratie, die auf allen Gebieten nur noch zu einer Fassade wird, hinter der die Oligarchie der Finanzpiraten ihre Macht ausübt.

Daß wir die Prohibition als eine der wesentlichen Elemente dieser Zeit in den Vereinigten Staaten ansehen, mag vielleicht zunächst erstaunen. Tatsächlich hat sie aber das Leben der amerikanischen Nation in den zwanziger Jahren weitgehend beherrscht. Der Kampf um ein trockenes oder ein nasses Amerika reicht schon in das 19. Jahrhundert zurück. Während des Weltkrieges haben sich die meisten Bundesstaaten zum trockenen Prinzip bekannt. Im Januar 1920 wurde die Prohibition durch die Ratifizierung des XVIII. Zusatzes zur Verfassung zum Bundesgesetz. Es ist erst nach dreizehn Jahren, im Dezember 1933, wieder aufgehoben worden. Seine Entstehung gründet sich auf sehr verschiedene Elemente. Am naheliegendsten ist der puritanische Grundzug des amerikanischen Lebens, der in dem Alkoholverbot seinen stärksten Triumph zu feiern schien. Niemand wird wohl auch bestreiten können, daß ohne die besonderen Kräfte der puritanisch-kalvinistischen Überzeugungen die Prohibition überhaupt hätte zum Gesetz werden können. Die zu einem immer mächtiger werdenden nationalen Faktor anschwellende "Antisaloon League" ist vor allem in den kleinen Städten und auf dem Lande von den Geistlichen der verschiedenen Kirchen und Sekten stark beeinflußt worden. Sie glaubten durch ein allgemeines Verbot des Alkohols das amerikanische

[77] Frauen erzwingen Prohibition

Volk dem Zustand eines "gottgefälligen" Lebens um einen wesentlichen Schritt näherzubringen. Wie stets in der amerikanischen Entwicklung fanden sich die Kirchen hierbei harmonisch mit maßgebenden Vertretern der kapitalistischen Oberschicht zusammen. Die Arbeitgeber im Osten fanden es überaus praktisch, wenn insbesondere die neuen süd- und osteuropäischen Einwanderer ihre Arbeitsleistung nicht durch Alkoholgenuß schwächten. Ebenso hoffte man auf diese Weise im Süden dem Neger das entnervende Gift des Brandy entziehen und ihn hierdurch zu größerer Arbeitsleistung zwingen zu können.

Diese beiden Elemente hätten indes wohl nicht genügt, wenn nicht ein anderer Machtfaktor fast geschlossen für die Prohibition hätte gewonnen werden können: die amerikanische Frau. Graf Hermann Keyserling hat hierauf zuerst hingewiesen, wenn auch vielleicht etwas einseitig. Richtig ist, daß in der Prohibition die für das amerikanische Leben so bezeichnende Vormachtstellung des weiblichen Geschlechts zum erstenmal in einer die ganze Nation umfassenden Gesetzgebung ihren Niederschlag fand. Die Auswirkungen der Prohibition wurden für die Entwicklung des Charakters der ganzen Nation von Bedeutung. Der mit dem Puritanismus verknüpfte Hang zur doppelten Moral wurde stark gefördert. Die Trinkgelage des Präsidenten Harding in einem Nebengebäude des Weißen Hauses z. B., die recht bald ein öffentliches Geheimnis waren, widersprachen nicht nur einem ungeschriebenen Moralgesetz, sondern auch dem geschriebenen Gesetz des Staates. Schon kurz nach der Einführung der Prohibition bildete sich infolgedessen der Brauch heraus, daß die Oberschicht geschmuggelten Alkohol jeder Qualität zu entsprechenden Preisen zur Verfügung hatte, während die Unterschicht auf das Gebräu der Schwarzbrenner angewiesen war, das insbesondere bei der Negerbevölkerung verheerend unhygienische Auswirkungen haben mußte. Das gesamte Land befand sich dreizehn Jahre lang unter dem Terror dieses Gesetzes, gegen das bis auf eine kleine Minderheit jedermann verstieß. Als besondere Ironie mußte es erscheinen, daß sich in jener Periode gerade die Mädchen und jungen Frauen, deren Mütter die Prohibition vornehmlich erzwungen hatten, das Trinken

[78] Standardisierung

in für europäische Verhältnisse jedenfalls erstaunlichen Umfang angewöhnten. Man kann in dieser Beziehung noch heute auf jeder Cocktail-Party in irgendeiner amerikanischen Gesellschaft bemerkenswerte Erfahrungen machen. Doch sind dies nur Randerscheinungen, die freilich im täglichen Leben dieser dreizehn Jahre eine bedeutende Rolle spielten und zeitweise alle anderen Probleme in den Schatten stellten.

