VON MENSCHEN UND ÜBERMENSCHEN
Friedrich NIETZSCHE:
Der Wille zur Macht

". . . ich aber lehre Euch den Übermenschen!"
(F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra)

[Buch] [Spiegel-Titel] [Buch]

Ein Kapitel aus Dikigoros' Webseite
PAPIER IST GEDULDIG
Bücher die Geschichte machten

"Das Beste soll herrschen, das Beste will auch herrschen. Wo die Parole anders lautet, da fehlt es - am Besten." Dieser Satz - den all die Mittelmäßigen und Schlechten, die von den Wogen der Politik an die Macht gespült worden sind, Nietzsche besonders übel nahmen und nehmen, steht nicht im "Willen zur Macht", ebenso wenig der oben zitierte Satz vom Übermenschen und - nicht einmal der Begriff "Wille zur Macht", denn ein solches Buch hat Nietzsche nie geschrieben. Aber sechs Jahre, nachdem er in geistiger Umnachtung gestorben war, brachte seine Schwester Elisabeth unter diesem Titel eine von ihr selber arrangierte Sammlung von Zettelsprüchen, die sie im Nachlaß ihres Bruders gefunden hatte, auf den Markt. Da könnte man zunächst einmal fragen, ob das nicht gerade diejenigen Gedanken waren, die er während der Arbeiten an seinen wichtigsten Werken - "Also sprach Zarathustra", "Jenseits von Gut und Böse" und "Zur Genealogie der Moral" - verworfen hatte und gerade nicht veröffentlichen wollte, also gewissermaßen Abfallprodukte, die dem Publikum nun völlig zu Unrecht als sein geplantes "Hauptwerk", als sein "letzer Wille" verkauft wurden. Aber selbst wenn dem nicht so wäre, haben alle Nietzsche-Interpreten - seien es seine Anhänger oder seine Gegner, und es gibt wohl niemanden, den er ganz kalt und "neutral" läßt - einen großen Fehler begangen: Sie haben vergessen, daß Nietzsche nicht nur von Hause aus Filologe war und es im Grunde seines Herzens immer geblieben ist, und daß er Begriffe wie "Wille", "Nihilismus", ja selbst "Mensch" - und erst recht das von ihm selber erfundene Wort "Übermensch" - ganz anders verstand als seine damaligen Zeitgenossen, und erst recht als wir heutigen. (Ob sein Verständnis "falsch" oder "richtig" war, tut hier nichts zur Sache - es geht ja um die Frage, was er selber damit gemeint hat.) Die meisten Filosofen, Soziologen, Politologen und was sich sonst noch an Nietzsche-Interpretationen versucht hat, sind einfach zu dumm und/oder zu un-gebildet im klassischen Sinne, um Nietzsche zu verstehen, und das gilt erst recht für Lieschen Müller und Otto Normalverbraucher, denen man so ein Buch ohne Erläuterungen (aber so etwas Umständliches würde ja eh niemand lesen :-) vor die Nase setzt.

Aber die Filologen trauen sich für gewöhnlich nicht an Nietzsche heran - oder haben kein Interesse. Dikigoros erinnert sich noch an sein Abitur, die "Reifeprüfung" und fragt sich bis heute, was für eine "Reife" da "geprüft" wurde. Im Fache Deutsch hatte sein Lehrer, ein verkappter Kommunist, seine Vornote herunter gesetzt, weil er - wie er ja schon an anderer Stelle seiner "Reisen durch die Vergangenheit" berichtet hat - einen Auszug aus den Schriften des guten Onkel Jo Stalin allzu negativ interpretiert hatte; also mußte er ins Mündliche. Was den armen Schülern da vom Kultus-Ministerium zur Auswahl vorgelegt wurde, um ihre "Reife" unter Beweis zu stellen, war schon abenteuerlich, denn es entsprach noch ganz dem alten "Bildungskanon" längst vergangener Zeiten, und zwischen der Zeit vor und nach 1968 lagen bekanntlich Weltzeitalter (was hatte Goethe mal in einem Anfall von Größenwahn geschrieben: "Es kann die Spur von meinen Erdentagen nicht in Äonen untergeh'n"? Wenn der geahnt hätte, wie schnell das geht...), und die Lehrwirklichkeit hatte schon lange nicht mehr mit jenen hehren Idealen, die da noch auf dem Papier standen, überein gestimmt. Was hatten sie denn im Deutsch-Unterricht groß durchgenommen? In der Unterstufe "Kleider machen Leute", "Pole Poppenspäler", "Weh dem der lügt", "Der Schuß von der Kanzel", "Der Schimmelreiter" und noch ein paar andere Stücke, an die er sich schon nicht mehr erinnern konnte; in der Mittelstufe Heinrich v. Kleist rauf und runter (mit Ausnahme der "Hermannsschlacht", versteht sich, und noch einiger anderer Werke, über die Dikigoros an anderer Stelle mehr schreibt). In der Oberstufe Gedichte, pardon "Lyrik", sprich Schlagertexte von Wolf Biermann bis Reinhard Mey. (Gewiß, es gab schlechtere; aber im Grunde genommen ist das auch so ein Fall von filologischem Unvermögen: Da Schlagertexte auf Englisch "lyrics" heißen und die deutsche Sprache damals gerade begann, mit Anglizismen überschwemmt zu werden, fiel das den meisten wahrscheinlich gar nicht weiter auf.) Und nun durfte der angehende Abiturient sich also aussuchen, ob er in den Humboldt'schen Theorien zur Klassifizierung der menschlichen Sprachen (Dikigoros erinnerte sich dunkel, im Inhaltsverzeichnis des - nie durchgenommenen - Grammatikbuchs für den Deutsch-Unterricht in der Oberstufe aus dem Klett-Verlag so etwas gesehen zu haben) oder dem Nibelungenlied, den Schriften Grimmelshausens oder Lessings, Goethes oder Schillers, Heines oder Büchners, Schopenhauers oder Nietzsches, Theodor Fontanes oder Rilkes, Brechts oder Dürrenmatts geprüft werden wollte. Welch ein Irrsinn - vor allem, wenn man nur drei Wochen Zeit zur Vorbereitung hatte und bei Null anfangen mußte.

