Der Wille zur Macht - Anleitung

von O. Seemann (2004)

Nietzsches Lehren sind in aller Munde, obwohl nicht jedem klar ist, was unter dem Willen zur Macht, dem Übermenschen oder der ewigen Wiederkunft des Gleichen eigentlich genau zu verstehen ist. Es kreisen mystische Vorstellungen, die auf Missverständnissen beruhen. In diesem Text geht es nun um die attraktiven rationalen Aspekte von Nietzsches Philosophie, wobei Nietzsche einen besonderen, genau zu erläuternden Begriff von Vernünftigkeit aus philosophischer Sicht besitzt.

Was von Nietzsche abstößt, sind die auch von zahlreichen Seiten missbrauchten Sätze, wie: "Die Schwachen und Missrathenen sollen zugrundegehen. Und man soll ihnen noch dazu helfen" (Der Antichrist) oder das Gerede vom Übermenschen, dem ohne schlechtes Gewissen "zahllose Wesen zum Opfer zu bringen" seien (Der Antichrist).

Nietzsches experimentelles Denken begeistert durch seine Energie, die den reflektierenden Leser in konfliktreiche Ausweglosigkeiten hineinmanövriert. Nietzsches Logik kann nur dann erschlossen werden, wenn man sich seinen Begriff von Philosophie klar gemacht hat.

Nietzsches Philosophie entbehrt weder der Originalität noch der zerstörerisch-produktiven Wirkkraft. Er philosophiert „mit dem Hammer". An seiner Philosophie glaubte er eine Entscheidung heraufbeschworen zu haben, "gegen alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt war". Selbstbewusst spricht er von der Umwertung aller bisherigen Werte, die durch ihn vollzogen wurde. Sein revolutionärer Akt umfasst den Kampf mit der Lüge von Jahrtausenden unter der Flagge der Wahrheit. Das Auftreten der Wahrheit bewirkt einen konstruktiven Akt der "höchsten Selbstbesinnung der Menschheit". Die Wahrheit des bislang verkannten Grund des menschlichen Daseins tritt an die Macht und nur im Akt der höchsten Selbstbesinnung.

Die Erkenntnis vom Tod Gottes führt zu einem Zusammenbruch der bisherigen Kultur. Die Entdeckung dieser Wahrheit zerstört die "Machtgebilde der alten Gesellschaft", die auf "der Lüge" basierte. In der Katastrophe solcher Erschütterungen lassen sich "Aufgaben von einer Höhe" erkennen, für die bisherige Begriffe fehlten. Erst von ihm an, glaubte er an "große Politik".

In dem frühen Text "Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" scheint Nietzsche die These zu vertreten, daß es so etwas wie Wahrheit überhaupt nicht geben kann:

"Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind." (Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne 1)

Folglich entwirft Nietzsche das Bild einer Welt, in welcher der Mensch keinen wahrheitsfähigen Kontakt mit der Welt aufnehmen kann.

"In irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der Weltgeschichte..." (Nietzsche, Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern, Ueber das Pathos der Wahrheit).

Die Welt und damit der gesamte Kosmos erscheint als eine nicht reduzierbare Komplexität. Die Welt ist dem Menschen als ein Zustand maximaler Energie gegeben. In ihren chaotischen und diskontinuierlichen Fluktuationen gibt es keine festen Regeln. Diese nicht reduzierbare Komplexität bestimmt auch die menschliche Realitätswahrnehmung. Die Realitätswahrnehmung beruht auf der Phantasie. In einem Zustand maximaler Energie kann sie nichts anderes als chaotische Bildermassen aus sich heraus produzieren. Der Mensch, der in solch einem Zustand lebt, sieht sich mit einer irregulären Folge von "ganz und gar individualisierten Urerlebnissen" konfrontiert.