Nun könnte man annehmen, daß die Einführung eines so einschneidenden Gesetzes, wie es das Alkoholverbot war, in scharfem Gegensatz zu allem steht, was wir bisher über das Verhältnis von Regierung und Gesetz zur Gesellschaft in den Vereinigten Staaten erwähnt haben. Dieser Widerspruch ist in der Tat höchst interessant. Während die Regierung und mit ihr das ganze Volk immer wieder betont, daß die amerikanische Gesetzgebung möglichst wenig in das Leben der Nation eingreifen soll, wird hier mit einer Zweidrittel-Mehrheit im Kongreß und einer Dreiviertel-Mehrheit in den Bundesstaaten ein Zusatz zur Verfassung angenommen, der in die persönlichen Gewohnheiten jedes Einzelmenschen, wenn er nicht zufällig schon vordem Wassertrinker war, tief eingreift. Bei näherem Zusehen kann man indes entdecken, daß der Widerspruch weit geringer ist, als es zunächst scheint, ja daß die Prohibition sogar besonders typisch für den modeinen Amerikanismus gewesen ist. Die dem amerikanischen Mythos entsprechende Auffassung vom Staat fordert, daß die Regierung in das Wirtschaftsleben nach Möglichkeit nicht eingreift. Parallel damit aber geht eine vor allem nach der Schließung der Grenze immer stärker einsetzende Normierung des gesamten Lebens und darüber hinaus auch des Denkens. Das berühmte Beispiel, daß an einem bestimmten Frühlingstag die gesamte Männerwelt wie auf Befehl den Filzhut ablegt und den Strohhut aufsetzt, ist hierfür nur ein äußerlicher Beweis.

Die Industrialisierung dient in den Vereinigten Staaten schon seit Jahrzehnten, und in noch ganz anderer Weise als irgendwo in Europa, der Gleichmachung der Bedürfnisse und der Einengung jeden individuellen Geschmacks, der für den Europäer das Leben gerade erst lebenswert macht. Dies beginnt mit dem Essen, das sich

[79] Kultur des Einheitspreises

für die breiten Schichten entweder zu Hause auf der Patentnahrung der Konservenindustrie aufbaut, oder aber in Kettenrestaurants eingenommen wird, die über das ganze Land hin dieselbe Nahrung normiert und gleichförmig anbieten. Der Kettenladen für die kleineren Bedürfnisse des täglichen Lebens schließt sich an. Das Warenhaus mit seiner völligen Uniformität der Kleidung bildet die nächste Stufe. Die Industrie, insbesondere die Bekleidungsindustrie für die Frau vermag allerdings zu immer billigeren Preisen eine verhältnismäßig geschmackvoll", wenn auch schlecht gearbeitete Einheitsware auf den Markt zu bringen. Dies führt aber schon in kurzer Zeit dazu, daß jeder individuelle Wunsch nur mit unverhältnismäßig großen Geldausgaben befriedigt werden kann. Eine Lebensführung nach persönlichem Geschmack, wie sie sich in Europa immerhin der überwiegende Teil der Bevölkerung zu leisten vermag, wird das ausschließliche Vorrecht der reichen Oberschicht. Alle anderen müssen sich in die Normierung einfügen, die bis zur Industrie der Leichenairfbahrung das gesamte Leben ergreift. Der Verstorbene wird je nach dem Geldaufwand auf verschiedene Weise durch Wachseinspritzungen zur Beschauung und Verabschiedung präpariert. Anzeigen, in denen die Herstellung eines preiswerten "peaceful smile" – des Lächelns des in Frieden Verstorbenen – angepriesen wird, finden sich täglich in der gesamten Lokalpresse.

Dieser Normierung entspricht eine unbeschränkte Diktatur der öffentlichen Meinung. Die besonderen Bedürfnisse, Geschmacksrichtungen und Lebensanschauungen der Frauen rücken hierbei gegenüber den sich im Geldverdienen erschöpfenden Männern mehr und mehr in den Vordergrund. Die Presse, die sich entweder unmittelbar im Besitz der großen Finanzmächte befindet oder aber durch die Anzeigen von ihr in der Gestaltung des Textteiles völlig abhängig ist, dient dieser Normierung der öffentlichen Meinung, der Gleichförmigkeit dessen, was man sagt und tut und schließlich denkt. Die Prohibition war infolgedessen nur eine für europäische Maßstäbe besonders ungewöhnliche Spitzenleistung der Lebensnormierung, wie sie sich in demselben Amerika der wildwachsenden finanzkapitalistischen Wirtschaft für die breite Masse

[80] Der genormte Mensch als Endprodukt

entwickelte. Die Freiheit der eigenen Meinung, wie sie dem "American Dream" entspricht, ist theoretisch unbeschränkt. In Wirklichkeit aber ist sie durch diese Diktatur der öffentlichen Meinung insbesondere in den mittleren und kleineren Städten auf das äußerste eingeengt.

Gegen die herrschende Meinung zu verstoßen, kann die Ausschließung oder Nichtaufnahme in die gesellschaftlich führenden Klubs, die Kündigung der Stellung, die Weigerung der Gewährung von Kredit durch die Banken, kurz jede Art von gesellschaftlichem und wirtschaftlichem Boykott bedeuten. Städte wie New York, Chicago und in geringerem Umfang auch Washington und Philadelphia sind hierfür nicht typisch. In ihrem gewaltigen Sog fällt die eigene Willensäußerung des einzelnen weniger auf. In ihnen konzentriert sich daher auch bereits in den zwanziger Jahren die Schicht der Intellektuellen, die, oft an europäischen Vorbildern erzogen, ihr Leben für sich zu führen versucht und die zum Nährboden bestimmter amerikanischer Kulturleistungen wird, die unbestreitbar einen neuen und bemerkenswerten Zug in dei Entwicklung der Nation schon in jenem Jahrzehnt erkennen lassen. Aber auch und gerade in diesen Riesenstädten ist das Leben des Durchschnittsmenschen nicht weniger normiert als in der kleinen Stadt, wo die Klubs der "Daughters of the Revolution", die "Elks" und "Kiwanis" eine unerbittliche Aufsicht über das Verhalten des einzelnen führen und die Matronen dieser Klubs ihre Fuchtel schwingen.