Vorsichtig versuchte Dikigoros heraus zu finden, wo sich der zeitliche Aufwand am ehesten in Grenzen halten ließ. Einmal beim Nibelungenlied, denn das war ja nur ein relativ kurzes Stück, dessen Inhalt er so ungefähr kannte, auch wenn er es mangels Kenntnis des "Mittelhochdeutschen" noch nicht im Original gelesen hatte; aber er mußte zwei Themen angeben, und alle anderen kamen ihm doch ziemlich umfangreich vor. "Ach was," grunzte sein Deutschlehrer auf Befragen, "bei Nietzsche kann ich ja nicht viel prüfen, was hat der denn schon groß geschrieben außer der Zukunft unserer Lehranstalten und den Unzeitgemäßen Betrachtungen?" Na schön... aber mißtrauisch wie Dikigoros inzwischen geworden war, besorgte er sich doch besser gleich die komplette Taschenbuchausgabe der Werke Nietzsches vom Goldmann-Verlag - die wurden damals gerade als Remittenden verramscht (für 1.- DM pro Band, liebe Leser, das waren noch Zeiten!) -, auch wenn er sie bis zur Prüfung natürlich nicht mehr alle lesen konnte. ("Der Wille zur Macht" war übrigens nicht dabei, der erschien nicht bei Goldmann, sondern bei dtv, in zwei Bänden, die in der Stadtbibliothek standen; die erste Ausgabe, die Dikigoros selber erwarb, war die amerikanische in der Übersetzung von Walter Kaufmann, die Ihr links oben abgebildet seht. Heute hat er,neben der Standard-Ausgabe von Karl Schlechta, die neue dtv-Ausgabe von Colli und Montinari im Bücherschrank stehen - angeblich der Editoren-Weisheit letzter Schluß -, wo das ganze "Fragmente aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre" genannt wird, und noch immer nicht die Zeit gefunden, sie zu lesen. So ist das mit "wissenschaftlichen" Ausgaben, die den Umfang des zu lesenden Materials um ein vielfaches erhöhen und damit genau das Gegenteil dessen erreichen, was sie vorgeben, nämlich Wissen zu schaffen.) Die mündliche Prüfung wurde eine Qual - die Dikigoros sich im Fache Deutsch als einziger aus seiner Klasse angetan hatte; alle anderen, die im schriftlichen Abitur "gepatzt" hatten, hatten klaglos die herab gesetzte Note akzeptiert; und für diese Uneinsichtigkeit sollte nun an ihm ein Exempel statuiert werden. Der Deutschlehrer tat sein Möglichstes, um ihn durchfallen zu lassen, der Fachleiter Deutsch saß stumm daneben, als ginge ihn das alles gar nichts an - wahrscheinlich hatte er Nibelungenlied und Nietzsche ebenso wenig gelesen wie die anderen im Raum. Die Delegierte des Kultus-Ministeriums - das gerade in sozialistische Hände gefallen war -, ein dummes Gänschen Anfang 30, das sich wohl hauptsächlich über das Parteibuch und/oder die Frauenquote für diese Aufgabe qualifiziert hatte, kicherte nur ein paarmal albern vor sich hin, sei es aus Verlegenheit, sei es weil ihr das ganze wirklich witzig vorkam. Nach einer Stunde wurde es dem Direktor als Vorsitzendem der Prüfungs-Kommission zu bunt, und er brach die Vorstellung ab. Dikigoros' Deutschlehrer grüßte seinen Schüler nicht mehr zurück, wenn sie einander später nochmal über den Weg liefen; aber Dikigoros las die Nietzsche-Bücher, die er gekauft hatte, zuende; und er ist heute noch froh, daß er nur so eine einfache, unkommentierte Ausgabe hatte, die er ganz unvoreingenommen lesen konnte, denn inzwischen hat er natürlich auch eine Menge gelesen, was andere über Nietzsche geschrieben haben - restlos überzeugt hat ihn nichts davon.