Ein solches Leben ist in einem Zustand dauernder Erregung, da es zu explosiven Fluktuationen von unberechenbaren Augenblickseindrücken kommt. Damit entbehrt dieses Leben der Fähigkeit zur stabilen Selbsterhaltung. Der menschliche Intellekt übernimmt die Aufgabe der Selbsterhaltung durch "verblendete Nebel über die Augen und Sinne der Menschen" und durch Illusionen. Der Intellekt baut eine Scheinwelt, die eine Berührung mit der energetisch zum Maximum erregten Welt verhindert. Der Intellekt errichtet eine scheinbare Ordnung, die es außerhalb des Menschen nicht gibt. So schauen wir nur noch die Oberfläche der Dinge. Wir nehmen nur noch solche Formen wahr, die jeglicher Wahrheit entbehren. Wir spielen damit "gleichsam ein tastendes Spiel auf dem Rücken der Dinge". Dieses Spiel trennt uns von der Wahrheit. Dafür erhalten wir lebensförderliche Illusionen. Diese Illusionen äußern sich in Wahrheitsregeln, die in Wahrheit: "eine Summe von menschlichen Relationen, die poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt werden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken". Diese Regeln gelten für real, weil der Mensch vergessen hat, dass es lediglich Illusionen sind, die der Intellekt gegen die Phantasie entworfen hat, um lebenserhaltende Stabilität zu erlangen.

"Man soll nicht "Ursache" und "Wirkung" fehlerhaft verdinglichen, wie es die Naturforscher thun ( und wer gleich ihnen heute im Denken naturalisiert -- ) gemäss der herrschenden mechanistischen Tölpelei, welche die Ursache drücken und stossen lässt, bis sie "wirkt"; man soll sich der "Ursache", der "Wirkung" eben nur als reiner Begriffe bedienen, das heisst als conventioneller Fiktionen zum Zweck der Bezeichnung, der Verständigung, nicht der Erklärung.[...] Wir sind es, die allein die Ursachen, das Nacheinander, das Für-einander, die Relativität, den Zwang, die Zahl, das Gesetz, die Freiheit, den Grund, den Zweck erdichtet haben; und wenn wir diese Zeichen-Welt als "an sich" in die Dinge hineindichten, hineinmischen, so treiben wir es noch einmal, wie wir es immer getrieben haben, nämlich mythologisch." (Jenseits von Gut und Böse 21)

Auch in seinen späteren Werken bleibt Nietzsche bei der festen Überzeugung, dass wir Menschen kein eigentliches Organ für die Wahrheit besitzen. Es sei nicht einmal wünschenswert ein Wissen von der realen Beschaffenheit der Welt zu erwerben. Wahrheit um jeden Preis nennt er einen „Jünglingswahn".

Was also ist Wahrheit für Nietzsche. Seine Antwort scheint für ihn apokalyptische Sprengkraft zu beinhalten. Die Antwort führt uns zum Perspektivismus. Alle Wahrheit erscheint ihm als ein unaufhebbarer Perspektivismus. Dies bedeutet, dass jede Erkenntnis vom Standort, von der Perspektive des vermeintlich Erkennenden abhängt. Diese Konzept führt uns weiter zur Renaturalisierung des Menschen. Anders formuliert zur "Wiederanverlobung" des platonisch spiritualisierten und christlich moralisierten Menschen "mit der natürlichen Welt" (Karl Löwith). Im Zusammenhang dazu steht die Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen und des "Amor fati" - der Liebe zum Schicksal. In diesen Zuständen erreicht der Mensch ein „heiliges Ja-sagen" zum Leben. Alle diese Konzepte beruhen aber auf der reflexiven Daseinsbejahung, die sich wesentlich von der platonisch-christlichen „Daseinsverneinung" unterscheidet. Seine Philosophie erwächst mit logischer Konsequenz aus dem von ihm vertretenen Perspektivismus, von der Auffassung, des unaufhebbaren perspektivistischen Charakters jeder Weltdeutung. Nietzsches Perspektivismus ist für ihn selbst kein absolut gesichertes Dogma. Er ist sich bewußt, dass auch der "menschliche Intellekt bei dieser Analysis nicht umhin kann, sich selbst unter seinen perspektivistischen Formen zu sehn".