Diese Normierung des Lebens ist im 19. Jahrhundert durch die offene Grenze stark gemildert gewesen. Bei dem großen Zug nach Westen konnte sich die Einzelpersönlichkeit in einer zeitweise fast unbeschränkten Freiheit bewegen, wenn es auch schon dort in den sich neu bildenden Gemeinden die Ansätze zu einer Allmacht der öffentlichen Meinung gegeben hat, die zu oft sehr erheiternden Zusammenstößen mit eigenwilligen Persönlichkeiten führte. Im Osten hingegen entsteht der Babbit, der normierte Mensch, der so handelt, wie man handelt, schon um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, wie die Berichte vieler Reisenden bezeugen. In den zwanziger Jahren nun beherrscht er das Bild der gesamten Nation.

[81] Sonderbedingungen fallen für amerikanische Gesellschaft fort

Schon vor dem Weltkrieg setzte freilich eine harte, ja beißende Gesellschaftskritik der Intellektuellen ein, die indes die Gesamtentwicklung weit weniger beeinflußte, als die eifrigen Leser von Sinclair Lewis in Europa angenommen haben dürften.

Die zweite für die zwanziger Jahre besonders wichtige Erscheinung, den Einwanderungsstop, haben wir schon erörtert. Seine Folgen sind von außerordentlicher soziologischer Bedeutung. Die immer erneute Festigung des amerikanischen Mythos war nicht unwesentlich davon abhängig, daß sich in den einwandernden Millionen ständig breite Schichten nachschoben, die bereit waren, die schwersten und niedrigsten Arbeiten zu übernehmen. Nur so war es möglich, daß auch nach der Schließung der physischen Grenze um das Jahr 1890 innerhalb des Handarbeiterstandes sich eine dauernde soziale Verschiebung ergeben konnte, die dem Sohn zu gewährleisten schien, daß er es bei normaler Tüchtigkeit zum gehobenen Werkmeister bringen konnte, während der Vater noch ungelernter Arbeiter war. Die "American Föderation of Labour", die wichtigste Zusammenfassung der Gewerkschaften jener Epoche, verwandelte sich mit der Zeit aus einer ursprünglich revolutionären Bewegung in einen sozial fast exklusiven Klub. Der ungelernte Arbeiter, der neue Ankömmling aus Europa, konnte in ihr allmählich immer schwerer Aufnahme finden. (Der Lebensweg einiger jüdischer Gewerkschaftsführer, die in kurzer Zeit in den Gewerkschaften an die oberste Stelle gelangten, ist hierbei keineswegs typisch.) In der "American Federation of Labour" begann sich ein ausgesprochenes Standesbewußtsein zu entwickeln, Dies war indes davon abhängig, daß der aus Europa nachdrängende Strom der Einwanderer nicht abriß, der den sozialen Aufstieg der bereits in Amerika lebenden Arbeiterschichten zu gewährleisten schien.

Gerade die Gewerkschaften waren es allerdings, die sich für den Einwanderungsstop mit besonderem Nachdruck einsetzten, weil sie die Konkurrenz der Neuankömmlinge ausschalten wollten, die praktisch zu jedem beliebigen Lohn bereit waren, Arbeit zu übernehmen. Mit dem Einwanderungsstop aber, den man schon mit einer festgesetzten Gesamtquote von 150 000 als gegeben ansehen

[82] Bevölkerung in USA. wird stabil

darf, wurde der für Amerika bis dahin so typische Prozeß des Bevölkerungszuwachses nicht durch starke Geburtenkraft, sondern durch Nachschub aus dem Ausland beendet. Das Wachstum der amerikanischen Nation begann von nun ab mehr und mehr dem Wachstum aller übrigen weißen, hochzivilisierten Völker zu gleichen. Der Franzose André Siegfried, dessen Soziologie der Vereinigten Staaten um die Mitte der zwanziger Jahre erschien, bemerkte schon damals, das amerikanische Volk gebe durch die Einschränkung der Einwanderung kund, daß es nach seinem Empfinden eine gewisse jugendliche Entwicklungsperiode hinter sich habe und sich ihm ein neues Zeitalter auftue. "Vielleicht ist für Amerika die Änderung seiner Einwanderungspolitik das wichtigste historische Ereignis seit dem Sezessionskrieg. Sie ist die naturgemäße Folge der instinktiven Vorurteile und Befürchtungen und Theorien einer ganzen Nation." Das war richtig beobachtet, obwohl in jenen Jahren an dem ewigen Fortbestand des American Dream eigentlich noch niemand zu zweifeln schien. Die Arbeiterschaft der USA. fand sich jedenfalls mit dem Abschluß der zwanziger Jahre und um die Zeit des Einbruchs der großen Krise bevölkerungspolitisch in einer Lage, die nicht mehr grundsätzlich von der Arbeiterschaft Deutschlands, Englands oder Frankreichs unterschieden war. Die Bevölkerung der USA. war stabil geworden. Sie begann sich nach außen hin abzuschließen. Dies mußte von größtem Einfluß auf den sich umformenden Gesellschaftszustand der Vereinigten Staaten sein.

Auch die offene Machtergreifung der Finanzoligarchie, den dritten besonders hervorstechenden Zug der zwanziger Jahre, haben wir bereits im Umriß geschildert. Vor dem Einbruch der großen Krise steht der einzelne amerikanische Bürger, ob er nun Arbeiter, Angestellter oder freier Geschäftsmann ist, den Riesentrusts und der Zusammenballung der Geldmacht in wenigen Banken gegenüber wie die Ameise dem Elefanten. Die Fiktion der Gleichheit, die Verfassung und Tradition gewährleisten, bleibt aufrechterhalten.