Andere, weniger kritische Leser, machten es sich da leichter - wie es ja überhaupt immer bequemer ist, statt des Originals eine Zusammenfassung oder einen Kommentar zu lesen. "Übermensch"? Das war doch sicher das Gegenteil vom "Untermensch". Und "Wille zur Macht" bedeutete natürlich den Wunsch, an die Macht zu kommen, d.h. an die politische Macht, und wenn man einmal dran war, als "Übermensch", dann mußte man sie weiter ausdehnen, um die "Untermenschen" zu beherrschen, wenn man die nicht überhaupt "ausmerzen" wollte. Wollte man? Sollte man? Na klar, der "Wille zur Macht" schrieb einem das doch vor - oder? Wenn Ihr gelesen habt, was DER SPIEGEL dazu vor ein paar Jahren verbrochen hat, könnte man fast meinen, daß es so wäre. Schaut Euch doch einmal das Titelblatt an, das Dikigoros oben abgebildet hat: Da findet Ihr (von links nach rechts) "Superman" (die Übersetzung von "Übermensch" ins Englische!), das Klon-Schaf "Dolly", Nietzsche, den Koloß von Rhodos, Hitler und die Comic-Figur "Lara Croft". Und dazu die Unterstellung, "die" Genetiker hätten ein Projekt, aus eben diesem Mix einen neuen ["Über"-]Menschen zu erschaffen. Was all diese streitenden Filosofen (oder "Philosophen", wie manche sie auch nach der Rechtschreib-Reform noch immer schreiben) übersehen haben ist, daß Nietzsches Überlegungen - ähnlich wie die seines Zeitgenossen Sigmund Freud - weniger filosofisch, als vielmehr naturwissenschaftlich waren: Er machte sich Gedanken, welche fysischen, fysiologischen und psychologischen Kräfte am Werk waren, wenn der Mensch glaubte, zu "wollen" - während er doch vielleicht nur "gewollt" wurde, d.h. nicht Subjekt, sondern Objekt des "Willens [zur Macht]" war.

Ist Euch das zu abstrakt, liebe Leser? dann formulieren wir die Frage doch ganz praktisch: Habt Ihr Euch schon mal Gedanken gemacht, warum Ihr essen, trinken, schlafen oder sonst etwas tun "wollt"? Nein? Gut so - das zeigt nämlich, daß Nietzsche Recht hatte: Ihr wollt nicht essen, trinken oder schlafen, sondern Euer Körper will, daß Ihr eßt, trinkt oder schlaft - und er braucht dafür nicht unbedingt den Umweg über die Großhirnrinde, auf die der Mensch so stolz ist. Mit anderen Worten: Nietzsche stellte die Vorstellung von "aktiv" und "passiv", von "Ursache" und "Wirkung" auf den Kopf, bzw. er verneinte, daß es so etwas gab - für ihn gab es bestenfalls das, was wir heute eine "Wechselwirkung" nennen würden. Er verneinte noch vieles mehr - aber wenn er selber dieses sein Verneinen als "Nihilismus" bezeichnete, dann war das etwas ganz anderes als das, was die Russen seiner Zeit im Gefolge von Turgenjew darunter verstanden. Jene russischen "Nihilisten" waren Anarchisten, die an gar nichts glaubten; Nietzsche dagegen war im Grunde genommen ein tief religiöser Mensch, der halt nur nicht mehr an das glaubte, was er für die zentralen Anliegen des Juden- und Christentums hielt, vor allem nicht an den Sinn der "verweichlichenden" Nächstenliebe, die so gar nicht mehr in die Zeit des naturwissenschaftlichen Fortschritts im allgemeinen und des "Darwinismus" - der ja die Auslese der Besten lehrte - im besonderen zu passen schien. [Nietzsche konnte nicht wissen, was wir heute aus den Forschungen der Psycho-Biologen wissen, nämlich daß die "Nächstenliebe", wie sie die alten Juden und Christen verstanden, d.h. ganz wörtlich nur die Liebe zum genetisch Nächst[verwandt]en, biologisch durchaus einen Sinn macht.]