Nietzsches Text "Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" enthält Thesen über die Welt, die in einer Sprache der Energetik formuliert sind. Er entwirft das Bild einer Welt, die ursprünglich ein energetisches Maximum darstellt. Diese Welt umfasst sowohl die der Natur, als auch die des Menschen. Die Welt der Natur als einen Zustand maximal erregter Energie anzunehmen, folgt zwingend aus der Annahme, dass uns die Welt nicht als ein qualitativ bestimmbarer Ordnungszusammenhang entgegentritt. Unter der ungünstigsten Perspektive betrachtet, erscheint die Welt als ein Fehlen jeder Ordnungsstruktur oder anders formuliert als ein energetisch bewegtes Maximum im Zustand größtmöglicher Unordnung. Diesen Zustand müssen wir der Welt unterstellen, wenn wir sie unter besonders ungünstigen Bedingungen betrachten. Da es für ihn nur solche Perspektiven gibt, mit denen wir die Welt betrachten, und von denen keine authentisch und real ist, dann ist jene Perspektive zu bevorzugen, welche die ungünstigsten Voraussetzungen bietet. Die ungünstigste Perspektive ist die, welche in Bezug auf die Welt qualitative Aussagen möglichst ausschließt. Es ist also jene Scheinbarkeit zu wählen, die den Anteil an unmittelbaren Gewissheiten minimiert und die methodische Pflicht zum Misstrauen maximiert.

Das Verhalten in der Welt ist unter den Bedingungen des menschlichen Perspektivismus immer ein Wille zu einer bestimmten Perspektive. Verzichtet man also auf die Suche nach objektiven Wahrheiten, hat das zur Folge, dass "unsere eigene practische und theoretische Geschicklichkeit im Auslegen und Zurechtlegen der Ereignisse...auf ihren Höhepunkt gelangt". Der Wille zu einer solchen Geschicklichkeit und ihre Steigerung durch den Willen zur ungünstigsten Perspektive ist für Nietzsche die Grundstruktur aller Lebendigkeit. Diese Struktur zur Fähigkeit der "Auslassung von Kraft" ist gleichbedeutend mit dem "Willen zur Macht". Hinter der Formel des "Willens zur Macht" verbirgt sich somit nichts anderes als eine Form energetischer Wirklichkeitsdeutung.

"Gesetzt, daß nichts Anderes als real "gegeben" ist, als unsere Welt der Begierden und Leidenschaften, daß wir zu keiner anderen "Realität" hinab oder hinauf können als gerade zur Realität unserer Triebe..., ist es nicht erlaubt, den Versuch zu machen, ob dies Gegeben nicht ausreicht, um aus Seines-Gleichen auch die sogenannte mechanistische (oder "materielle") Welt zu verstehen". (Jenseits von Gut und Böse 36)

Nietzsche will uns hier nicht sagen, wir bestünden nur aus Trieben, aus "Begierden und Leidenschaften", sondern er nimmt hypothetisch den für unser Wissen ungünstigsten Fall an, dass wir zu einer anderen Realität als zu der unserer Triebe keinen Zugang haben. Nietzsche verzichtet auf eine inhaltliche Formung des Begriffes Trieb. Ein Trieb erscheint als "wirkende Kraft", die sich selber will, wenn sie etwas will. Das Sich-Selbst-Wollen in jedem Etwas-Wollen ist für Nietzsche die Grundform des Willens zur Macht. Das Sich-Selbst-Wollen kann hierbei niemals von dem Etwas-Wollen als ein Selbständiges abgetrennt werden. Der Wille zu sich ist lediglich die inhaltlich variable Funktion aller besonderen Akte des Willens.

Nietzsche hat seine Interpretation des Willens zur Macht nicht durch einem wahrheitsfähigen Blick auf die Wirklichkeit gewonnen, sondern durch seine methodologische Einstellung in der Form des Perspektivismus. Die Lehre des Willens zur Macht ist damit eine Lehre der Energetik oder eine Chaostheorie. Sie ist eine analytische Folge aus einer maximal erschwerten Einstellung zu sich selbst.