[83] Plutokratie Nutznießer der Normierung

In der Theorie also ist die Ameise noch immer dasselbe wie der Elefant. Gewisse äußere Umstände des amerikanischen Lebens dienen dazu, diese Theorie, so absurd sie geworden ist, auch noch weiter zu stützen. Die Finanzmächte halten sich vor der Öffentlichkeit nach Möglichkeit verborgen. Die Namen der mächtigen Bankiers, die in Wirklichkeit ganz Amerika und seine Regierung beherrschen, werden der breiteren Öffentlichkeit oft erst dann bekannt, wenn sich mit ihnen ein großer Skandal verbindet (daher auch die panische Angst vor Ehescheidungsprozessen in diesen Kreisen).

Auch die Normierung des privaten Lebens der gesamten amerikanischen Nation dient der Verschleierung der Herrschaft der Plutokratie. Es entwickelt sich ein billiger Massenluxus, dem freilich der peinliche Charakter des Talmi anhaftet, der aber über die krassen Unterschiede hinwegtäuscht. Ein in einem Warenhaus gekauftes Kleid für 4,95 Dollar unterscheidet sich auf den allerersten Blick nicht so sehr von einer im Luxussalon erstandenen Robe für fünfhundert Dollar, nicht so sehr jedenfalls wie dies in Europa der Fall wäre – aber nur für den allerersten Blick. Dies trifft auch auf die Nivellierung gewisser Vergnügungen, vor allem des Kinos zu. Auch der Ärmste kann sich denselben Film ansehen, der in der Privatvilla der Multimillionäre nach der von Kerzen beleuchteten Abendtafel den Gästen vorgeführt wird. Alle diese Umstände, wir greifen nur weniges heraus, tragen dazu bei, daß die tatsächlich erfolgte Umschichtung dem Volke in ihrer Bedeutung nicht ganz klar wird. Die neue exklusive Schicht der Finanzoligarchie, die im gesellschaftlichen Leben allein zählt, wird nach wie vor vom amerikanischen Mythos getragen, der ihr gleichzeitig die Handhabe zur Vergewaltigung des Staatsapparates durch die Tradition der "negativen Regierungspolitik" bietet.

In den zwanziger Jahren ist das gesamte amerikanische Volk in seiner überwältigenden Mehrheit davon überzeugt, daß Big Business mit Recht die Führung der Nation beanspruchen darf. Gelegentlich auftretende Streiks haben keine prinzipielle Bedeutung. Die Tatsache, daß ein Multimillionär das Schatzamt des Bundes zum einseitigen Vorteil der Hochfinanz verwaltet, findet keine ernsthafte

[84] Das Goldene Zeitalter

Opposition. Die anscheinend ununterbrochen sich aufwärts entwickelnde Wirtschaft gibt auch der breiten Masse das Gefühl, daß, wenn sie auch die Skandalfälle der Hochfinanz verabscheut, im ganzen genommen alles seine richtige Ordnung hat. Die vom Big Business beherrschte Presse sorgt für die Popularisierung einzelner Wirtschaftsführer. Sie werden zu nationalen Heroen gemacht und als Vorbilder des Jahrhunderts gepriesen. Noch niemals schien das amerikanische Volk in seiner Geschichte so einheitlich zu sein wie gerade in diesem Jahrzehnt der zwanziger Jahre. In der amerikanischen Publizistik ist diese Zeit als die "goldene Glut", als das "Goldene Zeitalter" des Big Business bezeichnet worden. Das war es in der Tat.

Innerhalb der Finanzoligarchie hatte sich freilich gegenüber dem Zustand der Jahrhundertwende ebenfalls eine wichtige Umschichtung vollzogen. Noch gab es einige erratische Blöcke, die zu bestätigen schienen, daß der American Dream ungebrochen herrschte. Unter ihnen vor allem Henry Ford, der deshalb auch zum bedeutendsten Anziehungspunkt der allgemeinen Phantasie wurde. In ihm verkörperte sich das neue Zeitalter des Automobils. Sein Aufstieg aus kleinsten Anfängen schien noch einmal zu beweisen, wie sehr die alte Losung "freie Bahn dem Tüchtigen" der amerikanischen Wirklichkeit entsprach. Tatsächlich aber war die Erscheinung Henry Fords nur noch das Nachspiel einer im wesentlichen bereits abgeschlossenen Periode. Die Zahl der Mitglieder der Hochfinanz und des Big Business, die entsprechend dem amerikanischen Mythos von unten angefangen hatte, war zusehends geringer geworden. Frederic L. Allen gibt für das Ende der zwanziger Jahre eine Zusammenstellung der fünfzig einflußreichsten Finanzgewaltigen von Wall Street. Im Gegensatz zu dem Ergebnis der Untersuchungen um die Jahrhundertwende zeigte sich, daß nicht weniger als vierzig unter ihnen ein abgeschlossenes Universitätsstudium hinter sich hatten. Großenteils waren es nun schon die Söhne der Millionäre und Multimillionäre, die in der Großindustrie und in der Hochfinanz das Szepter schwangen. Die Gründerzeit war bis auf wenige Ausnahmen vorbei. Die goldenen Dynastien waren entstanden. Die Atmosphäre in der Park Avenue in New York, in der

[85] Lebensstil der Finanzoligarchie

die Plutokratie nun lebte, war sehr verschieden von derjenigen der Millionäre der Jahrhundertwende. Der aus England importierte Snobismus treibt nun die merkwürdigsten Blüten. Expressionistische Kunst ist Trumpf. In breiter Front dringt gleichzeitig die jüdische Literatur und überhaupt die jüdische Art des gesellschaftlichen Lebens hier ein und wird bald zum charakteristischen Merkmal für den Lebensstil von Park Avenue überhaupt (was also nicht heißt von Amerika!). Hunderte, ja schließich Tausende von Menschen, die gar nicht dort wohnen können, bestechen irgendeinen Portier der Häuser von Park Avenue, um wenigstens diese Straße als Briefadresse angeben zu können. Der in der wilden Gründerzeit herrschende Geist ist längst verschwunden.