An was glaubte Nietzsche statt dessen? Nun, das sagt er doch ganz offen: An die "ewige Widerkehr". Aber was soll denn das sein? Darf Dikigoros Euch, liebe Leser, so Ihr nicht ganz so bewandert seid in südasiatischen Religionen, das zunächst einmal ins Sanskrit übersetzen und dann wieder zurück in die Euch geläufige deutsche Bezeichnung: Sanskar, was Ihr wahrscheinlich als "Seelenwanderung" kennt, obwohl damit gar nicht die Wanderung einer imaginären Seele ins Paradies oder sonstwohin gemeint ist, sondern die ganz konkrete Widergeburt eines Menschen auf der Erde. Das sei doch Unsinn? Pardon, liebe Leser, aber das ist im Lichte der neuesten biologischen Erkenntnisse durchaus kein Unsinn, sondern ganz im Gegenteil die einzige alte "Weltreligion", die den wissenschaftlichen Anforderungen unserer Zeit noch stand hält, wie Dikigoros seinen indischen Freunden, die dem "Sanatan Dharm [ewigen Schicksalsweg]" folgen (also die, die Ihr "Hindus" nennt) immer wieder klar zu machen versucht, wenn sie von Minderwertigkeitsgefühlen und Selbstzweifeln ob der vermeintlichen "Unterlegenheit" ihres Glaubens gegenüber den monothëistischen Religionen gequält werden: Was ist der individuelle Mensch? Eine Ansammlung von Molekülen aus einem bestimmten "Genpool" nach einem bestimmten "genetischen" Muster, dessen Bestandteile ("Gene") theoretisch unsterblich, da reproduzierbar sind. Es ist also durchaus möglich, daß ein genetisch baugleicher Mensch irgendwann noch einmal geboren wird. Das wird nicht gerade häufig vorkommen; aber im Laufe der Jahrmillionen (und in diesen Kategorien denken die Hindus) geht das duchaus - ganz ohne im Reagenzglas geklonte Schafe und andere fragwürdige Späße. Mit etwas Glück gibt es allerdings positive Mutationen, d.h. man wird als etwas Besseres "wiedergeboren" (mit etwas Pech kann es allerdings auch umgekehrt kommen :-) - daran glaubt jedenfalls der echte Hindu. [Dagegen ist es das höchste Ziel des Buddhisten, den ewigen Kreislauf des Sanskaras zu durchbrechen und zu beenden. Das ist Nihilismus, so hat Nietzsche es auch gesehen - und geschrieben.] Man hat in Nietzsche stets nur den an der altgriechischen und altrömischen "Klassik" geschulten Professor gesehen und - wohl mangels allzu deutlicher Hinweise in seinem Werk - übersehen, daß er ebenso "orientalisch" gebildet war. (Schließlich war er in seiner Jugend Schopenhauer-fan gewesen!) Auch wenn die Keksperten beim Vergleich zwischen den Lehren seines "Zarathustra" und denen des historischen Zardusht nur den Kopf schütteln mochten - Nietzsche hatte von altpersischer und altindischer Kultur mehr Ahnung, als sich die meisten "Gelehrten" seiner Zeit träumen ließen. Und je länger Dikigoros darüber nachdenkt, desto sicherer ist er, daß seine eigene Affinität zur Lehre des Sanatan Dharm eine Spätfolge jener von seinem Deutschlehrer erzwungenen Nietzsche-Lektüre vor vielen Jahrzehnten ist.