Die Folge dieser Lehre, die aus dem Perspektivismus gewonnen wurde, ist die "Wiederanverlobung des Menschen mit der natürlichen Welt". Die Menschen waren bisher unehrlich. Sie wollten nicht wahrhaben, dass sie in einer ungünstigen Natur leben müssen. Das Bewusstsein der ungeheuren Riskiertheit des menschlichen Daseins war bislang mangelhaft verarbeitet. Der weise Silen, der Erzieher und Begleiter des Gottes Dionysos, hält es für das höchste nicht geboren zu sein. Das zweitbeste sei es, schnell zu sterben. Ein glückliches Leben scheint damit unmöglich. Der spritualisierende Platonismus der griechischen Herren und das moralisierende Christentum versuchen den Ekel am Leben zu überwinden. Sie suchen den Sinn im jenseitigen Leben, in einer Welt hinter der Welt.

"Leiden war´s und Unvermögen - das schuf alle Hinterwelten; und jener kurze Wahnsinn des Glücks, den nur der Leidendste erfährt.

Müdigkeit, die mit Einem Sprunge zum Letzten will, mit einem Todessprunge, eine arme unwissende Müdigkeit, die nicht einmal mehr wollen will: die schuf alle Götter und Hinterwelten". (Also sprach Zarathustra, Von den Hinterweltlern)

Die jenseitige Welt verspricht Erlösung vom Leid, Heimat und Vollendung.

"Kranke und Absterbende waren es, die verachteten Leib und Erde und erfanden das Himmlische und die erlösenden Blutstropfen: aber auch noch diese süssen und düsteren Gifte nahmen sie von Leib und Erde!

Ihrem Elende wollten sie entlaufen, und die Sterne waren ihnen zu weit. Da seufzten sie: "Oh dass es doch himmlische Wege gäbe, sich in ein andres Sein und Glück zu schleichen.

Ihrem Leib und dieser Erde nun entrückt wähnten sie sich, diese Undankbaren. Doch wem dankten sie ihrer Entrückung Krampf und Wonne? Ihrem Leib und dieser Erde."

Platonismus und Christentum waren für Nietzsche Voraussetzungen, um das Leben in einer notwendigen Spannung über Jahrtausende zu erhalten.

Die Wiederanverlobung des Menschen mit der Natur setzt den Verzicht auf Perspektiven voraus, in denen Optimalwelten erscheinen. Optimalwelten sind solche die sich von der als leidvoll eingeschätzten Natur unterscheiden. Die Renaturalisierung des Menschen geschieht durch einen neuen Willen, der nach den Regeln des Perspektivismus einverleibt wird. Es ist der Wille, "nicht mehr den Kopf in den Sand der himmlischen Dinge zu stecken, sondern ihn frei zu tragen, einen Erden-Kopf, der der Erde Sinn schafft!". So ist es für den Wissenden Menschen, der den Willen zur Redlichkeit des Perspektivismus einverleibt hat, möglich, sich mit der Natur zu versöhnen. Wie Odysseus bei den Sirenen, soll der Mensch taub werden "gegen die Lockweisen alter metaphysischer Vogelfänger". Der Verzicht auf jede geistige oder mystische Auslegung der Natur, wird bei Nietzsche eine Art Trainingsprogramm des Willens zur Macht. Der Verzicht auf Erleichterungen, sich mit Erschwernissen konfrontieren führt zu selbsterworbenen Kraftzuwächsen. Solche Kräfte sind notwendig, um das Leben in allen, vor allem in den verwünschten Facetten zu bejahen. Hierbei wird dann auch der Gedanke der ewigen Wiederkunft des Gleichen zu einer Befreiung.

"Im Willen zum perspektivisch redlich erworbenen Wissen erscheint die Welt als ein "Spiel von Kräften und Kraftwellen", als ein "Meer in sich selber stürmender und flutender Kräfte, ewig sich wandelnd, ewig zurücklaufend, mit ewigen Jahren der Wiederkehr", als "dionysische Welt des Ewig-sich-selber Schaffen´s, des Ewig-sich-selber-Zerstörens" (Alfons Reckermann). Dies ist eine Welt der ewigen Wiederkehr energetischer Produktivität. Sie ist "Wille zur Macht und nichts außerdem". Eine solche dionysische Welt unter Spannung können wir nur ertragen, wenn wir selber Teil haben an dem Spiel dionysischer Kräfte, wenn wir selber ein Meer mit einer Ebbe und Flut von Gestaltungen sind.