Auch Puritanismus und Kirche verlieren im Kreise der Finanzaristokratie ständig an Boden. So wie es für Park Avenue keine Prohibition gab, so entfernt sich diese Schicht nun mit beständig wachsender Schnelligkeit von dem Leben des Durchschnittsamerikaners. Nur die demokratische Fassade bleibt aufrechterhalten. Eine zivilisatorische Verfeinerung tritt ein, durch die New York in seinen exklusiven Kreisen an Raffiniertheit bald die bisherige "Alte Welt" übertreffen soll. Alle Degenerationserscheinungen des europäischen Westens werden hier noch überspitzt. Klubs entstehen, zu denen der Jahresbeitrag zehntausend Dollar und mehr beträgt. Kleine Atlantikinseln werden von solchen Klubs gekauft und von den Privatjachten der Multimillionäre angesteuert. Sie fühlen sich wahrhaft als die "Herren der Schöpfung". Mit Stolz erklärt man, daß in der Park Avenue und in "Downtown" von New York, wo sich die Wolkenkratzer der großen Bankgebäude, heiße Canons bildend, aneinanderdrängen, nunmehr der Puls der "demokratischen" Welt schlägt. In diesem Jahrzehnt hat das Judentum gleichzeitig New York erobert und in Chicago große Fortschritte gemacht. Damit aber wird der Betrug an den Massen, zu dem die moderne Form der amerikanischen Demokratie führen mußte, nicht mehr naiv, sondern mit Zynismus gehandhabt. Das Judentum, das die Finanzoligarchie mehr und mehr durchdringt, weiß sich der amerikanischen Tradition für seine eigenen Zwecke zu bemächtigen.

[86] District of Columbia

Die Atmosphäre in Washington in jener Periode ist von der New Yorks sehr verschieden. Schon äußerlich bildet Washington unter allen nordamerikanischen Städten eine Ausnahme. Hier ist alles in die Breite gebaut, keine Wolkenkratzer versperren den Horizont. Vom Frühjahr bis zum Herbst in saftigem Grün ertrinkend, erstreckt sich die Stadt über einen riesigen Raum; großartig und weit, von herrlichen Parks durchzogen, die unmittelbar aus der Landschaft Virginias und Marylands herauswachsen, den beiden Staaten, auf deren Grenze der kleine District of Columbia liegt, der nur gerade den Stadtrand Washingtons umfaßt. Es sollte als Hauptstadt keinem einzelnen Staate gegönnt sein – so groß waren Mißtrauen und Eifersucht unter den dreizehn Gründungsstaaten der Union. Das Washington der zwanziger Jahre hat sich das Gesicht der stillen Residenz noch völlig bewahrt. Die Stadt zählte damals noch kaum 400 000 Einwohner. Der Franzose l'Enfant, der im Auftrage George Washingtons den ersten Stadtplan entworfen hat, hat ganz aus dem Raumgefühl des Kontinents an eine weite und großzügige Planung gedacht. Sie wurde für amerikanische Verhältnisse nur langsam ausgeführt. Fast ein Jahrhundert lang, ja bis in die jüngste Zeit, sind die großen Avenuen Washingtons kaum repräsentiv genutzt gewesen. Wahrend vier Eisenbahnstunden nördlich New York machtvoll in die Höhe schoß, um Amerika und der Welt die Saga der "unbegrenzten Möglichkeiten" zu verkünden, während dort jeder der großen Finanz- und Industriegewaltigen sich durch einen Wolkenkratzer für die Ewigkeit im Granit Manhattans verankern wollte, blieben Kapitol und Weißes Haus in den vornehmen Maßen erhalten, in denen sie einst von der virginischen Aristokratie entworfen worden sind, die die Führung im Unabhängigkeitskrieg und den ersten Jahrzehnten der jungen nordamerikanischen Republik besaß. Kaum daß am Kapitol in der Mitte des vorigen Jahrhunderts einige Erweiterungsbauten vorgenommen wurden. Nur die Kuppel, die heute in so vielen Kapitolbauten der Staaten wiederkehrt, ist erst 1865 vollendet worden.

Nichts drückt den Unterschied zwischen New York, der Stadt des Big Business, und Washington, der Stadt der Regierung, schärfer