* * * * *

Wie konnte es aber dazu kommen, daß Nietzsche derart mißverstanden wurde (und wird)? Nun, wie war das mit den Lehren Demokrits und der "Demokratie"? Oder mit den Lehren Christi und dem "Christentum"? Den Lehren Marxens und dem "Marxismus"? Den Lehren Darwins und dem "Darwinismus"? Den Lehren Freuds und der Psychoanalyse? (Es gibt sicher noch mehr Beispiele, die Dikigoros im Moment nicht einfallen, aber dies dürften die krassesten sein.) Da Dikigoros schon mal Christus und das Christentum erwähnt hat: Bei sehr umfangreichen Büchern, wie z.B. der Bibel, ist es halt so, daß man da so ziemlich alles hinein und heraus lesen kann, was einem in den Kram paßt; und das gilt auch für Nietzsches Werk. Was hat er nicht alles Widersprüchliches geschrieben über Religion und Moral, Volk und Staat, Nation und Politik. Auch vieles, was wir heute "anti-demokratisch" und "prä-faschistisch" nennen würden; dabei war es eigentlich nur anti-staatlich, oder noch besser gegen den modernen Staat, den Nietzsche - durchaus zutreffend - als immer weiter auswuchernden Moloch erkannt hatte, dessen Ziel es, allen entgegen gesetzten Beteuerungen zum Trotz, die Freiheiten und Rechte seiner Untertanen immer mehr zu beschneiden. Ein paar Kostproben aus dem "Willen zur Macht" gefällig? Bitte sehr: "Heute, in der Zeit, wo der Staat einen unsinnig dicken Bauch hat, gibt es in allen Feldern und Fächern, außer den eigentlichen Arbeitern, noch 'Vertreter', z.B. außer den Gelehrten noch Literaten, außer den leidenden Volks-Schichten noch schwätzende prahlerische Tunichtgute, welche jenes Leiden 'vertreten' - gar nicht zu reden von den Politikern von Berufs wegen, welche sich wohl befinden und Notstände vor einem Parlament mit starken Lungen 'vertreten'. Unser modernes Leben ist äußerst kostspielig durch die Menge Zwischenpersonen; in einer antiken Stadt dagegen, und im Nachklang daran noch in mancher Stadt Spaniens und Italiens, trat man selber auf und hätte nichts auf einen solchen modernen Vertreter und Zwischenhändler gegeben - es sei denn einen Tritt." (Ja, wegen solcher Sätze ist Nietzsche unter heutigen Partei-Politikern und sonstigen Vertretern der "repräsentativen Demokratie" nicht sonderlich populär!) Und natürlich war es Wasser auf den Mühlen der "völkischen" Propaganda, wenn Nietzsche etwa schrieb: "Es gehört zum Begriff des Lebenden, daß es wachsen muß - daß es seine Macht erweitern und folglich fremde Kräfte in sich hinein nehmen muß. Man redet, unter der Benebelung durch die Moral-Narkose, von einem Recht des Individuums, sich zu vertheidigen; im gleichen Sinne dürfte man auch von seinem Rechte anzugreifen reden: denn beides - und das zweite noch mehr als das erste - sind Necessitäten [ja, liebe Leser, auch Nietzsche liebte schon die Fremdwörter (wo kämen wir denn hin, wenn wir einfach 'Notwendigkeiten' sagten?! :-), Anm. Dikigoros] für jedes Lebendige - der aggressive und der defensive Egoismus sind nicht Sache der Wahl oder gar des 'freien Willens', sondern die Fatalität [s.o. - auf Deutsch: Schicksalhaftigkeit, Anm. Dikigoros] des Lebens selbst. Hierbei gilt es gleich, ob man ein Individuum oder einen lebendigen Körper, eine aufwärts strebende 'Gesellschaft' ins Auge faßt. Das Recht zur Strafe (oder die gesellschaftliche Selbstvertheidigung) ist im Grunde nur durch einen Mißbrauch zum Worte 'Recht' gelangt: ein Recht wird durch Verträge erworben - aber das Sich-wehren und Sich-vertheidigen ruht nicht auf der Basis eines Vertrags. Wenigstens dürfte ein Volk mit ebensoviel guthem Sinn sein Eroberungsbedürfnis, sein Machtgelüst, sei es mit Waffen, sei es durch Handel, Verkehr und Kolonisation, als Recht bezeichnen - 'Wachstums-Recht' etwa. Eine Gesellschaft, die endgültig und ihrem Instinct nach, den Krieg und die Eroberung abweist, ist im Niedergang: sie ist reif für Demokratie und Krämerregiment... In den meisten Fällen freilich sind die Friedensversicherungen bloße Betäubungsmittel." Wir sehen: Nietzsche hielt offenbar nicht viel von Rousseaus These vom 'Gesellschaftsvertrag' - und er schreibt auch ganz deutlich warum:

(...)

Oder: "Der Staat ist das kälteste aller Ungeheuer, und diese Lüge kriecht aus seinem Maul: Ich, der Staat, bin das Volk." Aber auf der anderen Seite geißelte er wieder den "nationalistischen Schwindel" der Politiker. Natürlich fürchten die Politiker den "Übermenschen", da sie selber meist körperlich und geistig minderwertig sind. Das scheint ein Naturgesetz zu sein - es hat dies offenbar nichts mit degenerierten Königs- und Adelshäusern zu tun, die aus Monarchien und Aristokratien am Ende Kakokratien [Herrschaften der Schlechtesten] gemacht haben - auch die so genannten "Demokratien" sind längst zu letzteren verkommen und haben Nietzsches Eingangszitat ad absurdum geführt. Und dennoch fürchten die herrschenden Politiker aller Couleurs eine genetische Verbesserung ihrer Untertanen wie der Teufel das Weihwasser; denn so weit reicht ihr Wille, an der Macht zu bleiben, noch aus; und instinktiv fühlen auch die dümmsten ihrer Species, daß sie von Rechts (oder, wie Rousseau gesagt hätte: von Naturrechts) wegen nicht herrschen dürften. Auf die Dauer werden sie die Anwendungen der Gentechnik auf den Menschen dennoch nicht verhindern können, denn die Erfahrung lehrt, daß was machbar ist, gemacht wird, auch und gerade wenn es verboten ist.