"...aus den einfachsten in die vielfältigsten hinaustreibend, aus dem Stillsten, Starrsten, Kältesten hinaus in das Glühendste, Sich-selber-Widersprechendste, und dann wieder aus der Fülle heimkehrend zum Einfachen, aus dem Spiel der Widersprüche zurück bis zur Lust des Einklangs, sich selber bejahend noch in dieser Gleichheit seiner Bahnen und Jahre, sich selber segnend als das, was ewig wiederkommen muß, als ein Werden, das kein Sattwerden, keinen Überdruß, keine Müdigkeit kennt" (Nachlaß 1885).

Der Gedanke der ewigen Wiederkehr ist die letzte "ewige Bestätigung und Besiegelung", das "heilige Ja-sagen" zum Leben.

Der Mensch, der sich vom Zwang der Orientierung am bisherigen christlichen Gott befreien kann, ist kein Mensch im bisherigen Sinne mehr. Er hat die kritische Grenze eines extremen Nihilismus erreicht, an der „nichts mehr wahr", aber „alles erlaubt" ist. Nietzsches Philosophie führt über den Nihilismus zur Einkehr in den Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Die Verwandlung vollzieht sich über das moralische "Du sollst" zum nihilistischen "Ich will" und mündet in das "Ich bin" des ´unschuldigen Weltenkindes´. Die verlorene, ehemals sinnstiftende Welt gewinnt der frei gewordene Geist im ´heiligen Ja-sagen´ zum ewig wiederkehrenden Sein zurück. Das immoralistische "Ich will" befreit zunächst durch einen radikalen Skeptizismus von moralischen Wertvorstellungen nach dem letztlich schon vollzogenen Absterben Gottes. „Man glaubt statt an Gott vorübergehend ans Nichts." Das zum Nichts entschlossene Dasein – „denn lieber will der Mensch noch das Nichts wollen als nicht zu wollen" - befreit sich in der Liebe zum Schicksal. Die Formel des Dionysischen ist das ewige „Ja" zum „Ja" des Seins; sie ist nicht: Wille zum Schicksal oder Wille zur Macht, sondern amor fati. Die Notwendigkeit lieben ist nicht mehr ein Wollen, sondern eine nichts mehr wollende Willigkeit, in der sich das Wollen aufhebt. In der größten Unruhe und Energie des Lebens ist das eigentliche Ziel ein Zustand, in dem der Wille nichts mehr will. Gerade durch sein Wollen macht der Mensch das Gewollte zunichte und kann die Freiheit, welche er ist, nicht erreichen. Der Äon spielt mit sich selbst, und von Zeit zu Zeit fängt das Spiel von Neuem an. Dieses mit sich selbst spielende kosmische Kind ist ´Unschuld und Vergessen´.

Nietzsches philosophische Tätigkeit ist die einer reflexiven Form der Wirklichkeitserschließung, die allzu günstige Perspektiven vermeiden will. Zu günstige Perspektiven halten allenfalls kurzfristig. Nietzsches Zweifel an den bisherigen Wahrheitsnormen führt zu einer Auflösung aller Werte im Nihilismus. Der Wille zur ungünstigsten Perspektive ist Ausdruck einer ökonomischen Überzeugung, dass die ungünstigste Perspektive sich langfristig als die am belastbarste erweist. Unter dieser Perspektive können neue Werte entstehen, die nicht Gefahr laufen, eines Tages als sinnlos oder wertlos zu gelten. Für die Realisierung dieses Konzepts hat uns Nietzsche keine Rezepte hinterlassen, allenfalls Formeln. Er diagnostiziert, aber verzichtet auf eine Prognose, auf einen Ausblick der Welt danach. Er lädt ein zu einer philosophischen Entfaltung und bewussten Einverleibung der komplexen Logik einer offenen Wirklichkeit von Wettkämpfen.


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