[87] Altmodisches Kegierungsviertel als Symbol

aus als die Regierungsgebäude selbst, so wie sie bis zum Ende der zwanziger Jahre benutzt wurden. Senat und Oberster Gerichtshof drängten sich in qualvoller Enge in den beiden Flügeln des Kapitols. Mit dem State Department, d. h. dem Auswärtigen Amt, mußten sich das Kriegs- und Marineministerium in ein Gebaude teilen, das, westlich vom Weißen Haus gelegen, im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts entstanden war – in einem Stil, der an die großen Hotels am Ufer des Genfer Sees erinnert, die ungefähr gleichzeitig erbaut worden sind. Östlich vom Wohnsitz des Präsidenten hatte man schon ungefähr ein halbes Jahrhundert früher das Schatzamt nach dem Vorbild der Madeiaine in Paris errichtet. Dies war fast alles, was an Gebäuden der Regierung eines Staates zur Verfügung stand, der in Wirklichkeit ein Kontinent war! Washington sollte altväterlich, zurückhaltend und bescheiden erscheinen. So wollten es die Amerikaner, die nichts mehr lieben als ihre Tradition. Dahinter aber stand mehr: während in New York die Tempel des Geldes aufgetürmt wurden, sollte der Staat und seine Zentralverwaltung theoretisch den Rahmen der Gründerzeit nicht überschreiten. So wird das Bild Washingtons an der Schwelle des vierten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts zum Symbol der Geringschätzung des Staatlichen und der Verwaltung. Zusammen mit New York werden beide Städte zum Ausdruck der Demokratie, wie man sie durch anderthalb Jahrhunderte in diesem Lande verstanden hat. In diesem bescheidenen Rahmen vollzog sich noch die Präsidentschaft von Harding, Coolidge und Hoover.

Am Stadtrand von Washington entstanden in jener Zeit zwei neue große Hotels, die mit den schönsten Luxushotels von New York, Chicago und San Franzisko wetteifern konnten. Sie standen in einem gewissen Gegensatz zu dem Bild, das damals Washington sonst bot. Das hatte seine Gründe. Diese Hotels nämlich waren, abgesehen von den Gästen fremder Regierungen, die mehr und mehr in die Hauptstadt der USA. kamen, für die Bedürfnisse der Hochfinanz und von Big Business erbaut, deren Repräsentanten sich immer häufiger in Washington aufhielten. Schon seit den Zeiten von McKinley und Theodore Roosevelt hatten sich in Washington die sogenannten Lobbies gebildet, die ständigen Büros der großen

[88] Im Dschungel der Lobbies

Trusts, Konzerne und vor allem der Banken, von denen aus die Regierung beeinflußt und bearbeitet werden sollte. In den zwanziger Jahren waren die Lobbies zu einer ständigen Einrichtung in Washington geworden, die zum typischen Bild der Hauptstadt gehörten. Hunderte von Interessenvertretern der Bankhäuser, des Stahls, des Kupfers, des Aluminiums, des Öls, der Eisenbahnen, der Autoindustrie und was immer man will, eilten täglich geschäftig zwischen den neuen großen Hotels, den alten, häßlichen Regierungsgebäuden mit den knackenden Dielen und ihren kleinen, modern möblierten Büros hin und her. Sie alle wollten die Regierung zu diesem oder jenem Akt der Gesetzgebung oder der Verwaltung veranlassen, der zu ihrem Vorteil war. Sie alle schworen auf das Prinzip der Nichteinmischung des Staates in die Wirtschaft, aber für ihren besonderen Fall wollten sie eine Ausnahme: Hunderte von Ausnahmen täglich.

Ein dichtes und unübersehbares Netz von Beziehungen zwischen den Lobbies und ihren Auftraggebern in New York, Chicago, Detroit, Pittsburgh, San Franzisko und Los Angeles mit den Beamten bildete sich heraus, durch das die Staatsmaschine ununterbrochen bald in die eine, bald in die andere Richtung der Wunsche der sich widerstreitenden Interessentengruppen gerissen wurde. Die Senatoren und die Abgeordneten des Repräsentantenhauses wurden von den Lobbies aus bearbeitet. Glänzende Feste wechselten ab mit intimen Abendgesellschaften. Die Industrie und die Hochfinanz bezahlten, die Senatoren und Abgeordneten konnten jeden Tag Gäste sein. Dies war die besondere Investition des Big Business in die altväterliche Hauptstadt. Die Lobbies, für die es auch in den Hauptstädten der Einzelstaaten entsprechende Einrichtungen gab, wurden die genaue Entsprechung der lokalen "Parteimaschine", die selbst riesige Großstädte den Wünschen kleiner, miteinander verfilzter Gruppen von Parteipolitikern und Wirtschaftsinteressenten zu unterwerfen vermochten, voran Tammany Hall, die berüchtigte Parteimaschine der Demokraten in New York, die Anlaß zu einer Unzahl übelster Skandalfälle gegeben hat und von der jeder Demokratische Governor von New York abhängig ist, wie sich dies bei AI Smith, bei Franklin D. Roosevelt und zuletzt bei

[89] Die Verwandlung Amerikas

Herbert Lehman zeigen sollte. Der Republikanische Staatsanwalt von New York Dewey, der sich in der zweiten Amtsperiode Roosevelts durch den (nur teilweise geglückten) Versuch einer Ausräucherung des Dschungels von Tammany Hall einen Namen gemacht hatte, wurde nur wegen des Mutes, den er gegenüber diesem offiziellen Gangstertum gezeigt hatte, zu einer so populären Figur, daß er als Kandidat der Republikaner für die Präsidentschaft 1940 ernsthaft in Frage kam.