(...)

Nachdem wir nun gesehen haben, daß der "Übermensch" gentechnisch machbar ist, machen wir uns doch einmal an seine Konstruktion. Das ist gar nicht so einfach, wie es klingt. Am Anfang, gewiß, da sind wir uns alle einig: Keine angeborenen Herzklappenfehler mehr, keine Kurz- oder Weitsichtigkeit, keine Schreib-Leseschwäche, keine Platt-Spreiz-Senkfüße oder sonstige Ärgernisse. Aber was dann? Nun, ganz nach Wunsch: Männer wünschen sich vielleicht dicke Muskeln oder einen dicken Schwanz (oder beides :-), Frauen einen dicken Busen und/oder eine bestimmte Haarfarbe. Der Ärger ist nur: Dicke Muskeln und ein dicker Schwanz machen noch keinen guten Liebhaber, und ein dicker Busen keine gute Mutter; und wie Dikigoros die Damenwelt kennt, will sie - nicht nur in Sachen Haarfarbe - meist genau das, was sie gerade nicht hat; wenn die Blondine also erfolgreich zur Brunetten umgebaut ist, will sie vielleicht doch lieber rote Haare... Aber vielleicht ein drittes Auge im Hinterkopf für den Autofahrer, der dann keinen Rückspiegel mehr bräuchte? Oder ein paar Zentimeter mehr Körpergröße für Basketballer? Aber wie weit wollen wir da gehen? 2 m? 2,10 m? 2,20 m? Wer bietet mehr? Warum nicht 3 m? Spaß beiseite, es gibt natürlich auch wichtigeres als solche Äußerlichkeiten: wie wäre es z.B. mit einem doppelt so großen Herz für Ausdauersportler? Oder einer doppelt so großen Leber für Alkoholiker, die dann doppelt soviel trinken könnten? (Und dazu gleich doppelt so große Nieren und eine doppelt so große Blase.) Und für Fließbandarbeiter je drei Arme und Beine - oder vier, fünf, ja sechs, wie sich die Hindus die Beschaffenheit Shiwas vorstellen? Oder Flügel, damit er durch die Lüfte fliegen kann wie die Comic-Figur "Superman?" Nein? Aber auf etwas können wir uns doch bestimmt alle einigen: Mehr Intelligenz! Was das ist? Nein, nicht die Fähigkeit, ein Telefonbuch auswendig zu lernen, auch nicht, besonders gut Schach zu spielen oder Denksport-Aufgaben zu lösen. Sagen wir doch einfach: ein größeres Gehirn. Aber wie groß? Doppelt so groß wie bisher? Dreimal, viermal...? Das hatten wir doch schon beim Basketballer. Nun, das ist auch eine Frage des Schädel-Volumens. Aber den könnte man natürlich gleich mit vergrößern; und damit wir dann nicht mit einem Wasserkopf herum laufen müssen, müßten wir auch gleich den Rumpf entsprechend vergrößern - und wieder landen wir beim Basketballer (oder beim Koloss von Rhodos, wie der Spiegel :-). Die Frage ist nur: Wenn das bei allen geht - bringt es dann überhaupt noch einen Selektions-Vorteil? Anders ausgedrückt: Was hilft uns der Übermensch, wenn es keine Menschen mehr gibt?