Niemand war 1929 auch nur im mindesten darauf vorbereitet, daß die Bedingungen, unter denen sich das Wachstum in die Weite des Kontinents vollzogen hatte, sich plötzlich einmal ändern könnten. Oberflächlich betrachtet, war sich alles gleich geblieben. Der Reichtum schien unerschöpflich. Die Wucht des immer nach vorwärts stürmenden Fortschritts schien ungebrochen. Dennoch hatte sich im Untergrund alles verändert, was den amerikanischen Mythos ausmachte. Wir haben die einzelnen Elemente geschildert und brauchen sie nur noch zu einem einheitlichen Bild zusammenzufügen. Die bisherige künstliche Bevölkerungsvermehrung durch die Einwanderung war zu Ende. Die Demokratie in der ursprünglichen Konzeption der Gründer der Vereinigten Staaten war längst durch die Parteimaschine vernichtet. Die Parteien selbst waren zum Spielball der Interessen der Hochfinanz geworden. Durch sie wurden die wichtigsten Staatsämter besetzt und in einer immerwährenden Reihenfolge von Kompromissen zwischen den gerade vorherrschenden Gruppen der Finanzoligarchie gegenseitig ausgehandelt. Die Demokratie war damit nach der Schließung der Grenze langsam völlig erstarrt. Der wichtigste Bestandteil des amerikanischen Mythos, die ungehemmte und unbegrenzte Aufstiegsmöglichkeit des Tüchtigen, die durch mehr als ein Jahrhundert hindurch der Wirklichkeit in Amerika immerhin einigermaßen entsprochen hatte, war weggefallen oder doch zu einer so seltenen Ausnahme geworden, daß sie längst nicht mehr typisch war. Eine stationäre Bevölkerung wurde von einem immer starrer

[90] Das soziale Elend – die neue Grenze

werdenden Gehäuse der Wirtschaft umgeben, in dem der Raum für die Privatinitiative sich zusehends verengte, je schneller sich der Vorgang der Monopolisierung und der Vertrustung unter der Vorherrschaft Wall Streets vollzog.

Die Ameise stand nun dem Elefanten gegenüber. Eine herrschende Kaste, die Finanzoligarchie, hatte sich herausgebildet. Ein Proletariat im europäischen Sinne war entstanden, das nicht mehr hoffen konnte, durch das ununterbrochen fortschreitende Gesetz des Aufstieges sein Los zu verbessern. Ein Regierungsapparat, der diesen veränderten Umständen hätte Rechnung tragen und die Probleme eines modernen Massenstaates bewältigen können, war nicht vorhanden. Die Landwirtschaft war der Finanz- und Industriezusammenballung völlig zum Opfer gefallen. Zwischen 1920 und 1933 kam jede vierte Farm in den Vereinigten Staaten unter den Hammer; weil sie entweder ihre Schulden oder ihre Steuern nicht mehr bezahlen konnte. Das Kreditsystem der Landwirtschaft war völlig ruiniert. Aber auch die nun zum stationären Proletariat gewordene Industriebevölkerung befand sich in keiner besseren Lage. Das "amerikanische Wirtschaftswunder" war in Wirklichkeit nur die Prosperity einer ganz kleinen Minderheit der Nation. Für das Jahr 1929 wurde in einer von der Brookings-Institution herausgegebenen Schrift über die amerikanische Konsumkraft1 festgestellt, daß an diesem Höhepunkt der Konjunktur nur 2,4 v. H. der amerikanischen Bevölkerung ein Einkommen von 10 000 Dollar und mehr im Jahr bezogen hatten. 19,6 v. H. hatten ein Einkommen zwischen 3000 Dollar und 10 000 Dollar bezogen. 78 v. H. der Bevölkerung der Vereinigten Staaten verfügten also über ein Jahreseinkommen von weniger als 3000 Dollar, und von diesen 78 v. H. stand wiederum mehr als der Hälfte nur ein Einkommen von weniger als 1500 Dollar im Jahr zur Verfügung. Selbst in diesem günstigsten Jahr der amerikanischen Wirtschaft, in dem die höchsten Börsenkurse der amerikanischen Geschichte erreicht worden sind, lebten 45 bis 50 v. H. der amerikanischen Bevölkerung an der Grenze des sozialen Elends. Das war die neue Grenze Amerikas!

1 America's Capacity to Consume, a. a. O.

[91] Umwertung aller Werte bleibt aus

Diese neue Grenze war allerdings nicht beeinflußt von den Spekulationen der New-Yorker Börse, von der Übergipfelung der Holdinggesellschaften, von den Riesengewinnen der die Wirtschaft beherrschenden Hochfinanz. Mit dem Zusammenbruch des bisherigen amerikanischen Systems sollte sich diese Grenze des Elends in der verhängnisvollsten Weise immer weiter ausdehnen. Viele Millionen amerikanischer Familien sollten bald überhaupt völlig einkommenslos sein, als mit dem Einbruch der Krise das Problem der Arbeitslosigkeit wie ein furchtbares Gespenst mit Fledermausflügeln über das Land hinwegfegte.

So hatten sich unversehens alie Probleme im Untergrund geändert. Die dramatische Periode der inneren Expansion war zu Ende. Die Fragen, vor die sich die hochkapitalistisch organisierte amerikanische Gesellschaft gestellt sah, glichen auf ein Haar denen der hochzivilisierten Völker Europas. Wahrend sich aber in Europa, langsam und unzureichend freilich, wenigstens in gewissem Umfange, die soziale Organisation mit der Entstehung des industrialisierten Massenstaates umgeformt und den neuen Verhältnissen angepaßt hatte, gab es in den Vereinigten Staaten nichts dergleichen. Waren sie bisher als das fortschrittlichste Land der Welt angesehen, so mußten sie unter den hochzivilisierten Ländern der Erde plötzlich beinahe als das zurückgebliebenste erscheinen. Nur gewisse Teile Englands, die Slums in London und in den Hafenstädten, konnten an Zurückgebliebenheit mit diesem Amerika in eine fragwürdige Konkurrenz treten. Mit einem Mal stellte sich heraus, daß die Vereinigten Staaten, die der Welt so viel zu sagen zu haben schienen, in Wirklichkeit unendlich viel aufzuholen hatten, was in anderen Ländern ähnlicher Struktur schon eine Selbstverständlichkeit war. Eine völlige Umdrehung der bisher scheinbar feststehenden Begriffe schien notwendig. Die Einordnung der Vereinigten Staaten in das Bild des modernen Weltganzen mußte an einer ganz anderen Stelle erfolgen, als man dies seit 150 Jahren gewohnt war.

Beim Ausbruch der großen Krise wäre also eine Umwertung aller Werte in den Vereinigten Staaten notwendig gewesen. Diese aber erfolgte nicht. Es wäre zu oberflächlich, würden wir behaupten, daß sie nur deshalb nicht erfolgte, weil die eigentlichen Herren der Vereinigten Staaten, weil die Hochfinanz sich naturgemäß hiergegen stemmte. Ihr Versagen und ihre Hilflosigkeit in den dreieinhalb Jahren der lawinenartigen Abwärtsbewegung unter der Präsidentschaft Hoovers war zu offensichtlich, als daß sie hätte Widerstand leisten können. Nein, die Umwertung erfolgte nicht, weil es niemanden gab, der neue Werte aufzustellen gehabt hätte.

Die Erstarrung des Mythos

Lange schon hatte sich der Prozeß vorbereitet, durch den die amerikanische Wirklichkeit dem amerikanischen Mythos nicht mehr entsprach. Seit 1929 lag dies klar am Tage; aber das amerikanische Volk wollte es nicht sehen. Der Traum, den man so lange geträumt hatte, er sollte nicht in Schaum zerrinnen, so wünschte man. Es ging dem ganzen amerikanischen Volke so, wie jenem Millionär, den wir in einer Stadt des Mittelwestens trafen, der uns erzählte, daß er seine beiden zwölfjährigen Jungen jetzt dazu gezwungen habe, daß der eine Zeitungen und der andere bei Sportfesten im Stadion Speiseeis verkaufe. Die beiden Jungen hatten zu Hause eine der modernsten Villen der Vereinigten Staaten, aber unter Aufrechterhaltung der amerikanischen Tradition, um des Fortbestehens des amerikanischen Mythos' willen, sollten sie, wie der Großvater es getan hatte, als Zeitungs- und Eisverkäufer anfangen. Eine Illusion, die die Kinder dadurch zerstörten, daß sie den Chauffeur des Herrn Papa veranlaßten, sie im feschen Sportkabriolett, fabrikneu, letzter Jahrgang, in das Zeitungshaus zu fahren, wo sie ihre Pakete abholten. Und der gute Neger hat wahrscheinlich auch die Zeitungen verkauft.

In der Krise erwies sich plötzlich, daß dieses Volk, das von aller Welt und von sich selbst als ein revolutionäres Volk angesehen wurde, das traditionsgebundenste der Welt war, daß es sich nicht mehr vorwärtsbewegen wollte, sondern beharrlich verlangte, dort stehen zu bleiben, wo es nun einmal stand. Jetzt erwies sich, daß der amerikanische Mythos in der Lauge der Tradition galvanisiert worden war. Er erwies sich als die auf einem fremden Kontinent gefrorene Vorstufe der französischen Revolution. Eine, vom weiteren geschichtlichen Blickpunkt her gesehen, nur kleine Entwicklungsphase Europas war die Grundlage des Amerikanismus geworden, von der man sich nicht mehr entfernen wollte, als eine neue Wirklichkeit dies zu fordern begann. Ein Zwiespalt entstand, der nicht mehr mit der üblichen Formel "Amerika, das Land der Widersprüche" zugedeckt werden konnte.

In diesem Augenblick nun trat ein Mann an die Spitze der Vereinigten Staaten, der sich an den Versuch heranwagen wollte, Mythos und Wirklichkeit Amerikas wieder miteinander in Einklang zu bringen. Einer der alten, reichen Familien entstammend, war er in der üblichen amerikanischen Parteimaschine groß geworden und aufgestiegen. Er trug den Namen eines bekannten Präsidenten der jüngst vergangenen Zeit. Er war umgeben von einem Kreis jüdischer und amerikanischer Intellektueller, die sich seit längerer Zeit schon in den Salons von New York mit Reform~ planen beschäftigt hatten. In den Tagen, da dieser Mann das Weiße Haus beziehen sollte, blies der Sturm ganz gewaltig. Ein neuer Bankenkrach bildete den Abgesang der Periode Harding-Coolidge-Hoover. Der neue Mann und der ihn umgebende Kreis von Intellektuellen sahen sich vor ein unerhörtes Problem gestellt. Revolution [Reform] Waren er und dieser Kreis dafür gerüstet] Wußten sie überhaupt, daß der amerikanische Mythos in dieser neuen Zeit nicht mehr weiterbestehen konnte? Dies waren die bewegenden Fragen, als Franklin Delano Roosevelt im März 1933 den Eid auf die Verfassung leistete. Im Februar hatte eine neue Welle der Krise das Land in Zuckungen versetzt. Die Banken mußten geschlossen werden. Einige Versuche Hoovers, mit seinem gewählten Nachfolger noch während der letzten Monate seiner Amtsperiode ein kurzfristiges Rettungsprogramm aufzustellen, waren fehlgeschlagen. Niemand hatte eine Vorstellung, welche Bedeutung der 4. März 1933 haben würde, an dem sich der Wechsel im Weißen Haus vollzog.

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