Und wenn wir mal über den Tellerrand der menschlichen Existenz hinaus blicken: Im Tierreich hat sich die Vergrößerung der Individuen nicht gerade bewährt: Dikigoros will hier gar nicht von den Sauriern anfangen - die könnten ja, wie einige meinen, einer "zufälligen" Naturkatastrofe zum Opfer gefallen sein -; aber das Riesenmammut ist ebenso ausgestorben wie das Riesenfaultier oder das Riesenlama und allerlei anderes Riesen-Viehzeug. Warum? Weil die Generationenfolge mit der Größe der Einzelorganismen abnimmt und damit die Fähigkeit, sich veränderten Umweltbedingungen schnell genug anzupassen. Dikigoros ist überzeugt, daß der so genannte "Sinn des Lebens" darin liegt, daß dessen Träger, die Aminosäuren - die ja in allen Lebewesen gleich sind -, nach dem trial-and-error-Prinzip die beste Organisationsform und den höchstmöglichen Differenzierungsgrad suchen, was nicht zuletzt eine Frage der für eine bestimmte Komplexität notwendigen Größe der Einzelorganismen und ihrer Erhaltung ist. ["Trial-and-error" ist übrigens, anders als einige noch immer glauben, nicht gleichbedeutend mit "Zufallsprinzip", liebe Leser, die Ihr Dikigoros danach gefragt habt. Ihr müßt es Euch vielmehr so vorstellen wie ein modernes Schachprogramm mit "Zufalls-Generator": Von den 20 möglichen Eröffnungszügen - und den im Laufe einer Partie mehreren Millionen anderen Zügen - wählt es am Anfang unter mehreren Möglichkeiten aus. Um nicht jedesmal die gleiche Partie zu spielen - wodurch er allzu leicht berechenbar würde -, wechselt es zwischen einigen wenigen, sinnvollen Varianten, die ungefähr gleich "gut" oder "schlecht" sind. Wenn es dagegen wirklich nach dem "Zufallsprinzip" eröffnen würde, wäre die Wahrscheinlichkeit, gegen einen guten Spieler zu verlieren, schon nach zwei, drei Zügen aufs Geratewohl ziemlich hoch. So leichtsinnig sind aber weder die Natur noch die Schachprogramme.] Und Dikigoros glaubt nicht daran, daß immer größer (oder immer "höher") gleichbedeutend ist mit immer besser. Aus der Sicht Nietzsches ist es ein Kampf der (viel zu) vielen Minderwertigen, Schwachen, die sich gegen die wenigen Höherwertigen, Starken zusammen getan haben, um sie zu bekämpfen, und er bedauerte den Ausgang dieses Kampfes zugunsten der ersteren. Aber aus der Sicht der Fliegen, der Ameisen und anderer "niederer" Insekten - in denen das Naturgesetz, das Nietzsche "Wille zur Macht" nannte, ebenso wirkt wie in jedem anderen, "höheren", Lebenwesen - ist wahrscheinlich bereits der jetzige Mensch eine überzüchtete Fehlkonstruktion; und vielleicht erbringt er den endgültigen Beweis dafür demnächst gerade durch die gentechnisch unterstützte Schaffung des vermeintlichen "Übermenschen".

* * * * *

Das, womit Dikigoros den vermeintlich letzten Absatz enden ließ, scheint schneller zu kommen als er ursprünglich gedacht hatte. Im Jahre 2009 - also nur wenig mehr als 100 Jahre nach Nietzsches Tod - veröffentlichten zwei "Philosofen" (jedenfalls hatten sie vom Steuerzahler finanzierte Professoren-Stellen für dieses Fach in Oxford und Jena inne) namens Savulescu und Knoepffler ein Buch mit dem Titel "Der neue Mensch", und sie ließen keinen Zweifel daran, daß die - technisch wohl schon mögliche, aber bisher an "ethisch-moralischen" (und juristischen :-) Bedenken gescheiterte Verbesserung, pardon, das "Enhancement" des Menschen auch aus moral-filosofischer Sicht unbedenklich sei. Und nur ein Jahr später legten wieder jener Savulescu und ein gewisser Wilkinson in der Zeitschrift "Bioethics" dar, wie sie sich das im einzelnen vorstellten: Menschen als Ersatzteillager, aus denen man - sprich: der Chirurg - die besten Organe heraus schneidet und sie im Körper anderer, bei denen diese Organe nicht (mehr) so gut sind, wieder einsetzt. Wahrscheinlich verfügt Dikigoros über zu wenig medizinische Kenntnisse, denn er kann nicht so recht nachvollziehen, wie das zu einer "Verbesserung" des Menschen führen soll (weder des einzelnen noch erst recht der großen Masse); aber er nimmt mal an, daß staatlich besoldete Hochschul-Leerer so etwas nicht von sich geben würden, wenn es nicht von höchster politischer Stelle erlaubt, ja sogar erwünscht wäre. Denn alles, und sei es auch noch so geisteskrank, gilt jenen Narren als besser denn das, was Darwin (und die bösen Nazis :-) "Auslese durch Zuchtwahl" nannte(n). Also nehmen wir ruhig 100-jährige, deren Herz es nicht mehr tut, und setzen ihnen das eines Alkoholikers ein, dessen Leber versagt hat, und der darob bereits unheilbar krank im Delirium vor sich hin dämmert. Oder nehmen wir das Hirn eines alten Schimpansen und setzen es Julian Savulescu ein - der Mann aus dem Lande Draculas kann sich dabei nur verbessern! Spaß beiseite - Ihr braucht es Dikigoros nicht zu mailen, er weiß ja, daß in Geheimlaboren längst Embryonen gezüchtet und in Reagenzgläsern bereit gehalten werden, damit jeder Zeit junge, frische Organe zur Verfügung stehen für solche Empfänger, denen die Herzen von Alkoholikern, die Nieren von Greisen oder die Leber von Tieren nicht zur Transplantation zugemutet werden kann, nämlich die Damen und und Herren Politiker, die so eine Entwicklung möglich gemacht haben und hoffen, eines Tages persönlich davon profitieren zu können - weil sie insgeheim erkannt haben, daß sie durch und durch minderwertig sind und deshalb dringend einer "Verbesserung" qua Rundumerneuerung bedürfen?

Nachtrag:
Die vielen mehr oder weniger klugen psychologischen Theorien des 19. Jahrhunderts, die aufgestellt wurden, bevor die notwendigen fysiologischen Erkenntnisse vorlagen - angefangen bei Goethes berühmt-berüchtigter Farbenlehre - kann man heute fast samt und sonders auf den Müll werfen; es waren bloße Spekulationen, die nicht bloß in der Sache falsch, sondern auch im Ergebnis wertlos waren. Nietzsches Idee von der Willensbildung ist, soweit ersichtlich, die einzige dieser Theorien, die dem wissenschaftlichen Fortschritt bis ins 21. Jahrhundert halbwegs stand gehalten hat - und verlaßt Euch drauf, sie wird bald nicht nur vollständig bestätigt, sondern sogar noch ausgebaut werden. Gewiß, man sagt nicht mehr "Wille zur Macht", sondern man drückt es vornehmer, umständlicher und vor allem fremdsprachiger aus: "Voraktivität des motorischen Planungszentrums" klingt doch auch viel besser, wenn schon nicht unbedingt verständlicher - aber gemeint ist das gleiche. Kürzlich brachte Dikigoros' Freund Matthias - der Naturwissenschaftler, den seine Leser schon von verschiedenen anderen seiner "Reisen durch die Vergangenheit" kennen - ihm eine wissenschaftliche Zeitschrift mit, in der er u.a. las: "Neuronale Aktivität in den Planungszentren für motorische Aktionen ist meßbar, noch bevor wir uns einer Intention, solch eine Bewegung auszuführen, bewußt werden [...] Das vorzeitige Auftreten einer neuronalen Aktivität in den motorischen Zentren wäre zwar nicht zwangsläufig ein Beweis für eine völlige Ausschaltung des Willens bzw. für eine automatische Handlung, deren Willenhaftigkeit nur eine sekundäre Illusion wäre [...]; eine solche Voraktivität, noch bevor eine Bewegungsintention bewußt wird, dürfte jedoch evolutive Vorteile hinsichtlich Optimierung der Reaktionsfähigkeit bringen, da die Zeit, in der die Bewegungsalternative sozusagen noch diskutiert wird, ohne daß eine endgültige Entscheidung gefällt wurde, bereits genutzt wird zur präventiven Planung der Durchführung der Bewegung. Dieser fertige Plan braucht dann nur noch vom 'Willen' nach Beendigung des Entscheidungsfindungsprozesses abgerufen zu werden." Das, liebe Leser, ist das Rückzugsgefecht eines Zweiflers - offenbar eines Schachspielers, der es gewohnt ist, sich im Geiste mehrere Alternative für eventuelle Züge seines Gegners im voraus zurecht zu legen. Aber das Leben ist kein Schachspiel. Bald wird man erkannt haben, daß es sich eben doch um eine automatische Handlung unter völlig Umgehung ("Ausschaltung" ist ein blöder Ausdruck, denn was - noch - nicht an ist, kann ja nicht ausgeschaltet werden :-) des "Willens" der Großhirnrinde handelt, die folglich doch nur eine "sekundäre Illusion" ist. Und in der Sache mit der "endgültigen" Entscheidung[sfindung] steckt ein Denkfehler, weil eben - im Gegensatz zum Schachspiel - vom motorischen Planungszentrum nur dieses eine vermeintliche "Wollen" vorab "durchgespielt" wird, es also gar keine "[Bewegungs-]Alternative" gibt. Für diejenigen, die den Menschen insgeheim schon jetzt für einen "Übermenschen", genauer gesagt für ein Wesen halten, das über den anderen Tieren steht, weil er einen von seinen Instinkten "freien Willen" hat, mag diese Erkenntnis ein harter Schlag ins Kontor sein; gleichwohl dürfte auf die Dauer kein Weg an ihr vorbei führen.


Anhang: Vom neuen Götzen

weiter zu Andersonville

zurück zu On the Origin of Species

heim zu Bücher die Geschichte machten

heim zu Reisen durch die Vergangenheit